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Geburtstagsfeiern, die Vergänglichkeit

& Quallen auf Enceladus

 

Freitag der 13.11.2150

Meine Einträge mit >>Liebes Tagebuch<< zu eröffnen hatte ich noch nie getan. Die meisten meiner Einträge beginne ich geradeaus mit den Themen, die mich bewegen.

Tagebuch zu führen, war für mich schon immer wichtig.

Es hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und mit zeitlichem Abstand noch einmal auf Ereignisse zurückzublicken. Es unterstützt mich dabei Erlebtes und Gefühle einzuschätzen und ihre Wichtigkeit einzuordnen.

Es hat mir schon oft geholfen, verzerrte Erinnerungen gerade zu rücken.

Obwohl ich heute erst meinen zwanzigsten Geburtstag feiere besitze ich Regale voller Tagebücher.

Einen großen Teil davon habe ich in der letzten Zeit digitalisiert.

Zwischen dem Zusammentreffen mit meiner Familie am Nachmittag und der Feier mit meinen Freunden am Abend habe ich die Zeit genutzt um meine bisherigen Tagebucheintragungen in der >>2D<<, zu veröffentlichen. Als >>two Di<< ausgesprochen ist dies die Abkürzung für >>Digital Dimension<<, was als eine Weiterentwicklung des Internets angesehen werden könnte.

 

Ist es zu früh, mit zwanzig sein Tagebuch zu veröffentlichen? Vielleicht? Manche haben in meinem Alter schon so viel erlebt, dass es für ein ganzes Leben reicht, bei anderen hingegen beginnt mit zwanzig erst das, was manche als den Ernst des Lebens bezeichnen würden.

 

Bei mir ist das anders… denn das hier ist mein zweites Leben und ich kann mich noch an mein erstes erinnern …

 

Auch in meinem vorherigen Leben habe ich Tagebuch geführt. Nach meiner Wiedergeburt konnte ich mich genau daran erinnern, wo ich meine Tagebücher versteckt hatte. Ich weiß nicht, warum ich sie sicher für die Zukunft aufbewahrte, ich weiß nur, dass es mir damals ein Bedürfnis war.

Ich habe nicht herausfinden können, ob jeder Mensch öfters auf die Welt kommt, und ob nur ich mich an mein vorheriges Leben erinnern kann. Ich habe versucht, andere wie mich zu finden. Hoffnungsvoll knüpfte ich immer wieder Kontakt mit Menschen, die glaubten wiedergeboren zu sein. Leider entpuppten sich die meisten Erzählungen von den Menschen, die ich aufspürte, als Unwahrheit.

Manchmal war es sehr offensichtlich, dass die Erlebnisse, von denen sie berichten, nicht stimmen konnten. Manchmal fand ich erst nach intensiver Nachforschung Fehler in deren Geschichte. Und bei den wenigen, die glaubhaft wirkten, blieben letztendlich trotzdem Zweifel. Niemand konnte seine Erfahrung beweisen.

Ich habe genauso an mir selbst gezweifelt.

Bis ich vor dem Grab meines früheren Ichs stand. Nachdem ich meine alten Tagebücher wieder gefunden hatte und daraufhin die noch existenten Orte meines vergangenen Lebens aufsuchte, bestand für mich kein Zweifel mehr. Ich hatte mir das Alles nicht nur eingebildet.

 

Ich erzähle keinem von meinen Erinnerungen, ich möchte niemanden damit belasten.

Als Kind machte ich einmal eine Bemerkung gegenüber meiner Mutter, der panischen Ausdruck in ihren Augen verfolgt mich bis heute. Wenn sie mich manchmal wieder darauf anspricht, tue ich so, als könnte ich mich nicht mehr daran erinnern und lache über ihre Geschichte.

Ich habe Angst, von den Menschen als verrück angesehen zu werden. Mir ist bewusst, wie ich selbst auf Leute geblickt habe, während sie mir die Geschichten ihrer Wiedergeburt erzählten und ich ihnen kein Wort glaubte.

Ich habe versucht, jedem mit Respekt zu begegnen, doch nicht immer konnte ich meine Gefühle unter Verschluss halten.

Trotz der Angst verurteilt zu werden habe ich das Bedürfnis, meine Erfahrungen mit anderen zu teilen. Deshalb habe ich mich zur anonymen Veröffentlichung entschieden.

Vielleicht ist jemand da draußen, der sich in meinen Erzählungen wiederfindet und sieht, dass er mit seiner Erfahrung nicht alleine ist.

 

Bei meiner Feier mit Familie besuchte mich zu meiner großen Freude meine Urgroßtante Emma. Wir haben schon seit meiner frühesten Kindheit eine besondere Beziehung zueinander.

 

Zum ersten Mal geboren wurde ich in den frühen Zweitausendern und sie stammt aus einer ähnlichen Zeit. Sie wurde nur wenige Jahre nach meinem früheren ich geboren und ist damit unser ältestes Familienmitglied. Dabei ist es heute aber nicht mehr ungewöhnlich, dass Menschen hundertfünfzig Jahre und älter werden. Etwas, das sich damals keiner vorstellen konnte.

Krankheiten, die in der Vergangenheit oft noch tödlich endeten, sind heute behandelbar und werden als chronische Krankheiten eingestuft. Dem Menschen ist nach der Diagnose meist noch ein langes und lebenswertes Dasein möglich.

 

Da Emma um meinen Hang für das vergangene Jahrhundert weiß, hatte sie ein besonderes Geschenk für mich.

Ihr Paket war altmodisch in Geschenkpapier mit Schleife verpackt gewesen. Alleine das Papier musste ein Vermögen gekostet haben. Ich packte das Geschenk ganz vorsichtig aus, um ja nicht das Papier zu zerknittern oder gar zu zerreißen. Darinnen befand sich ein altes Buch. Es war keine kostbare Erstausgabe, und kein antikes Sammlerstück. Es würde sich auch nicht teuer verkaufen lassen. Doch für mich persönlich besaß es einen hohen Wert.

So eine Ausgabe wurde mir schon einmal geschenkt.

Sie wurde mir von einem lieben Menschen überreicht und dazu eine Kette, deren Anhänger thematisch zu dem Buch passte. Die Kette trug ich bis zu meinem Tod bei mir und das Buch lag bis zuletzt auf meinem Nachttisch. Ich hatte einiges versucht, beide Dinge wieder zu finden, doch sie blieben verschollen.

Als ich entdeckte, dass Emma im Besitz der gleichen Ausgabe war, freute ich mich sehr. Auch wenn ich es nicht selbst besaß, verursachte sein Anblick Nostalgie und gute Gefühle in mir.

Emma hatte natürlich bemerkt, dass dieses Buch etwas in mir auslöste, auch wenn ich mich bemühte, es nicht so offensichtlich wirken zu lassen.

Emma hatte es mit zwanzig Jahren von ihrer Schwester geschenkt bekommen. Sie hatte das Buch sorgfältig aufbewahrt und unbeschadet durch die Zeit gebracht.

Deshalb konnte ich es kaum glauben, dass sie es mir wirklich schenken möchte. Erst wollte ich es gar nicht annehmen. Doch ich verstand, besser als manch anderer, als sie mir erklärte, sie wolle sicher sein, dass es bei jemanden ist, der es zu schätzen weiß und der darauf achtgeben würde.

Meine Freude darüber, war kaum in Worte zu fassen. Mit zittrigen Fingern holte ich das Buch aus dem Paket und strich wie damals vor so vielen Jahren mit meinen Fingern vorsichtig über den Einband.

 

Manchmal habe ich Angst, mich mehr mit der Vergangenheit zu beschäftigen als gut für mich ist.

Es ist doch wichtig, im Jetzt zu leben. Jedoch kann ich mich nicht davon lösen immer wieder in die Vergangenheit abzutauchen. Ich bin ein junger Mensch und trage diese alte Seele in mir. An manchen Tagen bin ich wieder genau der Mensch, der ich vor Jahrzehnten war, und dann schaffe ich es wieder, als der zwanzigjährige Mensch zu leben, der ich jetzt bin.

Ich hoffe, dass die Veröffentlichung meiner Tagebücher mich wenigstens zu Teilen mit der Vergangenheit abschließen lässt.

 

Ich werde nicht die Menschen aufsuchen, die ich in meinem alten Leben kannte. Die, die mir nahestanden, sind vor langer Zeit von dieser Welt gegangen.

Kinder hatte ich keine und ich weiß nicht, auch wenn ich welche hätte, ob ich es schaffen würde, sie zu besuchen. Die eigenen Kinder als Greise zu sehen, oder gar vor ihrem Grab zu stehen, würde mein Herz brechen.

Den restlichen noch verbleibenden Menschen aus meiner Vergangenheit möchte ich nicht begegnen. Ich habe Angst davor, ihre Gedanken über mein vergangenes Ich zu erfahren. Von Besuchen aus Pflichtbewusstsein, von dem Mitleid, das ich zum Ende meiner Zeit hin, in ihren Augen sah, möchte ich nichts wissen.

 

An manchen Tagen freue ich mich über den Gedanken, dass da draußen vielleicht irgendwo mein Vater oder meine Mutter in neuer Gestalt leben könnten, und dann sehne ich mich nach ihnen. Daraufhin deprimiert mich jedes Mal der Gedanke, dass ich sie nie finden werde, und wenn doch, sie sich nicht an mich erinnern könnten.

Schlussendlich endet dieses Gedankenspiel immer mit einem schlechten Gewissen gegenüber meiner Eltern in diesem Leben. Ich habe das Glück liebende und sich sorgende Eltern zu haben und sehne mich doch nach meinem >>richtigen<< Vater und meiner >>richtigen<< Mutter.

Dabei fühle ich mich so undankbar.

Menschen müssen komplett ohne die Wärme und den Rückhalt einer Familie aufwachsen und ich bin gierig und wünsche mir mehr, als mir zusteht.

Doch dann versuche ich, mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass dieses Gefühl wahrscheinlich menschlicher ist, als ich wahrhaben möchte.

 

Die Welt hat sich oberflächlich betrachtet in den letzten hundertfünfzig Jahren gar nicht so stark verändert. Die Veränderungen fanden im Verborgenen statt, im Digitalen. Ich weiß nicht, ob die futuristischen Städte, wie sie sich Menschen im laufe der Geschichte immer wieder vorgestellt haben, jemals so in dieser Form existieren werden. Es gab Veränderungen, wenn man die Welt im Ganzen betrachtete, doch das kleine Bild ist der Vergangenheit sehr ähnlich.

Menschen wohnen immer noch in Häusern. Sie streiten sich, sie lieben sich, sie haben Vorurteile und Angst vor dem, was sie nicht kennen. Sie gehen ihrer Arbeit nach, sie träumen von einem besseren Leben.

Aber die Arbeit hat sich verändert und auch die Träume. Die Häuser sind andere, doch die Themen beim Streit sind denen der Vergangenheit sehr ähnlich.

Was den Menschen ausmacht, das blieb gleich seit meiner ersten Zeit auf dieser Welt.

 

Als meine Urgroßtante noch ein Kind war und ich noch mein vorheriges Leben lebte, wohnten Menschen noch >>auf dem Land<<.

Ich wuchs auf einem Bauernhof in der Nähe einer kleinen Stadt auf. Mein Vater fuhr noch selbst Traktoren über die Felder, bevor diese Aufgabe von den großen selbstfahrenden Landmaschinen übernommen wurde.

Inzwischen ist dort alles verbaut. Das kleine Städtchen hatte sich ausgedehnt, ist mit anderen Siedlungen zusammengewachsen und hat den Charakter einer Vorstadt angenommen. Die meisten der sechs Milliarden Erdbewohner leben inzwischen in solchen zusammen gewachsenen Metropolregionen. In manchen Ländern gibt es mega Citys, die während dem Höhepunkt, des Weltbevölkerungswachstums großen Zulauf hatten. Im Gegensatz zu den >>natürlich<< gewachsenen urbanen Gebieten wurden Planstädte wenig erfolgreich angenommen. Seit die Weltbevölkerung wieder schrumpft wurden diese zu verlassenen Orten.

Verlassen und unbesiedelt sind inzwischen auch ganze Landstriche. Gebiete die für die Agrarwirtschaft genutzt werden, werden nur noch von den riesigen Landmaschinen bevölkert. Areale, die nicht von den Maschinen bewirtschaftet werden können, liegen brach und wurden von der Natur zurückerobert.

 

Wie viele junge Erwachsene meiner damaligen Generation zog auch ich in eine Stadt. Eine mit richtiger Altstadt und Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert. Solche gibt es heute nicht mehr viele und nur noch die Reiche Bevölkerung nimmt sich den Luxus dort zu wohnen. Die meisten Menschen bevorzugen den Komfort der neueren Modulbauweise. Bei Umzug können ganze Häuser oder einzelne Module mitgenommen werden. Wenn man plötzlich doch einen Raum mehr braucht, werden ein oder mehrere Module dazugesetzt, je nachdem wie groß der Raum werden soll. Früher musste ich meine ganzen Dinge zusammenpacken, heute kann ich mit meinem Jugendzimmer in eine neue Stadt ziehen.

Auch die Arbeit im Haushalt hatte sich um vieles erleichter. Nassbereiche reinigten sich komplett autark. Fenster und glatte Oberflächen nehmen keinen Schmutz mehr an. Dafür hatte das Heim an Individualität eingebüßt. Natürlich gibt es eine reiche Farbauswahl, sogar die Struktur der Oberfächen kann man individuell bestimmen, aber es sind doch die immergleichen Materialien und das kann man fühlen.

Egal welches der Häuser man betrat, es war immer der gleiche Aufbau und die gleiche Struktur. Dafür wurde das Wohnen wieder erschwinglicher und es musste weniger Geld und Freizeit in den Wohnraum investiert werden.

 

Mein damaliges Leben führte mich nicht so weit durch die Welt, wie ich das in meiner Jugend geplant hatte, dafür aber länger durch die Zeit als ich es ahnen konnte.

Im Nachhinein hatte ich viele meiner besten Zeiten an Orten und in Situationen, die ich so gar nicht für meine Zukunft gesehen hatte.

 

Um 2050 während des weltweiten Siegeszugs des Reduktionismus und der höchsten Anzahl an Diktaturen auf diesem Planeten traf ich die Liebe meines Lebens. Während die Welt aus den Fugen geriet, fand ich in einer der Mega-Planstädte zu zweit in einer winzigen Wohnung mein persönliches Paradies.

Es war eine Zeit, in der der religiöse Glaube in der Politik noch einmal eine zentrale und bestimmende Rolle spielte, bevor er ein paar Jahrzehnte später von dem Großteil der Länder endgültig vom Staat getrennt und als höchst privates Gut eingestuft wurde.

Während China von einem afrikanischen Land, als Weltwirtschaftsmacht Nummer eins abgelöst wurde, kämpfte ich mit der Arbeitslosigkeit und musste mich nach Jahren in der gleichen Berufssparte komplett neu orientieren. Dabei fand ich Freude in einer Tätigkeit, von der ich nie geahnt hätte, dass ich dafür Talent haben könnte.

Während der Nachkomme eines ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten und der Anführer eines fernöstlichen Staates versehentlich den Grundstein für den Beginn eines Weltfriedens legten, musste ich mich von meiner Liebe wieder verabschieden und lebte danach viel zu lange Zeit in Lethargie und Gefühllosigkeit.

 

Über meine letzten Tage, und über den Tod zu schreiben, bin ich noch nicht bereit. Wer weiß, vielleicht werde ich es nie sein.

Es ist besser für meine mentale Gesundheit, mich mit meiner gewonnenen Lebenszeit zu beschäftigen und den Möglichkeiten, die darin liegen.

 

An meinen Geburtstagen bringe ich Blumen auf mein Grab.

Da ich wusste, dass ich den Rest des heutigen Tages keine Zeit mehr dafür finden würde, machte ich mich schon früh morgens auf den Weg.

Als ich die Blumen niedergelegt hatte und wieder aus dem Friedhof trat ließ ich meinen Blick über die Umgebung schweifen.

Breite Wege, auf denen selten Fahrzeuge zu sehen sind, verlaufen zwischen den genormten quaderförmigen Wohnhäusern. Der Verkehr wurde in den Untergrund verbannt. Es gibt viel grün zwischen den Gebäuden und es wirkt weitläufig und luftig. Nach der beinahe klaustrophobischen Enge der Städte der Vergangenheit, mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte, fühle ich mich manchmal fast einsam in den ruhigen Straßen der Gegenwart.

Es war noch dunkel und ich hob meinen Blick zum Nachthimmel.

Dort war der Mond sichtbar. Noch nicht als Sichel, aber weniger als Halbmond.

Trotz seiner Schwankungen in der Helligkeit war er das einzige wirklich Konstante über die Jahre gewesen.

Das nächsthelle Objekt am Himmel war die Raumstation.

Die echten Sterne waren kaum noch zu sehen. Durch die vielen künstlichen Satelliten und dem umherfliegenden Weltraumschrott wurden es nie mehr richtig finster und es ging permanent ein leichtes Glühen vom Himmel aus.

Ich kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt hinauf, in der Hoffnung vielleicht einen der Planeten ausmachen zu können. Ohne zu wissen, ob zurzeit überhaupt einer von ihnen am Himmel stehen würde. Ich konnte mich aber daran erinnern früher öfters am Morgen vor Sonnenaufgang Jupiter oder Mars am Himmel gesehen zu haben. Saturn mit seinen Ringen konnte ich sogar einmal durch ein kleines Hobbyteleskop beobachten. Heute war Saturn nicht mehr am Himmel auszumachen, stattdessen bezahlten manche Menschen Unmengen an Geld um sich quallenartigen Lebewesen von seinem Mond Enceladus als Haustiere zu halten.

Aus dem Augenwinkel sah ich etwas kleines, dunkles über den Himmel huschen. Es war schnell wieder verschwunden, deshalb konnte ich nicht mit Gewissheit sagen, was es war.

Doch ich bildete mir ein, eine Fledermaus gesehen zu haben.

Eine Bekannte erzählte mir vor kurzen, sie habe ein paar Straßen weiter einen Vogel entdeckt.

Vielleicht war es dann auch möglich, dass hier eine Fledermaus lebte.

Während manche Wildtiere es schafften, sich den durch die Menschen, zum Teil mit Absicht, zum Teil ungewollten, Veränderungen der Umwelt, anzupassen und sich neue Lebensräume zu erschließen, waren andere Spezies dem Untergang geweiht und verloren gegangen. Manchmal erzählt jemand von einer Sichtung seltener oder ausgestorbener Arten, und auch wenn das meiste nur Wunschdenken ist, hoffe ich doch jedes mal wieder, dass diese Tiere doch wieder auftauchen.

 

In einer alten Scheune feiere ich meinen Geburtstag heute Abend mit meinen Freunden.

Mit Lampions, Luftballons und Luftschlange, wie die Geburtstagsfeiern vor hundert Jahren.

 

Meine Eltern hatten angeboten mir eine Feier auf der >>ISS<<, der internationalen Raumstation zu spendieren.

Da die ISS nicht wie geplant zum Absturz gebracht, sondern von einem >>Tec Milliardär<< aufgekauft und über die Zeit zu einem Themenpark mit Hotel, Restaurants und Museum umgebaut wurde, kann man dort Räume für Veranstaltungen mieten. Von der ursprünglichen Raumstation ist dabei nicht mehr viel übriggeblieben. Nur ein Teil des Museums besteht noch aus Originalteilen der ursprünglichen Station.

Anfangs konnten sich so einen Aufenthalt nur schwer reiche Menschen leisten. Inzwischen ist durch die Anreise mit dem Weltraumaufzug anstelle von Raketen, ein Besuch auf der ISS auch für den Durchschnittsmenschen erschwinglich geworden. Trotzdem war es nichts, was man sich regelmäßig leisten wollte, und ich habe mich sehr gefreut, als meine Eltern mir eine Feier auf der Raumstation ermöglichen wollten.

Doch mich freute der Gedanke an eine Feier in der Scheune viel mehr, auch wenn das nicht jeder nachvollziehen konnten.

 

Ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern als zum ersten Mal konkrete Pläne für den Bau eines Weltraumaufzugs öffentlich wurden. Erst konnte ich es kaum glauben, dass so etwas möglich war. Doch mit der industriellen Produktion und Verwendung von Graphen wurden technische Möglichkeiten eröffnet, die man sich vorher nicht vorzustellen vermochte.

Inzwischen wurde mit den Aufzügen so gut wie alles, was in das All sollte, transportiert.

 

In meinem Mediencenter lief gerade noch ein wilder Musik-Mix aus den vergangenen zweihundert Jahren, der von den Nachrichten unterbrochen wird.

 

Eine der News handelt von Rechten die >>KI<< betreffend, eine andere, von Peking, das zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt wurde.

Es gab einen Unfall im Asteroidenbergbau.

Und nachdem Monde von Jupiter und Saturn zu Naturschutzgebieten erklärt wurden, begannen Verhandlungen um Teile des Erdenmondes auch unter Natur-und Denkmalschutz zu stellen.

Nach einem Blick auf die Uhr, wird mir bewusst, ich habe schon wieder viel zu viel Zeit in meinem Kopf und bei meinen Erinnerungen verbracht.

Eine Nachricht von meinen Freunden lässt mich wissen, dass sie unterwegs sind, um mich abzuholen.

Es ist an der Zeit wieder die Persönlichkeit eines jungen Erwachsenen anzunehmen und zu verinnerlichen, wer ich im Moment bin.

 

ENDE

 

 

 

Beitrag 37

 

Eine eigentümliche Bescherung

 

Menschen mit Geheinschränkungen kennen das Anliegen unserer Branche bestens. Wir fertigen mittels modernster Technik Bauteile, die es ehemaligen Unfallopfern, Sportinvaliden und altersbedingt in ihrer Bewegungsfähigkeit beeinträchtigten Personen ermöglichen, wieder zu laufen, zu tanzen und sogar zu springen.

In diesem Jahr wurde in unserem Betrieb zum ersten Mal gewichtelt. Die weihnachtliche Vorfreude durfte unter den zugelosten, meist weitgehend unbekannten Kollegen geteilt werden. Das Treffen war für Freitag, den 13. November 2150, angesetzt: Nur einen Tag vor dem seit 2057 auf den 14. November verlegten Heiligabend.

Dieser Freitag, der 13., schuf eine außergewöhnliche Atmosphäre verheißungsvoller Ekstase. Die Anonymität des Wichtelns und die Aussicht auf neue Bekanntschaften unmittelbar vor der Jahreswende schienen den Alltag vergessen zu machen und an den Seelen zu rütteln.

Ich zog Andrea aus dem Lostopf. Sie hatte erst kürzlich in der Firma angefangen oder war mir bis dahin unbemerkt geblieben. Jedenfalls war ich ihr nie zuvor bewusst begegnet. Ein so großes Unternehmen hält die Mitarbeiter anderer Abteilungen geschickt verborgen. Man kennt sich höchstens oberflächlich, sieht sich und vergisst einander nach den flüchtigen Begegnungen rasch wieder. Aufgrund von Andreas Unbekanntheit war es mir unmöglich, ihre Vorlieben einzuschätzen oder im Vorfeld herauszufinden, was sie benötigen könnte. Mit meinen gerade mal zwanzig Jahren hatte ich zudem noch kaum Erfahrung im Umgang mit derlei verflixten Situationen.

Geschäftsführer Nebulatrix-Vortrexion lud Wochen vorher mit Flyern und Rundmails zur Premiere in das wuchtige Casino jenseits des zentralen Bürotrakts im Hauptgebäude.

„Wer wissen möchte, von wem er beschenkt wurde, kann das im Nachgang der Veranstaltung erfahren. Gegenseitiges Einvernehmen vorausgesetzt“, lauteten die Sätze im Chat, die der von Nebulatrix-Vortrexion beauftragte Koordinator Luxarion-Quintellumin in einer weiteren Mail herausposaunte. Der zierliche Mann leitete eine kleine Unterabteilung und rührte nun kräftig die Werbetrommel fürs Wichteln.

Was ich durch jene Ankündigungen vorausahnte, war der Ablauf des bevorstehenden Prozederes: An Stehtischen würde man Häppchen mit exotischen Belägen vernaschen, mit prickelnden Sektkelchen ziellos schlendern, sich umschauen, auf frisch hinzugewonnene Kontakte anstoßen und ihnen steckbriefartig seine Leidenschaften und Abneigungen darlegen. Eben diese steife Feierlichkeit, die sich zwischen früheren Klassenkameraden bei einem Treffen nach Jahrzehnten ereignet.

Am Wichteltag sollte sich herausstellen, dass ich mich auch darin täuschte.

„Wer mag diese Andrea wohl sein?“, fragte ich mich andauernd. Fast unentwegt geisterten diverse, mitunter kollidierende und abstruse Bilder durch meinen Kopf. Temporär fanatische Versionen einer perfekten Andrea, die mich angefangen bei den Stiefeln bis hinauf zu ihren Locken magisch anziehen würde.

Ich überlegte ernsthaft bereits in diesem Stadium, in dem noch rein gar nichts geschehen war, ob ich meiner Frau nach dem ersten persönlichen Zusammentreffen mit Andrea mit schlechtem Gewissen gegenübertreten müsste.

Insgeheim bat ich den Kosmos, die von mir grundlos Angehimmelte würde meine Rufe erhören, doch genauso sehr wünschte ich für meine Familie das Gegenteil. Ich reimte mir die Läden zusammen, die ich bei meinem Stadtbummel aufsuchen würde, um ihr Geschenk zu besorgen. Mit erhobenem Haupt und ergatterter Beute sah ich mich einige Zentimeter über dem Pflaster der Einkaufsmeile schweben. Ich stellte mir vor, wie vorbeiziehende Passanten darüber spekulierten, ob der Inhalt meiner Taschen anrüchig und schlüpfrig sei. Mich erregte oft ganze Nächte lang die Idee eines polarisierenden Präsents. Bis zuletzt würde ich schwanken, ob ich wissen wollen würde, wer mich beschenkt hat. Derartige Rätsel entzückten mich. Meine Neugier am Siedepunkt, vertraute ich mich zusehends häufiger meinem Tagebuch an. Jeder Fehltritt vor dem finalen Wichteln konnte bei Andrea meine Ablehnung heraufbeschwören. Die Furcht vor einer totalen Blamage befeuerte meine Lust zu Heldentaten. Ich wollte vermeiden, den vagen Besitz aus meinen Händen zu entlassen. Doch das nie Gehabte musste ich zuerst erobern.

Die idealisierte Vorstellung von Andrea war meine jegliche Hindernisse überragende Triebfeder. Ich träumte davon, dass wir gemeinsam über Brücken flanierten und unsere Liebe an jeder einzelnen Strebe mit einem Vorhängeschloss besiegelten. Unsere beiden Namen dort anzubringen, war genau das, was ich wollte! Mich in einem abgeschiedenen Café an Andreas Anblick ergötzen und dabei Pflichten versäumen – dieser Zustand schien mir absolut greifbar. Nach Weihnachten in einem festlich beleuchteten Wintergarten Glühwein mit Zimtgewürz und Orangenscheiben schlürfen, den Verlauf des Wichtelns reflektieren und ihr gestehen, dass ich nach einer enormen Durststrecke von Mutmaßungen nun endlich angekommen sei …

Unsere gemeinsam verbrachte Zeit wäre der ultimative Korrosionsschutz für meine angeschlagene Konstitution. Ich lebte schon jetzt in einer Erinnerung, die erst noch geschaffen werden musste.

Heute steuerte ich nach meinem drastisch vorgezogenen Dienstende am späten Vormittag einen Wäscheladen an. Die von autonomen Fahrzeugen gesäumten Straßen überwand ich mühelos. Schnurstracks stand ich an einer noch größeren, noch vielbefahreneren Kreuzung. Ehe sich mein Eilschritt zum Sprint auswachsen konnte, traf ich in der von mir auserkorenen Boutique ein. Dort fand ich exakt das, was ich mir in kühnsten Träumen ausgemalt hatte: ein champagnerfarbenes Korselett. Für diese Damenwelt, die mir meine Elyndria Varstella Nyx stets aufzuschlüsseln versuchte, konnte ich mich in deren Gegenwart nie wirklich begeistern. Doch jetzt interessierte ich mich brennender denn je dafür. Schlechtes Gewissen? Fehlanzeige! Kein potenzieller Verrat an Elyndria Varstella Nyx quälte mich.

Ich sah nur noch das Los in meiner Hand, das clever benutzt, eine Fährte hin zu Andrea legen würde. Fortwährend sang ich ihren Namen und erschrak, als mich eine hochaufgeschossene, rotwangige Verkäuferin mit sichtbarer Nasenkorrektur ansprach. Ich mimte den Experten, wandte mich nach einer Stange, nahm von da einen weinroten Slip und aus einem benachbarten Regal eine raffiniert zu bindende Bluse, die vor erotischem Appeal geradezu strotzte. Die Verkäuferin tat alles, um weitere Kleidungsstücke aus der obersten Regalreihe herunterzuholen und sie mir zu präsentieren.

„Lassen Sie mich machen, denn Sie bräuchten eigentlich eine Stufenleiter“, sagte ich, wohlwissend, dass sie meinen Vorsprung danach wieder ausgleichen würde.

Postwendend belehrte sie mich über die Handhabung verschiedener Accessoires, die sie in ihrem breitgefächerten Sortiment feilbot. Ungeachtet meines gebürsteten Anzugs entlarvte sie meinen Dilettantismus. Sie genoss es augenscheinlich, mich in allen Einzelheiten zu unterrichten, mit ihrer Fachlichkeit vorübergehend mundtot zu machen.

Selbstverständlich zahlte ich bargeldlos. Obwohl ich mich für meine Begriffe geschmacklich akzeptabel schlug, nahm ich ohne zu murren all ihre nachgelagerten Unterweisungen an und dankte für die abschließende Empfehlung: „Falls der Dame das Geschenk nicht passt, dürfen Sie es gerne umtauschen.“ Am besten sollte ich sie mitbringen. Ich gab vor, das sei überhaupt kein Problem, so als stünde mir Andrea jederzeit abrufbereit zur Verfügung. Dabei hatte ich nie ihr Haar gerochen, niemals den Wind ihres Atems gespürt, und nicht verlässlicher hätte ich aussagen können, ob ihr Mund voll oder ihre Lippen dünn waren, ihre Hüfte speckig oder ihre Schultern schmal.

Unabhängig davon, wie sie sich beim Wichteln darbieten würde, hatte ich mich in die Illusion ihrer von mir ersonnenen Gestalt verguckt. Mir imponierte der Gedanke, ihre Fremdheit bald aufbrechen und in Intimität verwandeln zu können. Ich folgte meiner infantilen Begierde, dass die Wundertüte Andrea ein herausragendes Ergebnis zeitigen würde. Für den Moment war ich mehr als gewiss, dass sich das Blind Date zwischen uns in Sympathie auflösen würde. Die Zuversicht, meine Angebetete aus dem Feld der Teilnehmer herauszufiltern, bei zugleich bestehender Furcht, völlig danebenzuliegen, brachte mich an den Rand des Wahnsinns.

Freigehalten von jeglichem modischen Verständnis, hatte ich mich bei meiner Kaufentscheidung gegen die Verkäuferin durchgesetzt.

Nun torkelte ich den Weg in entgegengesetzter Richtung zurück zu meinem Zuhause. Ich trug eine blickdichte Tasche, die permanent an meiner Seite pendelte, in der sich ein champagnerfarbenes, rückseitig zu schnürendes Korselett befand. Verstohlen und erhaben, wie eine Trophäe, die erst in einigen Wochen das Licht der Welt erblicken durfte, führte ich meine Errungenschaft spazieren. Bis dahin würde ich sie unter dem Sitz meines selbstfahrenden Autos deponieren und hoffen, dass Elyndria Varstella Nyx sich nicht zu einer spontanen Autoreinigung hinreißen ließ. Meine vorerst fiktive Affäre mit Andrea barg ein erhebliches Risiko: Mit schmachtenden Blicken, von denen sie sicherlich bemerken würde, dass sie jemand anderem galten, konnte ich mich verdächtig machen. Falls sie mich in jener zauberhaften Gedankenverlorenheit ertappte, würde ich ihr schwer Glauben machen können, dass meine Schwärmerei lediglich ihrer Fantasie entspringe.

„A-n-d-r-e-a“, buchstabierte ich unterwegs auf meinem Fußmarsch. Ich unterteilte das Wort, weil ich an dieser Technik gerade Gefallen fand. Der auseinandergenommene, in seine Einzelteile zerlegte Name Andrea hatte einen Klang, den ich bemühen wollte.

Schließlich sang ich wieder. Ohne zu wissen, von welchem längst verstorbenen Interpreten die ursprüngliche Melodie des Schlagers stammte, entstellte ich sie und trällerte das Lied in eigentümlich schrägen Tönen. Ich tremolierte das Stück wahrlich in Endlosschleife.

Als ich verwaiste Gleise überquerte, die vermutlich im vorigen oder vorvorigen Jahrhundert gelegt worden waren, befielen mich Zweifel: Würden meine Nerven im Aufruhr des Wichtelns flattern, ich umkippen und mich vor versammelter Mannschaft blamieren? Ich wollte meinem Schicksal nicht misstrauen – und doch tat ich es.

Die nächsten Wochen gehörten einem Schauspiel: In Elyndria Varstella Nyxs Gegenwart musste ich den Unbekümmerten abgeben und durch meine Fröhlichkeit jeden geringsten Verdacht entkräften, den sie wittern konnte.

Zum spätesten Zeitpunkt würde ich an einer Waldlichtung parken, das Korselett aus der Tasche hinter meinem Sitz herauskramen, mit online bestelltem Geschenkpapier umwickeln und eine Schleife anbringen, die durch Ausmaß bestach und in ihrem Goldglanz alles überstrahlte.

Elyndria Varstella Nyx wunderte sich zwar über die zwischenzeitlich aus mir herausbrechenden manischen Anflüge, doch bohrte sie nicht weiter nach, was mich beschäftigte. Meine Schlaflosigkeit manifestierte sich und wurde von Tag zu Tag schlimmer. Eine Armada von Schmetterlingen grummelte in meinem Bauch und überall auf meiner Haut prickelten mikroskopische Nadelstiche, die ich auf Andreas Existenz zurückführte. Nachdem ich mich so ausgiebig wie ergebnislos in den Laken gewälzt hatte und mein Gemüt ausschlug wie ein Seismograph, stand ich auf und notierte auf losen Zetteln mein inneres Durcheinander. Die einzelnen Seiten formierten sich allmählich zu einem mit Einträgen prall gefüllten Tagebuch. Keine Gelegenheit, ein Ereignis niederzuschreiben, ließ ich verstreichen.

Tagsüber focht ich trotzig gegen meine Müdigkeit, und abends kam ich platt von der Arbeit nach Hause.

Auf meinen Streifzügen durchs Firmengelände beschlich mich ein mulmiges Gefühl: Konnte ich in der Vielzahl anonymer Kolleginnen ausgerechnet Andrea identifizieren? A-n-d-r-e-a. Immerzu steigerte sich ihr Name zu einer Sinnesfreude. Meine Ahnung, wie Andrea in dem Korselett aussehen würde, brachte mich vollkommen um den Verstand.

Und jene untergemischten Bedenken: Was, wenn es flatterte oder sie beengte, bestimmte Zonen ungebührlich überbetonte oder unbedingt hervorzuhebende Partien schlicht vernachlässigte? Wäre ein unpassendes Kleidungsstück, das ich mit Andrea in die Boutique zurückbringen dürfte, nicht die Krönung unserer Zusammenkunft schlechthin?

Die Tage vor dem Wichteln krochen dahin wie sedierte Schnecken. Langsam und schleppend brachten sie mich näher und näher an den besagten Tag heran. Dann endlich, nach meinem Aufruf, würde ich an den reich gedeckten Gabentisch herantreten wie die fast ausgestorbenen Christen einst vor den göttlichen Altar.

Mein Blut brauste im Galopp durch meine Gefäße. Auch wenn sich dem Arzt die Quelle meiner Beschwerden nicht erschloss, riet er mir, meine Nervosität zu bändigen.

Der Tag kam. Mein Herz pochte. Noch heftiger als je zuvor.

Tatsächlich befragte mich Elyndria Varstella Nyx an jenem Morgen nach meinem Befinden. „Warum verhältst du dich neuerdings so seltsam?“

„Der Stress mit den Projekten zermürbt mich. Es gibt Verdruss unter den Kollegen und obendrein noch das gewöhnliche Tagesgeschäft“, antwortete ich mit einer gewollt seriösen Mimik und gelassener Betonung.

„Der Trubel wird vorübergehen, wie er gekommen ist, es war nie anders“, behauptete sie.

Am Tag der Tage musste ich aufrecht gehen. Darum übte ich vor dem Badezimmerspiegel beflissen festliche Gesichter in allen erdenklichen Variationen, studierte, wie ich Andrea beim Erhalt ihres Geschenks ansehen oder wie ich belanglos wegschauen würde.

Von meinem Hemdkragen schnippte ich Fussel und balsamierte mich mit einem herben Aftershave. Um meine Männlichkeit zu untermauern, reckte ich mein Kinn möglichst weit nach vorn, und machte es markanter, als es in Wirklichkeit war. Ich strich über meine Wange, wie ich es mir in Kürze von Andrea wünschte. „Gewieft bist du!“, dachte ich höchstüberzeugt und lächelte nun völlig ungekünstelt. Dann schlich ich mich auf Zehenspitzen zur Tür, zog in der Garderobe flugs meine braunen Wildlederschuhe an, verließ unser Haus und fuhr vom Hof.

Einige verwinkelte Gassen überwunden, war ich beim Firmengelände angekommen. Die Schranke öffnete sich anstandslos. Das Häuschen, in dem vor ewiger Zeit ein sogenannter Pförtner gesessen hatte, war verwaist und stand unter Denkmalschutz. Ich hatte somit freie Zufahrt und zockelte mit dem Tempomat auf Schritttempo zum Parkplatz.

„Das Päckchen, das ich gestern verpackt und dann beim Wichtelmeister Luxarion-Quintellum abgegeben habe, wird nicht verschollen sein“, dachte ich zögerlich. In meiner fragilen Laune begab ich mich ins Büro. Nur noch weniger als zwei Stunden! Die Minuten verfingen sich wie grobkörniger Sand in einem schmalen Hals. Nie floss Zeit so zäh.

Abwesend sendete ich KI-generierte Mails an Kunden retour, die in unserer Reklamationsabteilung ihren Unmut abgeladen hatten wie Schutt in einem Container. Darin sah ich eine angenehme Ablenkung, das Kontrastprogramm zu meinen handschriftlichen Tagebucheinträgen, die in der jetzigen fortschrittlichen Epoche den meisten Menschen gleich einer Renaissance der Dinosaurier vorkommen würden. Ich verfasste meine Niederschriften für die Schublade; für den Papierkorb der nachfolgenden Generation. In meinem Kopf stockte urplötzlich ein Gebälk an Ängsten, obwohl ich nachher im Saal des Wichtelns jedwede Absicht an Andrea problemlos zurückziehen und revidieren könnte.

Lampenfieber gewann die Oberhand. Ich konnte es nicht abschütteln.

Dann ging‘s los. Aus sämtlichen Büros und Produktionshallen strömten die Mitarbeiter in den riesigen Saal. Mit meinen Fingern kämmte ich mein lichtes Haar und schritt der Zeremonie würdig, dementsprechend ausladend, durch die geöffnete, in der Mauer verschwundenen Tür. Drinnen verlangte meine Zunge nach Flüssigkeit. Alles in mir war nun belegt und wollte benetzt werden. Ich streckte mich und entkrampfte meine Glieder.

Das Stimmengewirr brandete wie eine frontal mich erfassende Welle. Ich konnte den lebhaften Unterhaltungen zusammenhangslose Fetzen entnehmen. Die geschätzt siebzig Personen bei signifikantem Frauenüberschuss stifteten in mir Verwirrung. Außen herum ein Stuhlkreis, mittig lagen die Geschenke kreuz und quer. Welches würde mir gehören? Einige Reden der Firmenoberen und Abteilungsleiter gingen voraus, dann wurde dem Wichtelmeister das Wort erteilt. Mit seiner konsequent sanften Stimme rief er die Teilnehmer namentlich auf. Ich zementierte ein Grinsen in meinem Gesicht, bis meine Wangen spannten. Jene Maske sollte mich bei einer möglichen Enttäuschung unangreifbar machen. Durch das Mikrofon aufgefordert, lief ich nach vorne und entriss das Paket im Format einer Schuhschachtel Luxarion-Quintellumins Händen. Bevor ich die Schleife nach allen Regeln der Vernichtungskunst zerschneiden konnte, wurde Andrea aufgerufen.

Welch unerwartete Person! Ein bei jeder Bewegung baumelndes Silberkettchen um den Hals, athletischer Körperbau, blendend weiße Zähne mit einer kontrastierenden Lücke. Nachdem Andrea zum Stuhl zurückgestelzt war, das Verpackungspapier martialisch heruntergerissen hatte, lag das champagnerfarbene Korselett in voller Pracht vor ihren Füßen. Zu kleingeraten für Andreas Proportionen schien es allemal.

Und wie ich meinen Hitzewallungen zufolge dabei errötet sein musste. War ich enttarnt? Andrea nickte billigend. Irgendeine Verwendung schien Andrea zu haben. Während ich rätselte, wer bei Andrea daheim auf die Weitergabe des Wichtelgeschenks wartete, meinte ich mehr den Lippen abgelesen als gehört zu haben, es gäbe da einen Partner, der das Korselett anläge. Es würde immerhin Verwendung finden.

Andrea zwinkerte mir zu und schrie in ihrer aufflackernden Euphorie: „Welch ein Zufall!“, und ich ergänzte viel zu leise: „…, dass ausgerechnet wir beide einander beschenken dürfen.“

Ich sträubte mich jetzt innerlich, mein Kuvert zu öffnen. Andrea drängte mich, blieb wortlos, aber eindeutig gestikulierend vor meinem Stuhl stehen.

Ein Gutschein für die Kantine. Mein nächster und zugleich letzter Tagebucheintrag würde lauten: „A-n-d-r-e-a. Der Brillenträger mit den wuchtigen Wangenknochen ist höchstwahrscheinlich ein Kalabrese.“

 

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 38

 

Ewiges Leben?

 

Wie jedes Jahr um diese Zeit ist es fast unerträglich heiß. Am blauen

Himmel stört kein Wölkchen. Der Klimawandel hat alles verändert. Der Rhein ist schon lange versiegt und durch eine täuschend echte Projektion ersetzt. Während ich vor meiner altmodischen Kladde sitze, an meinem Kaffee nippe und mir den Schweiß abwische, frage ich mich, wie alles angefangen hat. Ist heute wirklich mein Geburtstag? Werde ich tatsächlich 20 Jahre alt? Ich schaue auf das weiße Blatt und notiere die ersten Worte:

 

Tagebuch und darunter Erfahrungsbericht von

Julian Bergmann, 13.11.50.

 

Einen Anfang zu finden fällt immer schwer. Wo soll ich beginnen? Am

Besten einige Zeit vor dem 13. November 2130. Eigentlich dürfte ich mich nicht erinnern, denn das ist das Datum meines Geburtstages, allerdings meines zweiten Geburtstages. Ich beginne also von vorn. Meine erste Erinnerung ist eine unbeschwerte Zeit im Kindergarten und die Feier zu meinem 5. Geburtstag im Jahr 2095. Lassen Sie mich bitte erklären, wie sich alles zueinander verhält, bevor sie mich für verrückt erklären oder als Märchenerzähler abstempeln.

 

2095-2118

Ich wurde in eine normale Familie geboren, als natürlicher Spross eines Ingenieurs und einer Verwaltungsangestellten. Als Einzelkind konnte ich mir der ausschließlichen Aufmerksamkeit meiner Erzeuger sicher sein.

Behütet und verwöhnt wuchs ich in einem Reihenhaus mit Garten auf.

Die Familie war finanziell abgesichert, gesund, angesehen und von Freunden und Verwandten geschätzt und geliebt. Nichts trübte den Familienfrieden, so dass ich die übliche Schullaufbahn problemlos durchlief und mit 18 ein Abitur in der Tasche hatte, das mir alle Optionen offen hielt. Einen für mich passenden Beruf zu finden dauerte länger. Da ich reisen wollte, um etwas von der Welt zu sehen, begann ich eine duale Lehre als Exportkaufmann in einer Maschinenfabrik. Spanisch, meine zweite Fremdsprache, war ein großer Vorteil, da gerade eine Niederlassung in Mittelamerika eingerichtet werden sollte. Ich wurde als rechte Hand des Leiters nach Mexiko entsandt. Es war herrlich, denn mein Vorgesetzter erweiterte bald seine Siesta bis zum Abend, so dass ich für das Tagesgeschäft allein verantwortlich war.

Jeden Tag zeichnete ich Dokumente ab, Verträge über Lieferungen und Einkäufe, aber auch die Privatentnahmen des Leiters aus der Barkasse.

Nach einigen Monaten kam ein Buchprüfer aus der Zentrale und entdeckte bald die Unregelmäßigkeiten. Ich war mir keiner Schuld bewusst, hatte ich doch nichts Unrechtes getan. Jedoch die Tatsache, dass ich alles bedenkenlos und im Vertrauen auf den anderen abgezeichnet hatte, stellte mich als allein Schuldigen hin. Ich wurde zurückbeordert, angezeigt, angeklagt und schließlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die Karriere war ausgeträumt.

 

2118-2129

Im Gefängnis lernte ich manches Nützliches und knüpfte Bekanntschaften, die sich für die Zukunft als vorteilhaft erwiesen. Mein Zellengenosse war ein begnadeter Fälscher mit einer Vorliebe für Kryptographie. Wir vertrieben uns die Zeit mit dem Üben von Schriften und dem Verschlüsseln von Kassibern. Die Haft verging schnell und wir wurden schließlich am selben Tag in die Freiheit entlassen. Peter, so hieß mein neuer Freund, brachte mich gleich in ein Lokal, das als Treffpunkt der Unterwelt bekannt war. Da ich flink und zuverlässig war, machte ich mir schnell einen Namen und wurde in der Szene bald respektiert.

Das Leben war angenehm und die Einnahmen nicht zu verachten. Nach mehreren angenehmen Jahren sehnte ich mich dennoch nach einem Dasein, wo man nicht ständig das Auftauchen der Polizei fürchten musste und ruhig schlafen konnte.

 

Dezember 2129-April 2130

Peter und ich erstellten kunstvolle Zeugnisse und Diplome, sowie Nachweise über meine erfolgreichen Tätigkeiten in Übersee. Etwas skeptisch begab ich mich zum ersten Vorstellungsgespräch, doch mein sicheres Auftreten, meine Kenntnisse der Verhältnisse in Mittelamerika und mein akzentfreies Spanisch gaben den Ausschlag für eine Einstellung als stellvertretender technischer Leiter bei der Vorbereitung zur Einrichtung und Montage einer Zementfabrik in Kuba. Die meisten potentiellen Anwärter auf den Posten waren verheiratet oder hatten wenig Lust, sich in dieses Land zu begeben. Ich aber bestieg die Aeroflot-Maschine beschwingt und voller Tatendrang. Von Havanna ging es noch einige Stunden mit dem Jeep durch den Busch bis zur Baustelle.

Gleich bei der Ankunft war mir klar, dass es hier niemals ein Zementwerk geben würde. Die Lage war ausgesprochen ungünstig, das Erz musste über abenteuerliche Pisten herbeigeschafft werden, der Maschinenpark war überaltert und die Arbeiterschaft stramme Genossen, sonst aber nicht mit der Materie vertraut. Was nun? Ich bezog mein Quartier in einem umfunktionierten Container und richtete mich ein. Am Abend folgte ich der Musik bis zum Casino, eine Freiluftkaschemme, wo einige Mädchen auf Kundschaft warteten und die Männer sich dem Genuss von selbstgebranntem Rum hingaben. Hier lernte ich Pedro kennen, also wieder ein Peter, der mir, im Gegenzug zu etlichen Gläsern Hochprozentigem, an den nächsten Abenden beibrachte, wie man beim Kartenspiel gewinnt. Das zahlte sich aus.

 

April 2130-Juni 2130

Die Zentrale in Deutschland erhielt optimistische Berichte, die ich verfasste, da der Leiter an Gelbfieber erkrankte und zurückfliegen musste. Eines Tages nahm Pedro mich mit zu Pedro Nummer 3, wie ich ihn heimlich nannte, der im Busch einen mittelmäßigen Rum herstellte. Er hatte fundierte Kenntnisse in Chemie, weil er offiziell in einer pharmazeutischen Fabrik arbeitete. Ich wurde sein Gehilfe bei der Rumherstellung und kannte bald alle notwendigen Manipulationen und Kniffe, die zur Herstellung eines annehmbaren Getränks notwendig waren. Die Beschäftigung mit meinen eigentlichen Aufgaben fiel in den Vormittag, so dass ich Zeit genug hatte, mich dieser nebenbei auch pekuniär einträglichen Arbeit zu widmen. Wir beschlossen die Produktion auszuweiten und die doppelte Menge Rum zu produzierten. Zwischen den einzelnen Arbeitsschritten blieb mir genügend Zeit, um mich mit den Aufzeichnungen in Pedros Rechner zu beschäftigen, Formeln und Diagramme, die aus der Fabrik stammten.

 

Auch wenn Pedro 3 ansonsten ein gesprächiger Mann war, über seine Arbeit in der Fabrik sprach er nur selten und brach das Gespräch schnell ab. Es schien ein Geheimnis zu geben, das er nicht preisgeben wollte. Das weckte meine Neugier. Als ich Pedro nach der Bedeutung einiger Unterlagen aus dem Werk fragte, bekam ich eine derbe Abfuhr. Er verbot mir die Benutzung seines Computers. Jetzt war ich erst recht neugierig geworden und beschloss, Nachforschungen anzustellen. Von einem LKW-Fahrer, der die Fabrik mit Öl belieferte, erfuhr ich, dass regelmäßig mehrere Männer die Produktionsanlagen besuchten und auch Probe-Chargen wegbrachten.

Sie verluden alles Produzierte auf einen LKW und fuhren damit fort.

 

Mittlerweile genoss ich das Vertrauen der meisten Menschen in unserem kleinen Ort, selbst der Direktor des pharmazeutischen Werks war mit mir befreundet, da ich mit ihm Schach spielte und ihn gewinnen ließ. Somit konnte er mir den Wunsch nach einer Werksbesichtigung schlecht abschlagen.

Offiziell wurden nur Schmerztabletten und Heilsalben produziert. Die

Maschinen, Kessel und die Transportmittel waren zwar alt, aber gut gewartet und funktionstüchtig. Der Plan konnte immer übererfüllt werden, so dass sich niemand die Mühe machte, eine Prüfung anzuberaumen. Die Produktion ruhte nur bei den ominösen Besuchen. Dann waren neben dem Direktor und Pedro 3 kein Mitglied der Belegschaft im Werk. Der Rundgang war letztlich enttäuschend.

 

Juni 2130 – Juli 2130

Ich stellte mir vor, dass bei diesen Besuchen Heroin oder ein künstliches, süchtig machendes Gift hergestellt wurde, das mit hohem Gewinn nach Europa geschmuggelt wurde, um dem Kapitalismus zu schaden. Ich beschloss, dem Werk nachts einen Besuch abzustatten. Zu meinem Erstaunen und Bedauern war das Areal nach Einbruch der Dunkelheit bestens bewacht:

Doppelstreifen mit Hunden sicherten den mit Stacheldraht bewehrten Zaun. Eine andere Lösung musste her. Ich erzählte dem Direktor, dass ich gern besseren Rum herstellen würde, mir jedoch ein geeignetes Lokal fehlen würde, wo ich die notwendigen Experimente durchführen konnte. Zunächst reagierte er nicht. Später, als wir nach unserer Schachpartie einige Gläschen gekippt hatten, machte er den Vorschlag das Forschungslabor zu nutzen. Allerdings ginge es nur nachts und an bestimmten Tagen. Das war mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich würde das Geheimnis in der Höhle des Löwen lüften können.

 

Einige Tage vergingen, ohne dass der Direktor Anstalten machte mir einen Termin zu gewähren und Zutritt zum Labor zu verschaffen. Wenn ich auch vor Ungeduld beinahe platzte, so beherrschte ich mich und vermied es, über dieses Thema zu sprechen. Wir spielten regelmäßig Schach und tranken unseren Rum, als nach einiger Zeit der Direktor mir eröffnete, dass er in den nächsten Tagen unabkömmlich sei und wir uns erst in einer Woche wieder treffen würden. Mir war sofort klar, dass einer der geheimen Besuche anstand. Ich teilte ihm mein Bedauern über seine Abwesenheit mit und, vielleicht als Reaktion auf meine enttäuschte Mine, versprach er mir, dass ich das Labor nach seiner Rückkehr nutzen durfte. Innerlich jubilierte ich, doch mein Dank fiel fast gleichgültig aus. Jetzt hieß es warten.

 

Am nächsten Morgen spazierte ich zur Spitze eines kleinen Hügels, der mir gestattete, einen Teil der Zufahrt zur Fabrik einzusehen.

Bald bewegte sich eine kleine Wagenkolonne, bestehend aus zwei Limousinen, einem Kühllaster und einem Militärfahrzeug auf das Tor zu. Obwohl mir der Blick auf das Verwaltungsgebäude verwehrt war, konnte ich mir ausmalen, dass die geheimnisvollen Besucher, die sich sicher in den schwarzen Wagen befanden, sofort das Labor aufsuchen würden. Ich hatte genug gesehen. Bestätigt wurde meine Vermutung dadurch, dass an diesem Tag das Casino von den Fabrikarbeitern regelrecht besetzt war, die ihre freie Arbeitszeit dazu nutzten, ihren Lohn gegen einige Gläser Rum und die Aufmerksamkeit der Damen einzutauschen. Wiederum hieß es warten.

 

 

Juli 2130 – August 2130

Nach einer knappen Woche war mein Schachpartner zurück. Er gab keinen Kommentar zu seiner Abwesenheit und auch das Versprechen, welches er mir gegeben hatte wurde nicht weiter erwähnt. Pedro 3 gegenüber äußerte ich meine Enttäuschung. Sein misstrauischer Blick ließ mich jedoch bald verstummen und ich vermied das Thema. Ich hatte schon befürchtet, dass mein Wunsch nicht erfüllt werden würde, als Pedro 3 am frühen Morgen des folgenden Montags zu mir kam, und mich bat, heute nichts zu trinken. Das war ungewöhnlich, denn wir fingen eigentlich schon kurz nach dem Frühstück mit dem ersten Rum an. Mein Herz klopfte schneller. Sollte es zum erhofften Besuch kommen? Die Stunden bis zum Abend schleppten sich dahin. Endlich war es so weit. Der Direktor holte uns mit dem Jeep ab und fuhr an der salutierenden Wache durch das Werkstor.

 

Das Verwaltungsgebäude war teilweise aus Beton, teilweise aus rotem Backstein erbaut. Am Ende eines langen Flurs im Erdgeschoß schloss der Direktor eine Stahltür auf, die in einen kurzen Flur mündete, der zu einem Aufzug führte. Er steckte einen Schlüssel in das Schloss und der Aufzug fuhr in die Tiefe. Das grelle Neonlicht, das den Raum schlagartig bei unserer Ankunft erhellte, blendete kurz meine Augen. Wir standen in einem Raum mit Arbeitsplätzen für etwa 20 Laboranten. Die meisten Geräte waren allerdings abgedeckt und anscheinend seit langer Zeit nicht benutzt worden. Nur in einer Ecke konnte ich sehen, dass man dort vor kurzem noch gearbeitet hatte, da die Abdeckungen fehlten und das Lüftungssystem leise arbeitete. Pedro 3 wies mir einen Tisch zu und fragte nach meinen Wünschen. Ich schaute mich um, prüfte das vorhandene Gerät und begann eine Liste zu erstellen. Der Direktor und Pedro 3 zogen sich zurück und rauchten eine Zigarette unter dem Luftabzug. Während ich schrieb, betrachtete ich die einzelnen Apparaturen. Neben einem Inkubator erkannte ich eine Zentrifuge und einen Ofen, der die Ecke des Raumes einnahm. Waagen, Kolben, Pipetten, Petrischalen: alles in allem eine normale Laborausstattung. Als ich fertig war, händigte ich dem Direktor die Liste aus. Er gab sie an Pedro 3 weiter, damit er alles Nötige besorge. Damit war der Besuch beendet und wir verließen das Werk auf demselben Weg, auf dem wir gekommen waren.

 

August 2130 – Oktober 2130

Wieder vergingen einige Tage. Als es dann wieder soweit war, dass ich das Labor aufsuchen durfte, musste ich feststellen, dass man mir Pedro 3 als Begleiter zugewiesen hatte. Ich war niemals allein. Also begann ich mit der Versuchsproduktion eines besonderen Rums. Da die Versuche einige Tage dauern konnten, verbrachten wir mehrere Nächte hintereinander im Labor. Der kleine Alambic und die restlichen Geräte waren von bester Qualität, die Rohstoffe ebenso. Das Destillat, das aus der Kühlschnecke tropfte, war ausgezeichnet. Nachdem wir es auf Trinkqualität gebracht hatten, probierten wir es gemeinsam und beschlossen das Verfahren im Größeren anzuwenden. Ich war der Einzige, der sich nicht zufrieden zeigte. Ich behauptete, dass ich das Produkt weiter deutlich verbessern könnte, wenn ich nur genügend Zeit dazu hätte. Beschwingt durch den Alkohol und mit der Aussicht auf immense Profite schlug mir der Direktor auf die Schulter und übergab mir den notwendigen Schlüssel zum Betrieb des Aufzugs. Außerdem sollte ich noch einen Passierschein erhalten, der mir jederzeit den Zutritt gestattete. Ich hatte mein Ziel erreicht.

 

So wurde ich ein ständiger Besucher des Labors. Während des Brennverfahrens blieb mir genügend Zeit meine Umgebung genauer anzusehen. Die Apparate, Gerätschaften und gelagerten Materialien hatten nichts Geheimnisvolles an sich. Meine Enttäuschung war groß. Frustriert steckte ich mir eine Zigarre an und stellte mich unter die Lüftung. Mein Blick streifte die Zentrifuge und blieb am Ofen hängen. Irgendetwas stimmte nicht. Er sah so aus, als sei er nie benutzt worden. Warum also ein solches Monstrum in der Ecke? Ich ging zum Ofen und öffnete die Klappe. Die Schamottsteine waren brandneu. Sie hatte noch nie eine Flamme gesehen. Ich schüttelte den Kopf, ging ein paar Schritte zurück und betrachtete den Ofen als Ganzes. Am Boden, der ungewöhnlich sauber war, konnte ich kaum sichtbare Spuren entdecken, so als ob man etwas darauf bewegt hätte. Sollte ich dem Geheimnis nähergekommen sein?

 

Heureka! Nach mehreren Wochen hatte ich endlich den Mechanismus entdeckt, der den angeblichen Ofen bewegt und einen Gang freigab, der zur wahren Bestimmung der Fabrik führte. Am Ende des Flurs öffnete sich ein großer Saal, der ein Forschungslabor beherbergte, wie ich es noch nie gesehen hatte. Hier arbeiteten mindestens 100 Menschen gleichzeitig.

Einheitlich in weißen Anzügen gekleidet verließen sie ihren Arbeitsplatz nur, um die Ergebnisse ihrer Arbeit einem Mann zu übergeben, der in regelmäßigen Abständen durch eine Luftschleuse eine Art Zentrale betrat und sein Material dort weitergab. Durch die Glasfront konnte man in den Raum hineinsehen. Es gab medizinische Geräte und sogar mehrere Betten, die meisten mit Patienten belegt. In den Wohnräumen der Laboranten besorgte ich mir einen Anzug aus dem offenen Kleiderschrank.

So konnte ich mich unauffällig bewegen, doch trotz des ungehinderten Zugangs zu den Arbeitstischen gelang es mir nicht, zu erfahren oder zu  erraten, welchem Zweck dieser Aufwand diente. Eine andere Entdeckung war allerdings erstaunlich. Die benötigte Energie wurde durch 2 kleine Kernkraftwerke erzeugt, die etwas größer waren als diejenigen, die man in U-Boote verwendet. Sie waren nicht auf dem neuesten Stand, galten aber als zuverlässig und pflegeleicht.

 

Es geschah das Unvermeidliche! Ich betrat den Toilettenraum und stand vor Pedro 3! Wir waren beide erschreckt und fanden zunächst keine Worte.

Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass wir allein waren, machte mir Pedro 3 die größten Vorhaltungen. Sollte meine Identität bekannt werden, würden wir drei, also auch der Direktor, ohne Gerichtsverhandlung ins Staatsgefängnis geschickt, ein Ort, aus dem noch niemand herausgekommen war. Heute sollte die Anwesenheitsliste überprüft werden, so dass ich unweigerlich entdeckt werden würde. Die einzige Möglichkeit der Enttarnung zu entgehen bestand darin, mich als Freiwilliger für die Versuchsreihen zu melden. Die Probanden hatte ich bereits in den Betten liegen sehen. Ohne zu zögern, stimmte ich zu. Pedro führte mich zum Mitarbeiter an der Schleuse und wies mich als Freiwilligen aus. Innerhalb weniger Augenblicke wurde ich in die Zentrale geführt, später einer gründlichen ärztlichen Untersuchung unterzogen. Danach wurde mir ein Bett zugewiesen.

 

November 2130

Pedro besuchte mich heute. Ich hatte eine Menge Fragen. So erfuhr ich, dass es neben der Suche nach Wahrheitsdrogen und nicht nachweisbaren Giften auch eine Abteilung gab, die an einem Serum forschte, das sämtliche Krankheiten heilen sollte. Ich äußerte lächelnd meine Zweifel, doch Pedro 3 beharrte darauf, dass es schon beachtliche Erfolge gab. Das Mittel sollte den Patienten in seinen vorherigen gesunden Zustand zurückführen, so dass man durch Prävention den Ausbruch der Krankheit vermeiden könnte. Allerdings bestand das Ergebnis bis dato nur in eine Rückkehr von wenigen Sekunden. Ich hegte weiter Zweifel, obwohl mir die Idee einer Verjüngung um Krankheiten zu vermeiden, anstatt sie später zu heilen, gut gefiel. Da Pedro 3 merkte, dass ich noch nicht überzeugt war, wollte er mir den Beweis liefern, wenn ich mich als Versuchskaninchen zur Verfügung stellen würde. Ich sagte zu.

 

Der behandelnde Arzt holte ein Gefäß von etwa 100 Milliliter, gefüllt mit einer orangefarbenen Flüssigkeit aus dem Kühlschrank. Er zog eine Spritze mit 1 ml auf. Pedro 3 nahm ein Skalpell und schnitt mir ohne Vorwarnung oder Betäubung in den Arm. Überrascht reagierte ich überhaupt nicht, auch nicht als der Arzt mir im selben Moment die Injektion verpasste. Fast augenblicklich versiegte der Blutfluss und innerhalb weniger Sekunden hatte sich die Wunde geschlossen. Nichts erinnerte noch an den Vorfall. Ich war begeistert, besonders als man mir versprach am nächsten Tag einen Versuch mit einer höheren Dosis zu wagen.

 

13. November 2130

Alles war vorbereitet. Eigentlich hätte nichts schief gehen sollen. Was die Ursache für die Störung an den Kraftwerken und der daraus resultierenden Explosionen und der Kernschmelze gewesen war, wurde nie bekannt. Es passierte urplötzlich, noch bevor der Arzt die Spritze aufziehen konnte. Es gab einen Knall und alles schwankte, Instrumente fielen von den Tischen, das Licht flackerte und das Gefäß mit dem Wundermittel wäre zu Boden gefallen, wenn ich es nicht aufgefangen hätte. Aus einem Reflex heraus, ohne nachzudenken, trank ich den gesamten Inhalt des Flakons. Eine weitere Explosion erschütterte die unterirdische Anlage. Ich stürmte hinter Pedro 3 zum Ausgang und wir entkamen knapp der endgültigen Zerstörung des Versuchslabors.

 

13. November 2150

Das Mittel wirkt bis heute, allerdings mit einem Nachteil. Seit damals werde ich immer jünger. Eigentlich müsste ich 60 Jahre alt sein, doch ich sehe aus wie ein 20-Jähriger. Nur das Gehirn hat diesen Prozess nicht mitgemacht, so dass ich die Lebenserfahrung und das Wissen des Alters besitze. Wenn es so weitergeht, werde ich die Pubertät erleben, die Kindheit, den Kindergarten und schließlich das Säuglingsalter. Wie aber sieht dann das Ende aus? Für mich ist die Vergangenheit meine Zukunft.

Trotzdem würde ich alles wieder so machen. 

                   

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 39

 

Auf Krampf

 

Donnerstag, 12. November 2150

 

Ich hasse meine Eltern.

Okay, ich hasse auch meinen Bruder und Amira. Ich hasse meine ständig blinkende Watch und die weichen Vollkornkekse in der Glasschale vor mir. Ich hasse natürlich die Security, aber an manchen Tagen hasse ich mich selbst noch viel mehr.

Am Allermeisten hasse ich jedoch dieses verdammte System, in dem ich lebe.

So, jetzt ist es raus. Die Worte haben sich nun schon lange angestaut, ich hatte das Gefühl beinahe platzen zu müssen. Verdammt, meine Hand tut jetzt schon weh von dem harten Bleistift. Wie zur Hölle konnten Menschen früher ganze Bücher damit schreiben?

Meine Eltern haben immer darauf bestanden, dass ich Chirografie lerne, also ganz manuell mit einem Stift auf Papier schreiben. Ich erinnere mich noch, wie ich immer montags und freitags zwei Stunden länger als meine Freundinnen Amira und Hilde vor dem Notebook sitzen und der leiernden Stimme von Frau Kohns zuhören musste, die uns irgendwelche Worte diktierte. Danach die endlosen Diskussionen zwischen Mum und Dad über das teure Papier, was ich für diesen Kurs brauchte, bei dem ich bloß keinen Zentimeter verschwenden durfte. Naja, wenn sie jetzt wüssten, dass ich ein ganzes Papierbuch mit meinen Gedanken vollschreibe, ich wäre technisch gesagt für sie gelöscht.

Früher haben Menschen vielleicht aus Spaß, Tagebücher geschrieben. Heute muss dagegen jede Person ab sechzehn ein sogenanntes Diary verfassen, um täglich einen Bericht über die eigenen Erfolge, Emotionen und Werte abzugeben. Ein regelmäßiger Check-up, um offiziell zu prüfen, dass alles so ist, wie es sein sollte. Klar, deshalb werden dann auch alle Angaben an die zentrale Leitstelle für Health und Human Ressources weitergeleitet, ausgewertet und mit fremden Daten abgeglichen. Also mit den Werten, die irgendwo und von irgendwem generiert werden, sobald man das Haus verlässt.

Das Diary stellt dir also jeden Tag mehr oder weniger dieselben Fragen, die vor dem Schlafen gehen beantwortet werden müssen. Bei dem Bericht selbst geht es meiner Meinung nach nur darum, sich zu optimieren, jetzt ohne krasse Sanktionen oder so, aber doch mit einem gewissen Vergleichs-und Verbesserungsdruck. Das ZLHHR will halt alles unter Kontrolle haben, um Krankheiten, Unfälle oder nicht näher bestimmte „ineffiziente Happenings“ zu vermeiden.

Die Fragen klingen dabei beinahe unbedarft:

„Wie fühlst du dich heute?“

Miserabel.

„Okay, wir leiten dich an die nächste verfügbare psychologische Onlinesession weiter. Für den heutigen Tag erhältst du lediglich vier Health Points. Du kannst diese durch die Wahrnehmung der dir angebotenen Session verbessern.“

Oder:

„Wie lief deine Sportsession heute?“

Schlecht.

„Du hast dich heute noch nicht ausreichend bewegt. Bitte hole das geforderte Bewegungspensum nach, um deine physische Gesundheit zu stärken und Health Points zu sammeln. Denke daran, dass Bewegung zu den wichtigsten Präventionsmaßnahmen gegen zahlreiche Volkskrankheiten gehört. Mehr dazu erfährst du unter …“

Ein totaler Witz, wer schreibt schon da die Wahrheit rein, bei einem ehrlichem „Scheiße“ gibt es keine Punkte und am Ende nur noch mehr Stress. Keine Chance für eigene Gedanken, geschweige denn „systemkritisches Benehmen“, der beliebteste Ausdruck meiner Eltern neuerdings, sobald ich einen Kommentar zu irgendeiner gesellschaftlichen oder politischen Angelegenheit gebe. Ich könnte jedes Mal kotzen, wenn meine Mum in ihrem silbernen Overall mit den schrecklichen Metallschnüren durch unser Apartment rennt, auf dem linken Ohr in irgendeiner Session hängt, gleichzeitig irgendetwas auf ihrem Phone tippt, während sie parallel auch noch ihre Daten auf der Watch prüft und mich schneidend mit „Schatz, dein systemkritisches Benehmen kann ich heute nicht auch noch ertragen, wann wirst du endlich erwachsen“ rügt, sobald ich auch nur das Wort Politik denke.

Ich gebe übrigens zu, dass ich Angst habe, dass meine Eltern von dem Tagebuch erfahren könnten. So ein Stapel Papier zu verstecken, ist in unserem minimalistischen Apartment nämlich gar nicht so leicht. Nicht, dass unsere Putzkraft das Buch zufällig beim Saugen unter meinem Bett oder beim Wechseln der Bettwäsche in meinem Kopfkissenbezug findet. Sie würde es mit absoluter Sicherheit meiner Mum zeigen. Anschwärzen bei der Security oder so würden meine Eltern mich wahrscheinlich nicht, aber sicherlich wochenlang noch stärker überwachen, sämtliche Funktionen meines Notebooks und Phones kürzen und mir nicht mal einen normalen Toilettengang zutrauen. Obwohl, das tun sie schon seit Monaten nicht mehr. Meine dogmatisch-kontrollierenden Eltern sind aber nicht der einzige Grund, warum ich das hier alles niederschreibe.

So richtig schlimm wurde es eigentlich erst mit meiner Bewerbung für das Literaturstudium im letzten Sommer. Mit einem Wettbewerb sollte ausgelost werden, wer von uns tausend exzellent die Bildungskarriere abgeschlossenen Jugendlichen einen Platz im einzigen Journalistik-und Literaturstudium in der föderalen Europäisch-Deutschen Community bekommen sollte. Die Aufgabe war, einen Text zum Thema „Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens!“, zu verfassen. Mehrere tausend Bewerbungen für gerade einmal zwanzig Plätze. Ich habe wochenlang an diesem Manuskript geschrieben, manchmal ganze Nächte hindurch. Sogar meine ständig verplante Mum hatte sich ausnahmsweise mal die Zeit genommen, den Text Korrektur zu lesen, wenn auch mit dem unterkühlten Fazit, dass ich „mit diesem provokanten Inhalt und dieser schlampigen Ausdrucksweise wohl kaum einen Platz ergattern würde, geschweige denn überhaupt verdiene“.

Aber ich habe an mich geglaubt. Wirklich. Selbst mein Bruder hat extra über WeConnect einen ehemaligen Kommilitonen aus dem Wirtschaftsstudium angeschrieben, dessen Cousine vor sechs Jahren einen Platz bekommen hat. Sie hat sich sofort bereit erklärt, das Manuskript zu lesen und meinte hinterher, dass es einer der besten Aufsätze war, die sie in den letzten Jahren gelesen hatte. Gott war ich danach stolz und von meinem Sieg überzeugt.

Als dann der Anruf kam, war ich natürlich am Boden zerstört. Eine schnarrende Frauenstimme hatte mir mitgeteilt, dass meine Einsendung stilistisch hervorragend sei und von der Jury in fast allen Kategorien, die seltene volle Punktzahl erhalten hatte. In fast allen. Und ja, es war die Kategorie Systemkonformität, in der ich nicht nur schlecht, sondern absolut unterirdisch abgeschnitten hatte und die mir später auch noch eine Vorladung bei unserer Security im Viertel einbrachte.

Ich habe jetzt noch den fast höhnischen „ich habe es dir gesagt“-Blick meiner Mutter vor Augen, die natürlich das Gespräch mitgehört hatte. Dann der entnervte Blick meines Bruders, weil er sich umsonst die Mühe gemacht hatte, gute Connections für seine Loser-Schwester zu verschwenden. Obendrein mein desinteressierter Vater, der mich danach wie Luft behandelte. Dazu drei Tage später die Vorladung.

Alle meine Dateien mit selbstverfassten Texten wurden von der Security beschlagnahmt, durchgescannt und irgendwo in der weiten Cloud-Kloake „präventiv verwahrt“. Ich bin mir sicher, dass ich kein einziges Wort je wiedersehen werde. Die Arbeit von Jahren einfach so eliminiert und dazu noch ein Bußgeld, dass meine gesamten selbst erarbeiteten Ersparnisse fürs Studium auffraßen (meine Eltern weigerten sich strikt mir auch nur einen Dollar dafür zu geben) sowie die verschärfte Überwachung dank der neuen Einstufung meiner Person in die dritte Kategorie: non-konform. Seitdem redet mein Bruder nicht mehr mit mir und meine Eltern behandeln mich wie einen hartnäckigen Virus.

Ich habe es so satt.

Wenn ich das gerade so aufschreibe, fühlt es sich an, als wenn ich außerhalb des Schreibens ein Leben führe, das nicht mir gehört, in dem ich fremd, beinahe ungewollt bin. Mein Alltag gleicht durch die zu sammelnden Health-Points dem einer Figur in einem Computerspiel: Ich stehe um sieben Uhr auf (gibt 4 HP), trinke 500ml lauwarmes Wasser und nehme dazu sämtliche Nahrungsergänzungsmittel ein, eine bunte Palette aus B12, D3, Q10 und so weiter (variiert, aber etwa 3 HP). Dann eine Stunde Fitness (generiert 6 HP), gesundes Frühstück (plus 4 HP) und die erste von vier Berufsorientierungssession startet. Dazwischen mehrere Detox-Shakes, verpflichtende Bewegungen, aufgezwungene Gespräche und oberflächliche Begegnungsangebote (sagen wir 19 Punkte). Und zum Schluss die Abendroutine: Gesundes Abendessen, Diary ausfüllen, persönliche Daten kontrollieren, Atemübungen, Schlafen (macht zusammen 23 HP).

Alles in allem soll der Alltag möglichst unaufgeregt, monoton und effektiv sein. Selbst die „Freundschaften“. Normalerweise treffen sich Personen in meinem Alter nach den Sessions im Café (gibt 5 HP, Park wären deutlich mehr Punkte, wegen der frischen Luft), entscheiden sich gegen den Kaffee für einen Brennnesseltee (plus 2 HP), sprechen mit einem Bekannten über etwas Positives (plus 6 HP) und machen nach einer Stunde erzwungenem Gespräch direkt einen neuen Termin aus (nochmal 2 HP).

Solche Treffen hatte ich übrigens lange nicht mehr. Wozu auch. Vorwürfe, Anschweigen und oberflächliche Höflichkeit bekomme ich zuhause genug. Abgesehen davon wollen die meisten meiner ehemaligen „Freundinnen“ seit dem Bewerbungsvorfall, wie Amira es genannt hat, nichts mehr mit mir zu tun haben. Ist mir recht. So habe ich die Zeit zwischen den Sessions und vor der Abendroutine frei, um meinen Gedanken nachzuhängen und ab jetzt auch ein Tagebuch zu schreiben, dass nirgendwo gespeichert ist und daher hoffentlich auch niemand liest oder „verwahren“ kann. Das Tagebuch meines zweiten Lebens sozusagen. Das, was in meinen Gedanken und Träumen stattfindet. Das Leben, in dem ich eine bekannte Schriftstellerin bin, so wie einst George Eliot, Virginia Woolf oder Margaret Atwood. Wie gern würde ich wie im 19. Jahrhundert meine Beobachtungen der Gesellschaft auf gelbliches Pergament mit blauer Tinte schreiben, kritisch-feministische Gedanken allein in einem behaglichen Zimmer mit bequemen Samtsesseln auf meiner Schreibmaschine tippen oder in einer nächtlichen Großstadt fesselnde Dystopien mit scharfsinnig-erschreckenden Realbezügen erschaffen. Ich stelle mir oft vor, wie ich in Schreibsalons über irgendeine neue Zeile aus einem gehypten Werk diskutiere oder heiße Schokolade trinkend mich tagelang nicht blicken lasse, weil ich irgendein neues Buch rezensieren muss. Eine eigene Bibliothek würde ich haben, vielleicht eine kleine Katze, die zu meinen Füßen schläft, während ich-

Zur Hölle mit meiner Mum. Ich habe mich schon extra ins Bad eingeschlossen, dem einzigen Raum, von dem ich mir sicher bin, dass er noch nicht überwacht wird. Aber ich habe es ja gesagt, meine Eltern trauen mir nicht mal mehr, wenn ich ins Bad gehe. Gut, gerade mag es auch stimmen, obwohl ein Tagebuch zu schreiben, abgesehen von der Papierverschwendung, nun wirklich nichts Verbotenes ist. Denke ich zumindest. Meine Mum würde es sicher anders sehen. Sie wollte gerade unbedingt ins Bad, mit dem dämlichen Vorwand dringend ihre Haarbürste herausholen zu müssen (sie trägt ihre blonden Locken heute wie immer zu einem strengen Dutt geknotet), also auf Deutsch gesagt, um mich zu kontrollieren. Während sie im penibel aufgeräumten Badeschrank nach der Bürste „suchte“, tat ich, als wenn ich eine sehr aufwendige Self-Care-Session vorbereiten würde (gibt einmal im Monat 10 HP).

Wenn es nach meinen Eltern ginge, hätte ich mich nach der Sache mit der Bewerbung beschämt zu Füßen aller werfen müssen, die den Text gelesen hatten und ihnen dann schwören müssen, dass ich nie wieder irgendetwas Kritisches von mir gebe. Ihr Traum ist eine Tochter, die sich bis zu ihrem Tod als unauffälliges Mitglied der Gesellschaft einreiht und irgendwann klaglos im ewigen Asphodeliengrund der lebenden Toten verschwindet.

Ich mache es ihnen auch wirklich nicht leicht. Meine ganze Kindheit hindurch war ich ein absolutes Vorzeigekind. Ich liebte alle meine Lernsessions, war fleißig, unterhielt Freundschaften, folgte brav den Anweisungen meiner Eltern und verhielt mich stets so konform wie irgendwie nur möglich. Rückblickend gesehen war ich natürlich nicht mit allem einverstanden, fürchtete zum Beispiel die monatlichen Besuche der Security, verstand nicht, warum mein Dad abschätzig über meine Tante sprach, die als gesellschaftskritische Malerin nach seinen Worten „mit blinder Dummheit freiwillig in die Unterschicht abgewandert war“, und verabscheute geradezu den ständigen unterschwelligen Druck, die richtige, die gesündeste, die effektivste, die unauffälligste Entscheidung zu treffen. An meinem achten Geburtstag etwa sind meine Eltern und ich mit meinen damaligen Freundinnen Amira und Hilde ins städtische Naturkundemuseum gegangen. Nachdem wir zwei Stunden in einem VR-Raum mit Begeisterung ausgestorbene Gorillas streicheln oder mit angehaltenem Atem einen ebenfalls ausgestorbenen Braunbären beim Jagen zusehen konnten, wollten wir noch ins Museumscafé. Ich liebte diesen Ort als Kind, denn es war eines der wenigen Cafés, welches, wenn auch überteuert, heiße Schokolade mit Sahne anbot. Mein absolutes Lieblingsgetränk, das ich sonst nur bei meiner Tante trinken durfte. Da ich Geburtstag und meine Mum ziemlich gute Laune hatte, ging ich davon aus, dass ich es wagen konnte, mir eine Tasse zu bestellen. Als wir dann im klinisch eingerichteten Raum mit weißen Tischen und Stühlen vor der ebenfalls weißen Theke standen, an der lediglich die digitale Speisekarte an der Vorderseite auf ein Cafétresen hinwies, war ich schon ganz vorfreudig, denn Kakao durfte ich eigentlich nie trinken. Das ungute Gefühl kam erst auf, als Amira und Hilde einen Pfefferminztee bestellten und meine Eltern mich warnend anblickten, als wüssten sie, was ich vorhatte. Aber die Vorfreude auf das schokoladige Getränk war so unermesslich groß, wie es nur ein Kind mit seinen Vorlieben verspüren kann, und deshalb bestellte ich beinahe trotzig einen Kakao mit Sahne.

Tja, die Reaktionen darauf glichen beinahe einem Weltuntergang. Amira japste erschrocken und riss die Augen auf, Hilde wich vorsichtshalber zwei Schritte zurück und die Verkäuferin blinzelte verwirrt, als hätte sie das Wort „Kakao“ noch nie gehört. Meine Mum jedoch hatte es sehr wohl verstanden, und packte mich grob am Arm, beugte sich zu mir herunter und zischelte „So, Fräulein, wir verlassen jetzt ganz unauffällig das Café“, während sie anfing, mich absolut auffällig zur großen Glastür zu zerren. Während Amira und Hilde wie benommen drinnen ihre Tees tranken, hielt mein Dad mir vor ihren Augen sowie aller, die am Museum vorbeiliefen, eine Standpauke darüber, dass ich mit acht Jahren doch fähig sein müsste, eine richtige Entscheidung zu treffen, anstatt andere, er zeigte erst auf meine verschüchterten Freundinnen im Café und dann auf sich und Mum, durch unüberlegte Handlungen zu blamieren. Am Ende der Rede schnaufte er abschätzig „Kakao“, so als wäre es ein schreckliches Schimpfwort und begann hektisch auf seiner Watch herumzutippen, wahrscheinlich um die negativen Blutdruckwerte in den Griff zu bekommen.

Es scheint mir heute so absurd ein achtjähriges Mädchen wegen des Wunsches, an ihrem Geburtstag einen Kakao mit Sahne trinken zu wollen, anzuschreien. Aber so sind meine Eltern nun einmal. Als führender Head der lokalen Health-Community war mein Dad sehr darauf bedacht, dass seine Familie sich genauso verhielt, wie der Prototyp einer perfekten, gesunden Familie, welche er mit seinen Untergebenen täglich zu optimieren versuchte. Meine Mum, Tochter eines hohen Security-Beamten, war da kein bisschen anders. Als gefragte Managerin war auch ihr das gesellschaftliche Prestige wichtig und sie entwickelte beinahe eine Sucht nach Health Points, so dass sie keine Sekunde ausließ ihre Gesundheit zu optimieren (was meiner Meinung psychisch gesehen nur den gegenteiligen Effekt erzeugte).

Mit sechzehn musste dann jedenfalls auch ich anfangen, ein Diary zu führen, ich war ganz aufgeregt, als ich die neue Funktion auf meinem Phone aufploppen sah, hatte ich es schon bei erwachsenen Verwandten und erst kürzlich bei Amira gesehen. Doch schnell wurde ich von dieser neuen Pflicht enttäuscht. Ich hatte mir ausgemalt, dass ich wie meine Lieblingsschriftstellerinnen jeden Tag kleine Romane verfassen könnte, vielleicht sogar entdeckt werde, weil ich außerordentlich poetische Antworten gab oder so. Total naiv aus heutiger Sicht, aber damals wusste ich es nicht besser. Jedenfalls entdeckte ich nach kurzer Zeit, dass die App nur darauf aus war, mich zu einem möglichst durchschnittlichen und effektiven Menschen zu formen. Meine erdachten Romane endeten schnell an der Grenze von 200 Zeichen. Egal wie wortgewandt ich antwortete, es kamen nur die gleichen automatisierten Antworten zurück. Über ehrliche Angaben habe ich ja schon berichtet. Nach dem meine Mum das erste Mal, basierend auf den von mir eingegebenen Daten, eine Information über den psychisch labilen Zustand ihrer Tochter und die Anweisungen zur stärkeren Kontrolle ihres Alltags bekam, schwor ich mir, nie wieder die Wahrheit im Check-Up zu schreiben.

Stattdessen wuchs ein zunehmend stärker werdendes Gefühl von Enge in meiner Brust. Ich litt teilweise an Atemnot (habe ich dem Diary natürlich nicht berichtet) und fühlte mich ständig beobachtet und verurteilt, für das, was ich tue (auch das behielt ich für mich). Ich entfremdete mich immer mehr von meinem bisherigen Leben, meine Gedanken schweiften während der unendlichen Sessions regelmäßig ab und ich schaffte es nicht mehr, meinen Aufgaben nachzukommen. Im Check-up gab ich jedes Mal an, dass es mir gut ginge, versuchte die Aufforderungen, sozialer zu sein und mich mehr zu bewegen, zu ignorieren, und vertiefte mich in Bücher oder schrieb eigene Texte auf meinem Notebook. Meinen Eltern gefiel diese Entwicklung gar nicht, sie beobachteten meine negativen Datentrends sehr genau, hörten von Amiras Eltern, dass sich ihre Tochter nicht mehr mit mir treffen wolle, und nahmen meinen Rückzug zum Anlass, mit härteren Mitteln einzugreifen, um nicht eines Tages ein Abfärben meines systemkritischen Benehmens auf sie zu riskieren oder sogar die Security auf den Plan zu rufen. Sie sperrten mir beinahe all meine E-Books und ließen mir nur noch Zugänge zu ihrer Meinung nach angemessenen Literatur übrig. Sie verringerten die Zeiten, die ich an meinem Notebook Texte verfassen konnte und überprüften regelmäßig meine Cloud.

Naja, und dann kam eben die Bewerbung auf das Literaturstudium. Ich hatte meine Bildungskarriere frisch abgeschlossen, sogar etwas besser als erwartet. Meine Eltern hatten wenig zu kritisieren (Lob gab es jedoch nur so viel, wie es Punkte dafür gab ihre eigene Tochter zu beglückwünschen) und ich konnte nach langem Betteln und einer deutlichen Datenverbesserung erreichen, dass ich mich auf den Studienplatz bewerben durfte.

Aber ich habe zu viele Hoffnungen daraufgesetzt. Zu leichtsinnig meine Gedanken preisgegeben. Was ich von dieser Dauerüberwachung und -optimierung sowie der ständigen Suche nach Effizienz und Anpassung denke. Ich habe mich damals nicht als große Kritikerin gesehen, eigentlich wollte ich doch nur Literatur studieren, um später beruflich schreiben zu dürfen. Halt das machen, was ich gern mag. Geschichten ausdenken. Kakao trinken, ohne durch andere verurteilt zu werden. Einen schlechten Tag haben, ohne direkt etwas verändern zu müssen. Ehrlich sagen können, was ich denke und fühle. Für mich allein sein. Eigene Entscheidungen treffen.

Okay, meine Hand krampft langsam, ich mache hier einen Cut. Morgen werde ich übrigens zwanzig und darf das Wochenende bei meiner Tante verbringen. Dann kann ich zumindest für drei Tage sowas wie ich selbst sein. Ansonsten werde ich mein zweites Leben erstmal nur hier im Tagebuch ausleben. Aber wer weiß, vielleicht kann ich die Notizen ja sogar irgendwann einmal veröffentlichen?

 

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 40

 

Landschwimmer

 

Taktschlag. Warten. Ausatmen.

Taktschlag. Warten. Ausatmen.

Ein großer Pilot soll einmal gesagt haben, dass der Herzschlag nichts Weiteres sei, als die Musik des Lebens. Ein kleiner Teil der großen kosmischen Melodie, die seit dem Urknall gespielt wurde. Unentrinnbar musste ich dabei an mein eigenes Lied denken. Ob es heute verstimmen würde? In diesem Fall würden die anderen mein Lied in meinem Namen singen, sodass ich weiterleben würde.

Konnte ich ihnen das schon zumuten? Über mir lag die Oberfläche, verheißungsvoll, einladend sogar.

Wären nur nicht die stählernen Wolken gewesen.

Taktschlag. Warten. Ausatmen.

Hinter mir wartete C-Dur und a-Moll. Fis-Moll und Phrygisch-Dur neben mir. Vor uns, noch im Pazifik lagen vier Atom-U-Boote in Zhan Jiang. Alle bestückt mit einer ballistischen Atomkanone und bereit, in den Indischen Ozean vorzustoßen. Das Geschoss darin wurde von einer Schienenkanone abgefeuert, flog mit Überschall und zog keinen verräterischen Abgasstrahl hinter sich her, der es für ein Raketenabwehrsystem leichter zu entdecken gemacht hätte. Das Projektil war wie ein Stealth-Bomber konzipiert worden und genauso schwer abzufangen. Unsere australischen Verbündeten hatten, das schmerzlich erfahren müssen. Sollte unsere Mission scheitern, drohte Bharat und sogar unserer Heimat Europa dasselbe Schicksal. Ihr einziger Nachteil war nur ihre geringe Reichweite. Ein brandneuer Kanal auf der Malakka-Halbinsel würde den wettmachen.

Die Allianz war nicht gerade zimperlich vorgegangen bei der Aushebung der neuen Wasserstraße. Zuerst hatten taktische Nuklearexplosionen ausreichend große Vertiefungen in den Boden gesprengt, welche schließlich von Häftlingen aus den vielen Arbeitslagern der Allianz zum eigentlichen Kanal ausgebaut werden mussten.

Genau dort würden wir eine weitere Atombombe platzieren, die fis-Moll gerade am Körper trug.

Wunderbar.

Hätten die Chinesen nicht unsere kinetischen Orbitalwaffenträger ausgeschaltet, hätten wir heute leichtes Spiel. Der jetzige Plan war sehr viel riskanter. Mit einem tragbaren taktischen Nuklearsprengkopf sollten die Schleusentore zerstört werden. Indonesien nahm seine Neutralität überaus ernst, die australischen Gewässer kontrollierten wir. Die Chinesen wussten, dass der Kanal ihre einzige Möglichkeit war, auf dem Seeweg nach Indien und Europa vorzustoßen.

Deswegen beschützten sie ihn um jeden Preis.

Ein kleines Team von Kampfdelfinen hatte vielleicht trotzdem die Möglichkeit, durch das engmaschige Verteidigungsnetz zu schlüpfen. Netz, dachte ich, amüsiert. Das Einzige, was uns wirklich hätte gefährlich werden können und sie haben nicht einmal daran gedacht.

Ich gab den akustischen Befehl zum Abtauchen. Ab jetzt musste Funkstille herrschen. Die Chinesen waren auf einen Angriff vorbereitet, je länger wir unentdeckt blieben, umso größer war unsere Chance, all das zu überleben. Ich ermahnte C-Dur und a-Moll auf Abstand zu bleiben. Wenn wir den Sprengsatz erst mal platziert hätten, mussten wir so schnell wie möglich von hier verschwinden. C-Dur und a-Moll mussten uns dafür den Rücken freihalten.

Meine Befürchtung bewahrheitete sich, als ich neben C-Dur und a-Moll eine dritte Melodie vernahm, die keinem aus unserem Team angehörte. Meine Hoffnung, dass es sich um wilde Delfine handelte, zerschlug sich, als fis-Moll erschrocken aufschrie, als sie mit dem Körper eines anderen Delfins kollidierte.

Ich erkannte sofort die kybernetischen Modifikationen, mit denen die Chinesen ihre Kampfdelfine ausrüsteten. Sollten wir hier in Gefangenschaft geraten, würde uns ein ähnliches Schicksal drohen.

Reflexhaft wichen Phrygisch-Dur und ich einem weiteren Kontrahenten aus, der ein Rammmanöver an uns versuchte. Diese Cyborgs hatten fast keinen Selbsterhaltungstrieb. Sein Freund startete einen erneuten Angriff von der Seite, dem ich nur knapp entging. Die Klinge an seiner Rückenflosse schnitt nur knapp über meinem Unterbauch. Ich blutete sofort, preschte allerdings nach vorne, um die Atombombe zu retten, die fis-Moll abgerissen worden war. Ein Hai hätte jetzt leichtes Spiel mit mir gehabt.

Aber es waren meine Artgenossen.

Ich schnappte die Atombombe und wich dabei einem zweiten Angreifer aus, der direkt in die Klingen schwamm, die C-Dur an seinen Seitenflossen trug. Beim Ausweichen schlitze er sich den Bauch auf, sodass beide in einer Wolke aus Blut verschwanden. Ich hörte die gequälten Schreie des tödlich verletzten Angreifers, nicht aber die von C-Dur. Vor mir schloss a-Moll auf, um die Eskorte zum Zielpunkt zu bilden.

Er kam nicht weit, als ihn plötzlich eine Harpune in seinem Oberkörper steckte, er sich krümmte und schließlich zu Boden sank. Eine Zweite ging haarscharf an mir vorbei. Die Angriffe kamen von oben. Die Cyborgs hatten ihren menschlichen Herren alarmiert. Anscheinend glaubten die Soldaten auf dem Patrouillenboot unter uns, dass wir ihnen wehrlos ausgeliefert waren. Vielleicht glaubten sie sogar, wir hätten Angst vor ihnen.

Da täuschten sie sich aber gewaltig.

Ich gab den Befehl zum Angriff.

Fast kerzengerade schossen wir empor. Wir waren vielleicht nicht kybernetisch verbessert, hatten aber immer noch ein Set an zwei Mikro-Torpedos am Körper, die durch ein akustisches Interface aktiviert wurden und genau für solche Momente zum Einsatz kamen. Fast simultan jagten wir unsere Torpedos in den Unterbauch des Patrouillenboots. Der Schwimmkörper wurde quer in der Mitte aufgerissen. Ohne Gehörschutz wäre uns bei der Explosion Hören und Sehen vergangen. So war es zum Glück ein dumpfes Grollen in der Magengrube. Der zerrissene Rumpf lief voll mit Wasser und schnell auf den Grund des Meeres. Unter den Crewmitgliedern lokalisierte ich schnell den Kommandanten, der über einen Universalübersetzer den Delfinen in ihrer Sprache Anweisungen gab.

Ich packte ihn und zog ihn auf den Grund des Meeres.

Keine Gnade für diejenigen, die so etwas mit unseren Artgenossen machten.

Wir Delfine konnten die Luft fast fünfzehn Minuten lang anhalten. Mit Sauerstoffflasche sogar noch länger. Ein untrainierter Mensch gerade mal drei Minuten, weniger noch, wenn man überrascht wurde, und sich die Lungen beim Versuch zu schreien mit Wasser füllten. «C-Moll! Vorsicht!», quiekte fis-Moll, welche mir nach geschwommen war.

Einer der gegnerischen Delfine war auf mich zu geschwommen. Nicht in feindseliger Absicht, wie ich schnell bemerkte. Jetzt, wo ihm kein Kommandant mehr Befehle zum Töten direkt in das Gehirn pflanzte, wirkte er auf einmal beschämt. Ich verstand seinen fremden Dialekt nicht, wusste jedoch, was er meinte. Ich nahm es ihm nicht übel, schließlich hatte ich ihn ganz aus meinem freien Willen heraus getötet. Seine Kameraden hatten a-Moll geboren und übergaben ihn uns. Ich wies C-Dur und Phrygisch-Dur an, ihn an die Oberfläche zu bringen.

Wenn sie clever waren, würden sie versuchen so schnell wie möglich die chinesischen Hoheitsgewässer zu verlassen. Sie sahen, wie ich die Atomwaffe platzierte, und wie ich den Timer aktivierte. Sie rührten sich nicht. Stattdessen bildeten sie einen Ring um den Körper ihres ertrunkenen Kommandeurs.

Ich hatte keine Zeit, ihnen begreiflich zu machen, dass sie die Gewässer besser verlassen sollten. Ich war der Letzte von uns, der die Booster an unsere Kampfausrüstung aktivierte und so schnell wie möglich exfiltrierte.

Vielleicht war es besser so.

 

Noch heute verfolgt mich dieser Traum, aus dem ich meistens mit brennenden Lungen und rasendem Herzen aufwache, wenn ich panisch merke, dass ich schon viel zu lange unter Wasser war, aus Angst, der Tod würde an der Oberfläche lauern. Ich brauchte immer erst eine Weile, bis ich wieder im Hier und Jetzt, ankam.

Das jetzt des Jahres 2150.

Fünf Jahre nach dem großen Krieg. Vieles hatte sich mit den Landbewohnern geändert, seitdem wir unsere Bürgerrechte erstritten haben. Unsere Ahnen haben sich nie etwas daraus gemacht, die Zeit zu messen oder gar zu benennen. Wir schwammen mit dem Strom, nahmen uns, was wir brauchten, und schliefen nur jeweils mit einer Hirnhälfte. Nie wäre auch nur einem in den Sinn gekommen, eine Uhr nach der Zeit zu fragen.

Heute hatten wir unseren eigenen Staat, hielten Wahlen ab und sandten sogar Abgeordnete ins Parlament der Union. Die Hochpiloten wurden für eine Dauer von sieben Jahren durch die Mitglieder ihrer jeweiligen Spezies gewählt. Zwar hatte nur die Gattung der großen Tümmler das aktive und passive Wahlrecht der Union, doch legten die Abgeordneten, welche nach Amsterdam geschickt wurden, für gewöhnlich doch Wert darauf, die Interessen aller Mitglieder des Meeresrats zu berücksichtigen. Sie hatten durchgesetzt, dass die Schiffe der Menschen auf festen Routen fahren mussten und die Fischerei mit großen Schleppnetzen stärker reguliert.

So vieles hatte sich geändert, seitdem wir uns entschlossen hatten, mit den Landbewohnern in Kontakt zu treten. Das Wasser war sauberer geworden, die Schiffe der Zweibeiner fuhren jetzt auf festen Routen und die rücksichtslose Ausbeutung der Meere mit Schleppnetzen hatte nachgelassen. Wir hatten unseren eigenen Staat. Jedes Fischerboot, das eine gewisse Fangkapazität überschritt, musste mittlerweile einen Pilotdelfin unterhalten, welcher andere Meeressäuger im unmittelbaren Umfeld vor den großen Netzen warnte. Ironischerweise waren es die Landbewohner gewesen, welche darauf insistierten, dass die Delfine für ihre Arbeit bezahlt werden müssen.

Das Geld landete meistens in der virtuellen Staatskasse der Meeresrepublik, denn was hätte sich ein Delfin schon kaufen wollen? Unbestechlichkeit war ein Begriff, der für eine Art, die nichts mit Geld anzufangen wusste, kaum eine Bedeutung hatte. Dafür konnte man die Meeresbewohner vielleicht bewundern, musste es aber nicht.

Ein Autor hatte einmal gemeint, dass auf die Frage, wenn Delfine intelligenter als Menschen wären, warum sie dann keine Städte, Geld oder Raumschiffe gebaut, die Antwort darauf gewesen wäre, wozu auch? Warum also die Mühe machen? Im Meer schwamm einem das Essen wortwörtlich vor der Nase rum, man brauchte keine Angst zu haben, im Regen zu stehen, denn nass wurde man sowieso und seine eigene Familie im Stich zu lassen und für immer zu verschwinden, konnte man in den endlosen Weiten des Meeres ohnehin besser, als nirgendwo sonst.

Warum also Tag und Nacht in einem unbefriedigenden Job zu arbeiten, um Geld zu verdienen, für Sachen, die man entweder nicht brauchte, oder sich einfach aus der Natur holen konnte?

Den Krieg zu verstehen, fiel mir das leichter, schließlich war der um die Zukunft unseres Planeten gewesen. Der Umgang mit dem natürlichen Ökosystem war gegen Ende des 21. Jahrhunderts zu einer solch fundamentalen ideologischen Streitfrage geworden, dass darüber ein Krieg ausgebrochen war. Hätten wir diesen Krieg verloren, wären wir dazu verdammt gewesen, diesen Planeten aufzugeben, nur auf den restlichen Himmelskörpern des Sonnensystems, dieselben Fehler zu wiederholen. Unsere Rasse wäre dann wohl vollständig ausgelöscht worden.

Natürlich war nicht alles perfekt, doch nur ein Idiot würde behaupten, dass es früher besser gewesen war. Mittlerweile bauten die Landbewohner sogar einige ihrer alten Städte so um, dass sie für ihre aquatischen Mitbürger passierbarer wurden. Wer hätte auch ahnen können, dass Tourismus so ein beliebter Volkssport bei Delfinen werden würde? Ein paar Jahre vor der Bereinigung hätte sich jeder Delfin, der sich in die Kanäle Hamburgs verirrt hätte, in akuter Lebensgefahr befunden. Heute zuckelte ich gemütlich am Zollkanal vorbei an den historischen Gemäuern der Speicherstadt. Ich musste mich eigentlich beeilen und hatte gar nicht so viel Zeit, das Panorama zu bewundern. Die Turmuhren schlugen Punkt acht Uhr. Für die im Wasser lebenden Einwohner der Stadt wurde ein gewaltiges Ziffernblatt in den Himmel projiziert, das auch mit schlechten Augen zu erkennen war.

Mit schnellen Zügen bog ich ab auf die Nordelbe und in Richtung Meer. 

Das neue Meeresopernhaus lag knapp hundert Kilometer entfernt in einer kleinen künstlich ausgehobenen Bucht, tief genug, sodass der Bau selbst bei starkem Tidenhub noch unter Wasser blieb und aquatische Gäste nicht irgendwann auf dem Trockenen liegenblieben. Den Kern des Gebäudes bildete ein durchsichtiger Zylinder, der bis knapp unter die Meeresoberfläche, von wo er trichterförmig auffächerte und ein Becken formte, durch das die meisten Landbewohner aufrecht hindurch waten konnten, aber auch noch für Delfine bequem zu manövrieren war. Die Mitte des Zylinders bildete die Bühne, um die herum die Tribüne als ein gläserner Ring errichtet worden war, welche den Menschen erlaubte, das Schauspiel auch von Unterwasser aus zu beobachten. Der Ring war nach unten hin offen, sodass zwischen Land-und Meeresbewohnern keine Barriere existierte.

Vor dem Eingang warteten schon die restlichen Mitglieder meiner Schule.

«Da bist ja endlich,» schnaubte meine Schwester G-Dur empört. «Ein Schöner bist du Onkel. Kommt glatt zu spät zur Erstaufführung seiner eigenen Nichte.»

«Ach komm schon, Mama,» entgegnete Es-Dur. Die jüngere Schwester meiner Nichte war gerade mal fünf Jahre alt. «C-Moll hat es doch noch geschafft.»

«Aber nur auf den letzten Drücker.»

Ohne weiteres Murren machten wir uns auf den Weg zur mittleren Tribüne. Die Vorstellung war besser besucht, als ich ursprünglich erwartet hatte. Wahrscheinlich waren sogar mehr Zweibeiner als Meeresbewohner anwesend, von denen auch nicht gerade wenige gekommen waren. Neben den normalen Tümmlern erspähte ich Rundkopfdelfine, gemeine Delfine und sogar Grindwale, die sich sonst kaum in der Ostsee blicken ließen. Alles in allem eine gesellige Runde, die da um die Bühne herum schwamm. Anders als die Zweibeiner waren die Meeresbewohner nicht gewohnt, lange Zeit herumzusitzen. Nur ein paar standen auf der Schwanzflosse oder ließen sich gerade im Flachwasserbecken nieder. G-Dur war eine von ihnen. Beim Auftritt ihrer eigenen Tochter wollte sie keinen Moment verpassen, auch wenn es bedeutete, für eineinhalb Stunden auf dem Bauch zu liegen.

Immerhin war die Luftfeuchtigkeit ganz angenehm. Die Landbewohner hatten beim Bau des Opernhauses bestimmt darauf achtgeben müssen, keine Materiellen zu verwenden, welche anfällig für Schimmel gewesen wären. Wieder eine dieser Sachen, die der Mensch für den Erhalt seiner Zivilisation wissen musste. Warum überhaupt jemand diesen Aufwand betrieb, wird mir wohl für immer ein Rätsel bleiben.

Die Show begann mit einer Einlage von Kunstschwimmern, welche mit synchronisierten Manövern oberhalb und unterhalb der Wasseroberfläche, bereits den ersten Applaus verdienten. Dabei sorgte vor allem eine Nummer für ein tiefes Raunen, als sich eine Tümmlerin vor einer Gruppe aggressiv auftretender männlicher Artgenossen durch einen Sprung über die Bühnenwand ins offene Meer rettete, was bei einigen der menschlichen Zuschauer für verrenkte Köpfe sorgte, als sie dem fliehenden Weibchen hinterher sahen.

Sie hatten vielleicht an die Delfinshows in den mittlerweile berüchtigten Delfinarien des letzten Jahrhunderts gedacht, wo die Delfine noch eingesperrt waren und nicht einfach aus dem Becken hopsen konnten.

Es folgte eine musikalische Einlage, die über Unterwassermikrofone auch über dem Wasser zu hören war. Wahrscheinlich der Teil, für den den meisten der Meeresbewohner gekommen waren. Die ‹Walgesänge› waren mehr als nur bloße Melodien. In ihr fanden sich die mündlichen Überlieferungen von Generationen, die weiter zurückreichten als die meisten Bücher der Menschen.

Jede Schule hatte ihre eigene Erzähltradition, doch gerade bei den ältesten Geschichten gab es immer wieder Gemeinsamkeiten. Die thematische Spanne reichte dabei von weltumspannenden Epen über eine Zeit der Flut und der Monster bis hin zu kleinen Anekdoten und Geschichten über den Alltag der Vorfahren.

Die hier aufgeführte Geschichte war eine Komödie. Sie handelte vom tollpatschigen Mitglied einer Junggesellenschule, welcher versuchte, die große Liebe seines Lebens zu beeindrucken, und dabei von einem Fettnäpfchen ins andere trat. Die gerade eben abgespielte Szene imitierte dabei einen absichtlich herbeigeführten Drogenrausch, den man sich durch das Gift eines Kugelfisches zuzog. Eine Darbietung, welche einige der Landbewohner dazu veranlasste, die Aufführung vorzeitig zu verlassen.

Für sie mochten wir die Clowns der Meere sein, Engel waren wir aber auch keinen Fall.

Penta-C-Moll hatte schon immer diesen kruden Sinn für Humor, das musste man ihr lassen.

Na ja, es war halt nicht für jeden Geschmack etwas dabei.

 

Die Veranstaltung endete mit donnerndem Applaus. Es-Moll versuchte gar, auf ihrer Schwanzflosse zu laufen, wobei sie glatt über den Rand des Flachwasserbeckens stolperte und rücklings ins Wasser plumpste, was einige der Menschen offenbar sehr erheiterte.

Dabei hörte ich eine Stimme, die mit bekannt vorkam.

«Das haben deine Delfine damals bestimmt besser hingekriegt ...»

Etwas unbeholfen schaltete ich meinen Sprachübersetzer ein und schwamm auf die Gruppe von Veteranen in marineblauen Uniformen zu.

«Artur? Er mochte älter geworden sein, doch seine Stimme war im Gedächtnis geblieben. Der angesprochenen blickte sich verwundert um, als er die künstliche Stimme vernahm. Er hatte mich schon bemerkt. Ob ich auch älter geworden war? Angeblich sollen wir für Menschen ja alle gleich aussehen. Warum auch immer. Für uns sahen die Menschen nicht alle gleich aus.

«Torpedo?», sprach er mich mit meinem alten Kampfnamen an. An mich erinnerte er sich noch gut. «Du hier?»

«Ja. Meine Nichte hat das Stück geschrieben.»

«Ein wundervolles Werk.»

«Eigentlich hat mich meine Schwester dazu gezwungen, hier herzukommen. Sie hat damit gedroht, mich zu verprügeln, wenn ich nicht antrab.» Die anderen Männer und Frauen in der Gruppe machten große Augen, einzig und alleine Artur war es, der von einem Ohr zum anderen grinste.

«Schön, dass du dich nicht verändert hast.»

«Du dich aber ganz schön,» erwiderte ich. «Seit … deiner Beförderung hab ich dich nicht mehr gesehen.» Beinahe hätte ich ‹Kriegsende› gesagt. Das war vielleicht nur ein paar Jahre her, doch die waren sichtbar an ihm vorbeigegangen. Sein zuvor glattrasiertes Gesicht umgab mittlerweile ein ansehnlicher Bart, der am Ansatz, wie Haupthaar auch, schon angefangen hatte zu ergrauen. Um die Augen herum, waren die Falten etwas tiefer geworden, eine Sehhilfe, wie viele Landbewohner sie trugen, schien er jedoch nicht zu benötigen.

«Oh. Ja.» Er schien etwas verlegen. «Das war, nachdem das ganze Programm im Zuge der Bürgerrechtsreform für aquatische Mitbewohner umstrukturiert worden war. Viele Aspekte des Programms wurden dabei reevaluiert und… auf neue die Rechtslage angepasst. Die alten Trainer wurden größtenteils nur noch für die Beratung eingesetzt.»

Ich wusste, dass es immer noch ein Marineprogramm gab, das sich mittlerweile auf die Bekämpfung von Terrorismus und Umweltkriminalität verlagert hatte. Dass der alte Trainer dafür ausgemustert worden war, war mir allerdings neu.

«Wieso?», fragte ich.

«Politische Gründe,» und winkte ab. «Hast du eigentlich noch Kontakt zu den alten Mitgliedern deines Teams?»

«Nein,» entgegnete ich. «Ufo treffe ich manchmal vor der Küste Norwegens. Allerdings hat sie in den letzten Jahren auch geistig ganz schön abgebaut. Die meiste Zeit murmelt er nur vor sich her und ist kaum ansprechbar.» Ufo war der alte Kampfname von Phrygisch-Dur.

Artur schien etwas nachdenklich geworden zu sein. «Es ist wirklich viel in der Zwischenzeit passiert. Weißt du, ich bin grade im Moment zu Besuch bei meiner Familie in Hamburg. Wenn du willst, können wir vielleicht mal in der Stadt treffen, sagen wir ...»

«Morgen. Stadtpark Punkt fünfzehnhundert?»

Artur schien erstaunt. Ich mochte vor fünf Jahren vielleicht meinen Dienst quittiert haben, den Jargon der Soldaten beherrschte ich noch ausgezeichnet.

«Klingt gut,» entgegnete Artur, wobei er militärisch salutierte, seine Kameraden taten es ihm gleich. «Wir sehen wir uns morgen.»

Ich war mindestens genauso neugierig, zu erfahren, wo er sich all die Jahre herumgetrieben hatte.

 

 

 

ENDE

 

 

Beiträge 41 bis 48

Beitrag 41

 

Sätze, die niemand sagt

 

Es gibt Sätze, von denen denkt man nie, dass man sie einmal sagt. Im Alter von sechs Jahren war ich mir beispielsweise sicher, dass ich niemals zu einer anderen Person „Ich liebe dich“ sagen werde, denn das fand ich nicht nur unangebracht und kitschig, sondern vor allem eklig. Mit zwölf war ich mir sicher, dass ich mich nach einem großen Streit nie wieder mit Mama und Papa vertragen werde, weil ein Wort der Entschuldigung meinen Mund gar nicht verlassen könnte. In all diesen Momenten wusste ich jedoch, welchen Satz ich niemals sagen würde, er stand bereits in meinem Kopf, ich hätte ihn buchstabieren können und auf Papier bringen können in Druckschrift und in Schreibschrift und ich hätte ihn in jede Sprache dieser Welt übersetzen können. „Am Freitag, den 13. November 2150 wurde ich zwanzig Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens,“ war ein Satz, den ich nie zuvor in meinem Kopf gesehen hatte. Ich hatte nie aktiv beschlossen, ihn niemals zu sagen. Dieser Satz existierte in seiner Form nicht und wenn ein Satz nicht existiert, dann erdenkt man ihn sich nicht, dann kann man ihn nicht buchstabieren, nicht auf Papier bringen und erst recht nicht übersetzen. Ich kannte jede einzelne Komponente dieses Satzes und auch jede Regel der grammatisch richtigen Zusammensetzung und trotzdem existierte er nicht. Es ist ein wenig, als hätte ich ein neues Rezept kreiert, mit Zutaten, die jeder Mensch kennt. Doch wenn man diese Zutaten mischt, ergeben sie ein Gesamtes, was zuvor niemand in Erwägung gezogen hatte. Ein Gericht, welches den menschlichen Mund nie zuvor berührte. Nachträglich ist es absurd, dass ich diesen Satz überhaupt sagen konnte, denn er widerspricht allem Natürlichen, allem Menschlichen und den wenigen Grenzen, die der liebe Gott den Menschen auferlegt hat, denen widerspricht dieser Satz auch. Und trotzdem sagte ich ihn, trotzdem verließ jedes der achtzehn Wörter, die diesen Satz vollkommen machten, jede grammatische Zusammensetzung und jede richtige Betonung meinen Mund.

Ich beginne diese Geschichte nicht ohne Grund mit dem Ende. Nicht nur, dass die literarische Erwartung, eine Geschichte mit dem Anfang zu beginnen, schon vor langer Zeit revolutionär immer wieder durchbrochen wurde, nein, ich beginne meine Geschichte mit dem Ende, weil das, was ich euch erzähle, mit einem Ende beginnt.

Die Geschichte, die ich euch erzählen werde, begann nicht mit einem Ende, sondern mit meinem. Es gehört nur mir allein und obwohl es nur mein erstes Ende war, ist es mir kostbar. Die meisten Menschen bekommen nur ein Ende geschenkt, es ist ihnen ein hohes Gut und wird gleichermaßen mit Furcht wie mit Trauer behandelt. Wenn man zwei Enden hat, lernt man, den jeweiligen Wert des einzelnen Endes zu schätzen, denn entweder wird das zweite Ende so wertvoll wie das erste oder eben nicht. Damit ich nicht alle literarischen Grenzen über Bord werfe beginne ich diese Geschichte mit meinem ersten Ende, das anders als der Satz, von dem ich bereits sprach, sehr natürlich, sehr menschlich und so sehr innerhalb der gottgegebenen Grenzen war, wie nur möglich. Mein erstes Ende war meine Ermordung durch Menschen. Es fällt mir schwer, über mein erstes Ende zu reden. Und das nicht etwa, weil es derart tragisch war. Nein.

 

Der Grund für mein Zögern ist die Tatsache, dass die eigene Ermordung etwas sehr Intimes ist. Rückblickend vielleicht das Intimste, was ein Mensch von sich preisgeben kann. Die eigene Ermordung ist nicht tragisch, nicht dramatisch und definitiv nicht wie in den unzähligen Bühnentoden oder auf der Kinoleinwand. Die eigene Ermordung ist roh, gewaltvoll und das kostbarste Geschenk, was ein Mensch von einem anderen erhalten darf.

Zwei Stunden vor meinem ersten Ende, stand ich im Universitätszentrum für Lyrik und Literatur der Kategorie Ruhe und Ordnung und wartete auf den Tod. Ich überlegte, wie lange es wohl noch dauern würde. Es war der 7. November 2050 und obwohl es zwei Stunden vor meiner Ermordung war, rechnete ich mit dem Tod so sicher, wie mit der Dunkelheit einer jeden Nacht. Ich hatte nicht auf Mama gehört, die mir gesagt hatte, dass das eigene Leben etwas Unbezahlbares wäre, nicht auf Papa, der mir versicherte, dass es absolut nichts bewirken würde ins offene Messer zu laufen und auch nicht auf sie, die mir einen Kuss auf meine rechte Wange geschenkt hatte und deren warme Hand ich gehalten hatte, zehn Minuten bevor ich das tat, von dem sie alle mir abgeraten hatten. Ich hatte am frühen Morgen mein Tagebuch auf der Universitätswebsite für Lyrik und Literatur veröffentlicht. Wenn die Veröffentlichung eines Tagebuchs Grund genug ist, auf sein erstes Ende zu warten, von dem ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass es mein erstes seien würde, dann hat drückt jemand einer Nation die Sinne zu, sodass sie nichts mehr sehen oder hören können, was sich nicht innerhalb der gesetzten Grenzen befindet. Und wenn in das taube Gefühl der erzwungenen Stille jemand etwas hineinbrüllt, was alle Sinne gleichzeitig erfordert und die höchsten aller Gefühle weckt, etwas, wie Literatur, etwas, wie Lyrik, etwas, wie auf Papier gebrachte Empfindungen, dann macht es denjenigen, die die taube Stille beibehalten wollten schreckliche Angst. Angst war es, die von den beiden Schutzbeauftragten für Ruhe und Ordnung Besitz ergriffen hatte und sie dazu bewegte, mich grob an beiden Schultern zu packen und mich aus dem Universitätszentrum zu schleifen. Angst war es, die die Versammlung im Gerichtssaal bereits beim Eintritt erfüllte und Angst war es auch, die sie dazu brachten für meine Ermordung zu stimmen. Und Angst in ihrer reinsten und rohesten Form war es, die sie dazu brachte das Wasser um mich herum kalt, kalt, kalt werden zu lassen. Mein Text, mein erstes veröffentlichtes Tagebuch machte Angst. Nicht nur ihnen, sondern auch mir. Es machte mir Angst und diese Angst brach aus mir heraus wie als müsste ich mich übergeben. Die Angst war es, die mich erst unartikuliert schreien ließ und mir später die heißen Tränen über die Wangen trieb. Es war Angst als ich an meine Eltern dachte und an sie, deren warme Hand ich am letzten Abend zum letzten Mal gehalten hatte. Und dass sie mir diese Angst, ihre und meine gleichermaßen, in all ihrer Form und Durchführung gaben, machte mein erstes Ende zum kostbarsten Geschenk der Menschen an mich.

 

Es würde nichts, aber auch absolut gar nichts bringen jetzt detailliert zu beschreiben, wie es sich anfühlte, aufgetaut zu werden. Nicht etwa aus dem eigensinnigen Gedanken euch diese Information vorzuenthalten, viel mehr aus der Annahme, dass es in existierenden Worten nicht möglich ist, diesen Prozess wiederzugeben. Ich würde gern sagen können, dass es war wie das Aufwachen nach einer langen Nacht mit vielen Stunden Schlaf oder wie das Aufwachen aus einer Narkose. Als ich die Augen aufschlage, war mir kalt. Gemäß dem Datum, welches mir die freundlich lächelnde Person im Medizinerkittel vor mir nannte, hatten wir heute den 6. November 2150. Ich muss an dieser Stelle die Handlung meiner Geschichte kurz unterbrechen, um anzumerken, dass dieses Datum anders als der von mir beschriebene Satz zwar bereits in meinem ersten Leben in meinem Kopf existiert hatte, ich jedoch niemals darüber nachgedacht hatte ob ich es jemals hören würde, die Antwort schien mir so offensichtlich. Dass ich eben dieses Datum jetzt aber doch hörte, war eines der vielen Ereignisse der Unmenschlichkeit und der Unnatürlichkeit. Es fühlte sich nicht nur falsch an, sondern bereitete mir, noch während der Mensch, von dem ich annahm, er sei ein Arzt, die Jahreszahl aussprach, Kopfschmerzen. Hundert Jahre und einen Tag.  Ich war noch neunzehn, noch für eine Woche, doch jene Erkenntnis über die im Eis verloren gegangene Zeit gab mir das Gefühl, bereits ein ganzes Leben gelebt zu haben. Nicht nur die Gesellschaft, die ich kannte, hatte ich zurückgelassen. Nein, was mich rüttelte, war der Gedanke daran, dass mich nun von meiner Familie und von ihr nicht mehr länger ein Ort oder das unterschiedliche Verständnis von Vernunft trennten, sondern die Zeit. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als die weiterhin lächelnde Person im Kittel interessiert auf meine Wange blickte und zum Bildschirm an der Wand sagte: „Wasser“. Was der Arzt Wasser nannte, waren stumme Tränen, von denen ich selbst nichts mitbekommen hatte. Das Wort erschien in ordentlichen Lettern auf dem Display. Der Raum hatte sich mit Menschen gefüllt. Zunächst nahm ich wahr, dass keine der anwesenden Personen einem Geschlecht zuzuordnen waren. Jeder der Geschöpfe im Raum hatte sowohl klassisch männliche, als auch weibliche Attribute und in meiner Verwirrung starrte ich auf die zierliche Nase des Arztes zwischen seinen viel zu hohen Wangenknochen. Mit den Worten „Wie unfreundlich von uns, uns nicht vorzustellen. Wir sind Personen. Es ist schön, dass du hier bist, und wir dürfen dir gratulieren: Du bist die erste deiner Art seit siebzig Jahren. Wir hoffen inständig, dass es dir gut geht und der Sauerstoffgehalt der Luft ausreichend ist.“ Riss mich der Arzt aus meiner Faszination. Auf meine fehlende Antwort auf diese Frage und die daraus resultierende minutenlange Stille, sagte der Arzt erneut an den Bildschirm gewandt: „Immatrikuliert“, „Mehr Wasser“. Auf dem Display erschien beides erneut und ich löste meinen Blick vom Arzt und starrte auf die Worte, als würde ich in einen Spiegel blicken. Ordentliche, saubere und ruhige Lettern hatten sich dort gebildet, um die vom Arzt geforderten Worte zu notieren. Vierundzwanzig Buchstaben, drei Worte und sie wirkten allesamt aufgeräumt. Ich fragte, was zur Hölle er, damit meine, jedoch ohne den Arzt oder einer der umstehenden Personen anzusehen, den Blick weiterhin auf die aufgeräumten Lettern geheftet. „Die gesamte Menschheit liegt seit siebzig Jahren im Eis. Wir, die Personen, kümmerten uns darum, dass alles auf der Erde, was der Mensch zerstörte, sich regenerieren konnte. Für einen ersten Testdurchlauf, wirst du für eine Woche hier sein. Alles ist perfekt auf die Wiederankunft des Menschen ausgerichtet und dein Aufenthalt auf dieser Erde für dich angenehm werden“ Der Arzt lächelt. Die Umstehenden lächelten. Ich starrte sie an. Gerne würde ich an dieser Stelle erzählen können, dass ich zwar zunächst geschockt war, mich jedoch über die beschriebene Rehabilitation der Erde und ihrer Umwelt freute und den Personen, die ja durchaus freundlich zu mir waren, dankbar für die zweite Chance zu leben war. Ich würde gerne sagen, dass ich froh war, dass die gesamte Menschheit seit siebzig Jahren im Eis lag, weil das ja bedeutete, dass meine Eltern und vor allem sie, mit ihren warmen Händen auch irgendwo in dieser Kühltruhe gefangen sein mussten und man sie nur auftauen müsste. Doch ich war nicht froh, nicht mal ein kleines bisschen und es waren Unsicherheit und Verwirrung, die mir ins Gesicht geschrieben standen, als ich in die lächelnden Gesichter blickte. Und es war Unsicherheit und Verwirrung, die ich dem Arzt entgegenbrachte, als er auf meine Bitte nach etwas zu essen erklärte, dass es nicht gesund sei, nach achtzehn Uhr noch etwas zu sich zu nehmen. Und es waren Angst und Verwirrung, die mich nicht einschlafen ließen.

Bei meinem Erwachen hatte ich Hunger. Es war nicht nur der Hunger nach Essen, nein, ich spürte am ersten Morgen meines zweiten Lebens das erste Mal Hunger darauf, meine Menschen wieder zu sehen, einen Anruf meiner Eltern erhalten mit einem drohenden Unterton bloß nicht aufzufallen und mich zu ihr umzudrehen. Doch ich erhielt keinen Anruf und als ich mich in meinem Bett umdrehte, lag dort niemand. Ich lag da und auf dem Display an der Wand vor meinem Bett, die mit unzähligen Kameras gespickt war, tauchte erneut das Wort „Wasser“ auf.

Ich würde gerne behaupten können, dass mir das zweite Leben nichts bot, was mich nur ansatzweise in den Bann gezogen hätte, aber dem war nicht so. Vormittags von zehn bis vierzehn Uhr, bekam ich die neue Welt gezeigt. Inmitten grüner Städte wuchsen unzählige Pflanzen. Ich entdeckte jeden erdenklichen Baum. Der Reichtum an Tieren und Pflanzen inmitten der Stadt zog mich in seinen Bann und ich stand inmitten dieses Wunders der Natur und lachte, lachte, lachte. Es schien beinahe, als könnte ich mich kaum beruhigen und so lachte ich Tränen, als ich einen Papagei erblickte. Ich lachte jeden Tag erneut. Ich lachte, weil ich ein Stadtkind gewesen war, im ersten Leben und ich nicht mehr verstand, warum ich niemals Natur hatte sehen wollen, ich lachte, weil die Luft so schrecklich sauber war und beinahe zu schwirren schein, und ich lachte beim Anblick der Streifen auf dem Zebrafell die mir unendlich fröhlich erscheinen. Schwarz, weiß, schwarz, weiß, immer so weiter und wenn ich mich an einem Tier sattgesehen hatte, brauchte ich nur zum Nächsten gucken und ich sah schwarz, weiß, schwarz, weiß, im lustigsten Wechselspiel. Die Personengruppe, die mich auf meine Ausflüge begleiten musste, lachte zwar stets mit, notierte sich jedoch den Namen eines jeden Tieres, über das ich zu lachen schien. Hatte ich also beim Anblick des einen Papageis Tränen in den Augen und einen hochroten Kopf, so lachten sie beim Anblick des Nächsten ihr glockenhelles Lachen und aus ihren keineswegs geröteten Augen floss ein wenig Wasser über die perfekten rosigen Wangen. Zunehmend machte mich diese unnatürliche Emotionalität verrückt und ich tat alles in meiner Macht stehende, um aus den Personen ein Gefühl hinaus zu kitzeln, welches keine bloße Reaktion auf meine Gefühle war. Jemand Außenstehendes, ein anderer Mensch hätte mein verhalten bei der bloßen Beobachtung wohl als verrückt und absolut nicht bei Sinnen beschrieben, doch es gab keine Außenstehenden und so konnte ich tun, was auch immer ich probieren wollte. Ich schrie erst alle Personen an, später nur einzelne, ganz zuletzt den Mann im Arztkittel. Ich erzählte den lustigsten Witz, den ich kannte, obwohl ich mir nachträglich nicht mehr sicher war, ob ich ihn nur lustig fand, weil sie ihn so wunderschön erzählt hatte, damals, im ersten Leben. Ich tanzte einen unangenehmen Tanz,  doch keine Person schrie je zurück, niemand lachte laut über den Witz, erst als ich begann zu Lachen verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem höflichen Grinsen und sie stimmten mit ein. Und sollten sie bei der Betrachtung meines unangenehmen Tanzes Fremdscham verspürt haben, so hätte es ihnen kein einziger Psychologe dieser Welt angemerkt.

Nach vierzehn Uhr hatte ich immer freie Zeit. Ich saß jeden Tag im abgedunkelten Zimmer, in dem ich auch die Nacht verbrachte und schrieb. Alle Rollläden waren runtergelassen, um die Nacht wenigstens ein wenig zu imitieren. Ich hatte sie angeschrien, die Personen, dass ich nachts schreiben wollte, doch sie hatten mich freundlich angelächelt, bevor sie mir erklärt hatten, dass es keineswegs gesund sei, nach Sonnenuntergang noch wach zu sein. Bereits in meinem ersten Leben hatte ich schriftstellerisch tagsüber nie mehr als drei Sätze zustande gebracht. Doch mir wurde sehr klar, dass zur Nacht mehr gehörte als die bloße Dunkelheit, die nur durch das Leuchten des eigenen Displays unterbrochen wird. Und so kam es, dass ich die Nacht nicht mehr länger als eine Tageszeit wahrnahm, sondern als eine gesamte Stimmung. Als ein Gefühl und einen Geisteszustand der nicht nur durch die Dunkelheit, sondern zugleich mit der damit verbundenen Intimität der Nacht zusammenhängt und was dort in mir wuchs, war nicht länger die Sehnsucht nach meinen Eltern und nach ihr sondern viel mehr ein unstillbarer Hunger danach, etwas zu schreiben. Unbeobachtet. Still. Bei Nacht. Und da war noch etwas, ein weiterer Hunger, viel größer und mächtiger als der erste. Ich hatte Hunger nach einem menschlichen Gefühl. Ein Zeichen, dass auch nur ein einziges meiner Gegenüber emotional durch irgendetwas angeregt wurde. Mich dürstete es regelrecht nach einem unpassenden Heben der Mundwinkel, nach leichter Feuchtigkeit um die Augen, wenigstens nach dem Ausdruck der leichten Überraschung. Ich hatte einen Hunger.

Der beschriebene Hunger wuchs ins unermessliche, ich vergaß die Namen meiner Eltern und beinahe hätte ich auch ihren Namen vergessen, ich vergaß, wie alt ich war und wie lange ich schon mein zweites Leben lebte, ich vergaß, wer ich war und dass ich gerne etwas schreiben würde, das hatte ich auch längst vergessen. Ich hatte Hunger, großen Hunger nach der Emotion anderer. Einer Emotion, die nicht darauf basierte, dass sie eine meiner Emotionen der Gegenwart oder Vergangenheit nachahmte, und der Hunger wuchs und wuchs, sodass ich nachts von unendlichen Fratzen träumte, die sich wortwörtlich zu Tode lachten, Gesichter, die sich die ganze Nacht anschrien und ich begann, über tiefe Trauer zu fantasieren als wäre die Vorstellung eines gebrochenen Manschens das schönste, was die Schöpfung zu bieten hatte. Das Einzige, was mir wichtig schien, war der unstillbare Hunger tief in mir.

Der Hunger verlangte, dass ich auch nur die detaillierteste, kleinste Gefühlsregung zu sehen bekam und so stand ich am letzten Tag meiner Woche auf der Bühne, auf der ich mein Tagebuch verlesen sollte, und blickte in ein Publikum, das mir höflich entgegen lächelte. Die Namen meiner Eltern hatte ich vergessen, ich hatte ihren Namen vergessen und ich konnte mich nicht mehr an meinen Namen erinnern. Ich wusste nicht mehr, weshalb ich hier war und was genau ich erlebt hatte. Ruhig las ich den Satz, von dem ich am Anfang meiner Geschichte bereits sprach vor: „Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich zwanzig Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens.“ Diesen Satz sagte ich völlig unabhängig von der Tatsache, dass mir in jenem Moment gar nicht wirklich bewusst war, wie alt ich wurde oder welchen Tag wir hatten. Ich befand mich in Trance. In zweihundert freundliche Gesichter, die keinem Geschlecht zuzuordnen waren, schrie ich, dass ich mein zweites Leben hasste, dass ich der jetzigen Erde mit derselben Abscheu begegnete wie der ersten, dass ich keinen Mehrwert in dieser wunderschönen gesunden Welt sah, wenn niemand mich ärgerte, niemand mich zum Lachen brachte. Ich war ein Verdursteter und kam mit jedem Schrei dem Wasser näher. Jemand sollte aufspringen. Jemand sollte mich auslachen. Jemand sollte irritiert oder erschrocken oder überrascht oder verstört sein. Ich hungerte nach einem leichten Heben der Augenbraue, einem zarten Heben eines Mundwinkels, doch da war nicht, es hob sich keine Augenbraue und kein Mundwinkel, nicht mal ein winziges bisschen und so hatte ich vergessen wer oder was ich war als ich völlig außer mir und mit hochrotem Kopf ins Publikum schrie, dass ich jeden Einzelnen der Personen mehr hasste als den Teufel persönlich. Ich schrie sie an, dass sie die unmenschlichsten Geschöpfe wären, die die Welt jemals zu bieten gehabt hätte und dass ich weg- wollte. Dass ich keinen Tag, keine Sekunde mehr in ihre Gesichter sehen wollte, ich schrie, bis ich heiser war, ich wollte, dass jemand aufstand, und ich schrie auch noch, als meine Stimme längst verschwunden war. Sie schauten ernst. Es stand niemand auf. Es schrie mich niemand an. Es hob niemand irritiert eine Augenbraue und es versuchte mich erst recht niemand davon zu schleifen. Sie warteten, mit zurückhaltender Distanz im Publikum bis ich erschöpft auf den Boden sackte. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, was danach passierte, wie sie mich entkleideten oder wie mich mehrere Arme in das perfekt temperierte Wasser hoben. Meine einzige Erinnerung ist, dass es langsam kalt, kalt, kalt wurde. Sie hatten mich wieder eingefroren.

Es gibt Sätze, von denen denkt man nie, dass man sie einmal sagen wird. Doch in einem Bericht meiner zweiten Ermordung gibt es keinen einzigen Satz, den ein Mensch jemals gesagt haben sollte, denn ich starb für keinen Zweck, ich war nicht einmal mein eigener Märtyrer.

Mein zweiter Tod widersprach allem Natürlichen, allem Menschlichen und allen Grenzen, die der liebe Gott den Menschen auferlegt hatte, denen widersprach er auch.

 

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 42

 

Begegnung unter der Erde

 

Gedankenverloren stand Jonas Keeler vor dem Fenster und blickte hinaus. Hinter ihm, auf seinem Schreibtisch, lag ein Tagebuch. Es war sein eigenes, oder besser, es waren mehrere. Im Laufe der Jahre waren so viele entstanden. Im Gegensatz zu anderen schrieb Jonas noch mit der Hand. Eine Seltenheit in einer Welt, in der man mittels Gedanken Nachrichten erschaffen und speichern konnte.

Sein Mann Ash belächelte ihn dafür. Aber das war Jonas egal.

Das Tagebuch begann mit folgendem Satz: Heute am 13. November 2150 werde ich 20 Jahre alt und veröffentliche das Tagebuch meines zweiten Lebens. Es waren Aufzeichnungen, Bilder, Texte, Erinnerungen an ein wildes Leben. Ein Leben voller Gefahr und Veränderungen. Aber auch mit den besten Entscheidungen seines Lebens.

Jonas seufzte, als er an sein Leben dachte. Wie viel war nur geschehen?

Heute war der 13. November 2198 und er hatte sich für das zweite Leben entschieden. Kurz dachte er daran zurück und zuckte unmerklich zusammen, als sich starke Arme um seinen Körper schlangen.

„Denk nicht zu viel nach. Heute ist dein Geburtstag, Schatz und nachher kommen unsere Gäste“, sagte Ash.

„Ich frage mich nur, was gewesen wäre, wenn ich mich nicht für das zweite Leben entschieden hätte. Dann wäre ich jetzt nicht hier. Wir wären sicher auch nicht zusammen und unsere Leben wären anders gewesen.“

Ash seufzte und küsste ihn in den Nacken. „Dann sollten wir froh sein, dass es so gelaufen ist, oder? Das Ritual gibt es doch heute eh nicht mehr.“

Jonas lehnte sich nach hinten und spürte die Bewegung seines Mannes. Was waren schon 20 Jahre? Sie waren wie im Flug vergangen.

„Ich fand es eine gute Idee. Nicht jeder Planet kann ja so ein Ritual haben“, murrte Jonas. Er kannte diese Diskussion. Sie führten diese heute auch nicht das erste Mal und es würde nicht das letzte Mal sein.

Auf der Erde gab es das Ritual des zweiten Lebens. Mit dem 20 Lebensjahr bekam man die Wahl ins All zu reisen und dieses erkunden. Lehnte man es ab, blieb man auf der Erde – für immer.

Er, Jonas, hatte zugesagt. Er wollte mehr vom Leben und andere Welten und Planeten kennenlernen. Auf der Erde wäre er nur in einem Labor gelandet.

Die Raumfahrt steckte noch in den Kinderschuhen, zumindest zu Beginn – bis sich plötzlich alles veränderte.

 

„Wir landen in 4 Minuten“, verkündete die Computerstimme.

Gespannt sah Jonas aus dem Fenster des Shuttles. Viel konnte er leider nicht erkennen. Die Mondbasis gab es erst seit knapp 60 Jahren, und sie wurde ständig erweitert. Auch er war als neue Arbeitskraft hierhergekommen. „Halt dich gut fest“, sagte Reno Denning. Der Rotschopf grinste ihn verschmitzt an und klammerte sich an den Haltebügel neben ihm fest.

Reno hatte diese Reise schon Dutzende Male unternommen und er kannte das Prozedere gut genug. „Wenn du meinst.“ Jonas kam der Aufforderung nach und einige Sekunden später spürte er auch warum. Das Schiff begann erheblich zu wackeln. Immer wieder wurde er leicht aus dem Sitz gehoben und er hatte das Gefühl, sein Magen würde sich umdrehen. „Wir brauchen eine bessere Schwerkraftdämmung“, fluchte Reno. Dieses Gerüttel war schrecklich.

Eine junge Frau war grün im Gesicht, denn drauf war sie nicht vorbereitet worden.

So schnell, wie es gekommen war, verschwand das Schwanken und das Shuttle landete auf dem Mond.

„Nehmen Sie ihr Gepäck und begeben Sie sich nach draußen. Danke.“ Wieder die Computerstimme. Jonas hasste sie, denn sie erzeugte immer eine Gänsehaut bei ihm.

Zusammen mit Reno und drei weiteren Wachen verließ er das Shuttle. Die anderen neuen Kollegen waren Wissenschaftler, die für ein Jahr auf dem Mond bleiben sollten, um dort verschiedene Tests zu machen. Er selbst wollte mehr. Er war kein Wissenschaftler, dieses Thema lag ihm nicht. Sein Traum war das Fliegen. Er wollte Raumschiffe steuern. Um da jedoch einen Platz zu finden, musste er sich beweisen. Ein Grund mehrt jetzt hier auf dem Mond zu sein.

Wer sich einen Namen machte, hatte gute Chancen, ins Raumfahrtprogramm für den Mars zu kommen. Jonas würde auch weiterfliegen – einfach raus und das All sehen, dies war schon immer sein Traum und diesen wollte er auch unbedingt umsetzen.

Zuerst stand jedoch die Zeit auf der Mondkolonie an. Darauf freute er sich schon, denn er war gespannt, was ihn hier erwarten würde.

 

Kaum hatten alle das Shuttle verlassen, bat man sie, sich auf den Vorplatz aufzustellen. Man trennte sie strikt nach Wissenschaftlern und Sicherheitspersonal.

„Ich heiße Sie alle Willkommen auf der Mondkolonie III. Wir sind dabei, uns stetig zu erweitern, und freuen uns über die neuen Gesichter. Mein Name ist Inka Lorenzen und ich leite zusammen mit Sebastian Miner diese Kolonie.“ Die Frau sah in die Runde und nickte dann zufrieden.

Das neue Personal machte einen guten Eindruck. Wie es schien, wusste noch niemand, was in den letzten Wochen geschehen war.

„Haben Sie noch Fragen?“ Auch wenn sie sich davor fürchtete, musste sie diese einfach stellen.

Eine Hand schoss nach oben und Inka nickte dem Mann zu. „Ich hörte, es soll eine Mine geben. Dürfen wir dort auch hin? Ich habe Bergbau auf der Erde studiert und habe schon Minen untersucht.“

Ein feines Lächeln huschte über Inkas Züge. „Dann sind Sie sicher, Johann Meier. Ja, wir haben eine Art Mine gefunden. Sie wird noch untersucht und dann dürfen Sie mit hinunter. Noch Fragen?“ Niemand meldete sich, und Johann schien zufrieden.

„Gut, dann gehen Sie in ihre Quartiere.“

Jonas folgte den anderen und drängte sich an ihnen vorbei zu Reno. „Welche Mine?“

Auch wenn er lieber fliegen wollte, das Thema Mine klang spannend. Sein Ausbilder schmunzelte vergnügt. „Vor zwei Wochen wurde ein Hohlraum entdeckt. Wir haben ihn als Mine bezeichnet. Die ersten Proben sprechen von Erz und etwas Unbekanntem“, erklärte Reno.

„Warum hast du noch nichts davon erzählt? Das klingt interessant.“ Reno zuckte gelassen mit den Schultern und setzte seinen Weg fort.

Die Unterkünfte waren klein und spärlich eingerichtet. Es gab ein Bett und einen Schrank, dazu einen Tisch mit Stuhl. „Kein Luxushotel“, sagte Reno.

„Ich bin auch zum Arbeiten hier“, gab Jonas zurück.

 

Die ersten Tage waren hart. Hier gab es keinen Sonnenaufgang, wie auf der Erde. Die Zeit verging anders, zumindest fühlte es sich für Jonas so an. Seine Aufgaben waren vielfältig, und er blieb in Renos Nähe. Der Ältere war nicht das erste Mal auf dem Mond und kannte sich gut aus. Zudem kannte er auch Inka Lorenzen und Sebastian Miner, was sich als praktisch herausstellte. Wenn er dort einen guten Eindruck hinterließ, standen seine Chancen gut aufzusteigen. Heute sollte die Erkundung der Mine stattfinden.

Neben ihm standen Reno, Johann, der zu einem guten Freund geworden war, sowie Nick. Gespannt lauschten sie den Worten von Inka, die ihnen das weitere Vorgehen erklärte.

„Das Sicherheitsteam macht den Anfang. Wir gehen nur ein Stück und erkunden die Beschaffenheit. Unsere Messungen zeigen, dass die Höhle gar nicht so groß ist, aber dafür tief. Wir werden einen der größeren Zugänge erforschen. Sie bleiben ständig in Funkkontakt. Dann wollen wir beginnen. Ihnen allen viel Glück.“ Damit ging es auch schon los.

Den ersten Schritt in die Tiefe würde Reno übernehmen. Danach folgten Nick und Jonas. Erst wenn sie den Boden erreicht hatten, den ein Roboter erkundet hatte, durften auch die anderen folgen.

Der Sauerstoff in der Höhle war gut, dennoch hatte Jonas ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. „Ihr bleibt dicht hinter mir, verstanden?“, schärfte Reno seinem Team ein.

Die beiden Männer nickten und rückten ihre Kameras zurecht. Die Sonden und Wärmescanns hatte nichts gefunden und niemand glaubte daran, dass sie etwas finden würden. Dennoch war die Anspannung groß. Die Wissenschaftler rechneten mit Bakterien und anderen kleinen Lebewesen. Inka jedoch blieb wachsam. Sie wusste, dass hier etwas nicht stimmte. Allerdings konnte sie wenig bis gar nichts dagegen tun.

Die Höhle durfte sie nicht ignorieren, sonst würde man zu viele Fragen stellen.

 

Langsam und bedächtig ließ sich Reno in die Tiefe gleiten. Dabei achtete er auf jeden Schritt. Er war nicht umsonst Soldat und hatte viele Auszeichnungen bekommen.

Der erste Abschnitt war schnell geschafft und die Wissenschaftler durften nachkommen. Fleißig nahmen diese Proben und machten Bilder, auch wenn es nicht viel zu erkunden gab.

Der Stein um sie herum war glatt und grau. Für Jonas ungeübtes Auge wies er nichts Interessantes auf. Das sahen die Wissenschaftler ein kleines bisschen anders. Gerade Johannes fand es fast faszinierend und konnte sich an dem Stein nicht sattsehen, zumindest bis Reno sie weitertrieb.

„Wir haben noch einen Tunnel zu erkunden und wir sollten nicht zu lange hier unten bleiben“, erklärte der Sicherheitsfachmann.

„Ja, aber die Luft hier unten ist doch gut“, hielt Nick dagegen.

„Dennoch wissen wir nicht, wie sich die Luft hier unten auf uns für längere Zeit auswirkt. Also, meine Herrschaften, weiter geht’s.“

Wie schon zuvor übernahm Reno die Führung und kletterte in den recht engen Tunnel hinein. Sie waren alle gesichert und so blieb zumindest das Risiko, dass sie abstürzten, sehr gering.

Immer wieder meldete sich Reno bei Inka und berichtete ihr von den Fortschritten.

Die Luft wurde kühler und auch feuchter, fand Jonas. Bald hatten sie die nächste Plattform erreicht, wenn es dann so nennen wollte.

Fast dachte man dabei eine Art Röhre mit Haltepunkten. Wieder gingen die Wissenschaftler auf Suche nach Spuren, Jonas gesellte sich zu Reno, der sich weiter umsah. Hier unten war es kalt und selbst in seinem Anzug war es unangenehm.

„Was denkst du, wie tief geht es nach unten?“

Reno leuchtete zu einem der beiden Tunnel. „Ich wünschte, der Computer hätte das erkunden können. Ich fühle mich in der Enge nicht wohl.“ Sie plauderten noch einen Moment, bis plötzlich ein Schrei ertönte.

Ruckartig fuhren Reno und Jonas herum und leuchteten die kleine Plattform aus. Nick und Johann standen dicht zusammen, während der andere Mann, dessen Name sich Jonas nicht merken konnte, in einem der Tunnel gezogen wurde.

„Was?“, schrie Reno und rannte zu ihm. Der Wissenschaftler strampelte, während er krampfhaft versuchte, sich festzuhalten. Ihre Blicke trafen sich und etwas schlängelte sich über den Körper des Mannes, als er nach unten gezogen wurde. Ein panischer Schrei ertönte über das Headset, dann herrschte Stille.

Für einen Herzschlag waren alle wie gelähmt, bis Reno sich straffte. „Nach oben. Los macht schon. Los.“ Sein Blick wanderte zu Jonas. „Du sicherst den Aufstieg.“

Dieser nickte wie betäubt. „Was ist mit dem Mann? Was war das?“

Darauf hatte auch Reno keine Antwort. Dass hier etwas nicht stimmte, war ihm klar. Es fehlten drei Leute, auch wenn ihm Inka versuchte einzureden, sie wären auf einer Mission.

„Wir müssen ihn retten“, mischte sich nun Nick ein.

„Nein, sein Lebenszeichen ist erloschen. Wir gehen alle nach oben und dann organisieren wir Waffen und einen Trupp Soldaten. Los jetzt, bevor es wiederkommt.“

Das reichte, um die Menschen anzutreiben.

 

Schweißgebadet und zitternd standen sie später wieder auf dem Vorplatz der Höhle. Dort wurden sie bereits von Inka und Sebastian erwartet. „Was geht da unten vor? Was war das?“, herrschte Reno die beiden an. „In mein Büro“, verlangte Sebastian.

Reno riss den Helm vom Kopf und funkelte die beiden an, dann jedoch folgte er ihnen. Vorher wandte er sich noch an Jonas. „Kein Wort zu niemanden über den Vorfall – zumindest vorerst. Lasst euch untersuchen.“

Inka nickte. „Sprechen Sie über den Vorfall, sind Sie alle entlassen und kehren auf die Erde zurück.“ Ihr Blick war hart und Jonas knirschte mit den Zähnen. Auch wenn er nicht einverstanden war, so nickte er.

Zusammen mit Nick, Johann und den beiden anderen Wissenschaftlern ging er auf die Krankenstation. Niemand von ihnen sprach ein Wort, alle waren wie betäubt.

Hier lebte ein Monster, welches Menschen tötete. Wann würde es sie holen?

 

Die Untersuchungen gingen schnell und sie durften in ihre Quartiere zurück. Unruhig tigerte Jonas umher. Immer wieder funkte er Reno an, bekam aber keine Antwort. Was würde als Nächstes geschehen? Würde man hinabsteigen, um den Schacht zu versiegeln? Was war, wenn das Monster schon hier war und auf die nächste Mahlzeit wartete?

Die Zeit zog sich dahin und Jonas hatte das Gefühl, an die Decke zu gehen. Er konnte nicht länger herumsitzen und warten. Als er einen Blick auf dem Fenster warf, war es ihm, als würde ein Schatten vorbeihuschen. Dieser kam eindeutig aus Richtung der Höhle.

Leise öffnete er die Tür und späte in den Flur. Niemand war zu sehen und so huschte er nach draußen. Die Wissenschaftler waren alle bei der Arbeit, und niemand bewachte den Eingang zur Höhle. Was auf jeden Fall ein Fehler war, für ihn Jonas war es jedoch gut. Obwohl er den Schatten nicht mehr sah, bewegte er sich immer weiter zum Eingang. Er musste nachsehen, was es gewesen war.

„Du musst dich beweisen“, murmelte Jonas, auch wenn es ein Fehler war. Mit dem Schritt in die Höhle konnte er seine Karriere beenden. Trotzdem atmete er tief ein und zog sich in einen Anzug an, um nach unten zu gehen.

Er war noch nie alleine geklettert und es bereitete ihm große Sorge, nun gab es jedoch kein Zurück mehr. Er setzte sich den Helm auf und schaltete das Licht an, dann begann er mit dem Abstieg.

Nichts rührte sich, Jonas hörte lediglich seinen eigenen Atem, der in seinen Ohren dröhnte. Dann endlich hatte er die erste Plattform erreicht. Dort ließ er sich schwer atmend nieder.

Das war anstrengender als gedacht – er würde jedoch nicht aufgeben. Ein Schatten huschte an ihm vorbei, blieb dabei aber immer außerhalb des Lichtkegels. „Wer ist da?“, rief er.

Eine Antwort bekam er nicht. „Zeig dich!“

Rechts neben ihm bewegte sich etwas und er leuchtete dorthin. Ein grauer Umriss war zu erkennen, der nichts Menschliches an sich hatte.

„Wer bist du?“ Jonas hielt den Atem an. Er durfte jetzt keine Angst zeigen. Der Schatten zerfloss wie Wasser und kam näher. Er wurde wieder fester und Jonas zwang sich, nicht zurückzuweichen.

Der Schatten schmolz etwas und verformte sich, bis er die eine grobe Darstellung eines Menschen war.

„Was bist du?“

Der Schatten streckte eine Hand aus und berührte Jonas am Arm. Dieser wollte panisch zurückweichen und verfluchte seine eigene Dummheit.

„Luzil von den Crenaxi“, schnarrte eine Stimme. Sie kam nicht von vorn, sondern aus seinem Kopf.

„Ihr seid Eindringlinge.“

Den Worten folgte eine Reihe von Schmerzen in seinem Geist und Jonas wand sich unter der Pein.

„Wir wussten nicht, dass es hier Leben gibt.“

Luzil hielt ihn erbarmungslos fest umklammert. „Wir leben hier und ihr seid Eindringlinge in unserem Reich.“

Stöhnend blickte Jonas auf seinen Arm hinab. Die Worte waren abgehackt, dennoch verstand er ihn gut.

„Wir wussten nicht, dass hier eine andere Lebensform gibt. Bitte tue uns nichts. Wir sind nicht eure Feinde. Wir stammen von der Erde.“

Ihm war bewusst, dass er plapperte, aber er wusste nicht, was er tun sollte. Über Funk konnte er keine Hilfe rufen, denn das Gerät funktionierte nicht.

„Wir, die Crenaxi leben schon Ewigkeiten hier. Sag deinem Anführer, dass ihr gehen müsst.“ Erneut schwappten, empfingen über Jonas hinweg und er spürte das Ende von drei Menschen.

Hier waren also noch mehr gestorben.

„Sag es ihr selber. Sie würde sicher gerne mit dir reden.“

Das war alles verrückt und Jonas hatte das Gefühl, gleich aus einem Traum zu erwachen. Er hatte als erste Kontakt mit einer außerirdischen Lebensform.

Der Griff lockerte sich und Luzil trat einen Schritt zurück.

„Gut. Sie soll in einer Stunde hier sein. Eure toten Körper zerstören unseren Lebensraum.“ Damit war er verschwunden. Zurück blieb Jonas, der am ganzen Körper zitterte.

 

Der Aufstieg dauerte ewig und er fragte sich, wie er den anderen erklären sollte, was geschehen war. Würde man ihn einsperren oder auf die Erde zurückschicken?

Zu seiner großen Überraschung erwarteten ihn Inka Lorenzen, Sebastian Miner und Reno Denning an der Oberfläche.

Sebastians Miene war unergründlich, während Inka nervös wirkte. Reno hingegen war stinksauer.

„Wir haben alles gesehen. Was wollte der Schatten?“, fragte Sebastian.

Hilflos sah Jonas sich um, sein Mund fühlte sich trocken an. „Sein Name ist Luzil von den Crenaxi. Sie sehen uns als Eindringlinge und möchten mit meinem Anführer sprechen“, erklärte er.

„Wie haben sie mit dir kommuniziert?“, wollte Inka wissen.

„Seine Stimme war in meinem Kopf. Er gab uns eine Stunde. Du musst gehen.“  Damit sah er Inka an, die überrascht die Augen aufriss. Ihr Blick zuckte zu Sebastian. „Ich komme mit“, sagte dieser fest.

„Sie überwachen den Eingang“, wandte er sich an Reno.

Wenig später waren Inka und Sebastian in Anzüge gekleidet und es konnte hinab in die Tiefe gehen. Wohl fühlten sich beide nicht und am liebsten hätten sie abgelehnt, aber Flucht war unmöglich, denn dann müssten sie die Basis verlassen und das kam nicht infrage.

Der Abstieg war mühsam und Inka schwitzte in ihrem Anzug. Sebastian erging es nicht besser.

Schon bald kamen sie auf die Plattform und erwarteten mit Spannung, was als Nächstes passieren würde.

Drei Schatten näherten sich ihnen wie schon zu vor Jonas.

Gespannt blieben die zwei Menschen stehen. Inka zitterte vor Anspannung – dies war der erste Kontakt mit einer fremden Rasse.

Die Schatten kamen näher und verschmolzen, wie sie es bereits gesehen hatten dann legten sie sich um ihre Körper. Panisch schnappte Inka nach Luft und auch Sebastian stieß einen Schrei aus.

„Seid ihr die Anführer?“ Die tiefe Stimme schien ihre Helme zu erfüllen und drang aus allen Richtungen.

„Ja, wir befehligen die Mondkolonie. Mein Name ist Sebastian und das ist Inka.“

„Gut“, schnarrte die Stimme. Ich bin Galvon und das ist Arzas. Wir sprechen für die Crenaxi. Ihr seid Eindringlinge.“

Inka leckte sich die trockenen Lippen und sah zu Sebastian. „Das tut uns leid. Wir wussten nicht, dass es Leben auf dem Mond gibt. Wir können aber nicht gehen“, sagte er.

Einen Moment herrschte Schweigen und Sebastian spürte fremde Empfindungen in seinem Kopf.

„Ihr seid hier gestrandet?“

„Ja“, gab Sebastian zurück.

„Wenn wir euch helfen, geht ihr denn? Ich würde euch gerne alle töten, aber eure toten Körper sind Gift für uns“, brummte Galvon.

„Dann habt ihr unsere Leite getötet?“ Als Antwort spürten beide den Schmerz in ihrem Kopf.

Inka ging halb in die Knie und seufzte.

„Verschwindet. Dieser Planet gehört uns!“, mischte sich Arzas ein.

„Wir können nicht“, hielt Sebastian dagegen.

„Wir sorgen dafür, dass ihr es könnt und dann kommt ihr nicht wieder, oder wir töten euch alle.“

 

Dies markierte den ersten Schritt in Richtung einer neuen Zukunft für das menschliche Volk. Viele Tage weiterer Verhandlungen folgten. Die Opfer wurden von beiden Seiten akzeptiert, denn ohne Opfer ging es nicht.

Jonas erhielt eine Beförderung und durfte fliegen, denn die Crenaxi waren ein hochentwickeltes Volk, welches sich zurückgezogen hatte und das Leben in der Abgeschiedenheit genoss. Ihre Technik war weit entwickelt und den Menschen voraus.

 

Dank der Crenaxi konnten sie nun ein ganz anderes Leben führen. Ihre Entwicklung hatte einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht und ihnen eine ganz neue Perspektive eröffnet.

Ohne das Erlebnis auf der Mondkolonie wäre er Ash nie begegnet. Wahrscheinlich wären sie heute auch nicht hier, die Menschheit in den Sternen.

„Wir sollten ihnen danken. Sie wollten ihre Ruhe und gaben uns doch so viel“, meinte Jonas.

„Das ist eine gute Idee, mein Schatz. Und jetzt komm, wir wollen feiern“, sagte Ash.

„Zudem danke ich ihnen, sonst wärst du nicht hier.“ Damit küsste er Jonas auf die Lippen und zusammen schlenderten sie ins Wohnzimmer und zu ihren Gästen.

 

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 43

 

Fehlerfrei

 

„Liebe Nummer 24601, an diesem Freitag, den dreizehnten November, möchten das System und ich dir herzlich zur Veröffentlichung des Tagebuches deines zweiten Lebens gratulieren. Zudem wünschen wir dir alles Gute für dein drittes Leben, das heute mit deinem zwanzigsten Geburtstag beginnt. Es erfreut uns zutiefst, ein solch ehrenhaftes Mitglied unserer perfekten Gesellschaft offiziell willkommen heißen zu dürfen. Der Prozess der Rehabilitierung eines Unruhestifters ist hiermit abgeschlossen und damit können wir dich, Nummer 24601, im Kreise der Vollkommenen aufnehmen.“ Als ich vom Geplauder des Meldeapparates aufwachte, wollte ich ihn zuerst in Gedanken anschreien, musste dann jedoch grinsen. Ich war nun zwanzig Jahre alt und damit nicht mehr diejenige, die ich einst gewesen war. Ich war nun fehlerlos und konnte mein drittes Leben führen, wie man es mir in meinen anderen nie erlaubt hatte.

Zwanzig Jahre. Es war eine unfassbare lange Zeit gewesen und obwohl ich am Anfang dem System nur Misstrauen gegenübergebracht hatte, ging ich vollkommen darin auf. All die wunderschönen Momente in meinem zweiten Leben! All die fabelhaften Momente, die mich in meinem dritten erwarten würden! Die Opfer, die ich dafür bringen musste, waren es wert. Das zweiundzwanzigste Jahrhundert war ein wahres Wunderwerk.

„Ich danke dir, System“, flüsterte ich lächelnd. Der Raum erstrahlte in glänzendem Weiß und vor Aufregung konnte ich kaum nicht mehr liegen bleiben. Ich sprang aus dem Bett hoch und landete zielsicher auf meinen Füßen, während sich das Möbelstück in Luft auflöste. Ich legte den Kopf in den Nacken und ließ das gleißende Licht mein Gesicht streicheln. Das hier war alles, was ich mir jemals wünschen würde.

Entfernte Erinnerungen blitzen vor meinem inneren Auge auf. Schreiende Stimmen, grausames Gelächter, stechender Schmerz. Mit einem Ruck riss ich mich aus dem Gedanken und stolperte beinahe vornüber. Nein, diese Zeit war nun tot. Mein altes Ich lebte nicht mehr und genau so war es gut. Wehmütig blickte ich hinauf. Das gleißende Licht war fort und die Tapeten hatten ein mattes Grau angenommen. Ich durfte einfach nicht an die Vergangenheit denken. Nicht an die schlechten, nicht an die guten Momente. Wenn ich mein drittes Leben behalten wollte, musste ich die Welt so hinnehmen, wie sie war. Ich war nicht mehr dafür geschaffen, gegen Regeln zu rebellieren. Ich war nun wie alle anderen, so wie es immer hätte sein sollten.

Ich wollte gerade schon auf die Tür zugehen, als ich bemerkte, dass ich immer noch meinen Schlafanzug anhatte. Mit diesem lächerlichen Ding konnte ich nicht schon wieder aus dem Haus rennen, hatte ich es mir doch erst vor kurzem mühsam abgewöhnt. Ich dachte an ein weißes Hemd mit einem dunkelblauen Rock dazu. Vielleicht noch eine rote Schleife im Haar? Ja, das würde passen. Und schon hatte ich es an. Das System hatte meine üblichen weißen Schuhe mit den flachen Absätzen und der kleinen Bronze Schnalle selbst hinzugefügt. Während mich diese Gedankenkontrolle normalerweise an den Rand des Wahnsinns trieb, konnte ich heute nur darüber lachen. Erstens war es nur hilfreich gewesen und zweitens war heute ein viel zu schöner Tag, um mich darüber zu ärgern.

„Was vergessen?“, fragte ich zur Sicherheit noch einmal. Ohne dass mir der Meldeapparat antwortete, ließ er die Tür aufschwingen. „Also nicht, auch gut.“

Leise vor mir hin summend rannte ich den blutroten Weg entlang, der mich heute ausnahmsweise zuerst zur Buchhandlung führen würde. Wieder ein Teil der Technik dieses System, den ich liebte. Niemals wieder irgendeiner Nervensäge über den Weg laufen oder sich gar verirren! Er führte überallhin, wohin ich wollte. Ich konnte nur hämisch lachen über eine der Anekdoten, die mir der Meldeapparat erzählt hatte. Mein Vorgänger schien offenbar ein schräger Vogel gewesen zu sein, denn er hatte sich gewünscht, auf dem Weg bis zum Ende seines Lebens laufen zu können. Langsam konnte mich solch eine Dämlichkeit nicht mehr erschrecken, solche Menschen hatten es nicht anders verdient. Wenn das System sagte, der Weg würde überallhin führen, dann stimmte es auch. Vertrauen war hier eine der wichtigsten Gaben; ich besaß sie zum Glück.

* * *

Im Buchladen angekommen, ging ich sofort zu den Neuerscheinungen herüber. Seufzend ging ich diese dünnen Heftchen durch, ich wünschte, sie hätten kein Verbot für neue Romane erlassen. Als sich der Raum verdunkelte, seufzte ich abermals. „Keine Sorge, ich mag Klassiker sowieso lieber, was soll ich denn mit irgendwelchen modernen Geschichten?“ Endlich nahm die Umgebung wieder eine normale Farbe an. Ich hätte sowieso keine Zeit für irgendwelche neuartigen Geschichten gehabt. Tagebücher waren etwas anderes. Man konnte viel vom System, von Leben und auch von den Menschen lernen. Und bei einigem, was ich dort zu lesen bekam, fragte ich mich längst nicht mehr, wieso wir nie mehr als tausend Leute auf der Erde waren. Und dabei stammten die Tagebücher nur von Leuten, die ihr gesamtes zweites Leben hinter sich gebracht hatten!

„Das Tagebuch meines zweiten Lebens. Vom Unruhestifter zur Theaterlegende. Geschrieben von Nummer 24601. Veröffentlicht am Freitag, den dreizehnten November 2150.“ Es war zwar nicht der Titel, den ich gewählt hätte, aber man sollte schließlich dankbar sein.

Als ich mir so viele Bücher auf den Arm gestapelt hatte, wie ich tragen konnte, machte ich mich auf den Weg zum Theater. Meine Kollegen würden sich bestimmt schon fragen, wo ich abgeblieben war. Pünktlichkeit hatte sich zwar immer noch nicht zu einem meiner Talente entwickelt, aber es wurde von Jahrzehnt zu Jahrzehnt besser.

 

 

* * *

 

„Ich weiß, sie sind etwas lang geraten, aber ich besitze nun eben einmal schriftstellerisches Talent.“ Und vor allem wollte ich mein zweites Leben so perfekt inszenieren, wie es nur ging. Da ich sowohl Schauspielerin war, als auch das gesamte Theaterstück nach Vorgaben des Systems umgeschrieben hatte, war es mir bestimmt gut gelungen. Immerhin konnte ein Tagebuch kaum schwerer sein als ein berühmtes teils viel zu systemkritisches Stück umzuschreiben, aus dem jeder Zusammenhang zur Rebellion gekürzt werden musste.

Als wäre das hier mein Zuhause, steuerte ich auf den Probenraum zu. Ich kannte jeden Winkel dieses Gebäudes und ich liebte es mit ganzem Herzen. Zwar hatte ich bis jetzt keinen einzigen Auftritt gehabt, doch genau das würde mich heute Abend erwarten und ab heute jeden fünften und zehnten Tag der Woche. Zwei Rollen durfte ich sogar spielen und obwohl ich jedes Wort, jede Note und sogar jedes Gefühl verinnerlicht hatte, war ich aufgeregter denn je.

„Oh, meine Liebe, du kannst dir kaum vorstellen, wie sehr ich mich auf diesen Tag gefreut habe.“ Nummer 22444 würde nun bestimmt eine seiner Reden anstimmen, denen man nicht zuhören brauchte. Er war zwar der freundlichste Mensch auf Erden, doch seine altmodische und übertriebene Art war manchmal zu viel für mich. „Nun lass es uns auf den Sesseln bequem machen und schauen, was du Schönes aus deinem Meisterwerk vorzutragen hast, meine Kleine.“

Ich lächelte gequält. Ich hatte ihn schon so oft ermahnt, dass ich mit Sicherheit weder seine Liebe noch seine Kleine war, aber daran konnte man wenig ändern.

„Nun denn, es ist an der Zeit, ein paar Lobesworte auszusprechen …“, begann er und redete einfach weiter, während ich mich nicht darum kümmerte. „Lass uns das Buch nun endlich aufschlagen!“, beendete er die minutenlange Ansprache.

Bevor ich darauf reagieren konnte, hatte Nummer 22444 schon mein Tagebuch irgendwo am Ende aufgeschlagen. „Die Stunden schlichen sich dahin und die Abenddämmerung nahm ihren Platz am Himmelszelt ein.“ Er lächelte.

Offensichtlich verstand er nicht, dass ich nur seinen Stil kopiert hatte, um ihm zu imponieren. Besser war es, eine Autorität wie ihn sollte man schließlich nicht gegen sich aufbringen.

„Ein alles wirkte durchaus herzerwärmend heute, vor allem das Verhalten meiner neuen Freunde. Solche Menschen, um sich zu haben, ist durchaus ein Geschenk.“ Mit Wohlwollen erinnerte ich mich an diesen Tag. Man hatte mir zu dem Zeitpunkt die Rolle eines kleinen und unfassbar unwichtigen Mädchens im Stück versprochen. Danach hatte es nur zwei Monate gedauert, bis ich endlich zu einer Hauptrolle aufgestiegen war, aber dennoch würde dieser Augenblick des Triumphs mir ewig in Erinnerung bleiben. Immerhin hatten sie wegen mir das Stück nun schon seit fast einem Vierteljahr pausiert, damit ich direkt im dritten Leben damit beginnen konnte.

Nummer 22444 warf mir einen kurzen herzlichen Blick zu, dann las er weiter vor. „Ein Traum scheint seine Erfüllung zu finden. Ich habe die Bilder der letzten Schauspielerin gesehen, sie ist derart schlecht gewesen, dass ich wohl keine Angst haben muss, sie nicht um Meilen zu übertrumpfen.“ Blässe trat in sein Gesicht und als ich mich umsah, hatten die meisten ihren Kopf zur Seite gedreht, als müssten sie ganz dringend etwas anderes anschauen. Der Raum verdunkelte sich einige Augenblicke lang.

Ich schluckte. Diese Stelle hatte ich eigentlich gestrichen, daran erinnerte ich mich noch genau. Hatte das System vielleicht gemeint, es wäre trotzdem wichtig? Eigentlich war es gutes Marketing, wer das hier las, wusste dann gleich von meinem Schauspieltalent. Bestimmt hatten sie es deshalb hinzugefügt; so schlimm war es eigentlich nicht. Dieser betretene Ausdruck in den Gesichtern kam vermutlich nur von der Trauer, so etwas war vollkommen normal.

Nach einem tiefen Atemzug schlug Nummer 22444 ein paar Seiten um. Besser war es, gleich würden wir wieder alle herzlich lachen. „Welch ein tragischer Tag ist heute doch, nun, wo Nummer 100 von uns gegangen ist. Möge er in Frieden ruhen, ich habe mir nie einen besseren Freund vorstellen können. Seine Zeit ist nun gekommen und dennoch wird er in unser aller Erinnerung ewig weiterleben.“

Die Mienen um mich herum entspannten sich, doch ich runzelte die Stirn. Kam es mir nur so vor, oder starben hier auffallend viele Leute, obwohl die Technik ein ewiges Leben ermöglichte? Wieso starben Menschen überhaupt in einer perfekten Welt? Plötzlich umgab uns ein tiefes Grau. Ich schloss die Augen. Hatte ich zu viel gedacht? Ich musste lernen, mich an den Leitspruch meiner neuen Rolle zu halten: Denken ist überflüssig. Ich wusste intuitiv, was zu tun war, Fragen galt es nicht zu stellen. Alles hatte seinen Sinn und ich musste nur meine Pflicht erfüllen.

Ich öffnete die Augen und erblickte leuchtend weiße Tapeten. Auf die Technik dieser Welt war einfach immer Verlass. Ich musste in sie vertrauen, wenn ich leben wollte.

Nummer 22444, der immer noch verwirrt schien, las nun den nächsten Absatz. „Dennoch – er war ein Zweifler, selbst nach allem – hat er es in gewisser Weise verdient. Und nun, wo ich seinen Platz einnehme, müssen sich die Zuschauer nicht mit einem Schauspieler herumschlagen, der die Einfachheit seiner Rolle nicht wirklich versteht. Es ist nicht schwer, nicht zu zweifeln. Ich frage mich, wie dumm er wohl gewesen sein muss, um es trotzdem getan zu haben.“

Aus Leichtsinn hatte ich die Zeilen im Kopf zusammengedichtet, bevor mir die Brutalität meiner Worte aufgefallen war und ich stattdessen eine kleine Lobeshymne auf ihn geschrieben hatte. Keines von beiden war eine Lüge gewesen – er hatte alles Lob der Welt für seine Liebenswürdigkeit verdient, aber auch Tadel für seine Zweifelhaftigkeit – doch nun hatte das System es offenbar wieder ausgetauscht. Wieso nur? Wollten sie mich bestrafen? Wollten sie, dass meine Truppe mich hasste? Dieses abscheuliche System! Der Raum wurde rabenschwarz und ich hörte entsetzte Schreie um mich herum. Denk an etwas Gutes! Denk nicht an dieses verdammte System, denk an etwas Gutes!

Ich griff nach der nächstbesten Erinnerung. Mein erster Tag in dieser Welt. Die neue Chance, diese unglaubliche Freude und letztendlich der Schwur, dem System ewig treu zu bleiben. Ich glaubte an meinen Schwur. Ja, ich glaubte daran. Langsam erhellte sich der Raum wieder und ich konnte die Blicke meiner Truppe erkennen. Kein Entsetzen, keine Betretenheit mehr, nein, es sah ganz nach Mitleid aus. Fast wäre es vorbei gewesen. Mein Herz schlug mir noch immer bis zum Hals. Das letzte Mal, als alles rabenschwarz gewesen war, war Nummer 100 verstorben. Fast hätte ich sein Schicksal geteilt und das nur wegen meiner eigenen Unbedachtheit.­­

 

* * *

Nach diesem Schock wollte keiner von uns mehr aus meinem Tagebuch hören. Ihre Blicke blieben bis zur Vorstellung eine Mischung aus Mitleid und Furcht. Einer von ihnen schleppte offenbar noch etwas anderes mit, denn die blütenweiße Farbe reiner Gedanken erreichte der Raum nicht.

Ich machte meine Stimmübungen und versuchte mich auf die Arbeit zu fokussieren. Doch weder mein Herz noch meine Gedanken fanden jetzt noch Ruhe. Es war, als wäre ich wieder so verwundbar wie im ersten Leben. Natürlich, ich konnte nicht durch Alter, Krankheit oder Unfälle sterben, aber ein Satz mehr und … und …

Bittere Tränen rannen mir Wangen entlang und ich wimmerte leise. Es wurde dunkler und dunkler und ich wollte es einfach geschehen lassen. Wenn das System so eine gute Technik besaß, warum erschuf es sich dann nicht perfekte Menschen, statt uns geradebiegen zu wollen? Früher hatte ich geglaubt, so etwas wäre unmöglich, doch mein Gefühl sagte mir, dass ich mich getäuscht hatte. Es gab einen anderen Grund. Doch ich durfte nicht danach fragen. Wieso eigentlich nicht?

„In zehn Minuten treten wir auf.“ Die Stimme von Nummer 22444 riss mich aus den Gedanken. Vielleicht rettete er sogar mein Leben damit, ich konnte es nicht genau sagen. Ich sollte – nein, ich musste – mich revanchieren. Als Nummer 100 gestorben war, hätte ich ihn aufmuntern sollen, anstatt ihn allein zu lassen. Ich durfte keim zweites Mal diesen Fehler machen. Fehler? Ja, Fehler, letztendlich war nicht einmal ich fehlerlos, so sehr ich es auch wollte.

„Können wir sprechen?“ Meine Stimme zitterte.

Verwundert drehte er sich um. Sein Blick jagte mir einen Schauer durch den Körper. Er war es, der die Düsterheit verursacht hatte, noch bevor ich sie verschlimmert hatte. „Es ist spät.“ Und er verschwand auch wieder.

Ich atmete tief ein und aus und konzentrierte mich auf die Rolle. Gleich musste ich auf der Bühne sein. Ich dachte daran, wie ich aussehen musste, und nahm auch gleich die passende Gestalt an. Dieses Herumwechseln bereitete mir normalerweise unglaubliches Vergnügen, dieses Mal aber nicht. Was gab es auch Schönes an diesem Herumspielen am Aussehen? Manchmal erschien mir die Technik beinahe lächerlich, so unwichtig waren die Gründe manchmal, wegen denen ich sie nutzte.

 

* * *

Auf der Bühne waren alle Zweifel vergessen. Ich gehörte dorthin, was fühlte ich. Die Rolle, die ich spielte, war meine einzige Aufgabe. Ich wollte besser sein als alle, die sie vor mir gespielt hatten. Ich musste besser sein. Und irgendwann würde ich fehlerfrei sein.

* * *

Kurz vor meiner letzten Umwandlung traf ich auf Nummer 22444 hinter der Bühne. Er weinte, so wie ich es vor dem Auftritt getan hatte. Jetzt jedoch war ich nicht mehr voller Zweifel wie zu dem Zeitpunkt. In der Ecke sitzend mit dem Gesicht in den Händen war er schlichtweg jämmerlich.

 „Was ist los?“ Argwöhnisch, beinahe drohend klang ich und erschrak. Es war fast, als würden wir uns wie im Stück gegenüberstehen – er, der gnädige Protagonist, der zurückgezogen und freundlich war, und ich, der Antagonist, der geradeheraus und unerbittlich war.

„Durchaus nichts“, kam prompt die Antwort seiner tränenerstickten Stimme. Beinahe konnte ich einen Vorwurf heraushören.

„Was ist los?“, wiederholte ich noch einmal geduldig, aber mit Nachdruck.

„Wirst du es eines Tages über mich sagen?“ Er klang verletzt.

„Was?“ Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.

„Ähnliche Aussagen wie über die anderen. Die Verstorbenen, meine ich. Durchaus, sie waren nicht fehlerfrei – niemand kann fehlerfrei sein – aber solche Worte haben sie nicht verdient. Habe ich sie verdient?“

„Ich muss dich leider korrigieren. Man kann fehlerfrei sein. Zudem weiß ich nicht, weshalb es dich interessiert, was nach deinem Tod über dich geschrieben wird.“ Ich wollte diesem Unsinn ein Ende setzen.

Er runzelte die Stirn. „Selbst deinen besten Freund hast du nur als minderwertig bezeichnet, was wirst du erst über mich sagen? Es trifft mich, ich weiß, das sollte es nicht, doch ich kann es nicht ändern.“

Ich lachte kurz und spöttisch. „Über dich kann ich nicht sagen, dass du deine Rolle schlecht spielst. Genauso lächerlich wie sie bist du allemal.“ Die Worte waren mir über die Lippen gekommen, bevor ich sie hatte unterdrücken können.

Er warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte, dann stand er auf und ging. Gleich würden wir wieder voreinander stehen, nur würde ich in meiner anderen Rolle sein.

* * *

Selbst auf der Bühne war die Spannung zu spüren. Ich sollte seine Tochter spielen und doch wirkte es mehr so, als hätte ich ihn nie gekannt. Ich war zu durcheinander, um mich wirklich konzentrieren zu können. Dass es dunkler und dunkler wurde, machte alles nicht besser. Ich musste mit ihm sprechen. Er durfte nicht diesen Gedanken nachhängen, sonst würde noch etwas passieren.

Gerade als ich meinen Mund öffnen wollte, wurde der Himmel über der Freilichtbühne rabenschwarz. Es war zu spät.

* * *

Alle applaudierten, während ich zu seinen Füßen hockte und bitterlich weinte. Das alles durfte nicht wahr sein! Womit hatte er das nur verdient? Er jetzt fiel mir auf, wie viel er mir bedeutet hatte. Ich hätte das Stück abbrechen sollen, ihn beruhigen sollen. Doch was hatte ich getan? Was nützte mir meine Perfektion, wenn ich einen Freund nach dem anderen verlor? Denn ja, trotz aller Peinlichkeiten war er ein echter Freund für mich gewesen. Von mir konnte ich sowas nicht behaupten. Es gab Wichtigeres als Ruhm und Ehre und doch hatte ich alles andere ignoriert.

„Liebe Nummer 24601, das System und ich haben einen Auftrag für dich. Wir haben entschlossen, dass eine deiner Rollen zur Wichtigsten im Stück umgebaut werden soll und demnach der Protagonist aus diesem nach Möglichkeiten gekürzt werden soll. Wir freuen uns, dir mitteilen zu können, dass du diesen Auftrag übernehmen darfst.“ Der Meldeapparat war so ruhig wie eh und je, während in mir ein Tornado tobte.

Gerade war ein Mensch gestorben – vielleicht ein Zweifler, dafür aber ein echter Freund – und sie boten mir mehr Bühnenzeit an? Ich zitterte nicht mehr nur vor Verzweiflung. Meine Hände ballten sich wie von selbst und stünde mir das System in den Moment gegenüber, so hätte ich es mit Sicherheit geschlagen.

„Nimmst du an?“, erklang wieder diese scheußlich-monotone Stimme.

„Nehme ich an?“ Es war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Ich wusste nicht weshalb, doch offenbar schien das System mir noch eine Chance zu geben. „Nehme ich an?“ Ich wurde lauter und drückte mich mit meinen Fäusten hoch. Jeder Muskel meiner Körpers war angespannt. „Nehme ich an?“ Es war beinahe ein Schrei. Meine Stimme zitterte, hatte aber längst nicht ihre Kraft verloren. „Nein, es ist mir egal!“

Der Himmel war rabenschwarz.

 

ENDE

Beitrag 44

 

Durch den Fluss

 

Tag 1

Ich weiß nicht, wo ich bin, und ich weiß nicht, wer ich bin. Ich bin. Mein Gehirn funktioniert. Aber meine Sinne sind taub. Ich höre nichts, ich sehe nichts, ich rieche nichts und ich fühle auch nichts.

Tag 2

Erinnerungsfetzen tauchen auf. Etwas rauschte auf mich zu. Riss mich mit. Hüllte mich ein und nahm mir meine Sinne. Ich landete in einem schwarzen Nichts, aus dem ich nur langsam wiederauftauche. Es war laut. Und es war groß. Gewaltig. Es hat nicht nur mich getroffen, sondern alle Menschen, die sich um mich herum befunden haben. Vielleicht sogar noch viele mehr.

Tag 3

Es war Wasser. Und Steine. Und Lichtblitze. Alles auf einmal. Wirbelnd. Ich bin eine Frau. Eine junge Frau. Das weiß ich jetzt. Ich streiche über meine Arme. Meine Haut ist nicht glatt. Sie besteht aus tausend Narben. Woher sie kommen, weiß ich nicht. Für die Katastrophe, an die ich mich erinnere, sind sie schon zu gut verheilt. Oder ist die Katastrophe schon länger her, als ich denke? Was habe ich in der Zeit gemacht? Mich der Schwärze hingegeben? Wie lange hat die Schwärze gedauert? Haben mir andere Menschen geholfen, wieder gesund zu werden? Bin ich überhaupt gesund? Und bin ich noch die, die ich einmal war? Auf jeden Fall bin ich müde. Unglaublich müde. Das fühle ich immerhin. Immerhin etwas.

 

Tag 4

Ich habe einen anderen Menschen gesehen. Das bedeutet zweierlei. Erstens, ich bin nicht allein und habe nicht als Einzige überlebt. Zweitens, ich kann sehen, hören und fühlen. Ich konnte diese andere Person nicht genau erkennen, aber ich konnte etwas Weißes sehen, das auf mich zu glitt und mit mir sprach. Außerdem brachte diese Person einen Geruch mit. Nicht unangenehm. Aber auch nicht zuordenbar und daher doch irgendwie unangenehm. Bedrohlich, wie meine ganze Lage, die ich immer noch nicht einordnen kann. Ich spüre, wie ich mir erneut entgleite. Die Schwärze lockt. Ich schließe die Augen und gebe mich ihr hin.

 

Tag 5

Ich wache wieder auf, möchte die Augen aber noch nicht öffnen. Es riecht gut. Als stünde ich zwischen blühenden Apfelbäumen. Das möchte ich gerne noch ein wenig festhalten. Aber ich freue mich auch, dass ich nicht allein auf dieser Welt bin. Und nun bin ich mir auch sicher, dass ich mich nicht selbst gerettet habe. Ich weiß immer noch nicht, wo ich bin. Es ist kein Krankenhaus. Viel zu düster ist es hier. Aber jetzt, wo ich meine Sinne wieder nutzen kann, nehme ich auch wahr, dass ich in einem Bett liege. Genauer gesagt auf einer dunklen, einfachen Liege in einem dunklen Raum, zugedeckt mit einer einfachen grauen Decke. Dies ist auch kein Lazarett. Es sieht eher aus, wie eine Höhle, ein Keller. Wo bin ich hier nur?

 

Tag 6

Ich habe es gewagt, mich zu befühlen. Nicht nur meine vernarbten Arme. Meinen ganzen Körper. Meinen Schädel, mein Gesicht, meine Schultern, meinen Rumpf, meine Beine. Es ist, als müsste ich alles neu kennenlernen. Ich trage nirgendwo Verbände. Und doch fühlt sich mein Körper zerschunden an. Keinen Körperteil kann ich richtig bewegen. Und jede kleine Bewegung wird begleitet von einem großen Schmerz. Ich fühle mich allein. Wo ist der Mensch, den ich zu sehen geglaubt habe? Und was ist mit weiteren Menschen? Verletzten, Betreuern. Oder was auch immer. Ich fühle mich so allein. Ich würde gerne mit jemandem reden. Mehr verstehen. Aber da ist niemand. Also versuche ich, mich zu erheben. Lege die Hände neben meine Hüfte und drücke mich hoch. Das klappt nicht. Also drehe ich mich zur Seite und versuche so, mich hochzudrücken. Nach mehreren Versuchen sitze ich auf der Pritsche. Keuchend. Müde. Ausgelaugt. Daher schließe ich die Augen, bis ich mich wieder etwas besser fühle. Damit ich mich besser umschauen kann.

Die Wände sind tatsächlich aus Stein. Grob ausgehauen, wie in einer Höhle. Der Boden ist glatt. Er sieht aus, als wäre er aus Linoleum. Linoleum. Das gibt es doch längst nicht mehr. Ich erschrecke so sehr, dass ich mich wieder zurückfallen lasse. Mich lieber wieder in die tiefschwarze Dunkelheit zurückziehe.

 

Tag 7

Ich muss lange geschlafen haben. Lang und tief. Als wäre ich wieder in diesen komatösen Zustand zurückgeprallt, in dem ich zuvor lange Zeit verbracht habe. Könnte es sein, dass einen ein Koma in die Vergangenheit katapultiert?

NEIN - OH NEIN

Deutlichere Erinnerungen prasseln auf mich ein. Ich komme nicht aus dieser Zeit. Ich komme aus dem Jahr 2150. Mit einer Mission. Ich sollte zurückkehren in die Zeit vor der großen Katastrophe. Um Kenntnisse zu sammeln, die in der Zukunft genutzt werden sollten. Damit später eine Gruppe in die Vergangenheit reisen könnte, um das Schlimmste, das passiert ist, abzuwandeln in eine sanftere Katastrophe. Das Ganze muss wohl durchdacht sein. Denn jede kleine Veränderung in der Vergangenheit kann eine riesengroße Veränderung in der Zukunft bedeuten.

Fantasiere ich? Oder ist das wirklich eine Erinnerung? Ich muss unbedingt herausfinden, in welchem Jahr wir uns befinden. Ich bin hier allein in diesem Höhlenraum und wurde anscheinend vergessen. Wieso geht es mir dann verhältnismäßig gut? Ich hätte doch längst verdurstet sein müssen. Ich sehe mich genauer um. Neben mir steht ein Tropf. War der zuvor an mir? Dann wurde ich wohl doch nicht vergessen? Warum habe ich nach dem Schatten niemand mehr gesehen? Kommt immer nur wer, wenn ich schlafe? Wissen die etwas über mich?

Oh verflixt. Da muss etwas gehörig schiefgelaufen sein. Bin ich wirklich das, was ich zu sein glaube? Und wie komme ich nun wieder nachhause?

Es wird mir alles zu viel. Ich verlege den Plan, aufzustehen auf den nächsten Tag. Muss mich erst nochmal ausruhen. All diese Gedanken strengen mich zu sehr an.

 

Tag 8

Als ich erneut die Augen aufmache, blicke ich in ein freundliches, schmales Gesicht. Eine Frau mit hochgebundenen Haaren. Sie sieht müde aus. Grau und hager.

"Guten Morgen. Endlich begegnen wir uns mal im wachen Zustand" sagt sie.

"Wo bin ich hier?", frage ich. Die drängendere Frage "Wann bin ich", traue ich mich nicht laut auszusprechen. Aber in einer abgewandelten, plausibleren Form könnte es gehen:

"Wie lange liege ich schon hier? Welcher Tag ist denn heute?"

"Du bist, wie so viele andere, verschüttet im Rheintal gefunden worden. Du hattest Glück. Du hast ohne große sichtbare Verwundungen überlebt. Aber du hattest innere Verletzungen und hast tatsächlich lange im Koma gelegen. Seit der großen Katastrophe sind schon etwa drei Monate vergangen.“

Mir wird ganz flau im Magen. Ich habe mir das also nicht eingebildet. Sie reden hier auch von der großen Katastrophe. Die Katastrophe, die 100 Jahre zurückliegt und so vieles im Leben der Menschen verändert hat. Ich kann nicht anders, als die Frau mit großen Augen anzustarren. Ich bin froh, dass wir uns überhaupt verstehen. Denn das damalige Deutsch war noch anders als unseres. Es ist der Frau, wer auch immer sie ist, bestimmt auch schon aufgefallen, dass wir unterschiedlich sprechen.

"Du bist hier in einem provisorischen Krankenhaus. Oberirdisch ist alles kaputt. Aber alles, was sich im Keller befunden hat, ist intakt geblieben. Und so konnten wir viele Menschen notversorgen."

Ich nicke. Und weiß nicht, ob ich froh oder entsetzt sein soll. Könnte mein späteres ICH etwas zu diesem ICH in Speichermedien finden und dadurch entscheiden, die Mission doch nicht anzutreten? Nicht in die Vergangenheit zu reisen? Wenn ich hier etwas verändere, dann wird ja auch die Zukunft anders. Ich sollte nur stille Beobachterin sein. Und nun befinde ich mich mitten drin. Könnte es passieren, dass ich mein zukünftiges ICH dadurch ausradiere? Aber wenn es das nicht mehr gibt, dann kann ich ja auch nicht in die Vergangenheit gereist sein und wäre jetzt nicht hier. Oh jeh ... mein Kopf dröhnt von diesen Gedanken. Ich habe Kopfschmerzen und bin müde.

"Ruh dich noch ein wenig aus. Ich habe nochmal einen Tropf für dich vorbereitet, der dich mit dem Wichtigsten versorgt. Morgen reden wir weiter. Es gibt da ein paar Dinge, die uns Rätsel aufgeben. Aber das hat Zeit bis morgen."

Schon steht die Schwester, als die ich sie für mich identifiziert habe, auf und verlässt den Raum. Den Saal. Den Kerker. Wie auch immer man diesen kahlen Kellerraum bezeichnen will. Ich bin tatsächlich in die große Katastrophe hineingeraten und habe drei Monate im Koma gelegen. Ich hätte ein Jahr früher hier ankommen sollen. Weiß jemand aus der Zukunft davon? Weiß jemand, wo ich bin, und kann mich zurückholen? Ich muss mich unbedingt daran erinnern, was wir dazu vereinbart haben. Wie das angedacht war. Ich weiß nur, dass ich nach den besprochenen Beobachtungen mit Proben zurückkehren sollte. Ich sollte nicht am Leben in der Vergangenheit teilhaben. Aber das ist wohl nicht mehr möglich.

 

Tag 9

Als ich wieder aufwache, ist es dunkel. Bin ich früher aufgewacht als sonst? Ich blicke mich im Raum um, in dem ich mich nun schon so lange befinde und den ich doch immer nur schemenhaft wahrgenommen habe. Auf der anderen Seite des Raumes befinden sich noch zwei Betten. Waren die zuvor auch schon da? Egal. Sie sind sowieso leer. Niemand teilt mit mir diesen Raum. An der Wand gegenüber von der Tür befindet sich ein Schrank und daneben, kurz unter der Decke, ein kleines Fenster. Es sieht aus, wie ein typisches Kellerfenster mit diesen kleinen Gittern. Dahinter ein Schacht, der sich nach oben öffnet. Wie weit entfernt dieses OBEN ist, kann ich von hier aus nicht einschätzen. Könnte ich dadurch nach draußen fliehen? Sollte ich das tun? Bin ich in Gefahr? Die Frau der Zukunft, die wieder dorthin zurück möchte, ist es wohl. Die Frau, die einfach hier liegt, dürfte es erstmal nicht sein.

Auf einmal wird es hell. Offensichtlich ist ein automatisches Licht in die Decke eingelassen. Kurz darauf öffnet sich die Tür und die Schwester von gestern kommt herein.

„Wie geht es dir heute?“

„Besser. Mein Kopf ist aber immer noch wirr und beginnt ganz schnell zu dröhnen.“

„Ja, du bist wahrscheinlich mit dem Kopf gegen einen Felsen geprallt. Das kann Verwirrungen und Halluzinationen auslösen. Da du jetzt deinen Wachzustand besser aufrechterhalten kannst, wird auch bald ein Arzt zu dir kommen. Ich bin übrigens Sophie. Und wie heißt du?“

„Lisa.“

Wir nicken uns zu. Sophie erhebt sich und rollt einen Wagen mit einer flachen Schüssel neben mein Bett.

„Das ist Suppe. Du musst langsam wieder richtige Nahrung zu dir nehmen. Bekommst du das alleine hin?“

Ich nicke, nehme den Löffel und schöpfe mir die Flüssigkeit in den Mund. Es strengt mich an, aber es tut auch unglaublich gut. Eine dünne Brühe mit Mini-Stern-Nudeln drin. Ich bin überrascht, dass ich sie gierig auslöffele. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich Hunger habe.

„Wer bist du? Wo kommst du her?“, reißt mich die Schwester plötzlich aus meinem Essen-Kosmos.

„Ich – also wie gesagt, ich heiße Lisa. Lisa Diamona.“

„Und wo kommst du her? Hier aus der Nähe bist du nicht.“

Ich hätte fast schon widersprochen. Doch, wollte ich sagen, ich wohne hier im Rheintal. Im ehemaligen Rheintal. Denn zu meiner Zeit ist das Tal trocken. Es heißt nur noch so zum Gedenken an den ehemaligen großen Fluss, der für die Menschen damals so wichtig war. Aber alle großen Ströme sind nach der großen Katastrophe nach und nach versiegt. Die kleinen und die Bäche noch viel eher.

Wenn ich das hier erzählen würde, würde man sich sicherlich fragen, wie wir dann überleben können. So ganz ohne Wasser. Denn auch all die früheren Seen sind auf ein Minimum zusammengeschrumpft, Gletscher gab es schon lange nicht mehr. Wir mussten erfinderisch sein und das Wasser aus der Atmosphäre einsammeln. Wir sind in der Zukunft nicht mehr so viele. Die Menschheit ist auf etwa eine Million, verteilt auf die ganze Welt, zusammengeschrumpft. Oder besser gesagt, nach 2.100 langsam wieder auf diese Zahl angewachsen.

„Hast du mich verstanden? Bist du müde? Magst du Kaffee? Wir haben hier noch ein wenig. Wenn du magst, kann ich dir einen bringen.“

Ich schüttle den Kopf. Ich weiß, was Kaffee ist. Unser Labor hat mal so etwas Ähnliches zusammengebraut und ich fand es fürchterlich. Wenn ich etwas Belebendes will, nehme ich ein Gocchi. Aber das kennt man in der Zeit, in die ich nun geraten bin, noch nicht.

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so genau, wo wir eigentlich sind“, finde ich nun endlich ein paar Worte.

„Wir befinden uns in der Nähe von Wiesbaden, Richtung Eltville. Sagt dir das etwas?“

Ich nicke, aber ich muss erst in meinem Kopf danach kramen. Versuche, mir eine alte Landkarte vor Augen zu halten. Ich habe sie so oft studiert. Fand all das Alte immer so faszinierend. Habe mich viel damit befasst. Deshalb wurde ich auch für die Mission ausgewählt. Weil ich so viel über die Zeit, in die ich gehen sollte, wusste. Jetzt fällt mir wieder ein, wie wir zusammensaßen und darüber gesprochen haben. Wir wollten den Rhein retten, damit wenigstens dieser gewaltige Fluss erhalten bleibt. Der Rhein, die Donau und die Elbe. Diese drei Flüsse sollten ein anderes Schicksal bekommen. Ich war für den Rhein zuständig, Dieter für die Donau und Kerstin für die Elbe. Wie es wohl den anderen beiden ergangen ist? Sind sie auch in die falsche Zeit geraten? Oder konnten sie tun, wofür sie bestimmt worden waren? Ich merke, dass mich Sophie unentwegt anstarrt.

„Also, ja, das sagt mir etwas. Aber ich komme tatsächlich nicht von hier. Ich habe hier ein paar Tage zum Erholen verbracht – verbringen wollen.“ In meinem Kopf holpern die Gedanken.

„Und aus welchem Ort kommst du nun? Wir haben keine Papiere bei dir gefunden.“

Natürlich nicht. Beinahe hätte ich gelacht. Natürlich bin ich gechipt, wie alle Menschen in meiner Zeit. Nach der großen Katastrophe und der darauffolgenden Versiegung der Flüsse ging es den Menschen, die das alles überlebt hatten, sehr schlecht. Die Katastrophe setzte sich zusammen aus Millionen kleineren, die gemeinsam die große Katastrophe ergaben, weil sie alle gleichzeitig beziehungsweise kurz aufeinanderfolgten. Kaum hatte man sich von Sturmfluten mit Hagel erholt, folgten Erdrutsche, Orkane und Brände. Es schien, als wäre ganz Europa völlig aufgeweicht. Die letzten Gletscher verschwanden auch in der Zeit. Nicht lange danach kam eine riesengroße Dürre hier und Wassermassen und Orkane an anderen Stellen der Erde, verbunden mit Erdbeben, wie die Menschen sie nie zuvor erlebt hatten. Ein ganzes Jahr lang tobte die Erde, als wolle sie sich endgültig von den Menschen befreien. Und beinahe wäre es ihr auch gelungen. Aber überall haben ein paar überlebt. Zunächst sehr einfach. Aber die Erinnerung an das, was einmal möglich war, hat neue Wissenschaftler und Wissenschaften auf den Plan gerufen. Wir haben uns entwickelt. Zu dem, was wir heute sind.

Und dennoch. Wir sind so wenige. So isoliert. Wir würden gerne einige unserer Fehler rückgängig machen. Dafür kann die großartige Entdeckung der Zeitschleife hilfreich sein. So dachten wir. Bei den anderen beiden hat es vielleicht funktioniert. Vielleicht sind sie schon wieder zurückgekehrt mit wertvollen Ergebnissen. Nur ich habe versagt. Verdammt.

„Hallo? Lisa? Bist du noch anwesend?“

„Ähm, ja, entschuldige. Was wolltest du wissen?“

„Wo du herkommst. Du hast einen Dialekt, den ich noch nie gehört habe.“

„Ach ja, unser Dorf hat einen ganz eigenen Dialekt.“

„Und wie heißt es? Wo liegt es? Gibt es jemanden, den wir versuchen können, zu erreichen?“

„Meinst du, das geht? Ist dafür nicht zu viel kaputtgegangen?“

„Wir würden es versuchen.“

Ich überlege fieberhaft, was ich preisgeben kann und soll. Der Ort, in dem ich wohne, existierte vor 100 Jahren noch nicht. Aber vielleicht ist Sophia beruhigt, wenn sie einfach einen Namen bekommt, und fragt nicht mehr.

„Ich komme aus Wolkenbruch.“

„Aha. Das habe ich noch nie gehört. Wo ist das?“

Wenn ich ehrlich wäre, würde ich sagen: ganz in der Nähe. Da, wo früher Bingen war. Wir haben keinen Fluss mehr, der diese Seite von der anderen trennt. Zwischen den Orten liegt nur ein trockenes Tal, das man leicht durchschreiten kann. Was mich von hier trennt, ist die Zeit, nicht der Raum. Aber das kann ich nicht sagen.

„Das ist weiter im Osten“, fällt mir daher nur ein.

„Ach, in der ehemaligen DDR?“

„Ja genau. Interessierst du dich für Geschichte?“

„Ja, ich finde es so faszinierend und natürlich auch erschreckend, was damals geschehen ist.“

Ich finde es eher erschreckend, dass die Menschen sich mit der Vergangenheit befassen, während ihnen die Gegenwart auseinanderfällt. Oder nehmen die Menschen, die sich mitten in der großen Katastrophe befinden, und sogar auch schon diesen Begriff kreiert haben, nicht wahr, was gerade um sie herum passiert? Ich möchte hier weg. Ich bin nicht geeignet für diese Mission. Ich möchte nachhause.

„Ich bin müde.“

„Kein Problem. Ich lasse dich wieder schlafen. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass morgen die Ärzte kommen. Sie haben da was in deinem Blut gefunden, das ihnen Kopfzerbrechen bereiten. Darüber wollen sie mit dir reden. Keine Angst, es ist sicherlich nichts Schlimmes. Nur ungewöhnlich. Also gute Nacht und bis morgen. Ich komme vor den Ärzten und bringe dir eine leckere Mahlzeit mit.“

Eine Frage habe ich noch.“

„Ja?“

„Wie ist es jetzt draußen? Sind da immer noch Unwetter? Und sind viele Menschen tot?“

„Ehrliche Antwort?“

„Ja bitte!“

„Es ist fürchterlich draußen. Das Wetter scheint sich ein wenig beruhigt zu haben. Aber es ist fast alles zerstört und es gibt unendlich viele Tote. Daher bist du hier auch alleine. Wir konnten viele von denen, die zu uns gebracht wurden, nicht mehr retten.“

Ich nicke.

Eigentlich wusste ich das schon. Da ich aber nun mitten drin bin und immer noch nicht so genau einordnen kann, an welcher Stelle der Geschichte ich stecke, musste ich das wissen. Sophia verlässt den Raum und ich bin froh, wieder allein zu sein.

Ich muss hier weg. Ich muss - ich will - nachhause. Hört ihr mich? Ihr in der Zukunft. Ihr anderen Menschen. Ich glaube, trotz aller Fehler, die die Menschen in dieser Zeit hier machen, haben sie doch mehr Nähe zueinander. Bei uns gibt es keine Familien mehr. Keine Eltern, die Kinder bekommen. Wir kommen alle aus dem Labor. Alles ist zweckmäßig. Vielleicht ist die Nähe das, was ich mit zurück in die Zukunft nehmen kann.

Die Nähe durch Familie und durch das gemeinsame Schicksal ist etwas ganz besonders. Das habe ich kennen gelernt, bevor ich von der Katastrophe getroffen wurde.

Ich bin nicht müde. Aber ich musste Sophia loswerden. Sie ist nett, aber sie würde es nicht verstehen. Würde denken, dass ich Halluzinationen habe. Ich erhebe mich. Mühsam. Aber es geht. Ich laufe langsam und vorsichtig zu dem Schrank. Und da sind meine Sachen. Auch der Transponder. Den haben sie mir vermutlich gelassen, weil sie nichts damit anzufangen wussten. Das ist gut. Das ist so etwas Ähnliches, wie zu deren Zeit das Handy. Vielleicht kann ich damit auch über die Jahre hinweg Kontakt aufnehmen?

Ich ziehe mich an und verschnaufe. All das strengt mich fürchterlich an. Aber ich muss es tun. Ich muss hier weg, bevor die Ärzte kommen und weitere Untersuchungen anstellen. Und vor allem, bevor ich zu viel verändere, was nicht verändert werden soll. Es ist fürchterlich, dass ich mich nur so langsam erhole. Ich bin doch noch so jung. Gerade mal 20 Jahre alt.

Also raffe ich mich auf und gehe zu dem Fenster. Wie erhofft, lässt es sich öffnen. Ich wuchte mich nach oben und stemme mich in den Schacht. Von dort ist es nicht schwer, ganz nach draußen zu klettern. Ich brauche einige Zeit, um zu verschnaufen und mich zu orientieren. Aber bald habe ich eine Stelle gefunden, die ich aus der Zukunft kenne. Ich aktiviere meinen Transponder. Und tatsächlich. Da leuchtet etwas auf. Da ist Kontakt.

Kurz darauf bin ich wieder in meiner Zeit angekommen. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie es funktioniert hat. Aber Hauptsache, es hat funktioniert.

Ich werde freudig empfangen und in unsere Zentrale gebeten. Ich kann berichten. Von Dieter gibt es offensichtlich keine Spur. Aber ich sehe Kerstin. Einem Impuls folgend, gehe ich auf sie zu und umarme sie. Sie versteift sich zunächst. Doch dann erwidert sie die Umarmung. Wir haben beide Ähnliches erlebt.

Aber beide haben wir keine Lösung mitgebracht.

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 45

 

Weißer als das weißeste Weiß

 

Am Freitag, dem 13. November 2150, wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens. Wir hatten das im Netz so vereinbart. All jene, die in diesem Netz quasi lebten, trugen mit der Veröffentlichung ihrer Tagebücher zur kollektiven Erinnerung bei. Seit ich mein drittes Leben begonnen hatte, hatte ich alle meine Erinnerungen meines zweiten Lebens zusammengetragen. Nun war es soweit. Ich schrieb das Bobbin auf das Netz und wartete auf Reaktionen. Es kamen allerdings nur die üblichen Bilder der Erinnerungen. Jemand postete neblige Felder vor einem Deich, weit und breit flaches Land ohne jeden Baum, ohne ein Haus. Die Scheinwerfer eines Autos schlängelten sich entlang einer Straße, die zwischen den Feldern nicht zu erkennen war. Hinter den weiten Wiesen wogten wellenartig dunkelgrüne, kniehohe Pflanzen im leichten Wind. Tiefhängende Wolken gingen am Horizont in den strukturlosen Nebel über. Das Auto passierte den Standort des Betrachters und entfernte sich in Form von zwei rotglühenden Rücklichtern in den weißgrauen Schwaden, die wie feine Gespinste über der Landschaft hingen. Dann lag alles still da. Nur die langen Halme der Wiesen neigten sich in der leichten Brise.

 

Ich prüfte das Bobbin und eventuelle Fehlermeldungen des Netzwerktreibers, fand jedoch keine Auffälligkeiten. Vielleicht benötigten die anderen etwas Zeit, natürlich benötigten sie die. Ein Bobbin sind 200 Gigabyte, nicht viel für ein Menschenleben, aber eine große Datenmenge, wenn man es konsumieren, analysieren und verstehen will. Im Bilderstrom auf dem Datenring kam nun als nächstes eine Anleitung, wie man eine Blues-Harp auseinander bauen und die Lamellen anfeilen muss, um danach ein perfektes Overblow zu erzielen. Die Finger im Bild nutzen eine filigrane Feile und einen schmalen, geradezu winzigen Schraubenzieher, mit denen nach und nach an allen Kanzellen die feinen Metallzungen angehoben und etwas abgeschliffen wurden. Anschließend bauten die Hände die Harp wieder zusammen und man hörte probeweise einige Riffs. Eine brüchige Frauenstimme sang dazu „Ich bau’ dir ein Schloss aus Urinstein...“

 

Mir ging durch den Kopf, wie es wäre, wenn ich ganz allein existierte, wenn da gar niemand anderes wäre im Netz, nur sporadische Videos, Texte, Audiodateien, die ein Server automatisch und zufällig aus seinem Datenvolumen auswählte und auf dem Ring postete. Aber irgend etwas musste ja da draußen sein, dachte ich weiter, denn immerhin führte ja jemand die Re-Starts durch. Ich ging noch einmal flüchtig einige Stellen des Tagebuchs durch, während auf dem Netz eine offensichtlich zerschossene Erinnerung vorbeiflackerte, in der ein Gehrungsschnitt in einem Sauvignon Blanc beschrieben wurde, der sich der Darstellung nach über mehrere Dörfer erstreckte, die Sequenz immer wieder durchsetzt mit digitalem Rauschen. Solche Fehler traten hin und wieder auf, da alle Informationen, die in ihrer Summe die kollektive Erinnerung ausmachten, in einem komplexen mathematischen Verfahren zerlegt wurden, um dann an den verschiedensten Orten verteilt gespeichert zu werden, ähnlich einer Wavelet-Transformation. Auch ich beherbergte Daten solcher Erinnerungen, jedoch konnte ich diese ohne die fehlenden Teile, die anderswo gespeichert lagen, nicht betrachten oder sonst wie nutzen. Erst für einen Post wurden die Teile wieder zusammengesetzt, wobei sich hin und wieder die beobachteten Fehler einschleichen konnten, wie ich vermutete. Umgekehrt war auch mein Bobbin bereits zerlegt und mit Gewissheit an tausende Stellen für eine sichere Aufbewahrung verteilt.

 

Die gerade laufende Sequenz von Erinnerungen zeigte ein Gebüsch, in dem jemand Müll und Unrat abgekippt hatte, darunter bunte Getränkedosen, Fast-Food Verpackungen, eine angerostete Radkappe. Etwas weiter rechts saß zwischen blühenden Birken ein kleiner Fuchs im hohen Gras, der eine blutende Wunde am Bauch aufwies und apathisch vor sich hinblickte. Das Bild wackelte ein wenig, wie von einer unsicher geführten Handkamera, der Bildausschnitt bewegte sich weiter, doch kehrte er mehrmals wieder zurück zu dem Tier im Gras.

 

Plötzlich erschien ein Kommentar zu meiner Tagebuchveröffentlichung. Ich spürte eine ungewohnte Aufregung, die in meinem ersten Leben aus dem Bauch gekommen wäre, die sich nun jedoch als eine Art flackerndes, nervöses Springen der Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Blickpunkten bemerkbar machte. Es handelte sich beim Urheber des Kommentars um einen Nutzer namens Varus, der mir unbekannt war, und er suchte nach einer detaillierteren Beschreibung des „Übergangs“. Ich hatte das, was mir in diesem Zusammenhang noch in Erinnerung geblieben war, im Tagebuch skizziert, es war ohnehin wenig genug. Vor dem Tod meines ersten Lebens waren die erreichbaren Inhalte meines Gehirns, meines Geistes, meiner Erinnerungen über eine elektronische Schnittstelle in meinem Kopf in digitale Daten transferiert worden, genauso wie bei allen Existenzen, die jetzt hier im Netz lebten. Es gab in meinem Fall aber offenbar eine Besonderheit, die ich nur vage mit dem Begriff Zwischenfall umschreiben kann. Der erste Transferversuch war wohl wegen einer Unregelmäßigkeit abgebrochen worden und in diesem Zusammenhang wurde eine ausführliche Fehlermeldung erzeugt, die weitreichende technische Informationen enthielt. Diese Fehlermeldung war beim zweiten Transferlauf, der schließlich erfolgreich abgeschlossen werden konnte, mit in mein Datenvolumen abgespeichert worden, vermutlich aus Versehen, aus Unachtsamkeit. Ich konnte mit diesen sehr umfangreichen, hexadezimal kodierten Information jedoch absolut nichts anfangen, das war nur etwas für erfahrene Spezialisten. Bei Varus, so vermutete ich, konnte es sich um solch einen Spezialisten handeln. Ich antwortete ihm vorsichtshalber mehr höflich als freundlich und erkundigte mich nach seinen Erinnerungen. Er lebte zur Zeit sein viertes Leben, das er als öd, trostlos und unbefriedigend beschrieb. Er erzählte von den immer wiederkehrenden, gleichartigen Einspielungen im Netz, von denen er sehr viele bereits kannte und von denen die neueren, unbekannten meistens große Ähnlichkeiten mit alten, schon gesehenen Einspielungen hatten. Am aufdringlichsten waren für ihn die Schnipsel von alten Werbespots, die immer wieder im Strom der veröffentlichten Erinnerungen mitschwammen und mit dämlichen Jingles unterlegt waren. Muskulöse Hunde flogen in Zeitlupe über saftige Wiesen, Runden von schönen, jungen Menschen trafen sich in aufgesetzter Fröhlichkeit am Strand oder am Lagerfeuer, eine Frau hängte weichgezeichnete, grell weiße Betttücher auf eine Wäscheleine unter strahlend blauem Himmel. Weißer als das weißeste Weiß, lautete der Werbeslogan dazu und Varus war in seiner Erzählung die Abscheu anzumerken. Mein Tagebuch war für ihn seit langem das erste wirklich originelle und spannende gewesen. Mich machte das ein bisschen stolz und ich bedankte mich für seine Worte, die ich als Lob verstand. Ganz behutsam lenkte Varus dann unsere Konversation auf die Daten der Fehlermeldung von meinem ersten Transferlauf und erkundigte sich, ob ich diese Daten noch hätte und frei darüber verfügen könnte, wie groß das Datenvolumen genau sei und welche Kodierung dem zu Grunde läge. Ich beantwortete die Fragen, so gut ich es verstand, während gleichzeitig Bilder aus dem Blickwinkel eines Autocockpits vorbeiflimmerten, die eine Fahrt auf Serpentinen hoch über einer Steilküste zeigten. Das Interesse meines virtuellen Gegenübers an unserem Gespräch wuchs mit meinen Antworten spürbar. Dann kam der Punkt, an dem Varus mich fragte, ob ich ihm diese Informationen zur Verfügung stellen könnte. Ich zögerte, da ich über die genauen Details des Dateninhalts ja keinerlei Kenntnis hatte, und gar nicht wusste, was ich da gegebenenfalls preisgab. Dazu kam ein Unbehagen, das sich dadurch ausdrückte, dass mir eine passende Frage nicht einfallen wollte. Schließlich wusste ich, was mich hemmte. Ich fragte Varus, wofür er diese Daten benötigte, die für ihn im Gegensatz zu mir ja irgendwie einen Sinn zu ergeben schienen. Nun war es Varus, der zögerte. Dann gab er sich offenbar einen Ruck und bot mir an, mittels eines kleinen Programms eine sichere Verbindung aufzubauen. Meine Verwunderung wuchs und nährte eine ungekannte Neugier. Ich willigte ein und wir bauten den verschlüsselten Kanal auf, über den ich sofort fragte: „Warum diese Geheimnistuerei?“ Varus gab sich aus seinem ersten Leben als IT-Experte zu erkennen und hatte in den späteren Leben, wo es möglich war, weitere Erkenntnisse über das Netz gesammelt. „Warum, meinst du“, so fragte er, „ist unsere Topologie hier ein Ring und kein richtiges Netz? Weil sie so einfacher alles mithören können!“ „Sie?“, fragte ich, „wer?“ „Was weiß ich. Die Betreiber dieses Netzes natürlich. Keine Ahnung, wer das genau ist, wir haben hier drinnen ja keinerlei Sinnesorgane, kein Fenster in die Außenwelt. Kann sein, es sind einfach unsere Nachfahren. Die betreiben vielleicht das Netz wie eine Art Aquarium und betrachten uns hin und wieder, wenn sie Langeweile haben. Oder aber es sind bereits tausend Jahre ins Land gegangen, das Leben auf der Erde ist erloschen und die Hardware unseres Netzes befindet sich auf einem Raumschiff als letztes Lebenszeichen der Menschheit, als letztes Signal einer vergangenen Zivilisation sozusagen.“ Es entstand eine längere Pause, in der wir beide den Bildern nachhingen, die Varus da für uns entworfen hatte. „Irgend jemand muss aber da draußen sein, denn es werden ja die Re-Starts durchgeführt“, gab ich zu bedenken und kam mir so vor, als sei ich dem Spezialisten gleichberechtigt und ebenbürtig. „Sonderlich intelligent scheinen sie allerdings nicht zu sein“, hielt er dagegen,  „wenn unsere Systemzeit stimmt, haben sie in hundertdreißig Jahren keine nennenswerten technischen Fortschritte gemacht. Unsere Treiber, die Wavelet-Transformation, alles ist, wie vor langer Zeit gehabt. Und dann die immer wieder auftretenden Fehler in den geposteten Bildern und Sequenzen. Re-Starts könnten auch automatisch durch einen Administrationsserver erfolgen. Wir wissen nichts. Absolut nichts. Wir führen ein unendliches Leben, wir sind wahrhaft unsterblich. Aber das für uns Erlebbare in dieser unendlichen Zeit ist begrenzt, sehr begrenzt, wie ich finde. Mit der Zeit geradezu nervtötend eintönig. Schmerzhaft, würde ich es nennen, wenn ich noch in meinem ersten Leben wäre.“ Ich begann zu verstehen, wovon er sprach und betrachtete für einige Momente eine gepostete Erinnerung einer von brütender Sonne flimmernden Straßenszene, in der zwei junge Frauen in weiten, wehenden Sommerkleidern den weichen Asphalt der Straße überquerten und nach einer Adresse zu suchen schienen. Schließlich betraten sie eine kleine Bar, die etwas versteckt in einem schattigen Hauseingang lag. Der Barkeeper hinter dem verwaisten Tresen bereitete für seine braungebrannten Gäste kalte Drinks und man konnte die feinen, blonden Flaumhaaren auf der Haut der Frauen erkennen. Der Barkeeper erläuterte ihnen, dass er immer zwei Sorten Eis benötigte, nämlich wässriges Eis, um die Gläser vorzukühlen, das aber weggeschüttet würde und das er dann durch tiefgefrorenes Eis ersetzte, um die eigentlichen Drinks lange kalt zu halten. Ich musste mich gewaltsam von der Szene losreißen und fragte Varus, wofür er die Daten aus meiner ominösen Fehlermeldung denn nun eigentlich verwenden wollte. Er erklärte mir, dass das stark von dem Inhalt der Daten abhinge. Vielleicht erlaubte der Einblick in die technischen Abläufe des Transfers ja eine Art Ausbruch. Das wäre sein Traum. Ein Blick durch eine in das System gehackte Lücke in die Welt außerhalb des Datennetzes. Eine Verbindung zu Servern außerhalb unseres Netzes, vielleicht sogar zu Sensoren und Kameras, die uns Bilder der Welt um uns herum liefern könnten. Vielleicht, aber das wäre natürlich eine Spinnerei, könnte man auf diesem Weg sogar unser Netz, unseren Ring verlassen und in andere Datenwelten verschwinden. Er träumte davon, seine Wahrnehmung zu erweitern, wobei er das Wort „wahr“ extra betonte. Aber, so schloss er seine Ausführungen, wenn all das nicht möglich sei, und es gäbe eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit hierfür, würden die technischen Einzelheiten des gescheiterten Transferprozesses auch nur – nun ja, die Möglichkeit eines Selbstmords eröffnen. Ich stockte in all meinen Aktivitäten und meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich schlagartig voll und ganz auf diese Variante. Ein Selbstmord. An so etwas hatte ich bisher nie gedacht. Ich muss zugeben, dass ich in meinem Leben bisher nicht den Überdruss und die Langeweile empfand, die Varus beschrieben hatte. Aber es war mehr als nachvollziehbar, dass sich mit der wachsenden Zahl der gelebten Leben dieser Überdruss unausweichlich einstellte und größer und größer wurde. Selbstmord. Ein Lehrvideo über den Aufbau der DNA hatte die Barszenerie mit den jungen Frauen abgelöst. Die Nukleinbasen schwammen als schematische Farbblöcke in einer hellblau dargestellten Flüssigkeit herum und wurden an einen aufgespleißten DNA-Strang angelagert und dann zu einer Kopie der Basensequenz verbunden. Gelbe Cytosin-Blöcke fügten sich in grünes Guanin, blaues Adenin in rotes Thymin, und die Basen erkannten ihr Gegenüber an den charakteristisch geformten Enden, die komplementär in einander passten. Es folgten Bilder von genetischen Varianten bei Erbsen und Schmetterlingen. Selbstmord. Dieser Gedanke bildete ein neues Kapitel in meinem Bewusstsein, einen neuen Raum hinter einer bisher verborgenen Tür. „Was ist jetzt mit dem Fehlerbericht?“, fragte Varus direkt. Eine lange Pause hatte sich mittlerweile in unsere Konversation eingenistet. „Ja, klar“, schickte ich zurück, obwohl das eigentlich als Antwort gar nicht auf seine Frage passte, „hältst du mich auf dem Laufenden, was weiter geschieht?“ Ich richtete ihm einen Link auf den fraglichen Datenblock ein und beobachtete, wie die Daten kopiert wurden. „Ich melde mich“, versprach Varus und beendete die sichere Verbindung.

 

Ich hörte dann doch länger nichts von ihm. Meine veröffentlichten Tagebuch-Sequenzen erhielten einige positive Rückmeldungen, manche Kommentare verglichen die dargestellten Sequenzen mit eigenen, ähnlichen Erfahrungen. Meine grammatikalisch korrigierte Umdichtung „Kinder, horcht! Wer rät, was im Ofen brät?“ fand einige Resonanz, ebenso der Duschvorhang, den ich mittels wasserfestem Filzstift mit der historischen Entwicklung der Gravitationsgesetze von Kepler über Newton und Einstein bis Witten beschriftet hatte. Das Malheur mit dem Bücherregal sorgte dagegen für Heiterkeit. Ich hatte einmal ein Holzregal an die Wand einer Altbauwohnung gedübelt, die Wand entpuppte sich jedoch im Laufe der folgenden Nacht als eine Mischung aus Flusskiesel, Mörtel und Stroh, weil nämlich die Dübel aus der Wand rissen und faustgroße, trichterförmige Löcher zurückließen. Das Regal stürzte krachend ab und wurde ausgiebig mit einem Gemisch der Baumaterialien berieselt.

 

Die Zeit verging, wie ich an der Systemuhr verfolgen konnte, ich gab mich den Geschichten und  bebilderten Erzählungen aus anderer Leute Leben auf dem Netz hin und wartete auf Nachrichten von Varus. Dann erschien irgendwann ein Post im ewigen Strom der Erinnerungen, der Bildersequenzen in einem verwinkelten Hinterhof zeigte, zwischen planlos aneinander gebauten, ergrauten Ziegelhäusern. Metallene, verbeulte Müllkübel standen in einem Unterstand mit der unmissverständlichen Anweisung, keine heiße Asche einzufüllen, und eine getigerte Katze streunte misstrauisch herum. Die ehemals weiße Farbe der Fensterrahmen im Hochparterre platzte wie eine blatternartige Erkrankung ab. Über den Regentraufen sah man vor den schmutzigen Pudertupfern der Wolken einige Krähen vorüberziehen. Und da war es! An einer der Hauswände hatte jemand mit weißer Farbe das geometrische Gittermuster der Ziegel mit einem Schriftzug ausgemalt: „Weißer als das weißeste Weiß. V.“ Mir war sofort kristallklar, dass dies eine versteckte Nachricht an mich darstellen sollte. Die Videosequenz lief weiter, zeigte einen Hofdurchgang, in dem zwei alte Frauen mit Kopftüchern standen und tratschten, und endete auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße am weiten Haustor, vor dessen grünem Fensterglas ein mit rotem Samt bezogener Biedermeierstuhl auf dem Gehweg stand. Die Straße oder das Haus waren mir nicht bekannt. Man hätte sie in die Altstadt von Prag verorten können oder genauso gut nach Paris oder Regensburg. Aber der Schriftzug! Hatte er es geschafft? War Varus ausgebrochen? Und war es dort, wo er sich jetzt befand, alles grell weiß? Warum sonst gerade dieser Slogan? War es gut, dort zu sein oder war es, wie im Werbespot, unsinnig? Warum wählte er gerade die Bilder dieser Erinnerung, um mir eine verklausulierte Rückmeldung zu geben? Vielleicht, um mich nicht durch einen direkten Kontakt zu gefährden? War es denn gefährlich? (Was konnte einem hier im Netz schon passieren?) Wollte er die Spuren seiner Flucht verwischen? Ich konnte die vielen Fragen, die auf mich einstürmten nicht einmal in eine vernünftige Reihenfolge bringen, geschweige denn beantworten. Die folgende Zeit verbrachte ich mit Hypothesen, die ich aufstellte, gegen die wenigen bekannten Fakten abprüfte und wieder verwarf, verwerfen musste, weil nichts einen Sinn ergab. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Varus irgend einen Weg aus dem Netz heraus gefunden hatte und zusätzlich einen verschlüsselten Weg, mich davon in Kenntnis zu setzen. Ich fragte mich, ob ich ihn beneidete, konnte aber auch darauf keine Antwort finden.

 

Kürzlich geschah es dann. Ich erhielt zu meinem Tagebuch einen Kommentar von Varus. Er fragte mich nach den Details meines misslungenen Übergangs und nach der dabei erzeugten Fehlermeldung. Ich war verwirrt und misstrauisch und fragte zum Schein, ob wir uns von früher kennen. „Mag sein“, antwortete er, „mag sein in einem meiner letzten Leben, vielleicht in meinem vierten. Ich hatte kürzlich einen Re-Start.“ Im Strom der geposteten Erinnerungen erschien gerade eine strahlend lächelnde Frau mit einer blonden Lockenfrisur, die Bettwäsche auf eine Leine hängte. „Weißer als das weißeste Weiß“ sagte sie stolz zum Betrachter gewandt. 

 

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 46

 

Schattenleben

 

Die Digitaluhr an der Wand tickte leise, das gleichmäßige Geräusch ein enervierender Begleiter in meinem Krankenzimmer. Wer war nur auf die Idee gekommen, Digitaluhren ticken zu lassen wie mechanische, bei denen die aufgezogene Unruh Zahnräder antreibt? Mein Atem ging flach, doch ich hatte mich daran gewöhnt, wie ich mich an die Schmerzen gewöhnt hatte. Seit Wochen lag ich hier, umgeben von piependen Maschinen, die jede Regung meines Körpers überwachten. Auch wenn niemand es mir gesagt hatte, wusste ich, dass es nicht mehr lange dauern würde.

„Sophia, möchtest du etwas trinken?“, fragte mein Vater leise. Seine Stimme klang sanft, aber ich konnte den unterdrückten Schmerz heraushören. Ein anderer Schmerz als meiner. Er saß auf einem kleinen Stuhl neben meinem Bett, die Hände fest um einen Becher Kaffee geschlossen, den er kaum zu trinken wagte.

Ich schüttelte schwach den Kopf. „Nein, Papa. Es ist okay.“

Sein Gesicht verzog sich, und für einen Moment dachte ich, er würde weinen. Doch er war stark. Immer gewesen. „Vielleicht möchtest du …“ Er verstummte, wusste selbst nicht, was er mir anbieten sollte.

„Ich will nur hier sein“, sagte ich schließlich. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Die Tür zum Zimmer öffnete sich mit einem leisen Knarren. Meine Mutter trat ein, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie trug denselben abgetragenen Mantel wie immer, doch in ihrem Gesicht lag eine Müdigkeit, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sie blieb am Fenster stehen, vergrub die Hände in den Taschen und starrte hinaus auf die verschneite Straße.

„Wie geht es ihr?“, fragte sie leise, ohne sich umzudrehen.

„Es geht ihr …“ Mein Vater brach ab, suchte nach den richtigen Worten.

„Ich bin noch hier, Mama“, sagte ich und versuchte vergeblich, zu lächeln. Es fühlte sich seltsam an, meine eigene Stimme zu hören, so schwach und fremd.

Sie drehte sich langsam um, und ich sah, wie ihre Augen glitzerten. „Natürlich bist du das, Sophia. Natürlich.“

Die Stille zwischen uns wurde von dem sanften Piepen des Herzmonitors gefüllt. Es war seltsam beruhigend, fast wie ein Taktgeber meines verbliebenen Lebens.

„Wisst ihr noch, wie wir letzten Winter Schneefiguren gebaut haben?“, fragte ich plötzlich. Die Erinnerung kam aus dem Nichts, doch sie brachte ein warmes Gefühl mit sich. Warm wie das Handtuch, das auf der Heizung gelegen hatte, und mit dem wir uns immer wieder die vom Schnee eisigen Hände wärmten.

Mein Vater lächelte schwach. „Natürlich. Du hast darauf bestanden, dass unsere Schneefrau einen Zylinderhut bekommt. Wir mussten stundenlang danach suchen.“

„Und dann hat sie nur einen Nachmittag überlebt, bevor sie umgefallen ist“, fügte meine Mutter hinzu.

„Ich glaube, sie wollte einfach schlafen gehen“, sagte ich.

Ihr Lachen erfüllte den Raum, wenn auch nur für einen Moment. Doch dann kehrte die Realität zurück, schwer wie ein Stein, der in einen stillen See fällt.

„Sophia …“, begann mein Vater, doch seine Stimme brach.

„Es ist in Ordnung“, flüsterte ich. „Ihr müsst nichts sagen. Ich weiß, was kommt. Aber heute ist doch mein Geburtstag.“

Tränen liefen über ihr Gesicht, und meine Mutter wandte sich wieder ab. Ich spürte, wie die Kraft aus meinem Körper wich, doch ich hatte keine Angst. Der Schmerz schien verschwunden, und eine seltsame Ruhe breitete sich in mir aus.

Ich schloss die Augen und ließ die Dunkelheit mich umhüllen.

 

Das Erste, was ich wahrnahm, war Licht. Grell und schneidend, als würde die Sonne direkt in meine Augen brennen. Instinktiv wollte ich meine Hand heben, um mein Gesicht abzuschirmen, doch etwas stimmte nicht. Meine Arme fühlten sich schwer und zugleich leicht an, als gehörten sie nicht zu mir.

„Sophia? Kannst du mich hören?“ Eine Stimme, ruhig und sachlich, aber ohne Wärme.

Langsam öffnete ich die Augen. Das Licht blendete mich, und ich musste mehrmals blinzeln, bis sich meine Sicht klärte. Über mir stand eine Frau in einem blassgrünen Kittel. Ihr Gesicht war streng, ihre dunklen Haare zu einem straffen Knoten gebunden.

„Wo bin ich?“ Meine Stimme klang anders, als hätte sie eine neue Tiefe, die ich nicht erkannte.

„Du bist in Sicherheit“, sagte die Frau. „Ich bin Dr. Leclerc. Du hast nichts zu befürchten.“

Ich drehte meinen Kopf und bemerkte, dass ich auf einem anderen Bett lag, in einem anderen Zimmer. Die Wände des Raumes waren steril weiß, gesäumt von Monitoren, die mit leisen Pieptönen arbeiteten. Nirgendwo Giraffen, Elefanten, Zebras und Affen wie im Krankenhaus.

„Was … was ist passiert?“

Dr. Leclerc zog einen Stuhl heran und setzte sich neben mich. „Du … dein Körper hat versagt, Sophia. Aber dein Geist wurde gerettet. Dein Gehirn wurde in einen neuen Körper übertragen. Einen perfekten Körper.“

Meine Gedanken rasten. „Das kann nicht sein. Ich … ich bin nicht …“

„Atme tief durch“, unterbrach sie mich, ihre Stimme war sanft, aber bestimmt. „Ich weiß, dass das viel ist. Aber du bist ein medizinisches Wunder. Du bist der erste Mensch, der diesen Prozess überlebt hat.“

Ich betrachtete meine Hände. Sie sahen aus wie meine – zarte, zehnjährige Hände, doch ohne die kleine Narbe an der Daumenspitze. Als ich sie bewegte, fühlten sie sich … anders an.

„Das bin nicht ich“, flüsterte ich.

„Doch, Sophia. Es ist dein Geist, deine Erinnerungen, dein Wesen. Das bist du.“

Doch war das wirklich wahr?

 

Die folgenden Monate flossen dahin wie ein surrealer Traum, aus dem ich nicht erwachen konnte. Jeden Tag führten sie mich durch Tests und Übungen, als wäre ich ein Schüler in einem Kurs, den ich nie gewählt hatte.

„Beweg die Finger deiner rechten Hand“, wies mich Dr. Leclerc an und deutete auf einen Bildschirm. Eine Grafik zeigte die Nervenimpulse, die durch meinen neuen Körper liefen. Ich starrte auf meine Hand, konzentrierte mich – und die Finger bewegten sich, präzise und fließend.

„Gut gemacht“, sagte sie mit einem Lächeln, das nicht bis zu ihren Augen reichte.

„Es fühlt sich falsch an“, murmelte ich.

„Was fühlt sich falsch an?“

„Alles.“

Dr. Leclerc schrieb etwas in ihr Con, während ich mich in meiner neuen Haut wälzte. Der Körper funktionierte tadellos, jedes Gelenk war geschmeidig, jede Bewegung fließend. Doch ich fühlte mich, als würde ich in einem Anzug stecken, der mir zu groß war.

 

Die Isolation war noch schlimmer. Meine Eltern besuchten mich, aber es war nicht dasselbe wie vorher. Mein Vater lächelte, doch seine Augen verrieten die Unsicherheit. Meine Mutter sagte kaum ein Wort.

„Papa, warum nimmt Mama mich nicht mehr in den Arm?“, fragte ich eines Abends, als wir allein im Zimmer waren.

„Das tut sie doch, Schatz“, sagte er und strich mir durch die Haare – oder besser gesagt durch das, was wie Haare aussah. Ich spürte den Druck seiner Hand, aber nicht die Wärme.

„Nein, tut sie nicht. Sie schaut mich an, als wäre ich …“ Ich stockte, fand die Worte nicht.

„Sie braucht Zeit, Sophia. Das ist alles.“

Zeit heilt alle Wunde, sagen sie. Doch Zeit heilte nichts. Ich hörte, wie meine Eltern eines Nachts miteinander flüsterten.

„Es ist nicht mehr unser Kind“, sagte meine Mutter, die Worte drangen durch die geschlossene Tür.

„Sie ist es doch“, widersprach mein Vater. „Es ist immer noch Sophia.“

„Das sagst du, weil du es dir einreden willst. Schau sie dir an. Sie ist … anders.“

Ich schloss die Augen und presste die Hände auf meine Ohren, doch die Stimmen blieben in meinem Kopf, spukten darin wie unruhige Geister.

 

Zurück in der Schule war es nicht besser. Nach meinem „Wunder“ – wie die Medien es nannten – war ich zu einer Sensation geworden. Kamerateams warteten am Schultor, Schüler tuschelten hinter meinem Rücken.

„Sie ist nicht echt“, hörte ich ein Mädchen flüstern, als ich an der Tafel stand, um eine Aufgabe zu lösen.

„Wetten, sie weiß nicht mal, wie es sich anfühlt, zu weinen?“, fügte eine andere hinzu.

Ich schleuderte den Stift von mir und lief aus dem Klassenzimmer, meine metallenen Schritte hallten laut auf dem Boden.

 

Abends saß ich oft allein in meinem Zimmer und starrte auf das Tagebuch, das mir mein Vater geschenkt hatte. Ein Buch mit Seiten aus Papier und einem Kugelschreiber, der Strich um Strich Farbe aufbringen konnte, sodass es fast aussah wie normale Schrift auf einem richtigen Buch.

„Schreib alles auf“, hatte er gesagt. „Es wird dir helfen.“

Doch wie sollte mir das helfen? Helfen wogegen? Ich wusste nicht einmal, was ich fühlte. Was ich fühlen sollte. War ich traurig? Wütend? Oder war ich einfach … leer?

„Wer bin ich?“, schrieb ich schließlich auf die erste Seite.

Die Buchstaben blieben unverändert, so wie ich sie geschrieben hatte, krakelig, ohne sich wie auf einem Con in Druckschrift umzuwandeln.

„Wer bin ich?“ Die Frage blieb unbeantwortet.

 

Der Tag hatte begonnen wie jeder andere in den letzten fünf Jahren: mit Therapiesitzungen, Tests und meiner fortwährenden Suche nach Identität. Doch dann erhielt ich die Nachricht, die alles aus den Fugen riss.

„Sophia“, sagte mein Vater an einem kalten Nachmittag im Oktober, „wir müssen reden.“

Ich spürte die Anspannung in seiner Stimme und sah sofort, dass etwas nicht stimmte. „Was ist los?“, fragte ich.

„Es geht um deine Mutter“, begann er, hielt dann inne und suchte nach den richtigen Worten. „Sie ist … im Krankenhaus. Sie hatte einen Unfall.“

Die Welt schien für einen Moment stillzustehen.

„Ist sie …?“ Ich brachte das Wort nicht über die Lippen.

„Nein“, sagte er schnell, „aber es sieht nicht gut aus.“

Im Krankenhaus roch es nach Desinfektionsmitteln. Wie gut ich diesen Geruch kannte. Doch nun, wo ich ihn nicht mehr gewohnt war, roch ich ihn umso stärker. Meine Mutter lag in einem Bett, so wir ich damals all die Zeit, die Augen geschlossen, die Haut bleich. Ich setzte mich neben sie und griff nach ihrer Hand. Mit meiner. Meiner neuen, gerade ein paar Tage alten, wie fünfzehn aussehenden Hand.

„Mama“, sagte ich leise, doch sie reagierte nicht.

Die Stunden vergingen. Mein Vater und ich saßen schweigend an ihrem Bett, das monotone Zischen der Beatmung war unser einziger Begleiter.

Irgendwann öffnete sie die Augen. „Sophia“, murmelte sie, ihre Stimme war schwach unter der Maske.

Ich beugte mich näher zu ihr. „Ja, Mama. Ich bin hier.“

Sie starrte mich an, als suchte sie nach etwas. „Du bist …“ Ihre Stimme versagte.

„Ich bin deine Tochter“, sagte ich schnell, doch sie schüttelte den Kopf. Dann schloss sie die Augen wieder. Für immer. Denn für sie gab es kein zweites Leben, ich war noch immer etwas Besonderes, ein vierblättriges Kleeblatt, ein bunter Hund, auch wenn die Medien längst nicht mehr über mich berichteten.

Am Tag ihrer Beerdigung regnete es. Mein Vater hielt sich an meinem Arm fest, während wir hinter dem Sarg gingen.

„Sie hatte Angst, Sophia“, sagte mein Vater später, als wir allein zu Hause waren.

„Angst?“, wiederholte ich bitter. „Angst vor mir. Das war es, oder?“

Er schwieg, und das Schweigen sagte mehr, als Worte je gekonnt hätten.

 

Es war eine stille Nacht, als ich wieder einmal an meinem Schreibtisch saß, den Kopf in die Hände gestützt. Der Mond warf ein blasses Licht durch das Fenster, und der Wind ließ die kahlen Äste des Baums draußen an die Scheibe kratzen. Vor mir lag mein drittes Tagebuch, bereits halb gefüllt.

Ich griff nach meinem Stift und begann zu schreiben: „Heute habe ich die Worte meiner Mutter wieder im Kopf. ‚Das ist nicht mehr meine Tochter.‘ Aber wenn nicht ich, wer bin ich dann?“

Ich hielt inne und starrte auf die leere Wand vor mir. Dann klappte ich das Buch mit einem Frust zu und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken.

„Du wirst hier keine Antworten finden, Sophia“, sagte ich laut zu mir selbst.

„Vielleicht doch“, kam eine leise Stimme von der Tür. Mein Vater stand dort, zwei Becher Hagebuttentee in der Hand. Er trat näher, stellte eine Tasse neben mir ab und setzte sich auf die Kante meines Bettes.

„Papa“, seufzte ich, „es bringt nichts. Ich bin … ich bin ein Niemand.“

„Das stimmt nicht“, sagte er, legte die Hand auf meine Schulter und wartete, bis ich ihn ansah. „Du bist immer noch meine Tochter, Sophia. Du bist ein Wunder.“

Ich lachte bitter. „Ein Wunder? Das ist es, was die Medien sagen. Gesagt haben. Aber du weißt genau, dass die Leute mich für eine … eine Maschine halten. Selbst Mama konnte mich am Ende nicht mehr ansehen.“

Mein Vater schwieg. Er trank einen Schluck Tee, bevor er vorsichtig antwortete. „Deine Mutter … hat es nicht verstanden. Sie hatte Angst. Aber das heißt nicht, dass sie dich nicht geliebt hat.“

Mich? Ich wollte ihm glauben. Doch wie konnte ich es, wenn ich selbst nicht wusste, wer oder was ich war?

Am nächsten Tag fasste ich einen Entschluss. Ich musste herausfinden, was es bedeutete, noch „ich“ zu sein.

„Dr. Leclerc“, sagte ich, als ich ihr Büro betrat, „ich habe ein paar Fragen.“

Sie sah von ihrem Bildschirm auf und nickte. „Natürlich, Sophia. Setz dich.“

Ich ließ mich auf den Stuhl fallen, meine Hände umfassten die Armlehnen fest. „Wie viel von mir … ist echt?“, fragte ich schließlich.

Sie hob eine Augenbraue. „Das ist eine philosophische Frage. Dein Geist ist echt. Deine Erinnerungen, deine Persönlichkeit – alles, was dich ausmacht, ist hier“, sie tippte sich an die Schläfe. Ihre. Irritierend.

„Aber mein Körper?“

„Dein Körper ist eine Rekonstruktion. Biologische und synthetische Teile, die zusammenarbeiten. Stark genug, um dich am Leben zu halten, intelligent genug, um deinen Geist zu unterstützen.“

„Das klingt … kalt“, murmelte ich.

„Es ist die Wahrheit“, erwiderte sie. „Aber Sophia, ein Körper definiert nicht, wer du bist. Dein Geist tut das.“

Doch in mir blieb der Zweifel.

 

Die Nacht vor meinem zwanzigsten Geburtstag war still, fast gespenstisch. Der Wind heulte durch die Straßen, und gelegentlich hörte ich, wie Regentropfen gegen das Fenster meines kleinen Appartements prasselten. Ich saß am Schreibtisch, den letzten Band des Tagebuchs meines zweiten Lebens vor mir aufgeschlagen. Jede Seite war gefüllt mit meinen Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen – all dem, was mich in den vergangenen Jahren bewegt hatte.

Die Seiten schienen mich anzustarren, fordernd, als wollten sie wissen, ob ich wirklich bereit war, alles, was ich erlebt hatte, der Welt zu offenbaren. Ich strich mit den Fingern über das Papier, spürte jede Falte, jede Unebenheit. Glaubte, die Worte, die die ins Papier gesaugte Tinte zusammenschnörkelte, zu fühlen.

„Sophia“, sagte mein Vater auf dem Bildschirm, „du solltest schlafen. Morgen ist ein großer Tag.“

Ich sah zu ihm auf, ein müdes Lächeln auf meinen Lippen. „Ich weiß, Papa“, sagte ich, „aber ich kann nicht. Es ist zu viel.“

Sein Holo löste sich vom Schirm, setzte sich auf den Rand meines Bettes und betrachtete mich. Seine Augen waren voller Sorge, aber auch voller Stolz. „Du hast so viel durchgemacht“, sagte er, „und trotzdem bist du hier. Du bist unglaublich, weißt du das?“

„Manchmal fühle ich mich nicht so“, sagte ich leise, „manchmal fühle ich mich … leer. Als ob all das, was ich bin, nur ein Echo ist, ein Schatten meines früheren Lebens.“

Er griff nach meiner Hand und schien sie zu drücken wie ein Geist. „Das bist du nicht, Sophia“, sagte er, „du bist stärker, als du denkst. Und egal, was die Welt über dich sagt, du bist und bleibst meine Tochter.“

Seine Worte brachten Tränen in meine Augen, doch ich wischte sie schnell weg. „Danke, Papa“, sagte ich, „aber ich muss das hier tun. Ich muss meine Geschichte teilen.“

Am nächsten Morgen war der Himmel klar und die Sonne schien, als wollte sie mich an das Licht nach so vielen Jahren der Dunkelheit erinnern. Ich saß wieder an meinem Schreibtisch, mein Con eingeschaltet, das Tagebuch neben mir.

Ich öffnete das Medium, auf dem ich meine Geschichte veröffentlichen wollte. Es war eine Plattform, auf der Menschen aus der ganzen Welt ihre Gedanken und Erlebnisse teilen konnten. Hier würde ich meine Wahrheit erzählen, ungeschönt und ehrlich.

Elvira trat ins Zimmer, eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand. „Hast du schon angefangen?“, fragte sie, stellte die Tasse vorsichtig neben meinen Laptop und küsste mich auf die Schläfe.

Ich schüttelte den Kopf. „Noch nicht“, sagte ich, „ich … ich habe Angst.“

„Wovor?“, fragte sie sanft, „was könnte schlimmer sein, als es nicht zu versuchen?“

„Dass sie mich nicht verstehen“, antwortete ich, „dass sie mich nur als das sehen, was ich bin – oder besser gesagt, was ich nicht mehr bin.“

Sie setzte sich neben mich und legte eine Hand auf meine Schulter. „Sophia“, sagte sie, „die Menschen haben Angst vor dem, was sie nicht verstehen. Aber das bedeutet nicht, dass du schweigen solltest. Deine Geschichte könnte jemandem helfen. Jemandem, der genauso verloren ist, wie du es warst.“

Ich nickte langsam. Ihre Worte hatten Gewicht.

 

Stunden später saß ich immer noch da, meine Finger ruhten auf dem Con. Ich hatte den gesamten Text gescannt, in den letzten Wochen jedes Kapitel sorgfältig überarbeitet und jedes Wort abgewogen. Doch noch zögerte ich.

„Was, wenn ich einen Fehler mache?“, murmelte ich zu mir selbst.

„Das wirst du nicht“, sagte plötzlich eine Stimme. Ich drehte mich um und sah Elvira in der Tür stehen. „Dein großer Tag“, sagte sie lächelnd.

Ich lachte leise. „Es ist nicht gerade eine Party.“

„Vielleicht nicht“, sagte sie und ließ sich auf das Bett fallen, „aber es ist wichtig. Und du brauchst jemanden, der dich daran erinnert, wie großartig du bist.“

„Großartig?“, fragte ich skeptisch, „du hast die Reels gesehen, oder? Die Hälfte der Welt denkt, ich bin ein Monster.“

„Und die andere Hälfte denkt, du bist ein Wunder“, sagte sie, den kopf in die Hand gestützt, „du kannst es nicht jedem recht machen, Sophia. Aber du kannst ehrlich sein. Und das ist alles, was zählt.“

Ich atmete tief ein, meine Hände zitterten leicht, als ich das Con berührte und auf „Veröffentlichen“ tappte. Für einen Moment war alles still.

Elvira stand plötzlich hinter mir und legte eine Hand auf meine Schulter. „Du hast es getan“, sagte sie, „ich bin stolz auf dich.“

„Ich weiß nicht, was passieren wird“, sagte ich leise, „was, wenn sie mich hassen?“

„Dann werden sie dich hassen“, sagte sie schulterzuckend, „aber zumindest kennen sie die Wahrheit. Und das ist mehr, als die meisten Menschen je tun.“

Ich nickte langsam.  „Was denkst du, was ich bin? Ein Monster? Ein Wunder? Ein Freak? Ein Mensch?“

Einen Augenblick schwieg sie, dann sagte sie: „Du bist du.“

Und zum ersten Mal seit meinem Tod fühlte ich, dass ich, ich war.

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 47

 

Damals, in der wahren Zukunft

 

Hugo erwachte abrupt, als ein grelles Licht das Zimmer erhellte, während die Luft regelrecht zu knistern schien. Dann erlosch das Licht und ließ ihn allein in der Dunkelheit seines Zimmers zurück. Aber … allein? Seine geschärften Sinne verrieten ihm, dass jemand vor ihm stand.

„Hab keine Angst. Ich werde dir nichts tun, ich wollte dir nur etwas geben.“

Hugo konnte erkennen, dass etwas auf seinen Nachttisch gelegt wurde.

„Schau dir die Videobotschaft an und du wirst verstehen!“, sprach die Stimme in die Nacht hinein. Bevor Hugo noch irgendetwas erwidern konnte, erhellte abermals grelles Licht den Raum und sobald es erlosch, wusste Hugo, dass er nun wieder allein war.

Er richtete sich auf und mit dem Sprachbefehl „Licht“ erhellte sich der Raum. Wer war da bei ihm eingedrungen und wie? Sein Blick glitt zum Nachttisch und da sah er es. Zögernd ergriff er den Gegenstand und betrachtete ihn verwirrt. Es handelte sich doch offensichtlich um ein EGO-Board, doch als er es einschaltete, erschien dort nicht das übliche Symbol, welches die Verbindung zu dem Pentanet bestätigte. Was …? Doch bevor er überhaupt verstehen konnte, was geschah, wurde er von einem stechenden Schmerz erfasst, der wie ein Blitz durch seinen Körper schoss und ihn regelrecht ausschaltete.

Lichter und Farben fluteten wie ein wilder Orkan an mir vorbei und das Rauschen in meinen Ohren wurde unerträglich. Mein Körper schien unkontrolliert herumgeschleudert zu werden, es schmerzte höllisch, bis mich die rettende Dunkelheit des Nichts, verschluckte.

Zunächst hörte ich es wie aus weiter Ferne, doch allmählich wurden die Geräusche immer deutlicher. Etwas piepte in regelmäßigen Abständen, ich vernahm ein kurzes Surren und nahm, wage wahr, dass sich jemand über mich beugte, um mich von der Verkabelung zu befreien.

„Tres?“, vernahm ich eine bekannte Stimme.

Ich holte tief Luft und blinzelte kurz, bis ich mich an das grelle Licht gewöhnt hatte. Es dauerte einen Moment, bis ich den sterilen Raum des Bunkers erkannte und mich die Erinnerungen allmählich wieder einholten. Dann schaute ich benommen in das erwartungsvolle Gesicht meines Gegenübers.

„Hat es geklappt? Du warst tatsächlich weg!“

Ich brummte lediglich, zu erschöpft, um zu antworten. Langsam richtete ich mich auf, nahm das Glas Wasser, das Finn mir anbot dankbar entgegen und meinte dann: „Ja, die Berechnungen waren korrekt. Ich habe ihn glücklicherweise allein in seinem Zimmer angetroffen. Jetzt muss er das Tablet nur noch einschalten.“

„Wie hast du …?“

„Gib mir noch einen Moment, ok? Ich muss mich erst wieder an das hier und jetzt gewöhnen“, fuhr ich meinem Kumpel ins Wort.

„Gut. Dann komm erst mal wieder zu dir. Ich schaue gleich nochmal vorbei“, erklärte Finn und verließ das Labor.

Das hier und jetzt, überlegte ich und blickte mich um. Wie es jetzt wohl außerhalb des Bunkers aussah? Ob man sich nun hinauswagen konnte, ohne sich vor der allgegenwärtigen Bedrohung fürchten zu müssen, oder hatte sich vielleicht doch nichts verändert? Ich hatte getan, was ich konnte und hoffte nur, dass es den Lauf der Dinge verändert hatte.

Alles hatte im letzten Jahrhundert mit dem Klimawandel und dem großen Krieg begonnen, der dafür gesorgt hatte, dass die Mehrheit der Menschen ausgelöscht worden war.

Zunächst war es nur der extremen Trockenheit zu verschulden, dass es zu schweren Wald-und Flächenbränden kam, doch auch durch den Einsatz chemischer Waffen während des großen Krieges waren der größte Teil der Erdoberfläche zu einer trockenen, verkohlten Einöde mutiert. Vielerorts wurde das ohnehin schon knappe Grundwasser verseucht. Im Landesinneren von der Chemie, in den Küstenregionen vom Salzwasser, da der Meeresspiegel drastisch gestiegen war. Der Grundwasserspiegel war hingegen gesunken, weshalb ganze Wälder vertrockneten. Neben dem Wassermangel bestand Lebensmittelknappheit, da das Land entweder unfruchtbar oder verwüstet war.

Städte und Dörfer, die nicht direkt vom großen Krieg betroffen waren, fielen gewaltigen Naturkatastrophen zum Opfer. Viele Tier-und Pflanzenarten waren ausgerottet worden, und auch der Mensch stand nun auf der Liste der bedrohten Spezies. Die wenigen Überlebenden suchten Zuflucht in jenen Orten die noch Sicherheit und Hoffnung auf einen Neuanfang boten. Nach dem großen Krieg hatte es ein halbes Jahrhundert gebraucht, die fünf Megalopole, wie man die einzig bewohnbaren Großstädte dieser Welt auch nannte, aufzubauen. Und selbst diese Big Five waren nur Fassade.

Langsam kam Hugo wieder zu sich. Tageslicht flutete bereits den Raum. Was war geschehen? Er erhob sich und schaute auf die Data-Watch an seinem Handgelenk. Verdammt! Seine Vitalwerte waren für kurze Zeit komplett aus der Norm gewesen. Dennoch schien kein Alarm ausgelöst worden zu sein, denn niemand war gekommen, um nach ihm zu schauen. Aber wieso? Ein zweiter Blick auf die Data-Watch verriet ihm, dass er offensichtlich keine Verbindung zum Pentanet hatte. Schnell überprüfte er sämtliche Geräte, die mit der Watch verbunden waren und stellte fest, dass auch diese offline waren. Das konnte unmöglich sein! Ob es etwas mit diesem sonderbaren EGO-Board zu tun hatte? Er nahm es kurzerhand an sich und wollte schon sein Zimmer verlassen, als plötzlich eine Stimme ertönte, die ihn erschrocken innehalten ließ.

„Du bist vermutlich verwirrt und hast nun sicherlich sehr viele Fragen. Nachdem du dir diese Aufzeichnungen angesehen hast, wirst du es verstehen. Mein Name ist Tres, doch früher nannte man mich Hugo.“ Beim Klang der vertrauten Stimme stockte Hugo der Atem und verwundert schaute er nun auf das Board. Er war offensichtlich unbeabsichtigt mit dem Touch-Panel in Berührung gekommen und hatte so die Wiedergabe eines Videos gestartet. Überrascht blickte er in ein Gesicht, welches dem seinen verblüffend ähnlichsah, wenngleich sein Alter Ego etwas älter zu sein schien. Konnte das sein? War das…?

Hugo verdrängte den Gedanken, setzte sich auf sein Bett und schaute sich das Video an.

„Geboren wurde ich vor achtundzwanzig Jahren in einer der damaligen Big Five. Europolis blühte zu jener Zeit regelrecht auf und dies dank der fleißigen Bürger der Stadt. Es gab viele Neuheiten und moderne Technik. Elektronische Geräte vereinfachten das Leben und regelrecht alles war direkt mit dem Pentanet verbunden, egal, ob Haushaltsgeräte oder Fahrzeuge …“

„… oder Lieferdrohnen“, ergänzte Hugo, stoppte das Video und erhob sich. Er beobachtete die Drohne, die gerade vor dem Fenster schwebte, kurz sein Gesicht scannte und dann ein Päckchen in den P&P-AWS fallen ließ. Kurz rappelte es im Abwurfschacht und Hugo nahm die Lieferung an sich. Der wöchentliche Vorrat an Synthies war eingetroffen.

Er nahm wieder auf seinem Bett Platz, schob sich ein Synthie in den Mund und setzte das Video fort.

„Essen gab es in den Big Five schon lange nur noch in synthetischer Form, da bereits nach dem Krieg das Synthie-Food wegen der zunehmenden Lebensmittelknappheit eingeführt worden war. Die Energiebombe für den Tag bestand vorwiegend aus Algen, Insektenmehl und zahlreichen weiteren lebenswichtigen Inhaltsstoffen. Eine perfekte Diät, zumindest in den ersten Jahrzehnten, bis die Regierung vor einigen Jahren dazu überging, die Synthies mit bestimmten Psychopharmaka aufzuputschen, damit es in den Megalopolen friedlich zuging und die Bürger schließlich zu willenlosen Arbeitern der Elite wurden.“

Hugo hielt das Video an und rannte ins Bad. Es dauerte einen Moment, doch es gelang ihm, den Synthie herauszuwürgen und auszuspucken. Er atmete tief durch, dann ließ er sich erneut nieder und schaute weiter.

„Um über gesunde und starke Arbeiter zu verfügen, die den Big Five dienten, wurden Erbkrankheiten bereits vor der Geburt bekämpft. Mit dem Verfahren der Genschere konnte man das Erbgut verändern und kranke Gene herausschneiden, um es mit gesunden zu ersetzen. Und man konnte auch andere Schwachstellen ausbessern und den Menschen somit verbessern.

Um noch mehr Komfort zu erlangen, wurde in den Big Five der EGO-Chip eingeführt. Dieser neuartige Microchip hatte die Nanotechnologie revolutioniert und konnte bedeutend mehr als jeder herkömmliche Mikrochip. Durch ihn war man automatisch vernetzt und konnte ihn über Daumenabdruck-Scan mit anderen Geräten wie beispielsweise dem PC oder dem EGO-Board verbinden, um sämtliche Daten abzulesen.

Auf dem EGO-Chip wurden persönliche Angaben gespeichert, die man jederzeit vorweisen konnte. Mit dem Chip steuerte man sein Auto, hatte Zugang zum Haus, dem Arbeitsplatz und zu allen anderen Orten, die man berechtigt war, aufzusuchen. Und er löste Alarm aus, wenn man sich unbefugten Zutritt verschaffte und seinen Arbeitsplatz oder die Stadt verlassen wollte. Der EGO-Chip wurde zum Bezahlen verwendet, ersetzte die Gesundheitskarte und den Personalausweis. Alle Informationen des Ego-Chips wurden von Smart-Scannern aufgefasst, sobald man sich diesen näherte. Nur wenn der Scanner grünes Licht gab, bekam man Zutritt zu Geschäften, öffentlichen Gebäuden, Behörden, Bahnhöfen, Flughäfen und Banken. Auch Waffen und andere gefährlich eingestufte Gegenstände konnten über die Scanner erkannt werden. Auf diese Weise sorgte man angeblich für die Sicherheit und konnte Abtrünnige aufspüren.

Der EGO-Chip war ausschließlich für die Arbeiterklasse bestimmt, da er ihnen das Leben erleichtern sollte, doch in Wahrheit verschaffte sich die Elite somit bessere Kontrolle über den Bürger. Die meisten ließen sich den EGO-Chip widerstandslos einpflanzen, doch es gab auch einige, die sich widersetzten. Vermutlich hatten diese die Synthies nicht regelmäßig eingenommen, oder der erwünschte Effekt war aus irgendeinem Grund ausgeblieben. Diese kleine Minderheit floh aus den Megalopolen und schloss sich jenen an, die in den verbotenen Zonen außerhalb der Stadt lebten und sich Nahrung auf andere Weise beschafften. Die Anzahl dieser Widerstandskämpfer, wie sie sich selbst betitelten, wuchs im Laufe der Zeit rasant, da viele Bürger der Megalopolen von den Rebellen verschleppt, und auf Entzug gesetzt wurden, bis sie wieder einen klaren Kopf bekamen und sich den Widerstandskämpfern anschlossen.“

Hugo schaltete auf Pause und atmete tief durch. Konnte das wirklich sein? Er war immer davon ausgegangen, dass die Regierung stets das Beste für den Bürger tat, aber wieso hatte er das System nie hinterfragt? Mit einem mal erschien es völlig offensichtlich: Es gab drei Kategorien: Den Arbeiter, der den ganzen Tag schwer schuftete ohne sich zu beklagen und der als einziger den EGO-Chip trug, die elitäre Regierung, welche als Legislative die Gesetze bestimmte, für die Rechtsprechung verantwortlich war und die lediglich den neugewonnenen Luxus von früh bis spät genoss, während sie den Arbeiter dafür gnadenlos ausnutzte. Und schließlich gab es noch die Administratoren, die für die Verwaltung verantwortlich waren und die dafür sorgten, dass die Arbeiter ihren Job taten und sich an die Gesetze hielten. Außerdem bespaßten sie die Elite, indem sie sogar selbst aktive Künstler waren. Sie waren Schauspieler, Sänger und Helden in der Spielarena, wo sie bis zum Tode spielten oder kämpften. Hugo wurde übel, als ihm klar wurde, wie grausam das System war und wie die elitäre Regierung die anderen zwei Gruppen ausnutzte und unterdrückte. Wieso war er nur so blind gewesen? Und warum taten die Administratoren das, was die Elite von ihnen verlangte, ohne es in Frage zu stellen? Das konnte doch unmöglich an den Synthies liegen! Wieso wehrte sich niemand?

Zögernd berührte Hugo das Board und spielte die Aufnahme weiter. „Da die Anzahl der Aufständischen wuchs und allmählich zur Bedrohung wurde, fasste die Regierung schließlich einen drastischen Entschluss. Sie würde die Arbeiterklasse auslöschen und ersetzen.“

Hugo drückte erneut auf Pause. Die Arbeiter auslöschen? Das konnte die Regierung doch unmöglich tun! Und wie wollte sie all diese Menschen überhaupt ersetzen? Er holte tief Luft und schaute weiter.

„Du wirst dich mittlerweile wundern, weshalb du die Regierung und ihre dubiosen Machenschaften nie hinterfragt hast. Anders als du vielleicht vermutet hast sind es nicht die Synthies, die dir das Gehirn vernebelt haben, da die Synthies der Administratoren tatsächlich nur lebenswichtige Inhaltsstoffe und keine Psychopharmaka beinhalten. Die Administratoren wurden allesamt von einem Programm der Regierung erschaffen, um der Elite bedingungslos zu dienen. Genauso wie alle anderen Administratoren bist auch du nichts anderes als ein Laborprodukt, zusammengestellt aus künstlich erzeugtem Erbgut. Dein Körper ist perfekt. Du wurdest durch Gentechnik optimiert. Du bist stärker und ausdauernder als jeder Arbeiter, deine Sinne wurden geschärft und optimiert. Wie alle Administratoren bist auch du im Forschungsinstitut aufgewachsen und wurdest dort speziell für deine Aufgabe ausgebildet.“

Abermals stoppte Hugo das Video und holte tief Luft. Er sollte ein reines Laborprodukt sein? Das war doch unmöglich! Und dennoch beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Es stimmte: Er kannte weder Krankheiten, noch besaß er irgendwelche Schwächen. Er schien sogar immun gegen jede neuartige Infektionskrankheit, und obwohl er vor einiger Zeit außerhalb Europolis einem Nervengas ausgesetzt worden war, so hatte es ihm nicht schaden können. Aber er erinnerte sich an eine ganz normale Kindheit und er hatte Eltern. War das etwa alles eine Lüge?

„Zwar besitzt du keinen EGO-Chip, dennoch wurde dein Cortex mit einem Brainmarker versehen, der deine Sinneswahrnehmung, dein Denken, sowie dein Bewusstsein und deine Persönlichkeit beeinflusst. So nahm man dir auch die Erinnerungen und ersetzte diese durch andere, nicht reale. Um den Brainmarker lahmzulegen, habe ich das Board mit einem Virusprogramm versehen, das aktiviert wurde, als du es eingeschaltet hast. Auch sollte deine Pentanetverbindung unterbrochen worden sein. So wird die Elite dich nicht mehr manipulieren und kontrollieren können. Auch die wahren Erinnerungen an das Labor, die Experimente und die Ausbildung werden allmählich zurückkehren.

Du wurdest zu einem Hunter ausgebildet und erhieltest die Kennziffer HU60, weshalb man dir später den passenden Decknamen Hugo gab.“

Hugo war geschockt. Man hatte ihn all die Jahre manipuliert wie einen Arbeiter? Das erklärte natürlich auch die Administratoren des Sektors GE, die willig als nummerierte Gemes oder James in die Game-Empire-Arena traten und bis zum Tode spielten und kämpften. Oder die wunderschönen Dollys, die sich bereitwillig den Elitemännern zur Verfügung stellten und mit welchen diese Monster all ihren perversen Phantasien freien Lauf ließen. Es war widerlich!

„Schon bald wird ein weiteres Geheimprojekt der Regierung sein Ziel erreicht haben. Es läuft unter dem Namen CO.BRA. Neurowissenschaftler haben gemeinsam mit Neuroinformatikern die Funktionsweise des Gehirns auf Computern nachgebildet, um es dann zu perfektionieren. Dadurch wird eine verbesserte Version des künstlichen Menschen entstehen, der über ein wahres Computergehirn verfügt. Er wird sowohl die Arbeiter als auch verschiedene Administratoren ersetzen.

Die CO.BRAs, wie man die Computer-Brain-Laborprodukte auch nennen wird, werden wahre Genies sein, doch die Regierung wird sie unterschätzen. Die CO.BRAs sind zu intelligent und werden sich nicht von der Elite kontrollieren lassen. Sie sind humanoide Maschinen ohne jegliche Gefühle, die nach Perfektion streben und sich niemandem unterordnen. Sie werden sich der Elite folglich widersetzen und ihren Platz einnehmen, den Arbeiter zunächst versklaven und ihn dann schließlich wie die Administratoren auslöschen, da sie beide Gruppen als fehlerhaft einstufen werden.

Ich habe es Finn zu verdanken, dass ich überlebte. Er hat sich damals um mich gekümmert als ich außerhalb der Stadt als Hunter unterwegs war, um Abtrünnige aufzuspühren. Ich wurde in eine Falle gelockt. Finn fand mich schwerverletzt und kümmerte sich um mich. Er entdeckte die Kennzeichnung in meinem Nacken, die HU 60 und nannte mich kurzerhand Tres. In seiner Muttersprache bedeutet dies angeblich sechzig. Finn hatte kurz zuvor ein Programm entwickelt, das den Brainmarker außer Gefecht setzt. Dieses testete er zum ersten Mal an mir und es hat funktioniert. Ich hatte Glück, denn während ich mich außerhalb Europolis bei Finn befand, waren die CO.BRAs aktiviert worden und hatten sogleich die Kontrolle übernommen. In der Megalopole war das Chaos ausgebrochen. Dies war der Anfang einer neuen Ära, in welcher die CO.BRAs die Welt beherrschen würden und die verbliebenen Menschen jagten. Es dauerte einige Zeit, bis wir herausfanden, was geschehen war und wie die CO.BRAs entstanden waren. Es brauchte Jahre, diese neue Spezies zu analysieren und einen Weg zu finden, sie unschädlich zu machen. Inzwischen lebten wir in einem Bunker, in welchem wir sicher waren und wo wir forschen konnten. Doch wir fanden keinen Weg, die CO.BRAs unschädlich zu machen. Hätte man gewusst, was die Regierung plante, so hätte man bereits damals das Projekt CO.BRA unschädlich machen müssen, bevor diese Dinger überhaupt erschaffen wurden. Also setzten wir uns ein weiteres Ziel: einen Weg zu finden, um in die Vergangenheit zu reisen. Und es schien tatsächlich möglich zu sein, wenn auch nur für wenige Sekunden. Das hätte aber nicht gereicht, um selber handeln zu können. Daher liegt es nun an dir, das Projekt CO.BRA zu stoppen. Aber zunächst solltest du die Brainmarker der anderen Administratoren lahmlegen. Dazu musst du lediglich mit dem eingeschalteten Board in ihre Nähe kommen. Du wirst Verbündete brauchen, um dir freien Zugang zum Hauptcomputer des Labors von CO.BRA zu verschaffen und diesen dann zu manipulieren.

Auch sollte man sich um die Synthies der Arbeiter kümmern, damit sie nicht länger unter Drogen stehen. Um ihre EGO-Chips zu deaktivieren, muss die Verbindung zum Pentanet lahmgelegt werden. Und zu guter Letzt veröffentliche unser Tagebuch, welches du ebenfalls als Videodatei auf dem Board findest. Sobald die Bürger, und Administratoren begreifen, welches Spiel mit ihnen gespielt wurde, wird es ein Leichtes sein, die Regierung zu stürzen.“

„Tres, das musst du dir ansehen! Es ist …“ doch Finn verblasste plötzlich und verschwand mit einem Mal, genauso wie sich alles um mich herum veränderte. Das hier und jetzt war plötzlich anders. Die erste Version meines Lebens war offensichtlich verpufft.

Seven blickte um die Ecke und gab Hugo ein Zeichen, und dieser betrat die Computerzentrale. Er hätte nie gedacht, dass er tatsächlich so viele Administratoren auf seiner Seite haben würde. Er hatte ihre Brainmarker deaktiviert und es war erstaunlicherweise ein Leichtes gewesen, sie von der Wahrheit zu überzeugen, vor allem nachdem sie alle ihre wahre Erinnerung zurückgewonnen hatten. Seven war der Erste, der sich bereit erklärt hatte, ihm zu helfen. Mit seiner Hilfe hatte Hugo zunächst das Synthie-Labor gesäubert, so dass die Arbeiter mittlerweile einen klaren Kopf erlangt hatten und es vermehrt zu Unruhen gekommen war. In der Zwischenzeit hatte sich Otto um die CO.BRAs gekümmert. Als Laborassistent LA8 wusste Otto, wo sich der Hauptrechner des Labors befand und mit dem deaktivierten Brainmarker konnte er sich nun frei fortbewegen und ungestört die Formel ändern. Die Vitalwerte der in zylinderartigen Säulen aus Plexiglas schlummernden Humanoiden fielen sogleich und gaben schließlich keine Lebenszeichen mehr von sich.

Und nun war Hugo an der Reihe. Geschickt glitten seine Finger über die Tastatur. IT410, auch Italo genannt, hatte Hugo erklärt, dass es möglich war, nur die EGO-Chip-Verbindung lahmzulegen, und dies tat Hugo auch. Dann übertrug er die Videodatei „Tagebuch – damals, in der wahren Zukunft“ auf den Hauptcomputer. Die Menschen sollten die Wahrheit erfahren. Hugos Blick fiel auf das Datum, das unten auf dem Bildschirm angezeigt wurde. Unwillkürlich musste er grinsen. Es war Freitag, der 13. November 2150. Das war sein Geburtstag! Heute wurde er 20 Jahre alt und würde in wenigen Sekunden Tres‘ Tagebuch veröffentlichen. Oder sollte er besser sagen, das Tagebuch seines zweiten Lebens?

 

 

ENDE

 

 

 

Beitrag 48

 

Ein Ende ohne Anfang

 

Diese geistigen Absenzen oder waren es Erinnerungsbruchstücke? Wurden seit kurzem immer zahlreicher.

Mitunter erschreckten sie mich. Woher kamen sie bloß? Sie hatten mit mir nichts zu tun, doch jedes Mal, wenn sie sich rohgewaltig, wie verflossene Erinnerungen in meine Gedankenwelt hinein mogelten, schlichen, glaubte ich, Wahrheiten zu erkennen. Erlebtes. Selbsterlebtes. Vertrautes. Schreckliches. Wohltuend Schönes. Schmerzhaftes. Einfältig Dummes. Irrsinniges!

Zu Beginn, als es anfing, mich einzufangen, zu stören, belästigen, jedoch auch Neugierde zu wecken, versuchte ich, es abzuschütteln, ihm zu entkommen. Waren es zunächst nur sporadische, fast seltene Momente, gelang es mir, sie zu bagatellisieren. Doch jetzt avancierte ich allmählich zum unfreiwilligen Gefangenen von etwas, das mich zu dominieren gedachte. Es machte mir Angst. Schlimmer, ich spürte, dass ich damit nicht umgehen konnte, auch gar nicht wollte.

Ich sass da, Myriam neben mir, den Kopf an mich gelehnt, spürte ihre Anhänglichkeit, ihre Traurigkeit. Wir spürten dasselbe. Dieses Künstliche, diese sterile Welt. Aber sie war real. Die Plastikbäume mit ihren sattgrünen Blätter, von denen kein einziges herunterfiel. Wir kämpften beide gegen die aufdringliche Erinnerung, die uns allmählich vorführte, dass wir einmal Hand in Hand durch bunte Wälder spazierten. Millionen von farbigen Blättern, die der Wind von den Bäumen riss und den Erdboden in einen federnden Teppich verwandelte. Myriam unterbricht die vorherrschende, furchterregende Stille:

   „Warum kehren wir nicht dahin zurück? Es war so wunderbar. Wir kannten dort auch Stille, aber es rauschten Bäche, es zwitscherten Vögel, es summten Bienen und es roch nach Pflanzen, warum sind wir hier?, wo die Stille weh tut, sie ist der Tod, wir sind tot, lass uns dahin zurückkehren.“ Ich drückte sie sanft an mich und sie schmiegte sich noch enger an mich.

      „Du lebst, ich lebe, wir wissen nicht, wie wir hierher gekommen sind und warum.“

 

Bedrohlich hörte sich das Motorengeräusch eines vor unserem Häuschen anhaltenden Fahrzeuges an.

Wir hatten beide Angst, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Wir zuckten zusammen, als jemand heftig an die Türe polterte.

         „Sie werden uns trennen, sie werden mich mit Gewalt von dir fortnehmen“, flüsterte Myriam, zitternd vor Angst und umarmte mich. Es polterte noch heftiger an der Tür.

 

         „Ich muss aufmachen, sonst schlagen sie dir Türe ein“, und löste mich sanft von ihr, „bleib ruhig sitzen, ich werde es nicht zulassen, dass sie dir etwas antun, oder dich mitnehmen.“

Die Türe öffnete ich mit einem schnellen Ruck, stellte mich in die Mitte des Türrahmens und sagte aufgebracht:

         „Was sind Sie denn für ein Vollidiot, können Sie nicht die Klingel benutzen?“ Gleichzeitig stellte ich fest, dass da gleich fünf Personen eingefahren sind. Drei Männer im Vordergrund, hinter ihnen zwei Frauen, eher Weiber, hässliche Weiber, genauer beschrieben, denn da war nichts Feminines an ihnen. Strohdumme Beamtengesichter. Doppelkinn, dicklich, Fressen zum Dreinschlagen. Schlimme Gefühle übermannten mich. Die werden uns fertig machen, war ich mir sicher. Diese Nationalgarde, wie sie schon geraume Zeit genannt wird, hatte alle Vollmachten und Rückendeckung seitens der Obrigkeit. Es gab zwar in unseren ersten Leben auch keine Gerechtigkeit, aber doch eine intakte Humanität, was die Menschenrechte in den sogenannten Demokratien in zentral- und Nordeuropa anbelangte. Das hier war der Rückfall ins tiefe Mittelalter. Ohne die Kirchen allerdings. Die waren allmählich dem Zerfall geweiht. Theologie studieren wurde regelrecht verhöhnt, Kirchen abgerissen oder zu andern Zwecken verkauft. Ironischerweise für Nachtklubs, Diskotheken, jedoch auch für Museen und Bibliotheken.

 

* * *

 

Als uns Fiona Berenguer und ihr Verlobter, Stephan Larsen besuchten, erfuhren wir, – Myriam und ich – dass in dieser kleinen Stadt gegen zwanzig Menschen lebten, die sich allmählich an ihr vorangegangenes Leben erinnern konnten. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr Erinnerungen fanden sich ein. Das hatte zur Folge, dass einige der mit diesen „Fähigkeiten“ oder Begebenheiten ausstaffierten Zeitgenossen, ihr Leben beendeten, weil sie alle die negativen Veränderungen nicht mehr ertragen konnten. Jetzt, wo ich das erzähle, sind unseres Wissens nur eine Handvoll Menschen übrig, die den geistigen Anschluss zu ihrem ersten Leben zurückholen konnten, bzw. sich nach und nach erinnerten.

Wir wurden von der Obrigkeit registriert, stehen unter permanenter Beobachtung und haben die Auflage, alle unsere Erinnerungen in Form eines Tagebuches aufzuschreiben. Bei mindestens fünf nicht mehr unter den Lebenden Weilenden, gehen wir davon aus, dass sie ermordet wurden. Der Grund dafür dürfte sein, dass diese Personen zum Risiko der Obrigkeit avancierten, indem sie einen Staatsstreich oder etwas Ähnliches geplant hatten. Andererseits versah uns die Obrigkeit mit leichten Vorzugsrechten, da sie offensichtlich befürchtete, dass gewisse Überlieferungen endgültig versiegen würden, wenn wir nicht mehr wären.

 

Zusammenkünfte zwischen uns – Auserwählten – wollte die Obrigkeit zunächst nicht gestatten, doch Stephan Larsen, der in seinem ersten Leben als Dozent an Fachhochschulen tätig war, konnte die Obrigkeit davon überzeugen, dass der Erfahrungsaustausch zwischen uns allen noch mehr Erinnerungen fördern würde. Damit waren sie einverstanden.

 

Ein großes Problem hatte die Garde mit mir und Myriam. Sie war gerade vierzehn geworden, ich 26. Sie stammte aus Ungarn und wuchs mit ihrer Mutter und einem älteren Stiefbruder auf. Wir waren Nachbarn. Als ihre Mutter starb, begann eine Horrorzeit für sie. Ihr Stiefbruder begann, sie körperlich zu malträtieren. Ich erfuhr es als Nachbar von einer Mitschülerin von ihr, die gleich neben meinem Apartment wohnte. Ich kannte Myriam schon als kleines Mädchen und entwickelte große Beschützerinstinkte für sie. Da fackelte ich gar nicht lange, sprach sie an und nahm sie kurzerhand zu mir in meine Wohnung. Zunächst als kleines Schwesterchen, nach einem Monat als Freundin und nach zwei Monaten als meine Jugendliebe. Wir lieben uns. Damals und heute. Der oder diejenigen, welche sie mir wegnehmen wollen, sollten auch gleich das Testament gemacht haben! Aber nun wurde die Sache schwierig.

 

* * *

 

Was fällt Ihnen ein, so mit uns zu sprechen“!, ereiferte sich der grau Melierte, „Sie sind eine Woche in Verzug mit Ihren Berichten, wo ist das Mädchen?, wir nehmen es mit, es muss noch zwei Schuljahre absitzen und wird nicht mehr bei Ihnen wohnen.“

         „Auf welche rechtliche Grundlage bauen Sie, das Mädchen einfach mitzunehmen? Wir leben und wohnen zusammen, wir gehören zusammen. Die Schule will ich zuerst sehen, inklusive die Lehrer.“

         „Wer glauben Sie eigentlich, wer Sie sind,“ empörte sich der Kakadu mit seinem grau melierten Zopf erneut. „Wir brauchen keine rechtliche Grundlage, wir sind die Grundlage, los Rose, holen Sie das Mädchen aus dem Haus“, rief er zu einer, dieser hässlichen Mannweibern, der nur noch fehlte, dass sie eine alte Kalaschnikow umgehängt hatte. Rose, dass ich nicht gleich umfalle, die schaut eher aus, wie eine verfaulte Distel.

 

Doch die Distel setzte sich in Bewegung und kam zielbewusst auf unsere Haustüre zu. Ich versperrte ihr den Weg.

Und der Kakadu schrie in meine Richtung:

         „Lassen Sie sie rein, oder wir nehmen Sie beide mit.“ In diesem Moment sauste meine Faust aus, traf die Distel mitten im Gesicht. Blut spritzte aus ihrer Nase. Der zweite Schlag wäre nicht mehr notwendig gewesen, denn die Distel klappte auf den kleinen Vorplatz. Ihr jetzt  kalkweißes Gesicht passte gut zum Rot des Blutes, doch nun hatte ich uns – Myriam und mich – in eine ziemlich hoffnungslose Situation gebracht. Kakadu befahl den andern beiden Trittbrettfahrern, die Distel am Boden zum Fahrzeug zu bringen. Dann guckte er zu mir, sein Gesicht war nun auch kalkweiß und seine Stimme zitterte, wie die eines stotternden Rocksängers, der nur noch Laute von sich gibt, weil der Text nicht für die volle Länge des Stückes geschrieben wurde.

         „Wir sind in zwanzig Minuten wieder da, wir bringen die Schlimmsten unserer Garde mit und nehmen Sie beide in Gewahrsam. Ich versichere Ihnen, dass sie den Tag Ihrer Wiedergeburt verfluchen werden, und sie dürfen zugucken, was wir mit Ihrem Mädchen anstellen.“

 

Ich war gefordert, musste mir sofort etwas einfallen lassen. Die dürfen Myriam nicht kriegen, ich muss sie schützen vor diesen Bastarden.

 

Kakadu und seine Mitläufer brachen auf, sie wussten, dass sie keine Chance hatten gegen mich und vor allem hatten sie keine Lust, so zugerichtet, wie die Distel zu werden. Ich war top fit, beherrschte Judo sowie Aikido und war auch bereit, es schonungslos einzusetzen. Doch ich wusste, dass die Garde mit Schlagstöcken und Handfeuerwaffen einfahren würde. Ich hätte nie eine Chance.

Ich ging ins Haus, Myriam stürzte mir entgegen in meine Arme und rief verzweifelt:

         „Wir müssen weg, so schnell wir können, bitte Jan, sie werden uns töten, bring uns fort!“ Mein Satelliten-iPhone hatte bereits Verbindung mit Stephan Larsen. Ich erzählte ihm im Telegrammstil, was vorgefallen war.

 

* * *

 

Fiona Berenguer hatte uns vor etwa drei Monaten in einen Fluchtplan eingeweiht, von dem sie sicher war, dass die Obrigkeit ihn nicht kannte. Sie lebte in ihrem ersten Leben mehr als fünfzehn Jahre auf einer der über dreissig Seychelleninseln. Sie war überzeugt, dass dort ein Leben wie vor 150 Jahren noch möglich war. Für alle, von uns „Auserwählten“, war dies der Strohhalm, am Leben zu bleiben, und unser Bestreben war es, gezielt auf diesen Moment hinzuarbeiten. Die Hauptschwierigkeit dabei bestand darin, den Hafen von Southampton zu erreichen. Unser jetziger Standort war eine Exklave, die sich zwischen Deutschland, Österreich und Tschechien etablierte und zunehmend wieder Nazi-Methoden einführte. Die Regierungen dieser drei Länder wurden zwischen 2118 und 2126 gestürzt, die Verfassungen außer Kraft gesetzt, mehrere Politiker ermordet. Es gab zwar keinen dritten Weltkrieg, aber haufenweise lokale Scharmützel, welche fast ausschließlich durch ideologische Motive ausgelöst wurden und nicht etwa durch territoriale Ansprüche. Trotzdem gab es viele Tote. Ungleich viel mehr Tote waren jedoch zu beklagen durch klimatische Ursachen, denen der Homo sapiens nichts mehr entgegenzusetzen vermochte, außer Flucht in Gebiete welche (noch) nicht in diesem Ausmaß betroffen waren. Dazu gehörten Hitzewellen und Überschwemmungen. Die Politiker, weltweit, traten damit auf, was sie seit Urzeiten zum Besten gaben, die Schuld für alles ihren Vorgängern in die Schuhe zu schieben.

 

Da bei unseren unregelmäßigen Treffs jeweils ein Mitglied der Obrigkeit zugegen war, – sonst wären die Meetings nicht erlaubt worden – war es uns nicht vergönnt, Privates oder besser, Geheimes, zu erörtern.

 

Fiona, Stephan und die andern waren einhelliger Meinung, dass eine Flucht jetzt anstand, ich sagte Fiona am Telefon:

         „Beschreib uns den Weg, wo treffen wir uns alle, wir müssen es jetzt riskieren, wenn die Myriam und mich aus dem Verkehr ziehen, seid ihr die Nächsten. Sie haben Angst vor uns. Beschreib mir den Weg, bitte.“ Sie sprach präzise und langsam im Telegrammstil und endete mit:

         „Eine Delegation von sechs Personen der Obrigkeit fliegt morgen mit einer Fokker nach Bratislava. So glauben sie wenigstens. Wir steigen heute Nacht, wenn die Maschine noch im Hangar steht, in den Laderaum. Emil Ruster, der Pilot sowie Anni Szabo, die Co-Pilotin, wissen es und setzen sich mit uns ab. Sie fliegen nicht nach Bratislava, sondern nach Plymouth, dort täuschen wir eine Notlandung auf dem Wasser vor. Ein Boot rettet uns. Die Passagiere der Obrigkeit lassen wir absaufen. Alles klar?“ Ich schluckte leer, lächelte, schloss Myriam in die Arme, küsste sie begehrlich und flüsterte:

         „Wie wunderbar ist es doch, intelligente, unerschrockene Menschen als Freunde zu haben.“

 

* * *

 

Wir packten gekonnt schnell, wussten, um die wichtigen Utensilien, die wir mitnehmen wollten. Geld, Dokumente, Notwäsche, Miniverpflegung und verließen unser Häuschen durch das Kellerfenster, die Böschung hinunter zum schon lange trockenen Bachbett und von da noch weiter hinunter bis in den toten, ehemaligen Wolfswald. Angeblich gab es dort vereinzelte, dahinvegetierende Wölfe, doch das kümmerte uns nicht, denn falls uns da noch welche über den Weg laufen sollten, erschieße ich sie mit meiner Pistole Colt 2020F.

Wir trafen aber keine an und erreichten nach einer Dreiviertelstunde den alten Jägerhorst, wo wir Rast machten, vom mitgebrachten Wasser tranken, zwei belegte Brötchen assen und uns danach hingebungsvoll liebten. Wir wussten, dass die Garde uns bereits suchte. Hierher kamen sie bestimmt nicht, denn es gab hier nichts, wovon man leben oder sich erfrischen konnte. Ein sehr ungeeigneter Ort, um sich zu verstecken, und wer von da wieder heraufkam, egal auf welcher Stadtseite, wurde garantiert gesichtet und spätestens dann, war jede Flucht zu Ende. Wir würden jedoch nicht mehr nach oben zurückkehren, sondern hier unten auf die zwei Motorroller von Fionas Freunden warten.

 

Sie kamen erst gegen zehn Uhr nachts. Wir hörten sie kaum. Myriam setzte sich auf den Rücksitz von Eugene Roth, ich auf denjenigen von Gilbert, Eugens Bruder. Die Fahrt dauerte über eine Stunde, bis wir die Rückseite des kleinen Flughafens außerhalb vom ehemaligen Zwiesel erreichten. Die Roller ließen wir zurück und pirschten uns laut- und lichtlos an den Hangar heran.

 

Bevor wir nervös wurden, weil fast eine Stunde lang nichts passierte, erspähten wir das dreimal kurze Aufblinken einer LED-Taschenlampe. Geduckt näherten wir uns dem Hangar. Die Türe öffnete sich von innen, eine Hand erschien im fahlen Licht und winkte uns herein. Fiona und Stephan waren da, mit uns vier waren wir vollzählig. Der Pilot und Co-Pilot, kommen von außen. Niemand weiß, dass sie beide zu uns gehören. Zum Glück gab es im Hangar etwas Komfort. Allem voran Toiletten, zwei Lavabos. Sogar eine Kaffeemaschine, Kaffee, Milch.

 

Fiona instruierte, dass wir uns gegen fünf Uhr im Laderaum der Fokker einbetten mussten, denn ab spätestens sechs Uhr würden die ersten Leute auftauchen, um die Maschine aus dem Hangar zu fahren. Der Start des Abfluges war für sieben Uhr vorgesehen.

 

Wir tranken Kaffee und ließen uns von Fiona und Stephan das ganze Drehbuch erzählen, was passieren würde, sobald sich die Fokker in der Luft befände.

         „Diejenigen, die nach uns dein Tagebuch lesen, Fiona, werden bestimmt nicht einschlafen dabei. Eine Veröffentlichung würde gewiss gut ankommen. Erhalten wir als Mitprotagonisten ein Belegexemplar?“,

fragte ich abschließend.

 

* * *

 

Es war eine riesige Nervenzerreißprobe, als wir – sechs blinde Passagiere – im Laderaum der Fokker, eng aneinandergedrängt und zugedeckt mit einer Zeltplane, den Start erlebten. Wir wussten nicht einmal, ob im Cockpit unsere Verbündeten – Emil Ruster und Anni Szabo – die Maschine flogen oder ob eine andere Crew dies tat. Es war niemandem von uns vergönnt, die Ankunft der beiden abzuwarten, denn wir mussten uns rechtzeitig im Laderaum unterbringen, bevor uns jemand entdeckte.

 

Es war eine Tortur sondergleichen. Die Kraft dafür, sie durchzustehen, schöpften wir aus dem Traum und der Hoffnung, in drei bis vier Wochen auf einer Seychelleninsel an der Sonne zu liegen, um in unser erstes Leben zurückzukehren und es zu genießen. Nach einer für uns alle, gefühlten Ewigkeit, spürten wir, dass die Fokker absackte. Das war kein Landeanflug, das war ein simulierter Notlandeanflug. Wir hörten Schreie aus dem über uns liegenden Passagierraum. Das Aufheulen der Rotationsmotoren warnte uns, dass demnächst der Aufprall auf dem Wasser erfolgen muss. Und da krachte es auch schon. Der Schrecken war größer, als der Schaden, den der Aufprall bewirkte, denn wir waren gut vorbereitet, lagen auf dem Rücken und schützten unsere Köpfe mit Kleidungsstücken und Frottiertüchern. Wir schaukelten jetzt auf dem Wasser, erhoben uns, balancierten zur Laderaumtür. Wir hörten das Horn eines Schiffes. Ganz nahe schien es und im nächsten Moment erblickten wir Emil und Anni, welche bepackt mit je einem Rucksack die Leiter vom hinteren Teil des Passagierraumes benutzten doch die Luke von unten verriegelten. Es gab von oben keinen andern Zugang in den Laderaum. Als vom Schiff her drei kurze Hupzeichen zu vernehmen waren, gab Fiona das Zeichen an Emil, die Laderaumtür zu öffnen, was dieser sofort in die Tat umsetzte.

Es ging alles sehr schnell, wir stiegen einzeln in ein großes, eben angekommenen Schlauchbootes, ließen die Laderaumtüre offen. Nach nur sechs Minuten Fahrt, legte das Schlauchboot auf der Backbordseite eines Kutters an, wo wir wiederum einzeln eine Aluleiter von neun Sprossen emporstiegen und an Bord des Kutters gelangten. Freundlich wurden wir empfangen und ich staunte einmal mehr, was Fiona für bemerkenswerte Beziehungen pflegen konnte, trotz der streng überwachten Exklave mit ihrer abartigen Obrigkeit und ihrer abscheulichen Garde. Der Kutter, etwa 16 Meilen vom Hafen von Plymouth entfernt, fuhr los Richtung Osten nach Southampton, wo unser Schiff wartet, um uns ins Paradies zu bringen. Viel Raum war nicht auf dem Kutter, aber wir waren froh, dem schlimmen Ort ohne Zukunft entronnen zu sein. Myriam kuschelte sich ein bei mir und ich gab ihr Geborgenheit, die sie so sehr brauchte.

 

Aus weiter Ferne sahen wir die Blitze, welche der Zeitzünder einer Plastikbombe auf der Fokker auslöste. Von der leicht erhöhten Steuermannskabine auf dem Kutter und mit Fernglas, war das Sinken kurz auszumachen, bestimmt schwammen da ein paar Wrackteile herum. Überlebende wird es keine geben, denn das Wasser hat bestenfalls 5 bis 6 Grad Celsius. Und 16 Meilen schwimmen, ohne vorher zu erfrieren, war für diese verweichlichte, vollgefressene Brut schlicht illusorisch.

Gegen Mitternacht erreichten wir Southampton. Auch hier funktionierte die lange Organisations- und Beziehungshand von Fiona und Stephan in beeindruckender Weise. Schöne Hotelzimmer. Herrliche Betten. Todmüde und überglücklich fielen wir in die Federn. Myriam deckte mich zu, mit sich selbst.

 

* * *

 

Beim Frühstücken im Hotel, es war etwa gegen neun Uhr morgens, waren wir gespannt, ob im TV oder einer Tageszeitung etwas berichtet wurde über eine versunkene Fokker. Doch nichts, überhaupt nichts wurde gemeldet oder geschrieben, als hätte gar nichts dergleichen stattgefunden.

 

Auch heute, am dritten Tag unserer Flucht, schien alles bestens organisiert und wir gingen kurz nach zwölf Uhr mittags an Bord der Queen Lucy, welche gegen vier Uhr nachmittags auslaufen sollte. Die Queen Lucy war ein eher kleineres Passagierschiff und nahm für diese Reise nur etwa die Hälfte an Passagieren auf, für die sie ausgestattet wurde. Normalerweise begibt sie sich mit 540 Passagieren auf die Reise, doch heute waren es gerade mal 225.

 

Vielleicht hätte uns das nachdenklich stimmen sollen, doch wir waren total beseelt von unserer gelungenen Flucht und der Aussicht, bald unser Traumziel zu erreichen.

 

Die Angebote auf Deck waren mickrig, aber auch das war uns egal, die Seychellen waren unser Ziel und sonst gar nichts.

 

Am Nachmittag des dritten Tages auf See spazierten wir, Myriam, Anni, Emil und ich über die passierbaren Decks und fanden eine Art Irish Pub, welches einen sehr gemütlichen Eindruck vermittelte. Kurz entschlossen kehrten wir da ein und wurden freundlich vom Barmann willkommen geheißen. Er stammte aus Aberdeen, Schottland. Wir waren die einzigen Gäste und luden Cole, den Barmann auch gleich zu einem Drink ein.

 

In unserem Small Talk mit ihm fragte er irgendwann:

         „Gehört Ihr zu den mutigen Pionieren, die im Süden von Sri Lanka eine Selbstversorger-Farm im Urwald aufbauen möchten?“

Ich hielt den Atem an, während Emil, schon leicht angesäuselt, lächelnd kundtat:

         „Ach was, wir gehen schnorcheln auf den Seychelleninseln, nix Urwald, cheeeeriiio, hahaha!“

         „Uaaaaahahahaha“, lachte Cole hemmungslos, und haute sich voller Freude die Hände auf die Schenkel, „da müsst ihr aber megalange Schnorchel dabei haben, um in die Tiefe der Seychellen zu gelangen!“, brüllte Cole voller Begeisterung, „die Wissenschaftler hauen sich schon gegenseitig die Köpfe ein, um die Ersten zu sein, die berichten können, wie tief die Seychelleninseln seit dem Tsunami – TRUMP 3 – gesunken sind, seid Ihr denn so Wissssenschatler? Uahuahahahaha, schnorchelnde Wissenschaftler, aua, aua, auauaja, uahhhhahahaha!

Ich schluckte leer. All die unterschlagenen Weltnachrichten, auf unserer Exklave bewirkten, dass wir überhaupt keine Ahnung hatten, was in den letzten Jahren alles passiert ist.

         „Hilf mir mal auf den Sprung, Cole, in welchem Jahr war das mit dem Trump 3 Tsunami?“

         „Woher soll ich das wissen, ich war ja noch gar nicht geboren, also müssen es über 21 Jahre her sein. Schnorcheln! Uah, uah, uahahahaha!“

 

* * *

 

Epilog

 

Seit über fünf Jahren leben wir im Südosten von Sri Lanka. Unsere kleine Kolonie umfasst 37 Personen. Am Rande des Regenwaldes wohnen wir in selbstgebauten Holzhäusern und betreiben Ackerbau, ein bisschen Viehwirtschaft. Wir zimmern, schneidern, basteln alles Mögliche, streifen durch den Urwald. Eugene und Gilbert sind mit Tamilen Mädchen vermählt und haben bereits Kinder mit ihnen.

 

Wir sind dabei, ein kleines Schulhaus zu bauen, denn es sind noch mehr Kinder da, welche zu einheimischen Eltern gehören und mit uns gemeinsam leben und arbeiten. Die Traumvorstellung eines Paradieses hat sich verwirklicht. Der Jahrestag unseres „dritten Lebens“ feiern wir alljährlich. Es ist das Datum, als uns die Flucht gelang aus der Exklave eines zum Tode geweihten Stück Erde aus dem alten Kontinent. Bis zuletzt verleugneten es die Menschen, dass sie mit ihrer Habgier, Missgunst und vorsätzlichen Zerstörung der Natur, sich selber in den Abgrund manövrierten. Auch ihre schon vor über 200 Jahren vorherrschende Ignoranz, dass eine immense Überbevölkerung das Ende einläutete, wollten sie weder erkennen, noch korrigieren.

 

Als es enger wurde, rissen die Machthaber alles an sich, sorgten dafür, dass der Untergang noch effizienter voranschritt.

* * *

 

Heute spaziere ich mit Myriam zum Wasserfall. Ein halbes Dutzend Brüllaffen begleitet uns. Sie kennen uns, wissen wo wir wohnen und besuchen uns ab und zu. Beim kleinen Steinplateau setzen wir uns. Ich beglückwünsche Myriam mit einem endlosen Kuss auf ihre schönen, weichen Erdbeerlippen.

Sie wurde heute zwanzig Jahre jung, heute, am Freitag, dem 13. November 2150. Unser gemeinsames Tagebuch haben wir hier, als wir das erste Holzhaus bauten, ins Lagerfeuer geworfen. Es war voll von Wehklagen, Unterdrückung, Hoffnungslosigkeit. Träume, an die wir nicht mehr wirklich glaubten. Ein Ende in Sicht, ohne Chance auf einen Neuanfang.

         „Ich möchte den ganzen Tag hier sitzen bleiben und von dir geküsst werden“, flüstert sie.

         „Ich möchte die nächsten einhundert Jahre hier sitzen bleiben und dich küssen.“

Wir verschmelzen ineinander und lauschen den in dieser herrlichen Stille wunderbaren Nebengeräuschen des Lebens. Das Rauschen des kleinen Wasserfalls, das Piepsen von Gefiedertem, das Geplapper der Affen, die – so scheint es – leiser sind als sonst, wohl aus Rücksicht zu uns!

 

 

ENDE

 

 

 

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