Franziska Kessler Preis
1. Rang: 130 Euro, 2. Rang: 80 Euro, 3. Rang: Geschenk im
Wert von 60 Euro, 4. Rang: Geschenk im Wert von 50 Euro,
5. Rang: Geschenk im Wert von 30 Euro.
Siegerpodest des Wettbewerbs
für das II. Semester 2021
Im 1. Rang und Gewinner von 130 Euro
Oliver Fischer
(Beitrag Nr. 040)
Ich fand das ein ungeheuer spannendes Thema, doch als ich mit dem
Schreiben angefangen hatte, vermisste ich dann doch etwas Freiraum und sah dem Ende der Sitzung nicht mehr so enthusiastisch entgegen wie zu Beginn. Vier unschlüssige Charak-teren, die hinter
verschlossenen Türen etwas zu entscheiden hatten, dem sie gar nicht gewachsen sein konnten, animierten mich, dem Fakt der Unsterblichkeit etwas mehr Beachtung zu schenken und ihn zumindest bei
zwei der Mitglieder wahr werden zu lassen. Es brachte mich wieder auf das zu Beginn vorhandene Spannungsfeld zurück und half mir auch, ein enfant terrible zu erschaffen, welches weder nach
Vernunft, noch Ethik und Verantwortung suchte, sondern sein bisschen Dasein als oberste Prämisse erkannte und dadurch entsprechende Vorkehrungen traf, mit dem realen wirtschaftlichen Reichtum,
seine Träume zu verwirklichen.
Ich danke allen Personen, die meinen Beitrag mit Punkten bedacht haben und danke auch dem Team von P.M. für die transparente Art und Weise, einen Wettbewerb durchzuführen.
Mit unsterblichen Grüßen
Oliver
Lieber Oliver,
herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Spitzenplatz auf dem Podest. Die Leserschaft hat es offensichtlich sehr geschätzt, dass Sie ihr noch einen Blick in die fernere Zukunft gewährt haben, was die ursprüngliche Sitzung der VIER, in weite Ferne zurückversetzte. Ebenso hat bestimmt der "Seitensprung" Wolfgangs zur Originalität Ihrer Geschichte beigetragen.
Herzliche Grüße
Veronica Schaller
(Lesezirkel LeBuzEbjK)
Die Überraschung
(Urheberrechte & Copyrights © by Oliver Fischer)
„Meine Lieben“, eröffnet Timothy diese denkwürdige Sitzung, „was wir heute oder vielleicht auch erst morgen oder übermorgen in unserer anstehenden Angelegenheit beschließen werden, können wir danach nicht einfach bei einem Schnaps wieder als nichtig erklären, aber ich weiß, dass euch dies voll bewusst ist“, dabei blickt er eindringlich von einem zum andern und stellt fest, dass niemand seinem Blick ausweicht und auch niemand spontan etwas anzufügen gedenkt.
Mir, Dorothea Blau – sie nennen mich schon lange alle Doro – gingen in den letzten Tagen tausend Dinge durch den Kopf, jede Menge offene Fragen, von denen ich die Wichtigsten nicht beantworten kann, dann auch eine große Angst, dass, je nachdem, was wir heute beschließen werden, die Beziehungen unter uns vielleicht drastisch anders werden könnten.
Womit hat Rebecca zum Beispiel heute nur geduscht? Sie macht einen so abgeklärten, selbstsicheren Eindruck, als könnte man meinen, wir müssten gerade mal darüber entscheiden, ob wir das Rasenmähen weiterhin selber machen oder fremd vergeben wollen? Und Wolfgang, der sich sogar in Anzug und Fliege geworfen hat, schaut so gelassen in die Runde, als stünde es bereits fest, dass wir am frühen Vormittag alle zum Aperitif ins Feudal-Restaurant „Mére Catherine“ pilgern würden, um eine Jahrhundertfeier einzuläuten.
Timothy, mit seiner natürlichen Persönlichkeit, strahlt, wie immer, eine gewisse Souveränität und auch Ruhe aus. Irgendwie wird er bestimmt nichts Kapriziöses vorschlagen, rede ich mir ein. Bin ich denn die einzige Verunsicherte hier? Ich könnte nicht einmal etwas Konkretes vorschlagen, wenn mich jetzt Timothy, der hier den Vorsitz führt, fragen würde … –
„Doro“ …, schreckt mich Timothy – als könne er in mich hineinsehen – aus meinen Gedanken …, „möchtest du uns, als Auftakt, mit einem Vorschlag anspornen, wie wir, falls überhaupt, an die Öffentlichkeit treten sollten, könnten, müssten?“
Der Schrecken, der mir in die Glieder fährt, bewirkt jedoch, dass ich eine spontane Gefasstheit erlange und nach kurzer Überlegung folgendes von mir gebe;
„im Wesentlichen geht es zunächst einmal darum, dass insgesamt einhunderttausend Elixiere bzw. Portionen vorhanden sind, die uns allen vier Personen zu gleichen Teilen gehören. Das heißt, wenn wir hier eine Einigkeit erzielen, stehen 100.000 Einheiten zur Verfügung, die wir dann so, wie beschlossen, vergeben, einsetzten, verkaufen oder was immer. Sind wir jedoch unterschiedlicher Auffassung, zum Beispiel zwei gegen zwei, würden mit jeweils 50.000 Einheiten zwei verschiedene Wege gefahren, im einen Extremfalle 75.000 da und 25.000 dort, oder im andern sogar 4 x 25.000. Aber zunächst müssen wir ausloten, was die möglichen Vor- und Nachteile sein könnten, wenn wir publik gehen. Ich persönlich sehe bis zur Stunde nur Nachteile.“
„Du bist zu früh damit, Doro“, begehrt Rebecca auf,
„zuerst müssen wir doch die Vor- und Nachteile kennen.“
Also, hatte sie doch mit etwas Pikantem geduscht, ich beschließe, sie mit ihrem Einwand alleine zu lassen und hoffe, dass nun die Männer ihren wichtigen Senf dazu geben. Timothy blickt naheliegender Weise Wolfgang an und fragt;
„Wolfgang, deine Darlegung ist gefragt, bitte?“
Und Wolfgang nickt, lässt sich aber Zeit und sagt dann emotionslos,
„wir haben geforscht, unermüdlich gearbeitet, an einem Produkt, von dem wir hofften, dass es das bewirkt, was wir angestrebt haben und erleben ein absolutes Bingo, indem wir uns noch übertroffen haben. Nicht etwa ein bisschen älter werden, sondern gleich for ever young bleiben. Und jetzt, liebe Doro, willst du noch Vor- und Nachteile ausloten? Das darfst du natürlich, aber meine 25.000 Einheiten werden dabei keine Rolle mehr spielen.“
Es tritt eine Pause ein, ehe sich Rebecca wieder zu Wort meldet und ziemlich arrogant bekräftigt;
„ich bin deiner Auffassung, Wolfgang, also ist Doros Meinung nicht mehr relevant …“, doch Timothys Stimme unterbricht sie und sagt ziemlich scharf;
„nicht doch, meine Lieben, so schaffen wir eine Woche lang keine Einigkeit. Ich bin mit Doro zumindest in dem Punkt einverstanden, dass wir offen über die Vor- und Nachteile diskutieren müssen, denn wenn wir oder nur eine oder einer von uns an die Öffentlichkeit gelangt, haben wir alle mit Konsequenzen zu rechnen, aus denen möglicherweise viel schwerwiegendere Folgen resultieren könnten, als wir jetzt bedenken. Ich würde gerne meine Idee in die Runde werfen, dass wir zwar weitermachen, jedoch im top geheimen Bereich bleiben, einerseits mit den Investoren und mit dem Staat. Dadurch hätten wir eine doppelte Rückendeckung und für die Zukunft unbegrenzte Geldmittel zur Verfügung. Was meint Ihr dazu?“
„Im geheimen Bereich?“, fragt Wolfgang erstaunt, „mit den Investoren wäre das bestimmt kein Problem, aber mit den Klatschbasen vom Staat, Politiker? Deren Denken und Handeln einzig auf das Auffüllen ihrer Taschen ausgerichtet ist? Das kann doch nicht dein Ernst sein?“
„Bleib schön cool Wölfchen, wenn ich Staat sage, dann meine ich nicht die regierenden Flaschen, sondern Institutionen innerhalb des Staates, wie z. B. die Raumforschung, den Sicherheitsdienst, Profis natürlich.“
„Weitermachen? Wie? Womit? Im Geheimen? Ich verstehe nicht, was ist mit den 100.000 Elixier-Portionen? Ich möchte gerne wissen, was damit passiert, wie setzen wir diese ein, wer soll Nutznießer davon sein? Nach welchen Kriterien? Wie richten wir uns auf unsere Unsterblichkeit ein? Habt Ihr euch denn alle einmal Gedanken darüber gemacht, wie das sein wird, wenn alle um uns weggestorben sind? Auch die, die noch gar nicht geboren wurden? Zunächst müssten wir doch“ …,
„nun mach mal halblang Doro, willst du hier auf Panik machen?“, wenn du Probleme hast mit dem Weiterleben, dann lebe deine Panik anderswo aus oder häng dich auf, oder …
„Ich muss doch sehr bitten, meine Damen“ …, fährt Timothy dazwischen, „wir sind doch bestimmt in der Lage, diese Angele-genheit mit mehr Sachverstand und weniger Emotionen anzugehen, ich beantrage jetzt folgendes; jeder macht einen konkreten Vorschlag und wird dabei von niemandem unterbrochen. Ich notiere diese Vorschläge. Wenn alle vier Varianten vorgetragen sind, gehen wir sie der Reihe nach durch, wägen sie ab, beurteilen sie und stimmen danach ab, welchen Vorschlag wir als praktikabel vorsehen werden. Einverstanden?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, beugt sich Timothy über seinen Schreibblock und beginnt zu schreiben. Ich beobachte Wolfgang, der keine Anstalten macht, etwas zu Papier zu bringen. Ich gucke zu ihm rüber, er ergreift jetzt seinen Kugelschreiber, notiert vielleicht drei, vier Worte, legt das Corpus Delicti wieder beiseite und lehnt sich in den Stuhl zurück, während ich schreibe, >alle Elixiere an ausgesuchte Personen verteilen<,
dann stehe ich auf, bemerke kurz in die Runde, dass ich die Toilette aufsuche und gleich wieder da sein werde.
Als ich zurückkomme, sehen alle zu mir hin, offenbar hat jeder seinen Vorschlag verfasst und es geht jetzt um das Vortragen derselbigen.
„Sollen wir würfeln, wer anfängt oder soll ich einen Freiwilligen bestimmen?“, scherzt Timothy als Auftakt. Dann schaut er neugierig in die Runde, sein Blick bleibt an Rebecca hängen, die den Ball auffängt, sich kurz räuspert und dann sagt;
„also gut, ich bin zum Schluss gekommen, dass es das beste sein wird, wenn wir das Elixier an verdiente Menschen, die Öffentlichkeits- Arbeiten verrichten abgeben …“
…, „du meinst also Verkehrspolizisten, Straßenwischer, herumstreu-nende Nutten und Graffiti-Akteure?“ …, „Hör einfach auf damit Wolfgang!“, schreit Rebecca, während ihr Gesicht zusehends errötet, ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken kann, zu Timothy hinüberschiele und erstaunt bin, über seine Gelassenheit, aber er schreitet ein, blickt zu Wolfgang, der bereits auf eine Attacke gewartet hat, seine Arme und flachen Hände erhebt und entschuldigend sagt; „wenn euch dann in 300 Jahren allmählich der Humor ausgegangen ist, dürft Ihr an meinen heutigen Witz zurückdenken, entschuldige Rebecca, war ja nicht böse gedacht, mach ruhig weiter, ich werde dich nicht mehr unterbrechen.“
Damit erübrigt sich auch ein Maßregeln vonseiten Timothys, er lässt es dabei bewenden und nickt Rebecca zu, fortzufahren. Rebecca ihrerseits jedoch entspannt sich nicht so schnell. Wenn sie einmal aufgebracht ist, dauert es seine Zeit, bis sie wieder auf dem Teppich landet. Ihre Eitelkeit verhindert ein schnelles Abkühlen ihres Gemüts, jedoch, um auch das Positive an ihr dabei zu erwähnen, sie hat eine ausgeprägte Befähigung, analytisch zu denken. Und das ist es jetzt, was sie macht, sie spricht noch nicht, sie denkt analytisch und wir andern wissen noch nicht, dass sie dabei dieser Sitzung einen ganz andern Verlauf geben wird.
* * *
„Gut, Wolfgang“, beginnt sie ganz sachlich, „ich nehme deine Entschuldigung an, wenn du gestattest, würde ich dir gerne eine ganz persönliche Frage stellen“, dabei schaut sie ihm direkt ins Gesicht.
Der runde Tisch, an dem wir sitzen, hat einen Durchmesser von 2,10 Meter, an dem acht Personen mit genügend Ellbogenfreiheit feudal Platz haben. (ich war beim Kauf dabei).
Sowohl Timothy als auch Wolfgang gucken entspannt auf die Szene während ich richtig angespannt da sitze, bereits fühlend, dass jetzt etwas Spektakuläres passiert.
„Bitte, ich bin ganz Ohr, Rebecca“, sagt Wolfgang und fühlt nach seiner gelben Fliege am Hals, ob sie noch gerade sitzt.
„Kann es sein, dass du heute schon weißt, dass du in 300 Jahren nicht mehr unter uns sein wirst, den Humor oder Witz mal völlig ausgeklammert?“, denn immerhin haben wir uns doch alle vier gemeinsam das Elixier einverleibt, und hast du jetzt schon futuristische Selbstmordgedanken?“
Die letzten drei Worte entweichen Rebeccas Mund fast bedrohlich und zischend, macht die unmittelbar darauffolgende Stille richtig unerträglich, und doch will sie keiner von uns dreien missen, denn die überraschende Frage und das ins Gesicht starren von Rebecca, Timothy und mir, drückt Wolfgang, mit dem Rücken zur Wand und er weiß in diesem Moment, dass wir andern drei jede kleinste Muskelfaser-Bewegung seines Gesichts entsprechend deuten könnten.
Es sind bestimmt über zwei Minuten vergangen und wir erleben den scheinbaren, inneren Kampf Wolfgangs, der sich jetzt vorbeugt und zum Sprechen ansetzt.
„Wir haben viele Einzelgespräche und Diskussionen geführt. Zu zweit, zu dritt, manchmal wir alle vier. Je mehr ich mir eure >Moral und Ethik< Floskeln mit anhören musste, desto mehr fand sich mein Entschluss, meine Zukunft nach meinen Vorstellungen und Überzeugungen einzuleiten und in die Tat umzusetzen. Wir brauchen über die Dinge, worüber die Welt labert, nicht auch noch vor- und rückwärts durchzukauen. Wir wissen um sie wahrscheinlich besser, als der Rest dieser irdischen Mischpoke. Die Pole schmelzen, der Klimawandel ist nicht und mit nichts zu stoppen, die Ausbeutung aller verfügbaren Rohstoffe hat den Kulminationspunkt schon vor fünfzig Jahren überschritten, ebenso die Homo-sapische Karnickel-Vermehrung und der zunehmende Dreck in Erde, Luft und Wasser.“
Er macht eine kleine Pause, zieht ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischt sich übers Gesicht. Seine Fliege hängt nun schief. Niemand unterbricht ihn, dann fährt er fort;
„und jetzt, eure Illusion, ewig leben zu wollen, in diesem kaputten Dreck, in diesem absolut nicht mehr zu reparierenden Dreck“ …,
„warum hast du dann das Elixier eingenommen?“, rufe ich entrüstet.
„Ich habe es nicht genommen, ich habe nur so getan. Ich werde Anfang nächstes Jahr 38 Jahre alt. Ich habe noch 22 bis 28 Jahre lang Blütezeit vor mir und diese werde ich in vollen Zügen genießen. Schön wohnen, mit auserwählten Kleidern ausgehen, Kreuzfahrten in Suiten, mit jungen, fröhlichen Frauen und Speise und Trank vom Feinsten. Nie mehr arbeiten, nie mehr mich über Dinge sorgen, die gar nicht meine Chose sind, nur noch Ramba Zamba, Highlife und Konfetti! Du bist wirklich eine hervorragende Analytikerin, Rebecca, nur du konntest mir diese Frage stellen.“
Nun wollen gleich alle drei gleichzeitig mit Fragen auf ihn los, Timothy gelingt es aber, Oberhand zu behalten und sagt sachlich;
„Na gut, Wolfi, gegen deine Argumente will ich gar nicht angehen, auch nicht gegen deine geplante Zukunft, doch es wirft die Frage auf, dass du darauf aus bist, über deine 25.000 Portionen verfügen zu wollen und sie in klingende Münze umzuwandeln, denn wie sonst könntest du dein …, wie sagtest du? Ramba-Zamba-Future, verwirklichen? Stimmts?“
„Stimmt genau“, entgegnet Wolfgang spontan.
„Und wie stellst du dir das vor?“, frage ich aufgebracht, „wir werden das nicht einfach so zulassen“, dabei schaue ich fragend zu Rebecca und Timothy.
„Ich wette, er hat es schon getan“, zischt es gefährlich leise von Rebeccas Seite.
Erneut sehen alle wieder lauernd auf Wolfgang, der mit einer Geste – auf und ab der Arme und dargebotene Hände – quasi die Entschuldigung einleitet, die er jetzt zum Besten gibt; „wie Ihr euch bestimmt vorstellen könnt, hättet ihr mir nie erlaubt, meinen Teil einfach so mitzunehmen, um ihn zu verhökern, also musste ich mir etwas einfallen lassen. Und ich sage euch das jetzt, weil ich euch heute so oder so reinen Wein eingeschenkt hätte, egal, was hier beschlossen wird.“
„Das kaufen wir dir nicht ab!“ Brülle ich ihn an, Timothy hebt die Hand und sagt; „bitte nicht wieder so Doro“, und zu Wolfgang gewandt, „dann erzähl uns doch bitte lückenlos, was du alles angestellt hast.“
„Ich habe sie verkauft, sie sind weg und ich habe das Geld, Punkt, aber keine Sorge, eure 75.000 sind noch da, ich habe rundum Fairplay gemacht, auch mit der Käuferin und die Käuferin mit mir. Es ist alles über die Bühne, ich bleibe nur noch da für den Fall, dass Ihr mich braucht.“
Ein Aufschrei von Rebecca, leitet die nächste Szene ein; „er verarscht uns nur mit seinem besonderen Humor, lasst uns sofort ins abgesicherte Depot gehen für eine Inventur, ha, ich war ja gestern da drin mit Doro, da war noch alles an seinem Platz und seither ging da niemand mehr rein, es würde sonst ein Besucher-Protokoll existieren.“
„Stimmt, was sie sagt“, bestätige ich und klatsche dabei in die Hände.
Alle sind einverstanden und wir gehen geschlossen in das dreifach abgesicherte Depot. Und …, sie grinsen alle, es ist alles noch da, 100.000 in vier Sektoren, 25.000 in jedem Sektor. Unversehrt, vollzählig und in ihren etikettierten Original-Flacons.
Wir setzen uns wieder an den Tisch, alle irgendwie erleichtert, am meisten grinst Timothy, weil ihm der Sarkasmus Wolfgangs immer gefallen hat, doch er fragt trotzdem noch einmal nach;
„ja gut, Wolfi, hast du dich heute denn so herausgeputzt, um deine Verarschung mit uns zu feiern?“
„Ich verarsche hier niemand, ich sage euch die volle Wahrheit, werde euch aber gewisse Informationen – zu eurem eigenen Schutz – nicht preisgeben. Was Ihr im Depot gesehen habt, sind 75.000 Flacons mit dem Elixier drin und 25.000 Flacons mit purem Leitungswasser abgefüllt.“
„Du kannst jetzt aufhören mit dem Schmarren, Wolfgang“, …, das ist Rebecca, doch Wolfgang fährt fort;
„sicher erinnert ihr euch, als wir die Fabrikation tätigten, dass wir im Turnus gearbeitet haben. Rebecca selbst hat, ohne es allerdings zu wissen, unter meiner Anleitung die Flacons, also meine, die mit Wasser gefüllten, die jetzt im Depot im 4. Sektor lagern, hinein getragen.“
Rebecca wird blass im Gesicht, sagt jedoch; „das kann ja nicht sein, das waren die Original-Flacons mit Etiketten drauf.“
„Ja, das stimmt, wären es nicht die Originale gewesen, hättest du doch Alarm geschlagen, nicht wahr? Die nicht originalen Fälschungen habe ich mit zwei Studentinnen, die in der Fabrikation an diesem Tag mitgeholfen haben bei der Abfüllung, schön säuberlich in Putzmittel-Kartons verpackt und sie am gleichen Abend der Käuferin überbracht.“
„Dann lasst uns jetzt sofort noch einmal ins Depot gehen“, fordert Rebecca aufgebracht und erhebt sich auch schon, doch Timothy hebt die Hand und sagt ruhig;
„lass es gut sein Rebecca, ich glaube ihm, er hat uns in der ganzen Zeit, die wir zusammen sind, nicht ein einziges Mal angelogen, warum sollte er es ausgerechnet heute tun. Was kommt noch auf uns zu, Wolfi?“, fragt er, fast freundschaftlich,
„wer ist die Käuferin?“
Doch Wolfgang schüttelt langsam den Kopf und entgegnet;
„ich habe euch gesagt, dass ich euch nicht alle Informationen preisgebe, die Käuferin ist eine Offshore Gesellschaft auf den Seychellen, die mit Sicherheit einer weiteren Offshore Gesellschaft gehört und ich werde auch nie wissen wollen, welche Personen dahinterstecken, irgendwelche Strohleute halt.“
„Aber das Geld, Wolfi, bist du sicher, dass du nicht ganz böse über den Tisch gezogen wirst oder bereits wurdest? Du musstest doch zu Beginn eine Bezugsperson gehabt haben oder waren es mehrere?“,
„eine Frau!“, giftelt Rebecca, er sagte doch zu Beginn schon, er hätte eine Käuferin, nicht wahr?“
Wolfgang geht auf Rebeccas Ausbruch gar nicht ein, guckt zu Timothy und zu mir und sagt;
„es sind insgesamt drei Personen und ich verrate euch auch aus welchen Kreisen sie kommen, damit ihr schon im Vorfeld wisst, dass es ein riesiger Fehler
wäre, dort herumzustochern, denn ihr würdet dabei ganz schlecht abschneiden. Abgesehen davon, kennt ihr die Leute persönlich, aber ich verrate ihre Namen nicht. Es sind
unisono
Investoren der Bio-Tech-Incorp.“
„Mein Gott“, entfährt es mir, „da hast du uns ja was schönes eingebrockt.“
„Wieso? Die Leute sind euch gut gesinnt, wenn Ihr auch verkaufen wollt, Anruf an mich und die Sache läuft, ich kriege sogar eine Provision“, setzt er schalkhaft hinzu.
„Hast du denn wenigstens bei der Lieferung schon eine Anzahlung erhalten?“, möchte Timothy noch in Erfahrung bringen.
„Timmy, du bist bestimmt ein Spitzen-Ingenieur, aber mit den Gepflogenheiten im höheren Finanzbereich bist du nicht zu Hause. Es wird sofort erfüllt in diesen Geschäften. Entweder mit der vereinbarten Summe Geld oder mit einer Unze Blei, nebenbei und abschließend gesagt, Ihr seid bereits in meinem Testament als alleinige Erben eingesetzt und da ihr mich ja wahrscheinlicher Weise überleben werdet, könnt Ihr schon heute – wenn auch vorerst noch mit offenem Datum – einen Tisch bei Mére Catherine reservieren und schlemmen, übrigens, es ist erst früher Abend, ich lade euch gerne ein zu einem, wie wollen wir die Fete denn nennen, – vielleicht, Kehraus Ball?“
Wir sind alle erschlagen, aber niemand ist ihm böse, es gibt keine Opposition mehr, auch vonseiten Rebeccas nicht. Wir haben uns damit abgefunden, bei Lichte betrachtet hat er einen Husarenstreich gelandet und dabei niemandem Schaden zugefügt. Es knistert jedoch noch in der Luft, eine Frage ist noch hängig und Wolfgang genießt es sichtlich, sie nicht von sich aus zu beantworten, denn die Frage wurde bis zu diesem Zeitpunkt von niemandem gestellt.
Timothy erlöst uns, guckt Wolfgang an, schmunzelt und meint; „auch wenn es innerhalb unseres Bildungsstandes nicht zu den wohlerzogenen Eigenschaften gehört, erlaubst du uns, Pfarrerstöchter, noch die letzte Frage, wirst du mit dem Erlös aus dem Verkauf dein Highlife und Konfetti Leben durchziehen können, auch wenn du so um die 100 Jahre alt wirst?“
„Ich habe mich bei der Preisverhandlung echt zurückgehalten. Auch überlegt, dass Geld nicht alles ist. Vielleicht in 20 Jahren nichts mehr wert ist, doch ein rundes Sümmchen durfte es schon sein. Also vorne ist eine zwei, gefolgt von zwölf Nullen. Dabei bemerkte ich noch, dies ist ein Black Friday Angebot. Es hatten alle gelacht und mir auf die Schultern geklopft.“
"Ich kriege das Ohrenrauschen, Rebecca ordnet augenscheinlich gerade die Nullen und Timothy nickt, sitzt da und lacht lautlos in sich hinein."
* * *
Epilog
Im Juni, des Jahres 2368 fahren Timothy und Doro mit einem Klima Bus vom neu erbauten Flughafen Porte du ciel Orly von Paris nach Westen ins kleine Saint-Valery-en-Caux in der Normandie. Den Strand und Kleinhafen gibt es nicht mehr, es wurde beides einerseits vom um 12 Meter höheren Meeresspiegel verdrängt, jedoch auch, weil Yachten und Boote schon seit fast 200 Jahren verboten sind. Fischen dürfen nur noch vom Staat autorisierte Fischer, mit von der Behörde begleiteten Überwasser-Fahrzeuge.
Auf den umliegenden Anhöhen von Saint-Valery-en-Caux, die bis zu 90 Meter hoch sind, haben Timothy und Doro 2151 eine Villa gebaut, die auch Laboratorien beinhaltet. Beide arbeiten schon lange für den französischen Sicherheitsdienst, allerdings kennt man sie heute als Urs von Wartburg und Isabell König.
Die damals noch verfügbaren 75.000 Elixier-Flacons wurden an dieselben Investoren verkauft, da wir, Rebecca, Timothy und ich, uns außerstande fühlten, eine Privilegierten-Liste zu erstellen, wem das „ewige Leben“ nun zustehen würde und das Verfalldatum der Elixiere immer näher rückte. Garantierter Zuspruch der Käufer an uns Verkäufer war, wir erhalten alle eine neue Identität.
Das europäische Gesamtbild hat sich bereits in ganz Zentral- und
Nordeuropa drastisch verändert. Es gibt nur noch Staats-privilegierte und Fußvolk. Der Süden Europas und der Osten sind hermetisch vom Zentrum und Norden abgeschirmt, Mauern, Minenfelder und
Special-Forces, sichern die Grenzen. Ebenso wurde mit dem vorderen und hinteren Orient verfahren. IS, Taliban, kurz, der ganze Islam wurde genauso ausgemauert, entwaffnet und ausgeschlossen.
Während Afrika zu einem blühenden Kontinent aufgepäppelt wurde.
Demokratien sind abgeschafft und verboten. Man hat sich mehr und mehr für die chinesische Staatsform entschieden.
Die Weltbevölkerung hat sich auf ein Drittel dezimiert, doch es finden keine Volkszählungen mehr statt. An der Spitze der Todesursachen figurieren Suizid, Seuchen, Lebensmittelvergiftungen, Wasser-Mangel, Hungertod. Die damals als zwar störende, jedoch nicht wirklich gefährliche Pandemie Covid-19 konnte innerhalb von zwanzig Jahren fast eliminiert werden, doch es kamen neue, andere. Maskentragen nutzt jetzt nichts mehr, es sind Nasenfilter obligatorisch. Kriminalität ist fast gänzlich verschwunden, denn wer nicht pariert, wird in den Süd/Ost Raum verbannt und kann nicht mehr zurück. Selbstmorde sind an der Tagesordnung, mit stetig steigender Tendenz. Die EU musste im Jahre 2066 die Insolvenz erklären, wurde aufgelöst und ein Dutzend ihrer führenden Köpfe wurden zu je 35 Jahren Einzelhaft wegen Betrügereien mehrerer Milliardenhöhen verurteilt.
Autobahnen sind abgeschafft bzw. in einspurige Bus Wege mit Ausweich-Stellen umgewandelt. Fahrzeuge gibt es nur noch für öffentliche Dienste und privilegierte. Autohersteller gibt es nur noch wenige kontinentale, dabei ist der Genossenschaftsgedanke das oberste Gebot. Das heißt, Herstellung ohne jegliches Gewinn-streben.
Oben auf dem Hügel angekommen, macht sich Timothy daran, den vorgesehenen Champagner zu entkorken. Das vor besprochene und endgültige Versprechen, wollen wir heute, mit einem „Dinner for two“ einlösen.
„Es jährt sich heute zum 253. Mal, dass Wolfgang das Zeitliche segnete und genau so gestorben ist, wie er es damals scherzhaft formuliert hatte. Damals, im Feudalrestaurant Mére Catherine beim …., Kehraus Ball!“
„Stellt euch vor, meine Lieben, ich würde etwa 85 Jahre alt, sitze an einem wunderschönen Junitag auf einer Bank im schattigen Park, blicke auf ein erfülltes, sehr schönes Leben zurück, Mini ist wieder Mode, und ich ergötze mich an den schön geformten Kurven ….“,
„und dann“, ergänzt Doro, „steht plötzlich der Sensenmann vor ihm und holt ihn ab! Mit 84 Jahren. Während sich Rebecca klammheimlich und ohne die geringste Vorankündigung mit 103 Jahren den Suizid verpasste.“
„Ja, wenn er wüsste, der Wolfgang, wie ich ihn beneide, die Dinge so glasklar gesehen zu haben, er hat das einzig Richtige getan. Auch seine bösesten Worte und Schilderungen über die Welt haben sich total bewahrheitet, wir haben 300 Jahre zu spät begriffen, es würde zu diesem Zeitpunkt nun auch keine Rolle mehr spielen, wenn jemand noch eine oder gleich mehrere Atombomben zündet. Es war damals schon vorbei, doch erst heute wissen wir es. Zum Glück sind wir von der Branche Tim, mit unserer Eigenkreation wird nichts schiefgehen und wir folgen Wolfgang ohne Schmerz.“
Timothy hebt sein Glas und sagt verstohlen; „ich habe noch etwas gemogelt, diese und auch die nächste Flasche sind noch ohne Elixier, bei der dritten dann aber …“, das Personal serviert gerade le hors-d´oeuvre.
„Ich danke dir, Tim, von ganzem Herzen, das Gefühl, das mich jetzt begleitet, übertrifft dasjenige, das ich hatte, als wir das Lebenselixier erschaffen hatten, um Lichtjahre, santé.“
ENDE
Im 2. Rang und Gewinnerinnen von 80 Euro
Merle (links) und Mara,
als Autorinnen eines gemeinsamen Werkes
(Beitrag Nr. 034)
Merle und Mara haben sich in der fünften Klasse kennengelernt und von da an leidenschaftlich ihr besonderes Hobby – Schreiben – gepflegt. Ihr gemeinsames Interesse zur Literatur hat beide auch dann immer noch zusammengehalten, wenngleich sie später an verschiedenen Orten lebten und studierten. Merle in Bielefeld Psychologie und Mara steckt aktuell noch im Studium der Rechtswissenschaft in Düsseldorf.
Während der Pandemie begannen beide mit dem Manuskript für einen Krimi und sind dabei
auch über den ausgeschriebenen Wettbewerb der „Unsterblichkeit“ gestoßen.
„Der noch allgegenwärtige Krimi, hat uns dabei inspiriert, dem Genre treu zu bleiben und unter den VIER so richtig ›Musik‹ zu machen!“
Wir freuen uns über den 2. Podestplatz und machen gerne wieder mit, wenn uns das Thema gefällt. Wir danken allen Leser*innen, die unseren Beitrag mit Punkten bedachten.
Herzliche Grüße
Merle & Mara
Sehr verehrte Merle,
sehr verehrte Mara,
einem Krimi gerecht, gelingt es Ihnen, gleich zu Beginn für Spannung zu sorgen, deren Ausgang der Leser nicht verpassen will. Bestimmt eine interessante Perspektive, auch dahingehend – dass zu zweit – Materien vertraute Gedanken jederzeit präsent sind und einseitiges oder festgefahrenes Denken dadurch gemildert oder gar ganz ausgeschaltet werden kann. Auch gelingt es Ihnen, das menschlich unperfekte zu entblößen. Aber ganz gut gelingt Ihnen der Schluss, denn weder die Detonation des Sprengsatzes, noch der peitschende Knall einer Hand-feuerwaffe besiegelt das Ende, jedoch eine gelungen er-schaffene Nachdenklichkeit, die darin gipfelt, dass auch bei Personen mit höherem IQ, Pannen passieren, die sich weder berechnen, noch voraussehen lassen.
Gratulation zu Ihrem 2. Podestplatz.
Hanspeter Traub
(Lesezirkel LeBuzEbjK)
(Urheberrechte & Copyrights © by Merle und Mara)
15.04.2045
Geschockt blickte Dorothea in den Lauf einer Waffe. Sie hatte gedacht, sie wäre Herr der Lage, aber nun musste sie sich etwas einfallen lassen. An Rebeccas zitternden Händen konnte sie erkennen, dass diese noch keinesfalls entschlossen war, abzudrücken, also blieben ihr vielleicht noch einige Minuten, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Andererseits machte ihre Nervosität sie auch unberechenbar und es könnte jederzeit zu einer Kurzschlusshandlung kommen.
„Hältst du das wirklich für eine kluge Idee? Wenn du jetzt abdrückst, ist auf jeden Fall alles verloren.“ In Rebeccas Gesicht spiegelte sich Ungläubigkeit.
„Der Sprengsatz ist so programmiert, dass er, wenn ich nichts unternehme, ungehindert in die Luft geht.“ Sechs Augen starrten sie an, mit einer Mischung aus Skepsis, Wut und Verzweiflung.
02.03.2045
Dorothea Blau strich die Bluse glatt, die sie an diesem Morgen in Eile noch schnell gebügelt hatte, denn sie hatte während ihrer Laufbahn gelernt, dass man noch so überzeugende Argumente haben konnte, wenn die Optik nicht stimmte. Und heute würde sie es sowieso schwer haben, die anderen zu überzeugen. Ihr gegenüber saß Rebecca Grün, die vor Stolz strahlte, auch wenn sie versuchte, das zu überspielen. Rebeccas durch zahlreiche Exkursionen sonnengebräunte Haut leuchtete förmlich, das Haar trug sie zu einem sportlichen Pferdeschwanz gebunden. Sie vermittelte das Gefühl, dass sie diese Konferenz leitete, obwohl sie alle vier gleichberechtigte Partner waren.
„Schön, dass ihr an diesem besonderen Tag alle da seid. Lasst uns direkt anfangen, wir haben heute viele Punkte auf der Agenda. Nach welchen Kriterien wollen wir die Zuteilung des Elixiers vornehmen?“, eröffnete sie die Konferenz. Dorothea traute ihren Ohren kaum, für sie war es noch lange nicht beschlossene Sache, dass sie das Mittel überhaupt verwenden würden. Wider Erwarten stimmte Timothy Grau Rebecca sofort zu:
„Gut, dass wir uns schonmal einig sind, die wenigen Dosen nicht verfallen zu lassen.“ Timothy trug einen maßgeschneiderten Designeranzug und strich sich beim Reden über das glattrasierte Kinn. Er war schon immer auf maximale Leistung aus gewesen und hatte aufgrund seiner Besessenheit von der Forschung keine Familie. Dorothea versuchte freundlich zu klingen, als sie sagte:
„Waren wir uns da wirklich schon einig?“. Verständnislose Blicke hefteten sich auf sie, auch der von Wolfgang Gelb, von dem sie sich die meiste Unterstützung erhofft hatte.
„Stand das jemals zur Debatte? Wir werden doch wohl kaum das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung, mit der wir viele Menschen retten könnten, ungenutzt lassen“, nahm Rebecca ihr direkt den Wind aus den Segeln und besaß sogar die Frechheit, dabei eine Augenbraue hochzuziehen, sodass Dorothea nun dastand, als verstehe sie die Bedeutsamkeit der ganzen Diskussion nicht. Davon ließ sie sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Zum ersten Mal mischte sich auch Wolfgang Gelb aktiv ein: „Denk doch nur mal daran, wie viele Todkranke wir vor dem Tod bewahren könnten. Ich könnte es nie mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn wir Menschen sterben lassen, obwohl wir sie mit dem Mittel doch retten könnten. Das ist doch unterlassene Hilfeleistung.“. Timothy verdrehte die Augen.
„Wir haben diese einmalige Möglichkeit, willst du wirklich keine höheren Ziele verfolgen als x-beliebige Menschen vor dem Tod zu bewahren?“
Rebecca betrachtete Timothy gespannt und fragte:
„Möchtest du deine Idee nicht mit uns teilen?“. Timothy erhob sich mit großer Geste und startete ungefragt auf der Leinwand eine Präsentation. Innerlich verdrehte Dorothea die Augen, Timothy hatte schon immer gern im Rampenlicht gestanden und verkaufte seine eigenen Ideen oft als revolutionär. Die ersten Bilder der Präsentation zeigten ausgetrocknete Flussbetten und verdorrte Felder, dann wiederum waren überflutete Ortschaften und die dicht an dicht gedrängten Zeltlager, die die ärmeren Stadtteile prägten, zu sehen. Die Menschen dort waren von Krankheit geplagt, die sich aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte nicht eindämmen ließen. Auf den Gesichtern der Anwesenden zeichnete sich das schlechte Gewissen ab, sie alle waren schon bevor sie das Elixier erhalten hatten, privilegiert gewesen und verdrängten die katastrophalen Zustände, in denen andere leben mussten, oft.
Timothy schaute einem nach dem anderen in die Augen, dann fragte er in die Runde:
„Wer wäre in der Lage, uns aus dieser Misere herauszuführen? Wer könnte eine Lösung für all unsere Probleme finden?“. Obwohl die Fragen offensichtlich rhetorisch gemeint waren, ließ er sie im Raum stehen und eine unangenehme Stille folgte. Dann endlich erlöste er sie und zeigte das nächste Bild. Zu sehen war ein sehr bekannter Biochemiker, der beeindruckende Durchbrüche in der Krebsforschung zu verzeichnen hatte.
„Dr. Thomas Wilson ist jetzt bereits 68 Jahre alt. Was könnte er wohl erreichen, wenn er auch nur ein paar Jahre mehr zu leben hätte?“. Wieder machte er eine dramatische Pause und obwohl sie nun alle wussten, worauf er hinauswollte, äußerte sich niemand. Es folgte eine Diashow mit einer schnellen Abfolge bereits verstorbener intellektueller Größen, Dorothea erkannte sie alle. Albert Einstein war dabei, Marie Curie, Stephen Hawking und viele weitere, die Großes bewegt hatten. Timothy hatte auf eine große Bandbreite gesetzt, es waren viele Ärzte dabei, aber auch Wissenschaftler aus anderen Gebieten und sogar ein paar Politiker und Philosophen. Sie konnte nicht anders, als ihm innerlich zuzustimmen, die Welt wäre eine andere, wenn einige dieser Menschen länger gelebt hätten. Timothy ging über zur nächsten Folie, auf welcher eine Liste kluger Köpfe aus Wissenschaft und Technik zu sehen war.
„All diese Leute könnten Großes für uns bewirken, wenn sie die Zeit hätten, die ihnen zusteht. Auf dieser Liste stehen gerade mal 100 Menschen. Wir könnten den Rest des Mittels in den Nachwuchs investieren, junge Talente, aber auch diejenigen, die biologisch gesehen das beste Erbgut haben. Wir haben ja gesehen, was passiert, wenn sich die Menschheit unbegrenzt vermehrt: In den hoch entwickelten Gebieten fangen die Menschen so spät mit ihrer Familienplanung an oder wollen aus beruflichen Gründen keine Kinder, dass sie das wertvolle Genmaterial ungenutzt lassen. Währenddessen vermehren sich die Leute in den anderen Gebieten geradezu exponentiell.“ Timothy ließ seine Worte erneut wirken. Dorothea erwischte sich bei dem Gedanken, dass auch das der Wahrheit entsprach und schämte sich im nächsten Moment dafür. Wer waren sie, den Wert eines Menschen festzulegen, zu entscheiden, wer sich fortpflanzen sollte und wer nicht; wer es verdient hatte weiterzuleben oder wer sterben musste? Rebecca Grüns Augen leuchteten, sie hing förmlich an Timothys Lippen.
„Danke für deinen Beitrag“, riss sie das Zepter dann jedoch wieder an sich.
„Das ist ein sehr interessanter Vorschlag, wir sollten weiter darüber nachdenken.“ Dorothea bemühte sich um Fassung und sagte in möglichst ruhigem Tonfall:
„Haltet ihr das wirklich für ethisch vertretbar? Darf man denn den Wert eines Menschen anhand seines Nutzens für die Gesellschaft bestimmen?“. Drei überraschte Augenpaare richteten sich auf sie. Timothy lehnte sich selbstgefällig in seinem Stuhl zurück und lächelte überlegen.
„Ich denke wohl, dass es aus moralischer Sicht ein größerer Fehler wäre, das Mittel ungenutzt verfallen zu lassen. Wir als Wissenschaftler haben schließlich eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Außerdem würde so der größte gesamtgesellschaftliche Nutzen erreicht werden, das sollte doch eigentlich immer unser Beweggrund sein.“ Timothy setzte zu einer seiner theatralischen Pausen an, also ergriff Dorothea die Gelegenheit und entgegnete:
„Es ist unmöglich, vorherzusehen, wer den größten Nutzen für die Gesellschaft hätte, es gibt zu viele Unbekannte in dieser Gleichung. Was nutzt das größte Genie, wenn er sich sicher zur Ruhe setzen will? Und das medizinisch beste Erbgut sagt ja nichts darüber aus, ob eine Person erhaltenswerte Einstellungen hat und möglicherweise weitergibt.“ In diesem Moment schaltete sich Wolfgang ebenfalls ein:
„Inzwischen gibt es zuverlässige Methoden, die psychischen Faktoren genau einzuschätzen. Erst voriges Jahr habe ich eine aussagekräftige Studie dazu publiziert. Das könnten wir ja in eine Gesamtbewertung mit einbeziehen.“ In ihr formte sich ein Gedanke, der langsam konkretere Gestalt annahm, aber sie war noch nicht bereit, ihn zuzulassen. Erst musste sie alles versuchen, die anderen zu überzeugen. Rebecca setzte sich geschäftig ihre Brille auf, ein strahlend blaues Modell, von dem Dorothea vermutete, dass es nur mit Fensterglas bestückt war und von Rebecca lediglich genutzt wurde, weil sie diese Geste so gerne einsetzte.
„Ich hatte den gleichen Gedanken wie Timothy, das ist ja auch die einzig naheliegende Lösung. Jetzt gilt es nur noch, die Rahmenbedingungen zu klären“. Wolfgang sprang wütend auf, scheinbar hatte er sich doch nicht von Timothys Vorschlag vollständig einlullen lassen.
„Das können wir doch nicht machen! Wollen wir wirklich die Möglichkeit ausschlagen, viele kranke Menschen zu retten? Außerdem haben Angehörige verschiedener Schichten völlig ungleiche Voraussetzungen, so würde der Zugang zu Bildung über die Sterblichkeit entscheiden. Das ist doch nicht richtig!“ Timothy schaute Wolfgang mit wissender Miene an, bevor er sagte:
„Das hätte ja auch den angenehmen Nebeneffekt, dass wir dann auch deine kranke Frau retten könnten, oder? Doch welchen Nutzen hätte deine Gattin für uns alle? Wenn ich mich recht erinnere, ist sie chemisch-technische Assistentin und wird uns wohl kaum zu wissenschaftlichen Durchbrüchen führen.“ Sogar Rebecca schnappte hörbar nach Luft, Timothy hatte, indem er Wolfgangs Frau ins Spiel brachte, eine unsichtbare Grenze zu dessen Privatleben überschritten. Wolfgangs Gesicht färbte sich verräterisch rot.
„Die einzige wirklich moralische Lösung wäre, den Zufall entscheiden zu lassen“, überlegte Dorothea laut.
„Wie stellst du dir das vor? Die Melderegister sind unvollständig, also würden dabei auf keinen Fall alle Leute berücksichtigt werden. Außerdem waren wir doch schon so weit, nicht wahllos irgendwen unsterblich zu machen“, entgegnete Rebecca.
In den nächsten Stunden drehte sich die Diskussion immer weiter im Kreis. Timothy wollte weiterhin den größten Nutzen erreichen, während Rebecca offensichtlich vor allem mit ihrer Forschung in die Geschichte eingehen wollte. Wolfgang versuchte immer noch vor allem Kranke zu retten und schien auch die Hoffnung noch nicht aufgegeben zu haben, das Leben seiner Frau zu retten. Egal, zu welcher Lösung sie kommen würden, für die praktikable Umsetzung würden technische Berechnung benötigen. Menschen wären zu fehleranfällig, um diese Aufgabe zu übernehmen. Dorothea war die Einzige, die sich mit dem Programmieren zuverlässiger Algorithmen auskannte. Deshalb lehnte sie sich zurück und wartete darauf, dass die anderen sie darauf ansprechen würden.
„Was glaubt ihr, würden die Leute einfach ruhig bleiben, wenn öffentlich bekannt würde, dass wir vorhaben über die Lebensdauer der Menschen zu entscheiden? Es würde Aufstände geben, keiner von uns wäre mehr sicher, die Ausmaße können wir jetzt noch gar nicht abschätzen. Wenn ihr weiter auf eurem Standpunkt bleibt, wäre die Presse bestimmt sehr interessiert daran, in die Hintergründe unserer Forschung Einblick zu erhalten“, drohte Wolfgang.
„Das würde deine Frau auch nicht retten. Aber wir können uns ja vielleicht darauf einigen, eine Dosis für deine Frau zu sichern. Dafür müsstest du aber aufhören, das Projekt zu sabotieren“, sagte Timothy mit einem fragenden Seitenblick zu Rebecca. Diese nickte stumm. Wolfgang gab sich geschlagen, das Angebot war einfach zu verlockend, als dass er ihm hätte widerstehen können.
Das war der richtige Moment, sich wieder einzumischen.
„Eure Argumente waren überzeugend, dann ist es jetzt also beschlossene Sache. Jetzt fehlt nur noch die Umsetzung“, versuchte Dorothea wieder Kontrolle über die Situation zu erlangen. Wie erhofft schlug Timothy vor:
„Am effektivsten wäre es, wenn wir den Prozess mittels eines Algorithmus automatisieren.“
„An die Daten der Krankenkassen zu kommen, sollte ja kein Problem sein, wir haben ja schon oft mit denen kooperiert. Weitere soziodemografische Daten erhalten wir dann über das Melderegister und zusätzliche Variablen, die für uns von Interesse sind, können wir für infrage kommende Menschen durch standardisierte Tests erheben“, fügte Rebecca hinzu. Dorothea erklärte:
„Ich könnte einen Algorithmus entwickeln, der sich die Daten zieht und auswertet. Dann hätten wir in der kürzesten Zeit das bestmögliche Ergebnis und könnten die Leute kontaktieren“.
13.04.2045
Der Balken auf Dorotheas Bildschirm war schon zum großen Teil gefüllt. Eine seltsame Mischung aus Euphorie und Zweifel machte sich in ihr breit. Auch wenn sie wusste, dass die Dosen gewissermaßen vergeudet waren, war sie doch überzeugt davon, das Richtige zu tun. Das Schrillen des Telefons unterbrach sie. Wolfgang kam direkt zum Punkt:
„Was ist dein Plan, der Algorithmus ist offensichtlich manipuliert. Laut Algorithmus bin ich geeignet, das Mittel verabreicht zu bekommen.“
„Für Personen, die das Mittel bereits verabreicht bekommen haben, rücken entsprechend geeignete Leute nach“, antwortete sie.
„Ich glaube, du verstehst mich falsch. Es geht nicht darum, dass ich das Mittel schon bekommen habe, sondern darum, dass ich nicht geeignet sein kann.“ Dorothea musste schlucken, sie merkte ein flaues Gefühl in der Magengegend.
„Seit der Erkrankung meiner Frau bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Mir kommen schon seit einiger Zeit immer wieder suizidale Gedanken. Du wolltest doch meine Forschung in den Algorithmus einarbeiten, sodass nur psychisch gesunde Probanden ausgewählt werden.“ Unter anderen Umständen hätte Dorothea die Vorwürfe abgestritten, doch der Algorithmus hatte sie zu viel Schlaf und zu viele Nerven gekostet.
„Ich habe deine Ergebnisse eingepflegt, aber nicht um psychisch Kranke auszuschließen, sondern um sie bevorzugt auszuwählen. Die Welt ist schon seit Jahrzehnten hoffnungslos überbevölkert, da brauchen wir keine Unsterblichen, die sich unbegrenzt fortpflanzen können. Der physische Alterungsprozess wird durch das Elixier zwar aufgehalten, aber es kann nicht verhindern, dass sich jemand das Leben nimmt. Dann wäre auch das Problem gelöst, dass die Auserwählten unbegrenzt noch mehr Nachkommen zeugen.“
15.04.2045
Diese spontane Krisensitzung hatte Rebecca einberufen. Dorothea war nervös, doch sie hatte Vorkehrungen getroffen, falls das eintreten sollte, was sie befürchtete. 60.000 der 100.000 Dosen waren schon verabreicht worden, ihr Plan war also schon zum größten Teil aufgegangen. Rebecca ergriff das Wort:
„Wir stehen vor einem ernsten Problem. Scheinbar ist der Algorithmus fehlerhaft. Unter den Auserwählten sind auffallend viele, auf die unsere Auswahlkriterien nicht zutreffen. Es sind vor allem einige dabei, die psychisch erkrankt sind. Eine Dosis ist bereits vergeudet, nachdem sich einer der Probanden suizidiert hat. Das Elixier verhindert zwar natürliche Alterungsprozesse, doch psychische Erkrankungen kann es nicht heilen.“ Timothy blickte ernst und beobachtete Dorothea mit undurchschaubarer Miene. Wolfgang fragte:
„Es ist doch sicher möglich, diesen Fehler zeitnah zu beheben, oder Dorothea?“ Timothy lachte gehässig auf.
„Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass das Zufall ist, oder? Dorothea ist eine der besten ihres Fachs, so ein gewichtiger Fehler würde ihr niemals unterlaufen. Sie war von Anfang an gegen das Auswahlverfahren und jetzt hat sie ja was sie will.“ Stille machte sich im Raum breit. Rebecca wandte sich an Dorothea.
„Was sagst du dazu?“, fragte sie mit kalter Stimme. „Ja, so ist es und ihr habt es nicht anders gewollt. Das ganze Projekt war von Anfang an falsch und das wusstet ihr auch, aber euer Ehrgeiz und Rebeccas Stolz haben euch dazu getrieben, es trotzdem zu tun. Ihr wolltet Gott spielen, aber diese Rolle steht euch nicht zu. Vor diesem Treffen war ich mir nicht sicher, ob ihr dahinterkommen würdet, deswegen hab ich mich vorbereitet. Im Lager des Elixiers befindet sich genug Sprengstoff, um es restlos zu zerstören.“ Dorothea musste gegen ihren Willen lächeln. Die Gesichter der drei anderen variierten von ungläubig zu schockiert.
Plötzlich hatte Rebecca eine Waffe in der Hand und richtete sie auf Dorothea.
„Du machst nicht kaputt, was ich mir jahrelang aufgebaut habe. Du fühlst dich moralisch überlegen, dabei bist du nicht besser als wir. Du hast auch Leute sterben lassen, indem du ihnen das Mittel vorenthalten hast.“ Rebecca entsicherte die Waffe.
„Hältst du das wirklich für eine kluge Idee? Wenn du jetzt abdrückst, ist auf jeden Fall alles verloren.“ In Rebeccas Gesicht spiegelte sich Ungläubigkeit.
„Der Sprengsatz ist so programmiert, dass er, wenn ich nichts unternehme, ungehindert in die Luft geht.“
Sie hatte an alles gedacht, alle Variablen miteinbezogen. Sie war perfekt vorbereitet hierhergekommen. Nur eine Sache hatte sie nicht vorhersehen können, dass Rebecca eine so unvernünftige Entscheidung treffen könnte. Vielleicht würde Dorothea nun selbst schneller an die Grenzen der Unsterblichkeit stoßen als sie geglaubt hatte.
ENDE
Im 3. Rang und Gewinner eines
Geschenkes im Wert von 60 Euro
Philipp Klaiber
(Beitrag Nr. 009)
Froh und zufrieden sein, gehört bei Philipp zum Berufsethos, denn nebst der Geige oder sollte ich Violine sagen? Die er spielt, ist er Tanzlehrer und bei Damenwahl wird er vom weiblichen Geschlecht umzingelt!
Auf die Frage, was denn nun der Unterschied wäre, zwischen einer Geige und einer Violine meint er lachend; „ich habe noch nie gehört, dass jemand nach der Violine eines andern tanzt, hingegen schon oft, dass jemand nach seiner, meiner oder wessen auch immer, Geige tanzt, aber als Instrument sprechen wir dann von ein und derselben Sache. Ich denke mal, im Bierkeller spricht man wahrscheinlich eher von einer Geige, während bei einem Mozart Konzert die Bezeichnung Violine benutzt wird.“
Zur Wettbewerbsaufgabe meint er; „auf den ersten Blick eine echte Herausforderung, doch dann wird man in den Dialogen unter den vier Eigentümern, je länger, desto mehr verunsichert und stellt selber als einer der Miteigentümer fest, dass sich ein endloses Geschwätz anbahnt, mit wenig Aussicht auf ein turbulentes Ende. Das hat mich dazu veranlasst, zumal der Mensch im Allgemeinen nebst seiner (falls überhaupt vorhandenen) Ethik und Moral auch über ebenso viel Missgunst und Habgier verfügt, was mich zum Entschluss bewog, dieses Unruhe stiftende Elixier vernichten zu lassen, was ich mit der Inszenierung einer Verfolgungsjagd herbeiführte. Wie ich danach beim Durchlesen der andern Beiträge feststellen konnte, war ich nicht alleine mit der Überlegung, dass wir vier Eigentümer zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen sein dürften, weder eine falsche, noch eine richtige Antwort auf das anstehende Problem abzugeben.“
„Ich freue mich natürlich sehr, dass mich der Platz auf dem Podest echt anspornt, für meinen ersten, eigenen Roman, mit dem ich im Dezember begonnen habe.“
„Es lebe das einzige Elixier-Flacon, das ich mir vor der Explosion des Transporters noch unter den Nagel gerissen habe!“
Mit diebischen Grüßen
Philipp
Sehr geehrter Philipp,
es ist sehr hilfreich, wenn man während des Schreibens selber in der Lage ist, der Geschichte einen neuen Impuls zu verleihen, wenn man spürt, der erste Weg läuft Gefahr, in einer Sackgasse zu enden. Wir haben das bei einigen der Wettbewerbsbeiträge festgestellt und waren auch über den Ideenreichtum recht beeindruckt. Sie haben von beiden Leselagern Anerkennung (Punkte) bekommen, das heißt, vom Experten, als auch vom auf reine Unterhaltung ausgerichteten Leser.
Herzlichen Glückwunsch zum Podestplatz
Yvonne Woodtli
(Lesezirkel LeBuzEbjK)
Das Elixier des Lebens
(Urheberrechte & Copyrights © by Philipp Klaiber)
Becky rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. Die Sitzung hätte bereits seit zehn Minuten beginnen sollen, doch Martin war immer noch nicht anwesend. Das war für uns leider nichts Neues mehr, doch diese Sitzung war wichtiger, als alle anderen zuvor.
„Wo bleibt er denn?“ Sarah schaute genervt auf ihre Uhr. Ich wollte schon mein Handy aus der Hosentasche holen, um Martin anzurufen, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür zum Sitzungssaal und er kam herein.
„Wurde auch mal Zeit, dass du auftauchst.“ Ich konnte mir meinen Kommentar nicht verkneifen, war es doch in der letzten Zeit häufiger vorgekommen, dass er zu spät zu Besprechungen kam.
„Jetzt reg dich ab, Tim!“ Er kam an den runden Tisch, an dem wir bereits saßen und setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl.
„Wir sind unsterblich. Ist nicht gerade so, als hätten wir irgendwie Zeitdruck.“ Mit diesen Worten legte er demonstrativ seine Füße auf den Tisch und holte sein Handy hervor. Martin hatte sich charakterlich seit der Einnahme des Elixiers massiv verändert. Doch diese Arroganz, die er diesmal zur Schau stellte, ärgerte mich massiv. Wir waren mal Freunde mit dem gleichen Ziel, doch ich erkannte diese Person, die da vor mir saß, nicht mehr wieder. Bevor ich etwas sagen konnte, begann Sarah das Wort zu ergreifen.
„Ich denke, wir wissen alle wieso wir hier sind?“ Dabei schaute sie in die Runde, doch ihr Blick blieb vor allem auf Martin hängen, der desinteressiert auf sein Handy schaute.
„Falls nicht, dann fasse ich noch einmal kurz zusammen, worum es heute geht. Der Ausbruch des Vulkans hat dafür gesorgt, dass die Mount Hagen Pflanze ausgestorben ist, und damit die Existenz-grundlage unseres Unsterblichkeit-Elixiers vernichtet wurde.“
„Sind wir sicher, dass die Pflanze wirklich restlos ausgelöscht wurde?“ Ich hatte die Berichte gelesen, doch ich hoffte, dass vielleicht einige wenige Setzlinge überlebt haben könnten, die wir in Gewächshäusern hätten züchten können.
„Ja, wurde sie.“ Beckys Stimme klang traurig, denn sie war es, die die Pflanze entdeckt hatte. Leider hatte sie nicht daran gedacht einige Setzlinge mitzunehmen, um sie neu anzupflanzen.
„Ich war dort, nachdem sich die Situation beruhigt hatte. Es ist nichts mehr übrig.“
„Und genau deshalb sind wir hier, um zu diskutieren, wer die verbliebenen einhunderttausend Einheiten des Unsterblichkeit-Elixiers erhalten soll.“
Sarah schaute wieder mit bösem Blick zu Martin, der so vertieft in sein Handy war, dass er gar nicht mitbekam, was um ihn herum passierte. Becky war die erste, die einen Vorschlag vorbrachte.
„Ich würde vorschlagen, wir geben das Elixier ausgewählten Familien mit schwerkranken Kindern. Wir wissen, dass das Elixier die Krankheiten nicht heilen kann, aber zumindest den Alterungs-prozess aufhält, und somit zum Beispiel auch die Bildung neuer Krebszellen bei Krebspatienten verhindert.“ Das war typisch Becky.
Sie war schon immer mehr am medizinischen Aspekt des Elixiers interessiert, als an der Tatsache, dass man damit Unsterblichkeit erlangte.
„Prinzipiell eine sehr schöne Idee, aber da kommen große Probleme auf uns zu.“ Ich nickte, um Sarah zu bestätigen, während Martin weiterhin auf sein Handy starrte, ohne uns zu beachten.
„Nicht nur, dass wir höchstwahrscheinlich von einer Flut an Anfragen überrannt werden, wenn wir damit an die Öffentlichkeit gehen. Wie sollen wir das ethisch und moralisch entscheiden, welches Kind das Elixier bekommt, und welches nicht?“
Becky schien selbst das Problem an diesem Vorschlag zu erkennen, da ihr Blick bei Sarahs Worten langsam zu Boden sank.
„Ich meine, wie entscheiden wir das? Ist ein krebskrankes Kind dann mehr wert, als eines, das an einer schweren Lungenkrankheit leidet?“
„Ist ja gut, ich hab’s verstanden.“ Becky tat mir leid. Sie hatte ein gutes Herz, doch sie dachte nicht weit genug voraus, um die Konsequenzen ihres Handelns vorherzusehen.
„Ich würde vorschlagen, wir geben das Elixier den wichtigsten Menschen auf der Welt.“ Sarah war in letzter Zeit sehr politisch engagiert, weshalb ich bereits wusste, was sie vorschlagen wollte.
„Wir sollten es Politikern und Politikerinnen geben, oder dem Papst. Diese Leute könnten auf Dauer wirklich etwas in der Gesellschaft bewegen.“ Becky schien von der Idee nicht überzeugt zu sein und auch ich musste mich einmischen.
„Ich halte das für keine gute Idee. Menschen, die Macht haben, wollen sie für gewöhnlich nicht unbedingt wieder abgeben. Wenn wir ihnen nun auch noch Unsterblichkeit schenken, meinst du nicht, dass diese Leute dann versuchen würden ihre Macht bis in alle Ewigkeit zu festigen? Das würde Diktaturen Tür und Tor öffnen.“
„Du glaubst doch nicht, dass Menschen wie Gandhi oder Martin Luther King eine Diktatur aufgebaut hätten, wenn sie unsterblich gewesen wären?“ Sarah war beleidigt, da ich ihre Idee nicht so gut fand, wie sie es tat.
„Gandhi und King sind aber Ausnahmen. Du willst vor allem Politikern das Elixier geben. Wer sagt dir, dass diese Politiker nicht machtgierig werden, nachdem sie Unsterblichkeit erlangt haben?“ Ich wollte es nicht laut aussprechen, doch Beckys und Sarahs Blicke gingen gleichzeitig zu Martin, was mir zeigte, dass beide verstanden hatten, worauf ich anspielte.
„Und was schlägst du vor, wenn dir mein Vorschlag nicht
gefällt?“ Sarah war eine harte Diskussionspartnerin geworden, seitdem sie sich politisch engagierte, doch ich wusste, dass man sie mit den richtigen Argumenten überzeugen konnte.
„Ich schlage vor, wir geben das Elixier den wichtigsten Wissenschaftlern unserer Zeit. Stellt euch einmal vor, wo die Menschheit heute wäre, wenn Wissenschaftler wie Nikola Tesla, Albert Einstein oder Stephen Hawking noch leben würden.“ Ich konnte an Beckys und Sarahs Reaktionen erkennen, dass ich die richtigen Argumente gefunden hatte. Martin hingegen beachtete unsere Diskussion immer noch nicht.
„Wir könnten damit vor allem mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die Menschheit würde so einen gewaltigen Sprung machen, dass die Krankheiten der Menschheit schneller und effektiver bekämpft werden könnten, oder es könnten...“
„Das ist doch totaler Bullshit!“ Martin hatte sein Handy weggesteckt und fiel mir ins Wort. Sarah und Becky erschraken, angesichts dieser unerwarteten Reaktion. „Unsere einzige Quelle für die Bestandteile des Elixiers haben sich in Luft aufgelöst und wir sitzen hier, um darüber zu diskutieren, wem wir das Elixier schenken.“ Martin hatte inzwischen seine Füße vom Tisch genommen und beugte sich nun nach vorn.
„Wir sollten lieber darüber diskutieren, wie wir den größtmöglichen Gewinn aus dieser ganzen Sache schlagen können.“ Das war zu viel für mich. Martins Arroganz und Gier waren mir schon seit längerem ein Dorn im Auge, doch damit ging er entschieden zu weit.
„Falls ich dich dran erinnern darf, haben wir die Firma gegründet, weil wir der Menschheit helfen wollten, und nicht um uns selbst zu bereichern. Wir haben bereits genug Geld durch unsere Spendenaktionen.“
„Und was passiert, wenn wir nichts mehr vorweisen können, wofür es sich lohnt zu spenden? Richtig! Es werden keine Spenden mehr fließen, und wir stehen ohne Geld da.“ Martin hatte sich wieder zurückgelehnt, und die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
„Also ich weiß nicht, wie Ihr das seht, aber ich würde das Elixier an die Reichen und Schönen verkaufen. Irgendwelche gelangweilten Milliardäre, die dafür einen Haufen Kohle hinblättern, werden sich schon finden lassen. Und sobald wir alles verkauft haben, heißt es Sachen packen und dann ab in die Karibik.“
Martin grinste mich an, und mir drehte sich der Magen um. Ich stand so
schnell auf, dass mein Stuhl umkippte und zu Boden fiel. Es war nicht meine Absicht, doch ich begann zu brüllen.
„Wir hatten mal den Gedanken, der Menschheit einen Gefallen zu tun, und das einzige, woran du denkst, ist, dir irgendwo in der Karibik ein schönes Leben zu machen?“ Ich begann zu zittern, und ich musste mich am Tisch abstützen, um nicht meinen wackligen Knien nachzugeben.
„Ich werde nicht zulassen, dass du unser Lebenswerk an den meistbietenden verkaufst.“ Martin war jetzt ebenfalls aufgestanden und wurde ebenfalls lauter.
„Und wer soll mich daran hindern? Du etwa?“
„Genug! Das reicht jetzt!“ Sarah war nun ebenfalls am Stehen, und versuchte, Herrin über die Lage zu werden. Nur Becky schien von der Situation eingeschüchtert zu sein, und blieb still sitzen. Martin und ich schauten uns weiterhin mit verachtenden Blicken an, doch nach kurzer Zeit setzen wir uns wieder und beruhigten uns. Sarah blieb stehen, bis sie sicher war, dass wir nicht wieder zu brüllen beginnen würden. Nachdem sie sich gesetzt hatte, begann sie erneut zu sprechen.
„Ich denke wir sind uns einig, dass wir so heute zu keiner Einigung mehr kommen.“ Ich nickte grimmig, genauso wie Becky und Martin.
„Ich schlage deshalb vor, dass jeder von uns eine Liste mit einhundert Namen erstellt, die repräsentativ für die Gruppe Menschen stehen soll, der man das Elixier geben möchte. Das Meeting verschieben wir auf nächste Woche, wo dann von jedem von uns eine Präsentation gehalten wird, nach der wir dann darüber abstimmen, welche Gruppe das Elixier erhält. Sind alle damit einverstanden?“
Becky und ich nickten kurz, um unser Einverständnis zu dieser Idee zu geben, doch Martin stand auf und lief Richtung Tür.
„Macht doch, was ihr wollt. Ich bleibe bei meiner Meinung.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Sarah seufzte und Becky schüttelte den Kopf. Wir wussten, dass es schwierig werden würde eine Einigung zu erzielen, doch dass Martin dermaßen dagegen arbeiten würde, war bis jetzt niemandem bewusst. Sarah und Becky standen auf, während ich, noch in Gedanken, sitzen blieb.
„Becky und ich haben vorhin beschlossen, dass wir nach der Sitzung noch einen trinken gehen wollen. Kommst du mit?“
„Danke für die Einladung, aber ich denke, ich werde mich gleich daran setzen, meine Liste mit den einhundert Wissenschaftlern zu erstellen. Da bekomme ich den Kopf etwas freier, und kann mich dann die Woche über auf andere Dinge konzentrieren.“ Becky sah enttäuscht aus. Ich konnte es ihr nicht verübeln, schließlich hatten wir das letzte Mal, vor zwei Jahren, etwas unternommen, ohne über die Arbeit zu sprechen.
„Kein Problem, aber mach nicht mehr zu lang bitte. Wir müssen morgen früh unseren Mitarbeitern sagen, dass sie wahrscheinlich ihre Jobs verlieren, wenn wir kein neues Projekt finden.“ Sarah hatte recht. Wir hatten außer dem Unsterblichkeit-Elixier nichts gehabt, was der Firma als Sicherheit dienen konnte. Würden wir keinen baldigen Durchbruch bei anderen Projekten haben, mussten wir einem Großteil unserer Mitarbeiter die Kündigung aussprechen. Ich hasste es, Existenzen zu zerstören.
„Keine Sorge, ich bin morgen fit wie ein Turnschuh. Passt lieber auf, dass ihr morgen keinen Kater habt.“ Die beiden lachten und verabschiedeten sich von mir. Nachdem sie ebenfalls den Raum verlassen hatten, blieb ich noch kurz sitzen, um über das Geschehene nachzudenken, doch nach kurzer Zeit stand ich auf und ging zur Tür. Ich lief den Gang entlang, der am Ende zu dem kleinen Zimmer führte, welches mein Büro war. Ich ging hinein und setzte mich an meinen Schreibtisch, auf dem mein Laptop lag, öffnete ihn und begann meine Recherche nach den großartigsten Wissenschaftlern unserer Zeit. Ich war so in meine Nachforschungen vertieft, dass ich nicht bemerkte, wie es draußen langsam dunkel wurde und der Bildschirm meines Laptops die einzige Lichtquelle im Raum darstellte, schaute zum Fenster, um meine müden Augen kurz
von dem grellen Licht des Bildschirms zu entspannen und bemerkte, dass draußen auf dem Parkplatz Licht zu sehen war. Das war ungewöhnlich, denn außer mir sollte niemand hier sein. Ich schaute nochmals aus dem Fenster, um zu überprüfen, ob vielleicht ein Hase oder ein Fuchs den Bewegungssensor ausgelöst hatte, doch was ich sah, ließ mir das Blut schlagartig in den Kopf schießen. Martin lud gerade einige Kisten mit unserem Firmenlogo in einen Lieferwagen. Die Kisten sahen verdächtig nach denen aus, in denen die Ampullen mit dem Unsterblichkeit-Elixier gelagert wurden. Instinktiv griff ich nach meinem Handy und wählte Sarahs Nummer. Ich wartete nicht darauf, dass sie antwortete, sondern setzte mich, so schnell ich konnte, in Bewegung, um Martin aufzuhalten.
„Hi hier ist die Mailbox von Sarah. Ich kann zurzeit leider nicht antworten. Lass mir doch einfach eine Nachricht nach dem Ton da.“
Nachdem es in meinem Handy gepiept hatte, war ich bereits die Treppen hinuntergerannt und war außer Puste.
„Sarah, hier ist Tim. Wenn du das hörst, dann ruf den Sicherheitsdienst oder die Polizei. Ach was soll’s, ruf die gottverdammte Armee! Martin versucht, das Elixier zu stehlen.“ Ich war nun fast am Eingang des Gebäudes angekommen.
„Ich versuche ihn aufzuhalten, aber beeilt euch!“ Ich öffnete die Eingangstür und rannte auf den Parkplatz. Martin war schon fast eingestiegen, als er mich bemerkte. Er stieg in den Lieferwagen, und startete hastig den Motor, als ich versuchte den Wagen zu erreichen. Kurz bevor ich an der Fahrertür war, schaffte es Martin davonzufahren und ich konnte nur hinterhersehen.
Ich schaute mich um und mein Blick blieb auf einem unserer Firmenwagen hängen. Mir fiel ein, dass ich den Schlüssel immer noch bei mir hatte, da ich mit diesem Wagen vor kurzem erst zu einem Termin gefahren war. Ich stieg hastig in das Auto und startete den Motor, um Martin zu verfolgen. Kurz vor dem Ausgang des Firmengeländes gelang es mir, ihn einzuholen. Martin bemerkte mich und gab Gas, sodass er mit dem Lieferwagen durch die geschlossene Schranke fuhr, die in tausend kleine Plastikteile zersprang. Ich folgte ihm auf die Landstraße, die extra für unsere Firma gebaut worden war. Auf der einen Seite war sie begrenzt durch ein weites Feld, während auf der anderen Seite ein kleiner Abhang war. Die vereinzelten Bäume am Straßenrand wurden allmählich dichter, je weiter wir uns von der Firma entfernten. Ich versuchte, den Lieferwagen zu überholen, damit ich ihn zum Anhalten zwingen konnte, doch Martin blockte jeden meiner Überholversuche ab, sodass ich nicht schaffte, mich vor ihn zu setzen.
Wir schossen die Straße entlang, doch bremste ich ab, da vor uns eine scharfe Kurve auf uns zukam, die wir mit der Geschwindigkeit nicht schaffen konnten. Martin schien sich jedoch zu sehr darauf zu konzentrieren mich zu blockieren, als sich auf die Straße zu konzentrieren. Ich sah, wie er in letzter Sekunde versuchte zu bremsen, doch es war zu spät. Er schoss über die Kurve hinaus und fuhr frontal gegen einen Baum am Straßenrand. Der Lieferwagen wurde dabei zur Seite geschleudert und begann, sich überschlagend, den Abhang hinab zurollen. Ich hielt den Wagen an und stieg aus, um nach Martin zu sehen. Der Lieferwagen war mittlerweile ein gutes Stück den Abhang hinabgerollt und dort zum Stehen gekommen.
Ich lief den Abhang ebenfalls hinab, um Martin zu helfen und sah dabei, dass scheinbar irgendetwas am Lieferwagen massiven Schaden genommen hatte, da ein kleines Feuer unter dem Auto entstanden war. Ich hatte die Fahrertür erreicht und konnte im Inneren Martin sehen, der schwerverletzt, aber wenigstens noch am Leben war. Er schaute mich mit getrübtem Blick an und ich versuchte die Fahrertür zu öffnen. Die Tür ließ sich jedoch nicht öffnen, da sie zu klemmen schien. Ich lief um den Wagen herum, um die Beifahrertür zu öffnen. Dabei sah ich, dass das Feuer sich rasant ausbreitete, und die dunkle Nacht in ein helles Licht tauchte. Dicke Rauchschwaden stiegen vom Heck des Lieferwagens auf. Ich öffnete die Beifahrertür, und versuchte Martin aus dem Auto zu ziehen, doch sein Bein war durch den Aufprall mit dem Baum eingeklemmt. Ich wusste, dass ich ihn ohne Hilfe dort niemals heraus- holen könnte. Ich sah mich um und zu meiner Erleichterung sah ich Scheinwerferlicht auf der Straße.
Das mussten Sarah und Becky sein. Ich stolperte den Abhang hoch und als die beiden ausgestiegen waren, rief ich ihnen entgegen.
„Hey! Hier unten! Ich brauch eure Hilfe!“ Ich war bereits fast an der Straße angekommen und Becky und Sarah liefen mir entgegen.
„Martin hatte einen Unfall. Wir müssen ihn da herausholen, aber sein Bein klemmt fest. Schnell, bevor der Wagen...“ In einem gewaltigen Feuerball explodierte der Lieferwagen und setzte die umstehende Natur nun vollends in Brand. Sarah hielt sich geschockt die Hand vor den Mund und Becky begann zu weinen. Ich konnte nichts weiter tun, als vollkommen gelähmt auf die Stelle zu schauen, an der kurz zuvor noch der Lieferwagen stand, der jetzt in alle Himmelsrichtungen zerstreut war.
Erst als die Polizei mich zu dem befragte, was geschehen war und die Feuerwehr versuchte, das Feuer unter Kontrolle zu bekommen, verstand ich, was soeben geschehen war. Auch wenn wir in letzter Zeit viel miteinander stritten und er arrogant und eingebildet geworden war, hatte er diesen Tod nicht verdient. Das Ironischste an der ganzen Geschichte war, dass unser Elixier durch die Explosion restlos vernichtet wurde. Wäre ich gläubig gewesen, hätte ich gedacht, dass Gott uns sagen will, dass man nicht mit dem Leben der Menschen herumspielt. Doch am Ende war das einzige, das mir blieb, dass ich bis ans Ende meines Lebens mit der Schuld leben musste, einen meiner Freunde zu Tode gehetzt zu haben. Für einen Unsterblichen ist das eine verdammt lange Zeit.
ENDE
Im 4. Rang und Gewinnerin eines
Geschenkes im Wert von 50 Euro
Nathalie Klein
(Beitrag Nr. 057)
Nach unserer Befragung meint Nathalie zunächst; „meine schreiberische Erfahrung ist noch sehr jung und auch in Sachen Teilnahmen an Wettbewerben kann ich kaum etwas vorweisen. Vielleicht lag es aber auch an den Themen.
Die Ausgangslage „zur Unsterblichkeit“ hat mich jedoch ziemlich angestachelt, obschon ich vorerst keine Ahnung hatte, wie ich die Sache angehen sollte. Meine besten Ideen kommen mir tatsächlich im Schlaf. Ich träume viel und manchmal ist etwas echt Spannendes dabei. Leider hoffte ich vergebens, dass mich demnächst ein Traum heimsucht, der mir vermittelt, in welcher Form wir VIER, das Problem um das aller Welt-Elixiers lösen könnten. Doch dann half mir der Umstand oder besser, die Tatsache, dass ich im Februar 2022 als Studierende im Bereich Ernährungs- und Versorgungsmanagement meine Prüfung ablegen muss und also gefordert bin, da und dort entscheidende Fragen zu beantworten. So bin ich dann ins kalte Wasser gesprungen und habe das getan, was ich, außer schwimmen, auch gut kann, nämlich schreiben.“
„Betreiben Sie denn nebst dem Studium noch irgendeine Nebenbeschäftigung, sozusagen als Ablenkung oder Ausgleich?“
„Ich könnte Ihnen etwas vorsingen, (lacht), denn ich singe seit über zehn Jahren in einem Chor, lese sehr viel, treibe Sport und bin auch handwerklich aktiv.“
„Gibt es sowas wie geheime Zukunfts-Träume? Oder möchten Sie das nicht preisgeben?“
„Natürlich würde ich mir wünschen, irgendwann vom Schreiben leben zu können, sollte dies jedoch nicht möglich sein, würde ich sehr gerne eine eigene Buchhandlung mit angrenzendem Café eröffnen.
Dass mein Text soviel Zuspruch bekommen hat, ehrt mich sehr. Ich habe mich über den Podestplatz ungemein gefreut. Es hat mir großen Spaß gemacht, in die Zukunft zu schauen, um Entscheidungen zu treffen, die eigentlich untreffbar sind.
Ich freue mich auf den nächsten Wettbewerb.“
Nathalie
Liebe Nathalie,
Beeindruckt gelangte ich an den Schluss Ihres Beitrages und habe echt aufgeatmet. Es war für mich doppelt spannend, weil, bis kurz vor der Mitte, war auch bei Ihnen die Einigkeit der VIER auf Messers Schneide. Wie viele Tote lässt Nathalie zu? Bzw. Wolfgang Gelb? Sie sind sogar in die Rolle des Mannes geschlüpft! (das kann ja heiter werden), dachte ich, wozu lässt sie wohl den Mann hinreißen? Aber dann! Sie geht es nicht emotional an, sie macht es ruhig, rhetorisch und schafft es, unter den VIER eine Einigkeit zu erzielen. Ohne Nötigung, ohne Drohung, ohne Blutvergießen. Sie haben mich beeindruckt Nathalie!
Vielleicht darf ich Ihnen noch einen Tipp geben, wie man auf Umwegen ans Ziel gelangen kann. Es schaffen es nur ganz vereinzelte, dass sie von der Schriftstellerei leben können. Wenn Sie jedoch den Traum von der eigenen Buchhandlung geschafft haben, mit integriertem Café, dann schreiben Sie den Knüller, wie mache ich mich literarisch selbständig? Mit Ihrer positiven Einstellung kann das gar nicht schiefgehen. Alles Gute und herzliche Gratulation.
Maurice Kappeler
(Lesezirkel LeBuzEbjK)
Das Leben
(Urheberrechte & Copyrights © by Nathalie Klein)
„Wie soll man so etwas entscheiden?“
Der automatisierte Protokollant knarzt vor sich hin. Es ist ein Gerät ohne Tastatur, also eines, welches nur die Stimmen der Sitzungsteilnehmer aufnimmt, ohne alles schriftlich festzuhalten. Praktisch, jedoch sinnlos, falls es nichts gibt, was er aufzeichnen kann. So liegt er einfach nur da. Sein schwarzes Gehäuse erinnert an einen DVD-Player, wie man ihn vor Jahren hatte. Nur besitzt er kein CD-Laufwerk, sondern unzählige Porte für die verschiedensten Stecker.
Das stickige Büro, welches kurzerhand zu einem Besprech-ungszimmer umfunktioniert wurde, liegt in blanker Stille. Wir haben uns an den runden Bestelltisch gesetzt und tun so, als wäre er groß genug, um all unsere Unterlagen zu beherbergen. Generell tun wir gerade so, als seien wir etwas, was wir eigentlich gar nicht sind. Was wir niemals sein könnten, egal was wir erfinden oder herstellen. „Gott“ könnte man uns nennen, wenn die anderen Erdbewohner wüssten, was hier in diesem Raum gerade geschieht. Oder eigentlich geschehen sollte.
Seit Dorothea Blau die alles entscheidende Frage stellte, hat niemand der Anwesenden mehr gewagt etwas zu sagen. Und trotzdem: Könnte der Protokollant Gedanken lesen, käme er wahrscheinlich nicht mehr mit und wäre durch die Bandbreite an Einwänden, Vorschlägen, Zweifel und Besorgnissen überfordert und würde durchbrennen. Im Gedanken machen sind sowohl meine Kollegen als auch meine Wenigkeit Spezialisten. Nur zu einer Entscheidung zu kommen liegt uns allen nicht. Gute zwei Stunden starren sich die Anwesenden schon wortlos an. Dorothea Blau, die Erfinderin unseres Dilemmas und Hauptgründerin unserer Gemeinschaft, Rebecca Grün, Timothy Grau und meine Wenigkeit: Wolfgang Gelb. Niemand von uns weiß, was wir tun sollen. Es gibt eine Chance auf Unsterblichkeit. Und doch ist es nur 100.000 Menschen bestimmt diese Möglichkeit zu bekommen. 100.000 klingt im ersten Moment nach viel. Aber wenn man die Zahl mit der, der derzeit auf der Erde lebenden Menschen vergleicht, entspricht sie nur einem Sandkorn, welches im Strand der Menschheit unterdrückt wird und letztendlich einfach untergeht. Diese Gedanken machen nicht gerade Mut, weshalb meine Kollegen und ich uns zu diesem Treffen zusammengefunden haben, um uns in aller Ruhe und ohne Einfluss unserer Assistenten (und derjenigen, die denken, sie hätten etwas zu sagen) zu unterhalten. Und letztendlich zu einer Entscheidung zu kommen. Nur leider sind wir nun im Moment so weit von einem Ende entfernt wie nur möglich.
Meine Gedanken kreisen umher. Immer wieder öffne ich den Mund, nur um ihn unauffällig und schnell wieder zu schließen, in der Hoffnung, dass meine Kollegen nichts davon mitbekommen hatten. Es geht uns allen schlecht damit. Sehr schlecht. Doch die jahrelange Arbeit, die Kraft, die Zeit, das Geld treiben uns zu diesem Gespräch.
Ich schaue durch den Raum, in die fahlen Gesichter meiner Kollegen, die mit den Jahren auch zu Freunden geworden waren. Und das flaue Gefühl in meinem Magen siegt letzten Endes doch und drängt mich dazu, die Stille zu durchbrechen:
„Wir sind die einzigen Personen, die befugt sind, darüber zu entscheiden. Deswegen sollten wir das nun auch tun.“
Als hätte ich durch meinen Einwand einen Schalter umgelegt, beginnen nun auch meine Kollegen zu sprechen. Von der anfänglichen Unsicherheit ist nichts mehr zu spüren. Alle drei wirken aufgeweckt und erregt, als würden sie ihre nächste Reise oder eine große Feier planen. Die Aufregung würde mich ja anstecken, würden wir uns wirklich für ein Reiseziel entscheiden. Beim Gedanken an die nachfolgenden Vorschläge schnürt es mir den Hals zu. Rebecca schiebt ihre Unterlagen auf dem viel zu niedrigen Tisch hin und her und überfliegt nochmals ihre Notizen. Timothy scheint sich nur noch mit einer starken Selbstbeherrschung zurückhalten zu können. Er ist stets derjenige, der als zweiter oder dritter spricht. Für ihn hat das Abwarten offenbar etwas mit Höflichkeit zu tun.
Der Protokollant ist schon startklar.
„Zuerst einmal: Wie soll entschieden werden, wer ein Mittel erhält? Dass wir nicht willkürlich darauf losspritzen können, müsste uns allen bewusst sein“, sagt Dorothea.
„Wir könnten eine öffentliche Losung veranstalten“, schlägt Rebecca vor.
„Jeder Interessent bekommt einen Zettel. Wir losen die Namen dann aus. So hat jeder, der daran interessiert ist, die gleichen Chancen.“
Dorotheas Blick wandert nach oben, was er immer tut, wenn sie angestrengt nachdenkt.
„Bei einer Losung gibt es immer die Möglichkeit auf Betrug. Stellt euch vor, was bei den Menschen los wäre, wenn sie erfahren, dass sie unsterblich werden könnten? Jeder würde alles dafür tun, um auch wirklich gezogen zu werden. Man hat in der Geschichte der Menschheit schon so einige Auszählungen und Ergebnisse manipuliert. Das wäre viel zu unsicher.“
Rebecca sinkt gedämpft wieder zurück in ihren Stuhl. In Gedanken sehe ich sie von der Decke wieder nach unten gleiten. Wieder auf den Boden der Tatsachen.
Sofort steckt sie ihren Kopf wieder in ihre Notizen, als ob sie nach einer noch besseren Idee suchen würde, die dann bestimmt nicht abgelehnt werden könnte.
„Ich sehe da eher eine finanzielle Chance für unser Unternehmen und die Forschung“, wirft Timothy ein.
„Es wird ein Preis festgelegt. Wir berechnen unsere Arbeitszeit, den ungefähren Materialwert und alle Gehälter der Mitarbeiter, die an der Herstellung und Erforschung unseres Mittels beteiligt waren. Die Selektion wird dadurch vereinfacht, da ein Großteil der Erdbevölkerung schon aus dem einfachen Grund wegfällt, weil sie gar nicht über die finanziellen Mittel verfügt. Wer bleibt, ist die Oberschicht. Die Ärzte, Professoren und Wissenschaftler.“
Dorothea schüttelt entsetzt den Kopf.
„Damit könnte ich mich nicht anfreunden“, sagt sie und auch Rebecca stimmt ihr zu.
„Der Betrag auf dem Bankkonto ist bekanntlich nur eine Momentaufnahme. Natürlich gibt es auch Menschen, die leider ihr Leben lang nicht genug Geld besitzen. Aber stellt euch vor, eine Familie aus fleißig Arbeitenden gönnt sich nach jahrelangem Sparen ein neues Eigenheim. Sie nehmen einen zusätzlichen Kredit auf und investieren einen Großteil ihrer Ersparnisse. Ihr Saldo ist zwar noch im schwarzen Bereich, jedoch gerade so, dass sich die Familie noch versorgen kann. Doch all die Vorfreude verfliegt, als sie von unserer Möglichkeit erfahren und schlagartig wissen, dass sie sich das Mittel nicht leisten können, weil sie sich einen langersehnten Wunsch erfüllt haben. Und die Zeit, wieder auf längere Zeit zu sparen, haben sie jetzt nicht mehr.“
Dorothea starrt in verwirrte Gesichter.
„Ich weiß, dass mein Beispiel weiter hergeholt ist. Aber ich möchte, dass ihr daran denkt, dass wir die Geschichte der Menschen nicht kennen. Und nur anhand seines Kontostands zu entscheiden, ob ein Mensch ewig leben darf, ist meiner Meinung nach der falsche Ansatz.“
Timothy lässt geknickt seinen Kopf hängen (offenbar war dies sein einziger Vorschlag), jedoch scheint er nicht verärgert zu sein. Dorotheas Ausführung – so ausschweifend und weit hergeholt sie auch gewesen sein mag – hat ihren Zweck erfüllt.
„Wie wäre es mit einem Gewinnspiel?“ Rebecca rutscht aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. „Wir könnten ein Rätsel oder eine knifflige Frage erstellen. Die ersten 100.000 Teilnehmer, die richtig geantwortet haben, werden ausgewählt.“
Auch dieser Vorschlag scheint bei den Inhabern keine Begeisterung hervorzurufen. Eben sowenig bei Rebecca selbst nicht, die schon viel weniger aufgeregt wirkt. Aus der Verzweiflung heraus schlagen meine Kollegen nun die skurrilsten Entscheidungshilfen vor. Ohne auch nur noch einmal auf ihre Notizen zu schauen, werfen sie einen Vorschlag nach dem anderen ein. Und jeder wird einfach vom Einwand des nächsten abgetan. Ich schaue auf meine Armbanduhr, um einen ungefähren Überblick von dieser Diskussion zu haben. Nach genau zweiunddreißig Minuten und vierundfünfzig Sekunden endet sie.
„Es ist hoffnungslos“, sagt Dorothea. „Wir werden nie die passende Lösung finden.“
Plötzlich gleiten drei Augenpaare in meine Richtung. Ich habe mich bisher rausgehalten, wollte wissen, wie meine Kollegen zu der Sache stehen. Habe gehofft, dass vielleicht doch eine einigermaßen angemessene Idee daraus hervorkommt. Doch meine Hoffnung war nicht sehr groß. Denn ich weiß ganz genau, was recht ist.
„Was denkst du, Wolfgang?“, fragt mich Timothy.
Und ohne jeden Zweifel hole ich tief Luft und antworte:
„Wir sollten das Mittel vernichten.“
Schockiertes Keuchen und Raunen geht durch den Raum. Vorwurfsvolle Blicke treffen mich und schon bereue ich fast meinen Gedanken ausgesprochen zu haben. Aber auch nur fast.
„Was meinst du damit?“ Die restlichen Inhaber strafen mich nur mit einem aussagekräftigen Schweigen, während Dorothea nach harkt.
„Nach all der Arbeit? Denk an all die Kraft, die wir in unser Projekt gesteckt haben? Das Geld, den fehlenden Schlaf, an alles, was wir dafür aufgegeben haben.“
Ich überlege, wie ich meinen Standpunkt erläutern kann. Meine Kollegen und ich haben das Mittel selbst eingenommen, weshalb wir, soweit wir wissen, ein ewiges Leben haben können, sollten wir es nicht vorzeitig selbst beenden oder unfallbedingt sterben. Keine Krankheit kann uns etwas anhaben. Auch unzählige Jahre auf der Lebensuhr werden uns nicht umbringen.
Jedoch haben wir auch niemanden. Nur uns und die Forschung. Wir hatten auch in der Vergangenheit nur uns und die Forschung. Aus diesem Grund kann ich die Entrüstung und das Unverständnis meiner Kollegen verstehen. Sie schauen nicht über den Tellerrand, so wie ich es gestern getan habe. Ich habe es mir nicht ausgesucht, das zu tun, aber als ich mich mit einem jungen Laborassistenten unterhalten habe, dessen jüngere Schwester unerwartet verstorben ist, hat sich etwas in mir gerührt. Wenn man von einer Welle an Schmerz überrollt wird, verändert man sich. Wenn man fremde Tränen in sich halten muss, während sie beim Betroffenen offen geweint werden, fühlt man erst richtig was es bedeutet, Hinterbliebener zu sein. Und das wäre man als Unsterblicher. Man wäre stets ein Hinterbliebener. Man wäre immer da, während alle anderen gehen.
„Das Leben hinterlässt Narben, liebe Kollegen“, beginne ich.
„Manche sind größer und tiefer als andere. Manche kann man sehen, andere können wir nur in uns fühlen. Von Jahr zu Jahr werden es mehr. Bis wir sterben. Stellt euch die Vielfalt an Narben und vor allem den Schmerz nach hunderten oder tausenden Jahren vor. Wie unsere Seelen und unsere Körper aussehen werden?“
Meine Kollegen starren mich an. Verblüffung, Überraschung, aber auch Verwirrung werden mir gezeigt. Ohne einen Einwand der anderen abzuwarten, rede ich weiter. Lasse mein Herz sprechen, damit verstanden wird.
„Wir haben keine Partner, keine Familie und nur wenige Freunde. Doch stellt euch vor es wäre anders: Ihr hättet eine Ehefrau, einen Ehemann und Kinder. Könntet ihr dabei zusehen, wie sie immer älter werden? Irgendwann würden sie euch altersmäßig überholen, zumindest was das Körperliche betrifft. Und ja, sie würden sterben. Was käme danach? Würdet ihr euch einen neuen Partner suchen? Eine neue Familie gründen? Euch etwas aufbauen? Wieder Liebe empfinden wollen, nur um wieder alles zu verlieren?“
Dorotheas Augen glitzern. Auch wenn sie es nie zugeben wollte, ein großer Wunsch ihrerseits war es ein Kind zu bekommen. Doch hat es ihre Arbeit nie zugelassen, weshalb sie sich auch nie auf einen Mann eingelassen hat. Ihre Familie sind wir.
„Das Leben ist nicht immer lebenswert. Wenn es nichts mehr gibt, für das man lebt, ist der Tod oftmals die bessere Entscheidung. Wenn kein Sinn mehr dahintersteht, keine Leidenschaft, nur noch Leid.“
Meine Kollegen fixieren mich nicht mehr mit ihren Blicken. Es ist wieder still geworden, während Timothy Grau, Rebecca Grün und Dorothea Blau die zu tiefe Tischplatte begutachten, auf der unsere Unterlagen vor uns liegen. Trotzdem bin ich noch nicht ganz fertig.
„Seht es auf eine andere Weise: Wir leben ohnehin alle weiter. Der Tod ist nur das Ende unseres Körpers. Unsere Hüllen sterben und geben das frei, was wir wirklich sind. Über einige Jahre sind unsere Körper die Wirte von etwas viel Größerem. Von unserer Persönlichkeit, unseren Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Bestrebungen. All das, was wir sind, wird von nur von Fleisch und Knochen umhüllt, während es eigenständig lebt. Was ich damit sagen möchte, meine Kollegen: Unsere Seelen sind doch schon unsterblich.“
Nun ist alles gesagt.
Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und beobachte die Gesichter der Anwesenden. Dorothea weint jetzt, ohne auch nur zu versuchen es zurückzuhalten. Auch Rebecca wirkt bedrückt und sogar bei Timothy kann ich Betroffenheit erkennen.
Wir sitzen noch eine ganze Weile so da, bis Dorothea ihren Blick hebt. Sie wischt sich flüchtig über ihr Gesicht und versucht wieder ihre alte Haltung einzunehmen.
„Liebe Kollegen, ich glaube wir haben uns entschieden.“
Wie auf Zuruf klopft es an der Tür.
„Meine Damen, meine Herren, die Kollegen von der Spätschicht fragen, ob sie ihr Büro wieder nutzen können. Natürlich nur, wenn es sich einrichten ließe. Sollten Sie noch etwas Zeit brauchen, werde ich selbstverständlich mit den Betroffenen sprechen und sie auf einen anderen Raum verweisen.“, erklärt ein schwarz gekleideter Angestellter, dessen Name mir einfach nicht einfallen will.
„Wir sind gleich so weit“, gibt Dorothea zurück.
Der Angestellte ohne Namen nickt zufrieden und lässt uns wieder allein.
Als sich die Türe wieder schließt, übernimmt Timothy das Wort:
„Wir werden das Mittel vernichten.“
Rebecca und Dorothea nicken. Ich lasse mich erleichtert in meinen Stuhl zurücksinken.
„Dann ist es beschlossen“, sagt Dorothea und kramt ihre Papiere zusammen.
Die große Anspannung, die sich zuerst in diesem Büro befunden hat, verlässt es mit ihr. Ihre Schultern sind nicht mehr so angespannt und ich kann tatsächlich ein leichtes Lächeln in ihrem Gesicht erkennen, während sie den automatisierten Protokollanten ausstellt und ihn in ihre Handtasche packt.
Auch Timothy und Rebecca suchen ihre Sachen zusammen und wollen den Raum verlassen.
„Kommst du nicht mit?“, fragt mich Rebecca, während sie schon in der Tür steht.
„Ich komme gleich nach.“
Allein im Büro lasse ich mein Leben noch einmal Revue passieren. Kein unsterbliches Leben kann mir das geben, was ich bis jetzt erlebt, was ich erreicht habe und was ich dabei fühlte.
Ich werde zwar nie auf natürliche Weise sterben, jedoch habe ich viele Menschen vor dem gleichen Fluch bewahren können. Auch wenn sie es vielleicht selbst noch nicht wissen, aber sie haben bereits ein großes Geschenk bekommen: das Leben. Man kann das tun, was man liebt. Man kann sich mit den Menschen umgeben, die man liebt. Natürlich kann man es auch genau andersherum machen, aber wieso sollte man das tun?
Ein Leben ist lang genug, um glücklich zu sein. Dafür reicht oftmals schon eine einzige Sekunde.
Ist es denn nicht das Wichtigste, dass man die Zeit richtig nutzt, die man hat?
Das kann jeder für sich selbst entscheiden.
Mit einem zufriedenen Lächeln verlasse ich ebenfalls das Büro.
ENDE
Im 5. Rang und Gewinnerin eines
Geschenkes im Wert von 30 Euro
Isabell Hemmrich
(Beitrag Nr. 058)
In »Vergiss den Tod, suche das Leben« geht es um die unerfüllte Sehnsucht nach ewiger Jugend, um Größenwahn und Götterkomplex und um den Preis, den das Leben fordert – nicht nur das unsterbliche, sondern auch ein Leben im Dienste der Wissenschaft, in dem für private Bedürfnisse und Wünsche kein Platz zu sein scheint.
Zwei kleine ›Funfacts‹: Der Titel nimmt Bezug auf ein Zitat aus dem Gilgamesch-Epos, von dem die Ich-Erzählerin (Rebecca Grün) fasziniert ist. Die Namen ihrer Kollegen sind Übersetzungen der ursprünglichen deutschen Namen in die Sprachen der von mir gewählten Herkunftsländer: So wurde aus Timothy Grau Timothy Grey, aus Wolfgang Gelb Lope Amarillo und aus Dorothea Blau Aleyna Gökçe.
Nun wünsche ich allen Lesern viel Freude – und eine wohlige Gänsehaut – beim Eintauchen in die schwarzen Abgründe, die sich am schillernden Rande der Unsterblichkeit auftun …
Sehr verehrte Isabell,
bestimmt klug durch Erfahrung, haben Sie sich gleich zu Beginn der Aufgabe ein eindrückliches, eigenes Dreh-buch verfasst, dem Sie bis zum Ende treu geblieben sind. Unbeirrt und zielstrebig mordet Rebecca ihre Kontra-henten dahin und bewahrt auch dann die Nerven, als Lope, mit seiner „dämlichen Bakterienphobie“ (hahaha), Rebeccas Improvisations-Talent auf die Probe stellt. Eine sehr gelungene Variante. Herzlichen Glückwunsch.
Hans Peter Traub
(Lesezirkel LeBuzEbjK)
Vergiss den Tod, suche das Leben
(Urheberrechte & Copyrights © by Isabell Hemmrich)
Träge drehen sich die Flügel des Deckenventilators über dem Konferenztisch, auf dem vier hohe Wassergläser wie runde Kristalltürme aus dem Wust aus Dokumentenmappen, Schnell-heftern und eng beschriebenen Notizzetteln herausragen. Das monotone Surren des Luftreinigers verbindet sich mit dem an- und abschwellenden Gebrumm einer gemächlichen Achterschleife ziehenden Stubenfliege zu einer einschläfernden Symphonie. Ein paar Sekunden lasse ich mich davon einlullen, gestatte meinem Geist eine kurze Pause. Erschöpft ob der sich endlos dahin-schleppenden Diskussionen, wandert mein müder Blick über meine Mitstreiter. Die Jalousien sind heruntergelassen, um die grelle Nachmittagssonne auszusperren, und das Kunstlicht schmeichelt ihnen nicht gerade. Alt und verbraucht sehen sie aus. Wenn wir das Serum früher entdeckt hätten …
Aber was sollen solche Hypothesen? ›Hätte, hätte, Fahrradkette‹, hat mal vor Urzeiten irgend so ein Politheini aus meinem Heimatland gesagt. Sein Name ist vergessen, nur dieser dämliche Spruch hat die Zeit überdauert.
Zeit. Darum dreht sich alles, oder nicht? Das Verstreichen der Zeit, die Endlichkeit des Lebens ist das, was ihm erst seine Bedeutung verleiht. Unsterblichkeit – was für ein Wort! Sein Klang weckt Assoziationen mit Göttergleichheit und ewiger Jugend. Seit Anbeginn strebt der Mensch nach diesem hehren Ziel, dichtet Lieder, gründet Religionen und erfindet immer neue Geschichten, um seiner Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Ja, schon Gilgamesch, der Protagonist des allerersten Heldenepos, wird vom Wunsch getrie-ben, das ewige Leben zu erlangen.
»Rebecca? Hörst du mir zu?«
O verdammt, ich muss aufmerksamer sein …!
Langsam wende ich mich dem Sprecher zu. Timothys amerikanischer Akzent hat mich schon immer ganz verrückt gemacht. Seine Stimme klingt noch genauso wie damals, als wir uns kennenlernten. Sein einst so attraktives Gesicht hingegen hat die Jahre nicht so unbeschadet überstanden. Egal, wie kunstfertig der Chirurg auch ist, es bleibt doch immer etwas Unnatürliches zurück, ein Maskeneffekt, der es geradezu herausschreit: Botox, Facelifting, Filler-Behandlungen. Auch die Linie seines Haaransatzes wirkt zu gleichmäßig, der warme Blondton eine Spur zu gelb stichig.
»Entschuldige, ich war in Gedanken. Was sagtest du?«
Seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, das gebleichte Zähne entblößt, so falsch, wie alles an ihm.
»Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass wir diese Krise als Chance begreifen sollten. Jetzt wo das Produkt begrenzt ist, wird man uns jeden Preis dafür bezahlen. Supply and demand, ganz simpel.«
»Das ist in höchstem Maße unethisch!«, echauffiert sich Lope. Der Spanier sitzt Timothy gegenüber und ist im Gegensatz zu diesem in Würde gealtert: Die tiefen Furchen in seinem Gesicht wirken wie eingemeißelt, sein ergrautes Haar bildet eine silberfarbene Aureole um den fahlen Mond des kahlen Hinterkopfes. Trotzdem durchfährt mich bei seinem Anblick jedes Mal ein Stich, wenn ich an den jungen Mann von einst zurückdenke, mit seinen blitzenden schwarzen Augen und den klaren Zügen, auf denen sich jede Emotion widerspiegelte wie Sonnenstrahlen in einem Teich.
»Wir haben World-Bio-Tech nicht gegründet, um Profit zu machen. Wir wollten der Menschheit helfen. Hast du das schon vergessen, Tim?«
»Zırvalama, papperlapapp!«, mischt sich nun Aleyna ein.
»Das eine schließt das andere ja nicht aus. Wir können einen Teil des Serums für altruistische Zwecke verwenden, aber es wäre doch hochgradig stupid, würden wir nicht einige Dosen an den Meistbietenden veräußern. Immerhin steckt in diesem Projekt die Arbeit von Jahrzehnten. Diese Investition muss sich auch in monetärer Hinsicht auszahlen. Das siehst du doch genauso, nicht wahr, Rebecca?«
Ich schaue sie an. Von uns allen hat sich die Türkin wohl noch am besten gehalten. Ihr volles Haar, das sie zu einem festen Knoten zusammengebunden trägt, ist noch immer so schwarz wie Ebenholz, doch nun schlängeln sich einige aschfarbene Strähnen hindurch wie Erzadern in dunkler Stollenwand. Dass sie diese nicht überfärbt, nötigt mir eine gewisse Bewunderung ab; der Kupferglanz meiner eigenen Lockenpracht stammt längst aus der Tube. Auch ihr rundes Antlitz hat durch die kleinen Fältchen um Augen und Mund einen Reiz gewonnen, der ihren eher durchschnittlichen und wenig ausdrucksstarken Zügen früher fehlte.
Allerdings glaube ich nicht, dass Timothy das zu schätzen weiß. Es ist kein Geheimnis, dass er seine häufig wechselnden Assis-tentinnen nicht aufgrund ihrer fachlichen Qualifikationen auswählt. Und die Überstunden im Labor bringen diese Flittchen gewiss nicht mit Testreihen und Analysen zu. Ich frage mich, wieso Aleyna bei ihm bleibt. Gewohnheit? Angst vor der Einsamkeit? Die Ewigkeit kann einem sehr lang vorkommen, wenn man sie mit niemandem teilen kann …,
immerhin, jetzt legt Tim seine Hand in einer liebevollen Geste auf Aleynas Unterarm. Natürlich, hat seine Lebensgefährtin dem alten Raffzahn doch gerade den Rücken gestärkt.
»Ich glaube, diese Diskussion geht am eigentlichen Kernpunkt vorbei«, sage ich ausweichend.
Meine Mitstreiter blicken mich auffordernd an. Obwohl wir alle vier gleichberechtigte Teilhaber der World-Bio-Tech-Incorporated Ltd. sind, nötigt ihnen die Tatsache, dass ich damals auf die Grundlagen zur Herstellung des Serums gestoßen bin, einen wenn auch uneingestandenen, so doch deutlich spürbaren Respekt ab. So kommt mir innerhalb der Gruppe eine Art Schiedsrichterfunktion zu.
»Es geht doch in erster Linie darum, ob wir die Öffentlichkeit überhaupt von der Existenz des Serums in Kenntnis setzen sollten«, fange ich an.
»Dies ist eine folgenschwere Entscheidung, die Konsequenzen unabsehbar …«
»Die Menschen haben ein Recht darauf, davon zu erfahren!« Lopes sonst so müde Augen funkeln in fiebriger Intensität, und für einen winzigen Moment ist er wieder der idealistische Tollkopf, dessen glühende Reden früher Funken ähnlich enthusiastischer Begeisterung in unseren Herzen zu entzünden vermochten.
»Die Menschen sind Dummköpfe.« Timothy verzieht verächtlich den Mund.
»Schafe, die sich in blindem Herdentrieb aneinanderdrängen und dem erstbesten Schlachter hinterherlaufen, der ihnen Schutz vor den imaginierten Wölfen verspricht. Sie brauchen die Anleitung durch eine starke Elite, das war schon immer so. Und nur diese sollten wir einweihen: die führenden Köpfe aus Politik und Wirtschaft. Unter der gemeinen Bevölkerung würde doch sofort ein Bürgerkrieg ausbrechen, um an die begehrte Substanz zu gelangen. Sie sind nicht nur dumm, sondern auch egoistisch bis zum Gehtnichtmehr. Selfish dumbheads.«
»Da sprichst du ja aus Erfahrung!« Über den Tisch hinweg wirft Lope dem Amerikaner giftige Blicke zu.
»Immerhin bin ich kein naiver Tor, dem sein Glaube an das Gute im Menschen die Sicht vernebelt.«
»Lasst uns bitte sachlich bleiben«, ruft Aleyna die beiden Streithähne mit strenger Stimme zur Räson. Sie nimmt einen tiefen Schluck aus ihrem Wasserglas und streicht sich eine Strähne hinters Ohr, die sich aus dem straffen Knoten gelöst hat. Dann fährt sie in freundlicherem Ton fort: »Grundsätzlich stimme ich Tim zu. Das Wissen darf nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich gemacht werden. Aber wir müssen auch bedeutende Wissenschaftler und andere Koryphäen einbeziehen. Gerade diese sollten von dem Serum profitieren, um ihre Fähigkeiten auch in Zukunft zu Nutz und Frommen der Allgemeinheit einsetzen zu können. Wir tragen Verantwortung für die nachfolgenden Generationen, das dürfen wir niemals vergessen.«
Aleynas Ausführungen nötigen mir ein zustimmendes Nicken ab. Sie war schon immer gut darin, komplizierte Sachverhalte in wenigen Sätzen auf den Punkt zu bringen. »Sehr richtig. Wie König Gilgamesch seinen Untertanen, so sind auch wir unseren Mitmenschen verpflichtet.«
»Gilgamesch?!« Timothy sieht mich irritiert an.
»Was hat denn dieser verstaubte Wälzer mit unserem aktuellen Problem zu tun?«
Ein überlegenes Lächeln kräuselt meine Lippen, als ich dazu ansetze, dem alten Kulturbanausen eine Nachhilfestunde in antiker Weltliteratur zu erteilen.
»Nun, mein lieber Tim, ebenso wie wir, war Gilgamesch von dem Streben erfüllt, den Tod zu besiegen. Als dem despotischen König durch den Verlust seines Freundes Enkidu die Einsicht zuteilwurde, dass auch er selbst eines Tages sterben würde, begab er sich auf die Suche nach Unsterblichkeit und überließ das Volk von Uruk sich selbst.«
Tim seufzt theatralisch, doch ich fahre unbeirrt fort:
»Doch schließlich musste Gilgamesch einsehen, dass er noch nicht einmal in der Lage war, den kleinen Bruder des Todes – nämlich den Schlaf – zu bezwingen. Also versuchte er stattdessen, das Lebenskraut in seinen Besitz zu bringen, eine Pflanze, deren Verzehr seine Verjüngung bewirken würde. Er tauchte in die Tiefen des Meeres hinab, wo er auch tatsächlich fündig wurde. Mit dem mystischen Gewächs begab er sich sodann frohgemut auf den Heimweg. Doch unterwegs raubte ihm eine Schlange den kostbaren Schatz. Da kehrte Gilgamesch entmutigt nach Hause zurück, um sich fortan der Bedürfnisse seines Volkes anzunehmen und ein besserer König zu werden. Schlussendlich musste er einsehen, dass der Mensch nur durch seine Taten Unsterblichkeit erlangen kann.«
»Jesus, was für ein Exkurs!«, quittiert Tim meine Ausführungen und trinkt grinsend einen Schluck Wasser. Ein Tropfen rinnt die straffe Haut seines sorgfältig rasierten Kinns herab.
»Ich glaube, du hast deine Berufung verfehlt. Vielleicht hättest du Märchenerzählerin werden sollen.«
»War Gilgamesch nicht ein Gott?«, wirft Lope ein, bevor ich auf Tims Stichelei reagieren kann.
»Müsste er da nicht sowieso unsterblich sein?«
In diesem Moment legt die Fliege, die uns die ganze Zeit träge umkreist hat, einen Sturzflug direkt in Lopes Wasserglas hin. Mit Hilfe seines Kugelschreibers baut der tierliebe Spanier ihr einen Rettungssteg und setzt das nasse Insekt auf dem Deckel eines Aktenordners ab, wo es sich sogleich daranmacht, mit den haarigen Hinterbeinchen seine Flügel zu putzen.
»Er war ein Halbgott«, kläre ich auf, während Lope sein Glas zu der riesigen Yucca-Palme in der Ecke trägt und das Wasser in den Kübel entleert. Er war schon immer ein bisschen empfindlich, was Keime betrifft. »Doch durch die Freundschaft mit Enkidu, in die man, nebenbei bemerkt, durchaus homoerotische Züge hineininter-pretieren kann, entfernte er sich von seinen göttlichen Wurzeln, stellte sich gleichsam auf eine Stufe mit den Menschen und wurde so seiner eigenen Sterblichkeit gewahr.« Ein nervöses Zucken hat sich meines rechten Augenlids bemächtigt. In der kurzen Zeitspanne, die Lope benötigt, um zum Tisch zurückzukehren und sich neu einzuschenken, schließe ich die Augen und atme ein paar Mal tief durch.
»Diese Verschmelzung von Mensch und Gott ist übrigens ein äußerst interessanter Blickwinkel auf die Figur des Heros –«
»Yeah, whatever«, fällt mir Tim grob ins Wort.
»Wir kommen vom Thema ab. Für uns spielt es ja wohl keine Rolle, wie irgendein schwuler Superheld von anno dazumal seine Midlife-Crisis bewältigt hat.«
»Ich finde auch, dass wir uns langsam wieder unserer Ursprungsthematik zuwenden sollten«, springt ihm Aleyna bei. Mal wieder.
»Der gute alte Gilgamesch wird wohl kaum eine Lösung für unser aktuelles Problem parat haben.«
Ich lächle maliziös.
»Sei dir da mal nicht so sicher.«
Verwirrt runzelt die Türkin die Stirn, auf der kleine Schweißperlen glitzern. Doch sie enthält sich eines Kommentars, tupft sich stattdessen mit einem Taschentuch übers Gesicht. Ihre Bewegungen wirken ein wenig fahrig.
»Nun, leider muss ich Tim recht geben«, sage ich seufzend nach einem Moment der Besinnung.
»Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Risiken unkalkulierbar wären, wenn wir die breite Bevölkerung über die Existenz des Serums informieren würden. Dieses Wissen muss gehütet werden wie ein Schatz …«
»Maldita sea!«, fährt Lope fluchend auf.
»Rebecca, ich bitte dich! Das kann doch nicht dein Ernst sein. World-Bio-Tech ist verpflichtet, zum Wohle aller –«
»Darum geht es doch gerade!« Ein hitziger Unterton hat sich in Aleynas sonst so besonnene Stimme geschlichen. Abermals schimmert Schweiß auf ihrem Gesicht.
»Was denkst du denn, würde passieren, wenn die Menschen von dem Serum erführen? Ich sage es dir: Mord und Totschlag. Sie würden vor nichts zurückschrecken, um zum illustren Kreis der 100.000 Auserwählten zu gehören.«
»Woher willst du das wissen? Ich bin sicher, wenn wir ihnen die Lage erklären –«
»Saçmalama! Red doch keinen Unsinn! Wir vier wären unseres Lebens nicht mehr sicher! Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, zu welchen Gräueltaten der Homo sapiens imstande ist, wenn am Ende des Blutvergießens das ewige Leben lockt?! Sei vernünftig, Lope! Ich …« Aleyna stockt, greift sich an die Brust und zieht hörbar die Luft ein.
»Ist dir nicht gut? Du bist ja ganz blass, Darling.« Timothy klingt besorgt und wirklich, der Teint der Türkin wirkt erschreckend fahl.
»Nein, nein, es geht schon. Ist nur ein wenig stickig hier drin. – Wo waren wir stehengeblieben?«
»Lass mich mal fühlen«, sagt Tim und legt seine große Hand auf die Stirn seiner Lebensgefährtin.
»Fuck, deine Haut ist eiskalt!«
»Wir sollten ein Fenster öffnen.« Schwankend steht Aleyna auf, stützt sich aber sogleich an der Tischplatte ab, um nicht umzufallen.
»Mir ist auf einmal so –« Krampfhaft fasst sich die Türkin ans Herz. Sie taumelt.
»Tanrım!«, stößt sie plötzlich aus, bevor sie bewusstlos zu Boden stürzt. Sofort sind Tim und Lope an ihrer Seite.
»Darling, was ist mit dir?!« Behutsam tätschelt Timothy Aleynas Wangen, während der Spanier nach ihrem Handgelenk tastet.
»Ich fühle keinen Puls!« Lopes Stimme ist heiser vor Panik. »Schnell, Rebecca, ruf den Notarzt!«
Unterdessen wird aus Timothys sanftem Tätscheln ein heftiges Rütteln an den Schultern der am Boden Liegenden. »Aleyna! For God’s sake, komm zu dir!« Er presst sein Ohr auf Aleynas Brustkorb, beginnt gleich darauf mit einer Herzdruckmassage.
»Rebecca, der Notarzt! Worauf wartest du?!«, herrscht Lope mich an.
»Darling, please, no!«, keucht Timothy, während er Aleynas Oberkörper mit seinen kräftigen Händen bearbeitet.
»Don’t die, don’t die!« Der Schmerz in seiner Stimme bildet einen merkwürdigen Kontrast zur ausdruckslosen Glätte seiner gelifteten Züge.
Lope springt auf und stürzt zum Tisch, fegt auf der Suche nach seinem Handy einen Armvoll Dokumente beiseite.
Da lässt Timothy abrupt von seinen Bemühungen ab und fasst sich seinerseits an die Brust.
»What the hell …« Er stockt, Schweiß rinnt ihm übers bleiche Gesicht. Mühsam versucht er aufzustehen, doch seine Beine versagen ihm den Dienst.
Lope ist mit wenigen Schritten bei ihm. Als er Timothy stützen will, sackt der Amerikaner kraftlos in den Armen des anderen Mannes zusammen.
»Rebecca, puta mierda!«, schreit Lope, während Timothys Glieder spastisch zu zucken beginnen.
»Wir brauchen einen Arzt! Hol sofort die Rettung!«
Aber ich rühre mich noch immer nicht. Ruhig betrachte ich die Szene, die sich vor meinen Augen abspielt. Alles wirkt auf mich seltsam distanziert, ein bisschen so, als würde ich der Aufführung eines Kammerspiels beiwohnen. In meinem Inneren lausche ich auf irgendeine Art von Resonanz, die das Geschehen doch auf jeden Fall in mir hervorrufen müsste: Entsetzen. Schuld. Reue. Doch da ist …, nichts. Nur ein mildes Staunen über die Anwesenheit von Gevatter Tod. Wenn man ihn selbst nicht mehr zu fürchten braucht, gerinnt seine schreckliche Allmacht zu einem absurden Spektakel.
Timothys Zuckungen werden schwächer, seine Atemzüge flacher. Lope murmelt mit bebenden Lippen auf den Sterbenden ein, beruhigende Sinnlosigkeiten, die ihm selbst wohl mehr Trost spenden als dem Amerikaner. Merkwürdig unspektakulär neigt sich das Schauspiel schließlich seinem Ende entgegen: ein letztes Krampfen, dann wird Tims Körper still. Wie ein schlafendes Kind liegt er in Lopes Armen. Tränen rinnen dem Spanier übers zerfurchte Gesicht.
»Madre de Dios, madre de dios«, flüstert Lope unentwegt vor sich hin, als er sich langsam erhebt und auf mich zu stolpert.
»Rebecca, was ist –«
Er verstummt. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf einen kleinen dunklen Punkt auf dem Papierwust, der den Konferenztisch bedeckt. Wie gebannt starrt Lope auf die Fliege, die er vor wenigen Minuten aus seinem Wasserglas gerettet hat. Sie liegt auf dem Rücken, steif und tot wie unsere beiden Mitstreiter. Erkenntnis zeichnet sich auf seiner entsetzten Miene ab. Mit weit aufgerissenen Augen wendet er sich mir zu.
»Por Dios, was hast du getan?!«
»Glaubst du, für eine Biologin mit meinen Fähigkeiten ist es ein Kunststück, ein geschmacksneutrales Gift zu entwickeln und in eure Gläser zu mischen? Ohne deine dämliche Bakterienphobie …« Ich zucke mit den Schultern.
»Aber …, warum?« Die Frage schraubt sich zu einem Jaulen empor, während sie über Lopes bebende Lippen perlt.
»Weißt du, wenn man eines aus der Geschichte von Gilgamesch lernen kann, dann doch dies: Wer wahrhaft unsterblich sein will, der darf sich nicht vom Keim der Freundschaft vergiften lassen.«
Der Spanier erwidert nichts, starrt mich nur fassungslos an.
»Tim und Aleyna hatten recht: Es wäre Wahnsinn, unsere Informationen über das Serum mit der Menschheit zu teilen. Wie formulierte es Aleyna doch gleich: ›Das Wissen darf nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich gemacht werden.‹ Nun, der Kreis der Eingeweihten wird äußerst begrenzt bleiben, denn am Ende dieses Tages wird er nur aus einer einzigen Person bestehen: mir.«
»Du bist verrückt«, stößt Lope aus.
»Completamente loco!«
»Ach, Lope«, entgegne ich seufzend,
»ich wünschte, du hättest dein Wasser nicht ausgegossen. So machst du es uns beiden nicht gerade leichter.« Mit diesen Worten ziehe ich die Pistole, die ich für den Notfall unter meiner weiten Kleidung verborgen hatte.
»Dreh dich bitte um.«
Er schüttelt den Kopf.
»Du willst mich erschießen?! Rebecca, bitte komm zu dir! Das bist doch nicht du!«
»Verstehst du denn immer noch nicht? Natürlich bin ich nicht mehr die Rebecca, die ihr kanntet: eine Frau, für die außerhalb der Welt der Botanik nichts existierte, eine idealistische Närrin, die ihre Jugend für das Wohlergehen einer gesichtslosen Masse geopfert hat. Oh, all die Zeit hat es unter dieser Oberfläche gebrodelt! Nicht nur der Mount Hagen ist unerwartet zum Ausbruch gekommen, Lope, nein, auch meine ureigenste Natur! Schluss mit der Selbstverleugnung, die alte Rebecca ist tot. Ich bin jetzt etwas Neues, größeres, besseres! Ich bin die Herrin über Leben und Tod. Damit bin ich nicht nur gottgleich, Lope, nein, ich bin eine Göttin!«
»Dios me ayude«, wispert Lope und bekreuzigt sich. »Gott steh mir bei …«
Lächelnd schüttle ich den Kopf.
»Nein, Lope, das werde ich nicht tun. Du bist der Letzte, der zwischen mir und der Allmacht steht. Wie hat unser amerikanischer Freund es ausgedrückt: Supply and demand. 100.000 Dosen, Lope! Schon eine Handvoll davon wird mich zur reichsten Person unter der Sonne machen. Den Rest werde ich nach Gutdünken verteilen. Oh, ich werde gut für mein Volk sorgen, dessen sei gewiss, aber ich werde auch meine eigenen Bedürfnisse nicht länger verleugnen. Und welcher Mann könnte schon der Aussicht auf ewiges Leben widerstehen, erst recht, wenn ihm dieses Geschenk in der Blüte seiner Jugend zuteil wird? Ich werde mir meine Liebhaber unter den herrlichsten Jünglingen des Planeten wählen können.«
Gelächter schwappt in meiner Kehle empor, bricht sich in einer Salve glucksender kreischender Bahn.
»Wer weiß, vielleicht fange ich mit einem amerikanischen Playboy an. Warum nicht? Sicher ist dir nicht entgangen, dass ich früher eine kleine Schwäche für den guten Timothy hatte. Der Tod ist besiegt. Jetzt heißt es leben!«
»Rebec –«
Der Rest meines Namens geht im ohrenbetäubenden Knall der Waffe unter. Eine blutrote Rose blüht auf Lopes Brust auf, während er rückwärts taumelt und stöhnend zwischen unseren toten Gefährten zu Boden sinkt.
Ruhet in Frieden, Lope Amarillo, Aleyna Gökçe und Timothy Gray. Nicht mehr gemeinsam schreiten wir voran. Die Zukunft gehört allein Rebecca Grün. Der Preis der Unsterblichkeit ist Einsamkeit.
ENDE
Die nachfolgenden Ränge der Rangliste
06 Nr. 032 In Varde 498 Punkte
07 Nr. 003 Unsterblichkeit für 100.000 Personen 476 Punkte
08 Nr. 060 Unsterblichkeit, C´est la vie 458 Punkte
09 Nr. 044 Die erste Konferenz 452 Punkte
10 Nr. 015 Nun, Unserblichkeit, bist du ganz mein 437 Punkte
11 Nr. 024 Ausgestorben 425 Punkte
12 Nr. 025 Ein philosophischer Geruchskrimi 419 Punkte
13 Nr. 055 Infinite Voyage 340 Punkte
14 Nr. 013 Vier-geteilt 325 Punkte
15 Nr. 052 Vom Wispern der Unendlichkeit 291 Punkte
16 Nr. 012 Mitten in der Sitzung der Vier 275 Punkte
17 Nr. 005 Oltaime i´Strato 249 Punkte
18 Nr. 017 – Goldenes Blut – 243 Punkte
18 Nr. 028 Unsterblichkeit für eine Elite 199 Punkte
20 Nr. 033 Phönix aus der Asche 187 Punkte
21 Nr. 026 Auf Lebenszeit 165 Punkte
22 Nr. 020 Der Preis der Gier 150 Punkte
23 Nr. 006 Nichts währt ewig 141 Punkte
23 Nr. 023 Die Besprechung 132 Punkte
25 Nr. 021 Auf der Suche nach Unsterblichkeit 120 Punkte
25 Nr. 056 Einhunderttausend mal Moral 120 Punkte
25 Nr. 050 Tiefschwarzer Schleier 120 Punkte
28 Nr. 042 Sind wir bereit für die Unsterblichkeit 108 Punkte
29 Nr. 047 Geld oder kein Geld, das ist hier die Frage 99 Punkte
30 Nr. 048 Unsterbliches Leben 89 Punkte
31 Nr. 037 Unsterblichkeit – Die Diskussion 83 Punkte
32 Nr. 054 Entdeckung der Unendlichkeit 77 Punkte
33 Nr. 051 Rettungsanker? Protokoll einer Sitzung 76 Punkte
33 Nr. 019 Letztes Meeting 76 Punkte
35 Nr. 030 Unsterblichkeit 72 Punkte
36 Nr. 031 Schwere Entscheidung 51 Punkte
37 Nr. 059 MAKABER, rot für die Glut 49 Punkte
38 Nr. 039 Karussell des Lebens 43 Punkte
39 Nr. 061 Die Nachricht 12 Punkte
Wir danken allen Teilnehmer*innen fürs
Mitmachen und wünschen
Ein gutes Neues Jahr!
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Bei all den erfolgreichen Buchautoren, Filmemachern, Musikern, Künstlern und Unternehmern, sind viele junge Menschen geneigt, ihnen nachzueifern. Sie versuchen, es ihnen gleichzutun und beginnen, das Erschaffene dritter zu kopieren. Das ist der erste Fehlschritt eines Newcomers. Er lässt außer Acht, dass gerade die Erfolgreichen, mit eigener Kreativität zu Werke gingen und deswegen erfolgreich wurden. Deshalb unser Aufruf: Gehe Deinen eigenen Weg, verwirkliche Deine Ideen und erschaffe Deine eigenen Werke.
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