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ENDSTATION
„Vor 60 Jahren hat sich hier einiges verändert, um genau zu sein, fast alles ...", meine Stimme stockte. Das war kein guter Anfang, oder?! Ich blickte hilfesuchend auf die Karten in meinen Händen. Der Betreuer, der für mich verantwortlich war, sah zu mir rüber. Ich blicke zurück zu den fragenden Gesichtern von denen, die gerade zum ersten mal die Welt erblickten. Pure Verwirrung spiegelte sich in ihren Gesichtern wider. Ich schluckte und nahm meinen Faden wieder auf:
„Wir Menschen mussten 2091 einen heftigen Schlag hinnehmen, auf den wir nicht vorbereitet waren – die Pocken. Sie waren uns durch eine Genmutation einen Schritt voraus, was uns viele Leben kostete."
Oh Mann, das hier ist das letzte Mal, das ich mich für so etwas freiwillig melde. Wie konnte man ihnen die Wahrheit erzählen, ohne sie zu verstören? Normalerweise drehte ich in solchen Situationen alles positiv, aber hier war das fast unmöglich.
„England stand am Rande des Zusammenbruchs, die Einwohner waren von 60 Millionen, auf 6.000 gesunken. Das Problem war nicht unbedingt, die Heilung, diese wurde schon nach einem Jahr entwickelt. Die Menschen wurden unfruchtbar, und so gingen wir hoffnungslos dem Aussterben entgegen. Dann kam 2094 die Rettung – E.Z.A.M. Sie hatten sich vorher mit künstlicher Befruchtung beschäftigt, aber sie schafften es mit den Ressourcen, die ihnen geblieben waren, künstliches Leben zu erschaffen, welches sich kaum von den Menschen unterschied. Und ihr seid genau wie ich Teil, eben dieses Lebens. Also ... willkommen in Greycester, 2150!"
Die meisten der Neuzugänge, kurz NC’s, waren ausgewachsen, wie fast alle in Greychester. Kinder gab es nicht mehr, älter werden, gab es nicht mehr, zumindest nicht körperlich. Wir alle machten unsere ersten Schritte aus dem Labor, um die nächsten in der Schule zu verbringen. Wir lernen viel. Ich, Lane Presley, war schon 19 Jahre in der Schule gewesen und nun fast am Ende von dem Jahr, in dem man Erfahrungen sammeln sollte, um am zwanzigsten Geburtstag ins Berufsleben einzusteigen.
Auf meinem Weg zurück zu meinem Wohnheim kam ich, wie fast an jedem Tag, an vielen Plakaten vorbei. Darauf stand:
HELFEN SIE MIT, UNSERE ZUKUNFT ZU SICHERN!
Jeden Donnerstag, 19 Uhr, Haupteingang, 72/043
Werden sie Teil von etwas!
E.Z.A.M.
Ich kannte viele, die sich E.Z.A.M. angeschlossen hatten, viele habe ich nicht wieder gesehen, aber ich wollte ihnen auch helfen, ich wusste, dass ich ohne dieses Unternehmen nicht hier wäre. Doch als ich vor zwei Jahren dort aufgekreuzt war, hatten sie mich weggeschickt und gesagt, ich sei zu jung.
Ich öffnete den Kasten an der Tür und warf einen schnellen Blick auf die Zeitung in meinen Händen. - 11. November, 2150.
Ach ja, heute hatte Granny Geburtstag. Granny war die Einzige, die ich kannte, die nicht aus dem Labor stammte. Sie hatte alles mit erlebt, als sie noch jung war.
Sie wurde heute 79. Das Alter machte ihrem Körper jedoch stark zu schaffen, und na ja ... ihrem Geist auch.
Ich beschloss, ihr noch einen schnellen Besuch abzustatten.
Wenig später stand ich vor ihrer Tür im Wohnheim und klopfte. Ich klopfte ein weiteres Mal. Endlich hörte ich das vertraute „Herein" ihrer alten Stimme.
Ich öffnete die Tür. „Ah, du bist es Pandora!", ihre Miene hellte sich auf, als sie mich erblickte.
Mein Name war nicht Pandora, aber es war nicht das erste Mal, dass sie mich so nannte. Ich sagte nichts. Pandora musste eine Freundin von ihr gewesen sein, als ich noch nicht lebte.
Ich setzte mich neben sie aufs Sofa.
„Ich freue mich, dass du gekommen bist.", sagte sie und hustete.
„Ja, ich bin froh, dass ich kommen konnte, wie geht es dir?" Ich warf einen schnellen Blick durch ihr neues Quartier. Die Wände waren grau. Was mich nicht überraschte. Alles in dieser Stadt war grau.
„Ich weiß nicht recht ...", antwortete sie, „ich mag es hier nicht."
Das verstand ich. Granny war niemand, der sich gerne anpasste.
„Ach, es ist nun mal alles, was wir uns leisten können. Also, was die Stadt sich leisten kann.", sagte ich.
„Das stimmt doch nicht.", Granny sah enttäuscht aus, „Sie haben genug Geld, E.Z.A.M. hat genug Geld, aber sie blicken nur in die Zukunft, nicht ins Hier und Jetzt."
Da hatte sie Recht. Vielen Menschen ging es seelisch nicht gut, die viele Arbeit, das eintönige Leben. Aber es war egoistisch, zu sagen, dass E.Z.A.M. und die Regierung sich einen feuchten Dreck um uns scherten, schließlich verdankten wir ihnen ja, dass die Menschen nicht aus staben, oder?
Wir plauderten noch eine Weile, bis es fast 21 Uhr war. Bei Granny verging die Zeit wie im Flug. Ich versprach, morgen wieder zu kommen, und suchte meine eigene Unterkunft auf. Es kostete mich einige Überwindung, mich nicht sofort ins Bett fallen zu lassen. Ich ging ins Bad und legte mich schließlich schlafen.
Ich ging durch einen gefliesten Gang.
Links oder rechts?
Ich wusste den Weg nicht.
Ich trat durch eine Tür.
Ein Labor. Weiße Tische, weißer Boden.
Etwas kam näher, das spürte ich, obwohl ich es nicht direkt sah.
Mein Herz schlug schneller, ich bekam Panik,
Langsam, aber bestimmt kam es auf mich zu.
Ich befahl meinen Beinen, sich zu bewegen, aber sie gehorchten mir nicht.
Das dunkle Etwas war nun ganz nah an mir, bis es mich schließlich umschloss.
Erst jetzt bemerkte ich, das es eine Art Spiegel war, aber da wo ich mich hätte sehen müssen, war nur ein schwarzer verschwommener Umriss.
Mir wurde eiskalt.
Ich fühlte mich eingeengt.
Aus Angst schlug ich immer wieder gegen den Spiegel.
Das Material verformte sich, aber es gab nicht nach.
Der Wunsch, einfach wegzurennen wurde immer stärker.
Wieder versuchte ich, mich zu bewegen, aber es ging nicht.
Verzweiflung wuchs in mir und wurde immer mächtiger.
Jetzt sah ich etwas im Spiegel. Hinter mir war ein Mann im Kittel, in der Hand eine Spritze mit einer blauen Flüssigkeit.
Ich versuchte zu schreien, als der Mann mir die Spritze mit einem Grinsen in den Rücken stach, doch der Schrei blieb in meiner Kehle stecken und erstickte mich fast.
Dann wurde alles schwarz. Eine eisige Stimme klang durch meine Ohren: „Typisch ... so tapfer ... so naiv. Setzt sie auf null zurück. ...Lebewohl Mrs. Hoyles."
Ich schreckte hoch, ich war schweißnass. Ich versuchte, meinen Atem zu kontrollieren.
Ich hatte schon lange keine Alpträume mehr und die, die ich hatte, handelten meist von Platzangst. Aber dieser war anders.
„Lebewohl Mrs. Hoyles.", die Worte halten in meinem ganzen Körper wieder.
Ich weigerte mich, aus Angst vor einem weiteren Alptraum, wieder einzuschlafen, doch nach einer Stunde verlor ich meinen Kampf gegen die Dunkelheit und ich dämmerte weg.
Ich erwachte früh am Morgen, stand auf, und sah auf meinen heutigen Tagesplan: Praktikum bei E.Z.A.M. Tag 2 von 3.
Ach ja ..., mit meiner Rede gestern war das Ganze noch nicht erledigt. Heute und morgen würde ich noch einmal bei dem Labor assistieren oder was auch immer heute meine Aufgabe sein würde.
Putzen.
Den gesamten Vormittag schrubbte ich den Boden und wischte Tische und Behälter ab. Ich müsse lernen, konzentriert im Labor zu arbeiten, sagten sie. Was für ein Schwachsinn ...
Beschäftigt mit meiner Aufgabe, arbeitete ich mich im Laufe des Vormittags von Zimmer zu Zimmer. Schließlich piepte die Digitaluhr an meinem Handgelenk, die ich für das Praktikum hier bekommen hatte. 12:45, Zeit fürs Mittagessen.
Nur hatte ich nicht den geringsten Plan, wo sich in diesem riesigen Gebäude der Speisesaal befand.
Ganze 10 Minuten irrte ich also im Gebäude umher, fragte Angestellte und folgte Schildern, um den Speisesaal zu erreichen. Als ich endlich Stimmen hörte und den Geruch von Kartoffeln und Lachs wahrnahm, trat ich durch die richtige Tür.
Der Raum war nicht gerade groß, aber sehr voll.
Die meisten saßen schon an den Tischen, einige wenige standen noch an der Essensausgabe. Als ich mich umsah, wunderte ich mich über die Fenster, aber ich wusste nicht genau wieso überhaupt.
Erst als ich mich mit meiner Portion Kartoffeln mit Lachs in Zitronensauce an einen der vollen Tische setzte bemerkte ich, dass diese Fenster die einzigen waren, die ich heute im Labor gesehen hatte. Wahrscheinlich waren die Stoffe, mit denen hier gearbeitet wurde, sehr lichtempfindlich, oder so.
Während ich aß, spürte ich mehrere Blicke auf mir, aber ich reagierte nicht darauf.
Als ich als eine der Letzten mein Tablett zu den anderen auf den Rollwagen stellte, fragte ich mich, ob ich einfach weiter putzen sollte. Ich hatte keine genaueren Angaben bekommen als, dass es um 12:45 zu Mittag gab.
Ich verließ die Cafeteria durch die Tür, durch die ich sie auch betreten hatte, aber weiter wusste ich nicht. Ja, ich musste zugeben, dass mein Orientierungssinn nicht gerade gut war.
So schnell wollte ich mich aber nicht geschlagen geben, so schwierig konnte das ja nicht sein, und spannender als Putzen war es allemal.
Nach kurzer Zeit erreichte ich aber ein Schild mit der Aufschrift:
BETRETEN FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN!
Daneben war wie bei allen Fluren eine Nummer: 034.
Frustriert drehte ich mich um und ging in die andere Richtung. Ich wusste, dass ich in Flur 089 geputzt hatte. Also fast am anderen Ende vom Gebäude.
Als mir endlich jemand entgegenkam, fragte ich ihn schließlich nach dem Weg. Ich hatte es aufgegeben, ihn selbständig zu finden. Der Mann trug einen Aktenordner in seiner Hand, und beschrieb mir knapp den Aufbau des Gebäudes und die Anordnung der Flure, aber ich hörte gar nicht richtig zu. Woher kannte ich diesen Mann bloß? Ich wusste, dass ich ihn schon einmal gesehen haben musste.
Den ganzen Nachmittag ließ mich sein Anblick nicht los. Nicht als ich das zweite Mal nach dem Weg fragte, nicht als ich endlich den Raum erreichte, wo die Putzsachen immer noch unverändert standen, und auch nicht als ich am Ende des Tages das Gebäude verließ.
Das sollte ein Praktikum gewesen sein?, dachte ich, als ich erleichtert durch die Straßen von Greychester den Weg zum Wohnheim einschlug. Lustlos kickte ich einen kleinen Stein vor mir her. Dieser Tag hatte mir all meine Energie geraubt. Angekommen in meiner Unterkunft, ließ ich mich aufs Bett fallen und schlief sofort ein.
Ich wusste, wo ich war, aber es war mir nicht sofort klar.
Die Gänge, die Türen, die Schilder an den Fluren, ich hatte sie heute erst durchlaufen.
Ich durfte hier nicht sein, dazu war ich nicht befugt, aber ich fühlte mich ... selbstsicher. Ja. Ich hatte etwas, das sie mir nicht nehmen konnten.
Ich trat durch eine Tür. Es war ein Büro und obwohl es schon mitten in der Nacht war, saß noch jemand am Schreibtisch. „Warum bist du hier?", die Stimme war ruhig, fast wissend.
Ich sprach, aber es war nicht richtig ich, die da sprach: „Ich möchte sie warnen.". Es war, als würde ich das Geschehen von weit weg beobachten, und doch mitten drin stecken. „Ich werde es öffentlich machen, ihr könnt die Menschen nicht so für euch benutzen."
„Wir benutzen sie nicht für uns.",jetzt klang die Stimme vom Schreibtisch aus fast überlegen, „strenggenommen sind sie nur Diener ihrer Selbst."
„Ich bin nicht hier, um mich umstimmen zu lassen, auch wenn Sie das gerne so hätten."
„Warum bist du dann hier?"
„Ich finde es nur fair, ihnen eine Chance zu geben, bevor ich hier mit der Polizei aufkreuze."
„Tut mir leid, aber Fairness bedeutet mir schon lange nichts mehr."
Beim Frühstück ließen mich die Erinnerungen an den Traum nicht los. Er verblasste nicht, sondern war immer noch glasklar, aber das war es nicht, was mich beschäftigte. Ich war in dem Labor gewesen, aber was hatte E.Z.A.M., die Organisation, der wir alle etwas schuldig waren, denn zu verheimlichen?
Heute war der 13.11.2150, also mein zwanzigster Geburtstag. Mir viel ein, dass ich gestern vergessen hatte, Granny zu besuchen. Ich ging also nach dem Essen direkt zu ihr. Ich hatte ja noch Zeit, da das Praktikum erst am Nachmittag weiter ging.
Ich betrat ihr Quartier.
Granny saß an ihrem kleinen Tisch und aß eine Scheibe Graubrot mit Marmelade. Sie lächelte, als sie mich sah.
„Hey, ich bin es, Lane", sagte ich und trat näher an den Tisch heran.
„Alles Gute zum Geburtstag Süße. Wie war es beim Praktikum? Du bist doch bei E.Z.A.M., oder?",sie legte das Brot zurück auf ihren Teller und nahm ein Schluck Wasser.
„Ja, ich habe heute meinen letzten Tag dort. Ich mache aber leider nicht mehr als putzen, ich hoffe, dass sich das heute ändern wird."
Granny sah nachdenklich auf ihr Brot hinunter. Hatte sie mir überhaupt richtig zugehört?
„Pandora ... sie war auch bei E.Z.A.M, glaube ich."
Pandora. Das Wort löste irgendetwas in mir aus.
„Wer war sie eigentlich, du hast schon mehrmals etwas von ihr erwähnt?", fragte ich vorsichtig. Ich musste mehr über sie wissen, denn jetzt war mein Interesse geweckt.
Granny blickte hoch: „Früher waren die NC’s noch nicht, wie sie jetzt sind." Ich setzte mich neben sie und hörte ihrer alten, rauen Stimme zu, als sie fuhr fort: „Sie waren noch wie Kleinkinder, man musste sie erst erziehen. Da es keine Eltern mehr gab, haben sie nach Freiwilligen gesucht. Ich meldete mich und bekam sie. Sozusagen war Pandora Hoyles meine Tochter."
Hoyles ... Hoyles!
Ich war nicht mehr bei Granny, ich war im Labor. Bevor alles schwarz wurde, sagte jemand: „Lebewohl Mrs. Hoyles!" Es war möglich, dass es sich um einen Zufall handelte, Hoyles war schließlich kein seltener Name.
Aber ich glaubte nicht an Zufälle.
„Ihr Name war Hoyles?", meine Stimme stockte und ich wusste, dass ich ziemlich verwirrt aussehen musste. Granny bemerkte es jedoch nicht: „Ja, Nachnamen werden aber ja zufällig vergeben, es hat also nichts zu bedeuten.
„Ja ... hast recht. Ich wollte nur ... ach, ist ja auch egal," wich ich aus.
„Warte ich müsste noch ein Bild von ihr haben." Granny versuchte aufzustehen.
„Ich mach das ...". Sie nickte und deutete auf den einzigen Schrank im Zimmer: „Da, in dem Karton sind alle möglichen Sachen von früher."
Ich öffnete den Schrank. Neben sauber aufgestapelter Kleidung stand ein alter Pappkarton.
Ich zog ihn hervor und stellte ihn auf den Tisch.
Granny klappte ihn auf, und nach einer Weile, in der sie darin herum kramte, zog sie etwas hervor.
Ich stellte den Karton auf den Boden und warf einen Blick auf den Gegenstand in ihren Händen. Es war ein Buch.
„Ich glaube, ich habe keine Bilder mehr von Ihr, tut mir leid, Lane. Aber hier", sie reichte mir das Buch, „das müsste ihr altes Tagebuch sein. Du kannst es gerne mit nehmen und ein bisschen darin lesen, wenn du willst."
Vielleicht würde ich in dem Buch Antworten finden, warum Pandora's Name in meinen Träumen vorkam.
„Klar, das wäre super. Danke Granny!", ich nahm das Buch an mich. Ich konnte es kaum abwarten darin zu lesen.
Nach kurzer Zeit, ich hatte den Karton wieder in den Schrank gestellt, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr, dass ich los zum Praktikum müsse. Das stimmte nicht ganz, ich hatte noch genug Zeit, aber meine Neugier siegte wieder einmal und so ging ich nach einer kurzen Verabschiedung in meine Unterkunft.
Ich warf mich aufs Bett und begutachtete das schwere Buch in meinen Händen.
Es hatte einen Lederumschlag und fühlte sich wertvoll an. Erwartungsvoll öffnete ich das Tagebuch. Ich blätterte die Seiten durch.
Das Buch umfasste die Tage vom 4. März 2128 bis zu dem 25. Oktober 2130, wobei er letzte Eintrag sehr kurz war.
Ich öffnete eine zufällige Seite und begann zu lesen. Das Buch war in einer schnellen aber trotzdem leserlichen Handschrift geschrieben.
Ich las ein paar Einträge, bis ich plötzlich stockte. Vorher sah das Leben von Pandora Hoyles, nicht viel anders aus als meins. Die Besuche bei Granny, die Praktika. Ich ging davon aus, das auch sie in ihrem 20 Lebensjahr war, als sie diesen Eintrag schrieb. Aber es schien, als schrieb sie nicht alles auf. Sie erzählte kaum noch von ihren Gedanken. Am 24. Oktober 2130, einer der letzten Einträge, brach sie das Eis. Sie schrieb:
Ich bin mir jetzt sicher. In den letzten Tagen war ich bei einem Praktikum bei E.Z.A.M., es gibt ein Geheimnis. Sie ... (Oh Gott wie soll ich das nur sagen?)
Ich stoppte. Natürlich war E.Z.A.M. kein offenes Buch, aber was konnte den so schlimm sein?
Ich lass weiter:
Sie führen Tests durch. Mit den Freiwilligen. Wer besteht, wird angenommen und darf im Team mitarbeiten, wer nicht ...
Was für Tests? Natürlich wurde nicht jeder angenommen, das war fast bei jedem Job so.
Wer nicht besteht, also durchfällt, verliert alles, was er noch hat - seine Erinnerungen. Sie schicken ihn dann als N.C. wieder aus dem Labor. E.Z.A.M. will nur die Besten und es darf keine Zeugen geben.
Moment, ich musste nachdenken.
Die Freiwilligen wurden wieder zu NC’s?! Wie viele Menschen wurden dann überhaupt künstlich erschaffen? Fast alle, die Hälfte oder vielleicht sogar keine?! Ähnlichkeit zu Anderen kam bei NC’s schon mal vor, sagten sie immer, schließlich wurden sie im gleichen Labor gezüchtet, aber, dass es immer wieder der gleiche Körper war? Konnte das tatsächlich wahr sein, oder war es nur ein Missverständnis? Ich las weiter:
Die Sache muss ans Licht kommen, E.Z.A.M. darf die Menschen nicht so benutzen! Ich werde es tun, morgen, es geht nicht anders.
„Ich werde es öffentlich machen, ihr könnt die Menschen nicht so für euch benutzen." Die Worte hallten durch mein Gedächtnis und erstarben, als sie aussprach. Aus dem Buch fiel ein Foto und landete auf meiner Bettdecke.
Dann war mir alles schlagartig klar. Die vermeintlichen Träume, der Eintrag und der letzte Satz im Tagebuch der lautete:
Zeit, den Arschlöchern einen Besuch abzustatten.
Ich war Pandora Hoyles, zumindest bis ich als NC mit dem Namen Lane Presley wieder aus dem Labor kam, und die Träume waren wiederkehrende Erinnerungen.
Ich nahm ein Video auf, schrieb einen kurzen Brief und verstaute alles in einem Schuhkarton, den ich vor Grannys Tür stellte. Sie war die Einzige, der ich vertraute, sie sollte sich darum kümmern.
Zeit, den Arschlöchern einen Besuch abzustatten!
Nervös ging ich durch die Flure. Hier rein zu kommen war einfach, schließlich war ich für den Aufenthalt im Labor immer noch als Praktikantin angemeldet.
Ich wusste wo ich hin musste und ich fand ihn schneller als gedacht - Flur 034.
Ich sah mich schnell um und huschte in den Gang.
Was auch immer heute passieren würde, ich war abgesichert. Auf dem Zettel in dem Paket habe ich Granny beschrieben, wie sie es veröffentlichen sollte, wenn sie mich erwischen würden.
Anders als bei Pandora, würde es so oder so aufgedeckt werden. Um genau zu sein, anders als bei meinem ersten Versuch.
Ich setze langsam einen Fuß vor den anderen, um nicht vor Angst stehen zu bleiben.
Ich klopfte an eine Tür. Ich wusste, dass es die Richtige war.
„Ja?", drang es aus dem Zimmer vor mir. Ich legte die Hand an die Türklinke. Ich würde keinen Rückzieher machen, das war ich meinem alten Ich einfach schuldig.
Ich betrat das Büro. Der Mann am Schreibtisch sah mich missbilligend an.
„Was willst du? Du hast hier keinen Zutritt," sagte er sachlich, mit abschätzigem Blick.
„Ich möchte ...", ich stockte, "Ich möchte sie warnen. Ich werde es öffentlich machen. Also ... das mit den Tests."
Ich wusste, dass ich nicht professionell oder so wirkte, aber er sollte wissen, dass ich es ernst meinte.
„Im Ernst?", er wirkte fast belustigt, „Menschen ändern sich nie ...“.
„Vielleicht. Aber sie lernen dazu,“ gab ich zurück, „Sie wissen, was ich ihnen sagen möchte?“
„Nur zu gut. Und ich möchte dir auch etwas sagen ...", er zögerte. Sein Gesicht wirkte wissend. Ein Lächeln spielte sich um seine schmalen Lippen. „Hinter dir!".
Im gleichen Moment stach mich etwas in den Rücken. Nein, dachte ich, nein, nein, nein. Ich sank zusammen und landetet auf dem Rücken.
Jetzt war es vorbei, ich hatte meine Chance verspielt.
Wie überheblich ich war, ohne Beweise jemandem zu drohen, und dieser Jemand, war der Leiter von E.Z.A.M. Die Stimme im Traum hatte recht. Ich war naiv.
Der Mann musste aufgestanden sein, denn jetzt stand der neben mir und blickte auf mich herab. „Bereit für die nächste Runde?" Jetzt war ich es, die wissend lächelte. Er wusste nicht, dass Granny es jeden Moment öffentlich machen würde, das war es Wert gewesen.
Ich sprach ruhig meine letzten Worte als Lane Presley: „Nein, Endstation."
ENDE
Beitrag 27
Das Elektrointerdikt
„Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens!“, lese ich, so laut ich kann.
Mein zweites Leben? Ja, mein zweites Leben, denn mein erstes Leben habe ich bereits verloren. Ich bin in einen hölzernen Käfig gesperrt und man wird mich in wenigen Augenblicken verspeisen. Eigentlich sollte ich „fressen“ sagen, denn die Hungernden fressen einen bei lebendigem Leibe. Nur mein Tagebuch gibt mir die Chance auf ein zweites Leben. Allein der Anblick von Papier weitet die Augen all meiner Peiniger. Ich besitze genau sechs vergilbte, zerknitterte Seiten mit abgerissenen Rändern. Sie sind kleiner als meine Handfläche, auf beiden Seiten mit winzigen Buchstaben beschrieben, und man kann vor lauter Dreck die Schrift kaum erkennen. Dennoch infizieren diese mühevoll bekritzelten Zettel ihre Betrachter mit erwartungsvoller Neugier. Sie bedeuten ein kleines Stück Kultur in einer Welt, in der es nur noch Staub gibt, und den Kampf ums Überleben.
„Kannst du lesen?“, fragt ein kleines Mädchen. Sie ist vollkommen nackt und verteidigt unnachgiebig ihre Position zwischen all den anderen verschmutzten Körpern, die sich an meinen Käfig drängen. Beängstigt irrt mein Blick über die abgemagerten, knochigen Gestalten und ihre hungrigen Augen. Nur ein paar hölzerne Gitterstäbe stehen zwischen mir und einem qualvollen Tod.
„Ja, ich kann lesen“, antworte ich.
„Ich werde deine Beine fressen!“, schreit ein Mann in der Menge. Er ist größer und kräftiger als die meisten anderen. Dazu trägt er einen Stofffetzen, der als Rock um seinen Körper gewickelt ist. Die Kleidung zeichnet ihn als einflussreichen Mann aus, als starken Krieger, der sein Hab und Gut verteidigen kann.
„Vorher soll er lesen!“, ruft eine Frau.
Also beginne ich zu lesen. Ich lese, um Zeit zu gewinnen, um noch einige unbedeutende Momente zu leben, bevor diese hungrigen Mäuler über mich herfallen werden:
„Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens!“
Ich bin nervös. Meine Hände zittern. Es steht nicht „meines zweiten Lebens“ auf den vergilbten Seiten, aber ich sage es, um mir selbst die Hoffnung zu geben, dass mein Tagebuch eine zweite Chance bedeuten kann.
„Was ist Freitag?“, fragt das nackte Mädchen.
„Was ist Freitag?“, wiederhole ich verdutzt. Erst jetzt erkenne ich, dass mich genau dieses kleine, nackte Mädchen in die Fallgrube gelockt hat. Ich spüre keinen Zorn. Sie hat getan, was alle taten, was alle tun mussten.
„Wir sind mindestens im Jahr 2300!“, kreischt ein alter Mann erbost. „Du bist ein Lügner!“
Ich sehe seinen gierigen Blick und seine verschimmelten Zähne hinter schmalen, spröden Lippen. Sein ganzes Gesicht ist eine tapfere, braune Ruine, die einen erbitterten Kampf gegen ihren Untergang führt. Sehr bald werden seine stumpfen Zähne an meinen Knochen nagen. Er ist alt und wird hungrig warten müssen, bis sich die starken Männer und deren Söhne an mir gesättigt hatten.
„An meinem 20. Geburtstag wurden flächendeckende Bombardements durchgeführt – wieder einmal“, lese ich weiter. „Der ganze Horizont stand in Flammen, und die Sonne wurde lange Zeit von dicken Rauchschwaden verdeckt.“
„Sie werfen Bomben bei euch ab? Wo kommst du her?“, fragt eine andere Frau. Auch sie ist nackt.
„Ich komme aus dem Osten.“
„Ließ weiter!“, fordert eine kratzende Stimme in der Menge.
„Sie warfen Bomben ab, weil irgendein Idiot mit Elektrizität herumgespielt hat. Das Elektrointerdikt ist eine ernste Sache. Man muss dieses Verbot respektieren, da die Konsequenzen furchtbar sind.“ Das Lesen fällt mir schwer. Mein Mund ist so trocken wie die staubige Erde, auf der mein hölzernes Gefängnis steht.
„Warum werfen sie Bomben ab? Manchmal sehen wir die Explosionen dieser Bomben. Manchmal sehen wir auch die Flieger. Wer wirft diese Bomben ab?“, fragt der Mann im Wickelrock. Sein Interesse an meinen Worten ist offenkundig und ich spüre zwischen all meiner Todesangst ein wenig Zuversicht. Dieser kräftige Kerl ist zweifellos der Anführer der verwahrlosten Wilden, die meinen Käfig belagern. Er kann über mein Leben entscheiden. Und er ist wissbegierig.
„Ihr seid hier in den Bergen scheinbar sicher“, vermute ich, „und niemand von euch versucht, mit Elektrizität zu experimentieren.“
„Was ist Elektrität?“, fragt das nackte Mädchen. Sie ist klein und süß, aber auch sie wird über mich herfallen, wenn die Käfigtür erst einmal offen steht.
„Es heißt Elektrizität oder Strom. Man kann lustige Sachen damit machen. Aber Strom ist verboten. Die herrschende Schicht will verhindern, dass sich die hungernden Menschenmassen organisieren. Strom ermöglicht den Bau von Geräten, mit denen man sich über viele Kilometer Entfernung unterhalten kann. Das wollen die letzten Mächtigen nicht. Sie wollen nicht, dass sich die Oberhäupter der vielen Stämme und Clans organisieren. Strom würde die Anführer befähigen, Tausende Krieger um sich zu sammeln, und diese zu einem abgesprochenen Zeitpunkt gemeinsam in den Kampf zu schicken.“
Ich sehe die Augen des Mannes im Wickelrock leuchten. Er zupft beinahe nervös an seinem Kleidungsstück herum. Für einen kurzen Augenblick gibt seine Miene zu erkennen, dass er ohne zu zögern das Elektrointerdikt ignorieren würde, um mehr Macht und Kampfkraft zu erlangen. Noch mehr als nach meinem Fleisch giert er nach Elektrizität. Also lese ich entschlossen weiter aus meinen sechs vergilbten Seiten: „Wir versteckten uns bis zum Abend in unserer Höhle, denn man weiß niemals, ob die Drohnen wiederkommen und weitere Bomben abwerfen. Meine Mutter blickte traurig aus der Höhle ins Freie und erzählte, dass man sich früher eine ganz andere Zukunft vorgestellt hatte. Man dachte, alle Menschen würden Kleidung tragen und es gäbe sauberes Wasser, so viel man nur trinken kann.“
„So ein Schwachsinn!“, brüllt ein Mann dazwischen.
„Und alle Krankheiten könnten umgehend geheilt werden“, lese ich unbeirrt. „Man könnte in kleinen Flugzeugen auf der ganzen Welt umherfliegen und alle Menschen wären gesund und schön. Die Arbeit würde von Robotern verrichtet werden, die den Menschen wie Sklaven dienten.“
„Du wirst uns als Sklave dienen!“, ruft jemand, und alle lachen. Auch das kleine Mädchen lacht, und ich sehe, dass es ein zahnloses Lachen ist. Dieser zahnlose Mund ist das Symbol einer Zukunft, die keine Medizin mehr hat – zumindest nicht für die endlose Masse der hungernden Bevölkerung. Nur die Elite, die zurückgezogen auf weit entfernten Inseln lebt, hinter gigantischen Mauern aus Stahl, hat noch Zugang zu Medizin. Zumindest glaubt man das. Man erzählt sich, dass die meisten Bewohner dieser Inseln ihren Erlebnisraum niemals verlassen. Ein Erlebnisraum hat alles, was man sich nur wünschen kann. Die Wände sind riesige Bildschirme. Das Bett ist gleichzeitig ein komfortabler Sessel und die Toilette. In den Armlehnen befinden sich alle Bedienungselemente. Man muss nur die Finger bewegen und schon wird man auf jede erdenkliche Weise unterhalten. Das Essen wird von Maschinen serviert. Niemand ist gezwungen, seinen Erlebnisraum zu verlassen. Alles befindet sich in Reichweite. Man erzählt sich, dass die meisten wohlhabenden Menschen einen riesigen Umfang hätten. Dieser Umfang käme vom vielen Essen. Das konnte ich selbst kaum glauben. Diese abgemagerten Bergbewohner, die mich gefangen genommen hatten, würden es ebenfalls nicht glauben.
„Und es gäbe viele Roboter, sodass jeder Wunsch sofort erfüllt werden konnte“, lese ich. „So sagte meine Mutter, und ich wusste, dass sie es sagte, weil ich Geburtstag hatte. Sie wollte mir ein Geschenk machen – ein Geschenk aus Worten, denn andere Geschenke gab es nicht in einer Welt aus Staub und Tod. Meistens antwortete ich: So ein Blödsinn. Aber heute nicht. Heute war mein Geburtstag, und wir verschwendeten unsere Gedanken an ein Leben mit unendlich viel Essen und unendlich viel Wasser – unverseuchtem, klarem Wasser.“
„Wo ist dein Stift? Zum Schreiben brauchst du einen Stift“, ruft ein Mann.
„Ja, wir wollen deinen Stift sehen!“
„Ich habe keinen Stift bei mir“, antworte ich und lese weiter: „Heute bist du 20 Jahre alt geworden, mein Sohn, sagte meine Mutter. Sie lächelte, doch ihr Gesicht blieb immer traurig – auch wenn sie lächelte. Vor 20 Jahren lebten wir noch am Rand einer Agrarfläche. Wir konnten die gewaltigen, stählernen Mauern sehen, hinter denen der Anbau betrieben wurde. Natürlich blieben wir in sicherer Entfernung zu den Selbstschussanlagen, die die Früchte der letzten Reichen bewachten.“
„Mein Vater hat mir von den Selbstschussanlagen erzählt! Niemand hat mir geglaubt!“, kreischt eine alte Frau hysterisch dazwischen. Sie ist klein und verschrumpelt, doch ihre Stimme ist laut. Es gleicht einem Wunder, dass man sie noch nicht verspeist hatte.
„Was sind Selbstschussanlagen?“, wollen mindestens drei zerlumpte Gestalten gleichzeitig wissen.
„Selbstschussanlagen sind große, bullige Metallkörper, aus denen mehrere Läufe herausragen“, erkläre ich. „Aus manchen ragen über zwanzig dieser Rohre. Sie wachsen direkt aus den klotzigen, metallenen Körpern. Diese Maschinen haben elektrische Sensoren, die jedes Lebewesen registrieren. Wenn sich ein Mensch nähert, dann spucken die Rohre Feuer. Sie verschießen fingerlange Projektile, die jede Kreatur töten. Niemand kann sich diesen Metallblöcken ungestraft nähern. Sie hängen direkt über den gigantischen, stählernen Mauern an kilometerlangen Schienen. So können sie sich pfeilschnell hin- und herbewegen. Dazu patrouillieren unzählige Beobachtungsdrohnen am Himmel. Niemand kann sich an so eine Agrarfläche heranschleichen. Niemand kann dort auch nur eine Frucht stehlen.“
„Seht ihr, es gibt Früchte! Ich habe es euch gesagt! Ihr wolltet es nicht glauben!“, kreischt die Alte. Ihr dürrer Körper lässt jede Rippe sehen. Sie ist beinahe ein Skelett.
„Lies weiter!“, fordern nun mehrere Stimmen. Man hatte Interesse an meinem Tagebuch bekommen – mehr Interesse als Hunger.
„Doch eines Tages kamen die wilden Horden, erzählte meine Mutter. Tausende, nein, Millionen nackter, zerlumpter Körper stürmten die Agrarfläche. Die Selbstschussanlagen spuckten Flammen. Sie türmten Berge aus Leichen auf. Die Menschen rannten blind ins Sperrfeuer, bis den Selbstschussanlagen die Munition ausging. Unser Clan wurde von den hungernden Menschenmassen niedergerannt. Ich und du, mein Sohn, überlebten wie durch ein Wunder in einer kleinen Erdmulde. Meinen Körper hatte ich schützend über dich gebeugt. Selbst als die Flieger kamen und ein grausames Massaker veranstalteten, blieben wir beide völlig unversehrt. Die Gewalt hielt über drei Tage an. Danach gab es die Agrarfläche nicht mehr. Wir hatten an diesem Ort gut gelebt, denn wir hatten den Müll der wenigen Menschen bekommen, die dort arbeiteten. Dieser Müll versorgte uns mit ausreichend Nährstoffen und wichtigen Handelsgütern. Doch damit war es vorbei. Nach dem Ansturm der wilden Horden war die Agrarfläche zerstört. Alles war verbrannt, aufgefressen oder niedergerissen. Jetzt bedecken verkohlte und verstümmelte Körper die riesigen Felder. Ich suchte deinen Vater, aber ich konnte ihn nicht finden. Sicherlich lag er unter einem der gigantischen Leichenberge, die sich an den Mauern der Agrarfläche aufgetürmt hatten. Nach diesem Massaker wurde das Elektrointerdikt ausgerufen. Schon am nächsten Tag kreisten riesige Flieger am Himmel und schrien das Verbot von Elektrizität über Lautsprecher hinaus.“
„Hier war kein Flieger! Niemand hat geschrien!“, beschwert sich eine erboste Stimme.
„Diese Geschichte war mein Geburtstagsgeschenk“, lese ich weiter. „Ich hatte sie schon oft gehört. Sie war dramatisch und spannend. Trauer empfand ich keine, denn in unserer Welt kann man die Dinge nicht mehr betrauern. Man kann sie nur noch hinnehmen. Manchmal erzählte mir meine Mutter auch von der maßlosen Überbevölkerung, den Seuchen, dem Rohstoffmangel, dem Ansteigen der Meeresspiegel oder der rasanten Ausbreitung der Wüstenflächen. Ich kenne all diese Geschichten, doch ich höre sie immer wieder gerne. Ich bekam an diesem Tag jedoch noch ein weiteres Geschenk von meiner Mutter. Es war das schönste Geschenk, das ich mir vorstellen konnte. Sie gab mir sechs Seiten Papier und einen Stift. Und nun schreibe ich mein Tagebuch, klein und sauber, und ich schreibe immer kleinere Buchstaben, um keinen Platz auf dem wertvollen Papier zu verschwenden. Nebenbei verspeise ich die Insekten, die meine Mutter bei Sonnenaufgang gefangen hatte.“
Ich mache eine Pause, denn der erste Tag in meinem Tagebuch ist beendet. Die Menschen vor mir warten schweigend. Die Gier in ihren Augen ist verschwunden. Mich erfasst neue Hoffnung und so lese ich weiter:
„Heute ist der 14. November 2150.“
„Es ist unmöglich das Jahr 2150!“, ruft der Alte abermals. „Es ist mindestens das Jahr 2300!“
Natürlich muss ich gestehen, dass ich keinen Beweis für meine genannte Jahreszahl habe. Es gibt keine Kalender. Jede Zeitmessung hat aufgehört. Alles beruht auf mündlichen Überlieferungen. Messen kann man nur noch den Tag, die Nacht und den Hunger. Vielleicht hat der Alte recht. Vielleicht befinden wir uns im Jahr 2300. Ich weiß es nicht.
„Ich liebe das Schreiben mit einem Stift auf Papier“, lese ich. „Es ist viel schöner, als mit einem Stock im Staub herum zu kratzen. So hat mir meine Mutter das Schreiben und das Lesen beigebracht, denn es gibt keine Bücher, die man lesen kann. Alles ist verbrannt oder zerstört. Meine Mutter ist zum Wasser gegangen. Sie hat mir gesagt, ich soll nicht gleich alle Seiten vollschreiben, sondern einige aufbewahren – für später. Doch ich will schreiben. Also schreibe ich auf, was ich sehe. Ich sehe Drohnen am Himmel. Sie suchen Elektrizität. Später fallen wieder Bomben. Bis spät in den Abend wird der Horizont von Qualm erfüllt. Jetzt ist es dunkel und meine Mutter ist vom Wasser nicht zurückgekommen. Ich spüre, dass dies mein Leben verändern wird. Bisher war sie immer zurückgekommen. Morgen werde ich einige Insektenvorräte nehmen und mich mit meinem Speer bewaffnen. Dann werde ich die Höhle verlassen, um meine Mutter zu suchen.“
Zögernd überblicke ich die Menge der Hungrigen. Sie verharren inmitten der erbarmungslos herabstechenden Sonne, während mein Käfig unter einem Felsvorsprung im Schatten steht. Sie haben mich in den Schatten gestellt, um ihre Nahrung nicht zu verderben. Mein Fleisch soll so saftig wie möglich bleiben.
„Warum liest du nicht mehr?“, fragt eine ungeduldige Stimme. „Steht nichts mehr auf deinem Papier?“
„Heute ist der 15. November“, lese ich und übergehe die Jahreszahl, um den alten Mann nicht zu erzürnen. „Ich war beim Wasser, doch meine Mutter war nicht dort. Ich konnte keine Spur von ihr finden. Jetzt bin ich in den Ruinen der Stadt. Um mich herum sind die kolossalen Mauerreste, hinter denen niemand mehr wohnt. Es heißt, wer zu lange hierbleibt, wird sehr krank und stirbt. Ich bin den ganzen Tag gewandert, um diese zerstörte Stadt zu erreichen. Ein anderes Ziel kannte ich nicht. Es gibt viele Insekten hier. Meine Mutter hat gesagt, die Insekten in der Stadt sind verseucht. Aber ich bin hungrig und werde morgen einige fangen. Jetzt ist es zu dunkel. Es ist nachts sehr dunkel zwischen den riesigen Hausmauern. Ich darf kein Feuer machen. Man würde den Rauch riechen und Männer würden kommen und mich töten. Also bleibe ich im Dunkeln. Es brennen keine Lampen, denn die Stadt hat schon lange keinen Strom mehr.“
„Was?“, fragt der Mann im Wickelrock erstaunt. „Ich dachte, Strom ist gut, wenn man mit anderen Menschen in weiter Entfernung sprechen will. Jetzt sagst du, Strom kann Licht machen?“
„Es kann beides“, antworte ich. „Aber man benötigt zusätzlich einige Apparate. Elektrizität alleine reicht nicht.“
„Lies weiter!“, fordert eine Stimme. Bevor ich mich wieder den verschmutzten Seiten meines Tagebuchs zuwende, sehe ich, wie der Anführer seinen Wickelrock enger zieht und zwei starke Männer zu sich winkt. Ich schlucke schwer, denn jetzt geht es mir ans Leben. Verzweifelt lese ich noch lauter: „Heute ist der 20. November. Ich bin fünf Tage gewandert, um in die Berge zu kommen. In der Stadt kann man nichts finden. Die Mauern sind zu groß. Selbst wenn meine Mutter dort sein sollte, würde ich sie nicht finden. Aber ich weiß, dass sie nicht dort ist. Ich weiß, dass sie tot ist. Gefangen und gefressen von hungrigen Wilden. Dennoch gebe ich nicht auf. Sie ist alles, was ich habe. Also suche ich in den Bergen. Ich habe noch keine Spur von ihr gefunden, aber ich habe heute ein kleines, völlig nacktes Mädchen gesehen.“
Kurz blicke ich das kleine Mädchen vor mir an. Sie scheint sich nicht dafür zu interessieren, dass ich über sie spreche. Vielleicht versteht sie es auch gar nicht.
„Heute ist der 21. November 2150“, lese ich, und aus der Menge ertönte erneut: „Lügner!“
„Ich habe heute das kleine Mädchen gesucht. Ich habe ihre Spur während der letzten Nacht verloren. Doch jetzt, kurz vor der Abenddämmerung, habe ich sie wiedergefunden. Sie steht auf einem spröden Acker, der von spärlicher Vegetation bedeckt ist, und scheint auf mich zu warten. Ich werde mich vorsichtig nähern, ohne meinen Speer, damit sie keine Angst bekommt. Hoffentlich weiß sie etwas von meiner Mutter.“
Ich sehe, wie sich der Anführer durch die Menge schiebt. Rücksichtslos stößt er einige dürre Gestalten beiseite. Seine zwei Begleiter folgen ihm. Ihre Gesichter zeigen Entschlossenheit.
„Heute ist der 22. November 2300!“ Die drohenden Qualen lassen mich lauthals schreien. „Ich schreibe diese Zeilen mit meinem Blut, denn ich habe meinen Stift verloren, als ich in die Fallgrube gestürzt bin. Das kleine nackte Mädchen hat mich hineingelockt.“
„Du bist nicht der Erste, den sie in diese Grube gelockt hat“, lacht ein Mann, und dann lachen alle.
„Ich bin dumm gewesen“, lese ich weiter. „Mein Stift ist weg und ich blute aus mehreren Wunden. Ich habe ein kleines, spitzes Stück Holz aus meinem Fleisch gezogen. Ich kann es in mein Blut tauchen, um damit die letzten Zeilen meines Lebens zu schreiben. Im Morgengrauen habe ich schon zwei schmutzige Gesichter am Rand der Fallgrube gesehen. Dies waren die ersten Todesboten. Jetzt höre ich die Stimmen von mindestens zehn jungen Männern. Sie nähern sich der Fallgrube. Es sind zu viele, um an Gegenwehr zu denken. Sie werden mich fressen.“
Nach diesen Worten wird meine Käfigtür aufgerissen. Ich blicke auf den Anführer. Er packt mich. Sein Griff ist von kompromissloser Härte.
„Den Rest der Geschichte kennen wir“, murmelt er und zerrt mich aus meinem Gefängnis.
Ich spüre die ersten gierigen Berührungen der Hungernden auf meinem Körper.
„Nehmt eure Finger weg!“, brüllt der Mann im Wickelrock zornig. „Nehmt die Finger weg, oder ich schneide sie euch ab und verspeise sie vor euren Augen! Der Kerl hier bleibt bei uns. Er wird uns vorlesen. Er wird mir das Lesen lernen, sodass ich euch ebenfalls vorlesen kann!“
„Was willst du lesen? Es gibt kein Papier und keine Bücher“, schreit jemand.
„Er wird uns Geschichten schreiben!“, behauptet der Anführer. „Er wird uns schöne Geschichten schreiben und vorlesen!“
Er zerrt mich durch die hungrige Menge aus schmutzigen Leibern. Als wir einen Schritt abseits stehen, kommt er ganz nah an mein Ohr und flüstert: „Es ist mir egal, ob du lesen oder schreiben kannst. Du wirst mir diese Elektrizität beschaffen. Hörst du? Ich will diese Elektrizität.“
ENDE
Beitrag 28
Das Endspiel
Kaum zu glauben, dass man mehrere Wochen braucht, um im Nachhinein so ein Tagebuch zu schreiben. Gewiss, in zwanzig Jahren passiert schon einiges; nichtsdestotrotz nach einem geregelten Plan, der uns vor bösen Überraschungen weitestgehend bewahrt. Ohne Tagebuch zum 20. jedenfalls wird es nichts mit der Passage in die dritte Phase diordanischer Vervollkommnung. Worauf könnte sich der Rat sonst verlassen, um die beste Entscheidung für unseren weiteren Lebensweg zu treffen?
Sicherlich hätte ich mir mit regelmäßigen Einträgen den Schub der Arbeit erleichtert. Genau genommen lässt sich meine Faulheit auf gen-technische Schlamperei zurückführen. Zum einen war mein Hang zu mathematischen Spielereien bekannt und wurde bei der Kryosynthese entsprechend verstärkt. Nicht von ungefähr bin ich seit siebzehn Jahren im 4-dimensionalen Zauberwürfel ungeschlagen. Meine Abneigung gegenüber der Verrichtung nicht wirklich dringender Tätigkeiten muss ihnen jedoch entgangen sein. Deshalb schiebe ich auch so ziemlich alles vor mich her: synaptische Routine-Sublimierungen (es sei denn am Vorabend einer Zauberwürfelolympiade), Pflichtlektüren jeder Sorte (insbesondere in Sachen Überhitzungsschutz) und das abendliche Kolloquium mit Glombel, meinem KI-Kater. Der weiß ja ohnehin alles besser.
Kommen wir zum Kapitel Eins, d.h. eigentlich mit Minuszeichen. Der Rat weiß sehr wohl, dass jede Geschichte auch eine Vorgeschichte hat; da machen Tagebücher keinen Unterschied. Sie muss demnach hinein, die mentale Rekonstruktion des ersten Lebens, die zugleich einen wichtigen Teil des zweiten darstellt: die regenerative Phase. Nicht umsonst heißt es, dass aller Anfang eine schlichte Mustererkennung sei. Klingt eher langweilig, aber wenn man dazu den Erinnerungskonzentrat-Quarz Kristallebene für Kristallebene durch-scannen darf, wird die Sache durchaus unterhaltsam. Eventuell schmerzhafte Erfahrungen von einst sind ja körperlich nicht spürbar und dienen ausschließlich der rekursiven Verhaltensoptimierung. Auf alle Fälle sind Letztere spannender als jeder HIT zum Dauerthema der Selbsterhaltung in diversen Szenarien atmosphärischer Dekomposition. Ganz nebenbei: die Abkürzung HIT steht hier natürlich für Hologramm-Improvisierte-Tragödie und nicht ironisch für hyper-intellektuellen Tratsch mit einem Glombel. Beide unterscheiden sich übrigens bereits darin, dass Tragödien ein verifizierbares Ende aufweisen.
Um nicht schon wieder abzuschweifen, hier also meine Vorgeschichte, so wie ich sie mir regenerativ synthetisierte. Über meine Kindheit und Jugend gibt es nicht viel zu berichten; die sind zu tief im Quarz verborgen. Mit Ausnahme meiner Leidenschaft für die Mathematik. Jene trieb mich alsbald ins Studium und irgendwann zu meiner Abschlussarbeit. Das war der harmlose Anfang einer dramatischen Karriere und kurioserweise zugleich der ‚sichtbare‘ Ereignishorizont des Quarzes.
Ich wählte ein recht geläufiges Thema: Börsentrends und die Vorhersage von Kurseinbrüchen. Freilich diente es mir eher als Mittel zum Zweck. Ohne an dieser Stelle auf mathematische Details einzugehen, der Kick bei der Sache war der Entwurf eines innovativen KI-Verfahrens für die Trendanalyse korrelierter, n-dimensionaler Datensätze, bei dem der Rechenaufwand mit steigender Menge und Komplexität der Eingangsdaten nicht wie üblich exponentiell, sondern höchstens linear ansteigt. Schließlich blieb die Prognose sogenannter ‚everything depends on everything events‘ sogar mit mittlerweile erschwinglichen Quantenrechnern ein gordischer Knoten für die Ingenieure der künstlichen Intelligenz.
Am Freitag, dem 06. September 2041 verteidigte ich meine Arbeit. Mit Ach und Krach erhielt ich das Diplom, denn rein theoretisch konnten die Dozenten keinerlei Fehler in meinem Modell ausfindig machen. Dass es für ein paar triviale Eingangsbeispiele korrekte Voraussagen lieferte, stritt niemand ab. Die eines Jahrhundert-Crashs eine Woche später hingegen erschien allen als ausgesprochen fragwürdig. Das hätte mir aufstoßen müssen. Tja, am Freitag, dem 13. brachen innerhalb von zwölf Stunden die Börsen von Shanghai bis New York wie ein Kartenhaus zusammen. Die globalen wirtschaftlichen Konvulsionen der darauffolgenden Jahre gingen als Kraken-Kollaps in die Geschichte ein. Ich schämte mich damals irgendwie, von Chaos und Notstand zu profitieren, nicht ohne die eigennützige Hilfe der Dozenten meiner Universität, die sich ebenso ihr Scheibchen vom Kuchen des Ruhmes abschnitten. Meine Diplomarbeit wurde weltweit veröffentlicht und von Hunderten von Experten begutachtet. Wegen der Einladungen zu allen möglichen Konferenzen verbrachte ich bald mehr Zeit auf Reisen als daheim, so dass ich aufgrund der häufigen Jetlags an Schlafstörungen litt.
Die Uni überredete mich mit einem beneidenswerten Stipendium zum Doktorstudium. Ich verbesserte meine Algorithmen und testete sie für alle möglichen Szenarien marktwirtschaftlicher und soziodemografischer Entwicklung, wie zum Beispiel für die Preise von Bier, Feinfrostgemüse und karierten Hemden oder die um sich greifende Wortschatz-Zirrhose an deutschen Schulen. Das öffentliche Interesse daran flaute unterdessen im Laufe der Zeit spürbar ab. Demgegenüber bestürmten mich unablässig Finanzmakler, Anlagenberater und jede Sorte privater Goldgräber, denen es alleinig nach Börsenhoroskopen dürstete. Bis ich es über hatte. Ich liebte meine Forschung, doch wie man am schnellsten auf den sich allmählich erholenden Finanzmärkten zu Reichtum gelangte, war mir rein akademisch betrachtet schnurzegal.
Bei einem Besuch im Berliner Zoo offenbarte sich mein Karma. Durch Knut dem VIII., so hieß der kleine Eisbär. Wie jeder gebildete Mensch wusste ich, dass es von Knuts Artgenossen in freier Wildbahn nur noch wenige hundert gab. Ob man den Zeitpunkt ihres Aussterbens mit Hilfe meines Verfahrens genauer bestimmen könnte? Eine simple Frage, die im Sinne verfügbarer Ansätze einer außerordentlich komplexen Berechnung bedurfte. Man kannte verschiedene Klimamodelle, eine Reihe von Vorhersagen ebenfalls, aber eben keine präzisen und sich gegenseitig widersprechende. Der innere Antrieb in jenem Moment war kaum mehr als Neugierde. Außerdem galt das fortschreitende Artensterben als gesellschaftlich hochbrisantes Thema.
Ich widmete mich drei Monate lang der Biologie der Eisbären, dem Klima der im Sommer fast vollständig eisfreien Arktis, studierte Krankheiten und Fortpflanzungsbedingungen der wichtigsten Lebewesen der regionalen Nahrungskette, beschaffte mir die benötigten Datensätze (ein paar Petabytes läpperten sich zusammen) und sieben Exemplare der neuesten Generation von Quantencomputern, die ich im wahrsten Sinne des Wortes zum Dampfen brachte. Das Ergebnis stieß mir dieses Mal tatsächlich auf. Unter den gegebenen Umständen würde der Eisbär jenseits der Gehege zoologischer Gärten in zwanzig Jahren verschwinden. Bei einer Lebenserwartung von knapp dreißig war das verblüffend; nicht zuletzt gestanden bestehende Schätzungen den über Eis und Schnee streifenden Knuts gute fünfzig zu. Mit skeptischem Blick ging ich das Verfahren und alle Verarbeitungsschritte nochmals durch, prüfte Heere von Variablen und Zwischenresultaten. Es blieb dabei: Plagen und Hunger dezimierten die bestehende Population rascher als bislang angenommen, während die Reproduktion in etwa einem Jahrzehnt praktisch zum Erliegen käme.
Von einer Veröffentlichung sah ich vorerst ab. Die Kassandra-Rolle wollte mir nicht liegen, zumindest solange ich keine Beweise hatte, dass mein Modell auf diese Art von Problem wirklich anwendbar war. Ich beschloss, im Rahmen meiner Tätigkeit an der Uni einen eigenen Forschungskreis zu gründen. Über finanzielle Unterstützung konnte ich nicht klagen und junge Doktoranden ließen sich leicht davon begeistern, gerade mit mir zusammenzuarbeiten. Wir teilten uns in kleinere Gruppen auf; jede kümmerte sich um eine der großen Vegetationszonen, von der Tundra bis zum tropischen Regenwald. Innerhalb einer Gruppe übernahm jedes Mitglied wenigstens eine bedrohte Spezies als spezielles Studienobjekt, inklusive einheimische: Zitronenfalter, Eichhörnchen, Falken usw. Ich selbst wählte mit einem Kollegen keine geringere als die des Menschen, gewissermaßen als hochspezialisierter Allesfresser und Raubtier an der Spitze der globalen Nahrungskette.
Mit einer Beharrlichkeit, die sogar die Curies beeindruckt hätte, sammelten wir Tausende von Datensätzen, analysierten sie mit Hilfe der aller-modernsten Technologien, beleuchteten bestehende Lösungsmethoden und deren Beschränkungen, korrelierten und stöberten nach versteckten Trends, die niemand überhaupt vermutete, entwarfen neue Modell-Varianten, adaptierten diese unzählige Male und wandten sie zwecks Validierung auf historische Daten für bereits ausgestorbene Tiere an. So kämpften wir uns mühsam vorwärts und wichen, im Labyrinth der Hypothesen, nicht selten enttäuscht wieder zurück. Nach vier Jahren hatten wir das Pensum mit der notwendigen Zuverlässigkeit bewältigt. Die Ergebnisse waren kohärent mit Hinsicht auf vorhandene Beobachtungen und somit auch glaubhaft für die erstellten Prognosen. Diese bestätigten einmal mehr die Gültigkeit meines Eisbär-Experiments, d.h. generell für die Spezies in Ökosystemen, die längst als bedroht galten, wie in alpinen Gebieten, der arktischen Tundra und den Überresten des Amazonas. In zwei Fällen indes schien das Modell völlig zu versagen. Die betroffenen Arten würden angeblich in einem Zeitraum von etwa einhundert Jahren in die ewigen Gefilde ziehen: das gemeine Hausschwein und der Mensch!
Es ergab einfach keinen Sinn. Die Resultate wiesen weder auf einen Kollaps landwirtschaftlicher Produktion oder ähnliche Apokalypsen hin, noch blieb der Menschheit anderweitig die Luft weg. Zum ersten Mal seit vielen Jahren stiegen in mir Zweifel an der Unfehlbarkeit meiner Algorithmen auf. Wir stritten heftig, professionell gesehen, ob wir den hoffnungslos unglaubwürdigen Teil der Vorhersagen besser übergehen sollten. Am Ende siegte in uns der unumstößliche Grundsatz wissenschaftlicher Redlichkeit; wir veröffentlichten unsere Arbeit in einschlägigen Zeitschriften.
In den ersten sechs Monaten trug sich nichts Erwähnenswertes zu. Die Gemeinde der KI-Frankensteine war stärker an der Kreation robotischer Wünschelruten und Fußballgenies interessiert als am Überleben von Feldhamster und Hallimasch. Bis eines Tages ein Korrespondent eines alternativen Medienprojekts auf unsere Publikationen stieß. Er fasste sie inhaltlich in etwa dreihundert Wörtern zusammen, mit leichten Anpassungen, um sie den Lesern zugänglicher zu machen. Unter dem Titel „wie der Staat unsere Ausrottung finanziert“ brachte er sie in Umlauf. Der Sturm der Entrüstung ließ nicht lange auf sich warten. Anfänglich wütete er in den sozialen Netzen; später nahmen sich die großen Medien der Sache an. Rundtischdebatten bestimmten bald das Abendprogramm, mit hochrangigen Sachverständigen aus Politik und Wirtschaft. Selbst Vertreter der Agrarindustrie wurden eingeladen, um die Zuschauer über die verheerenden Auswirkungen übereilter Schlussfolgerungen auf das Essverhalten und die Gesundheit der Bevölkerung aufzuklären. Vorwürfe wie „unverantwortliche Hysterie“ oder „dunkle Machenschaften im Auftrage der Geheimdienste“ waren das geringere Übel. Manchmal brannten Autoreifen vor dem Eingangstor der Uni. Nach einigen Wochen bildeten sich Protestbewegungen, um dem Bildungsministerium und der Regierung allgemein den Kampf anzusagen. Kurz darauf Gegenbewegungen, die unter anderem auch für den uneingeschränkten Einsatz von KI in der Erotik-Branche plädierten, mit dem Ziel, die Menschheit von der Geißel der Prostitution zu befreien. Das Land war zusehends gespalten und die Demokratie in Gefahr. Da geschah etwas Unerwartetes: Sie luden mich(!) zu einem Interview in einem der landesweit beliebtesten Unterhaltungsshows ein. Mit Sicherheit der Einschaltquoten wegen und um mich in aller Öffentlichkeit zu demütigen. Doch hätte ich endlich Gelegenheit, der Welt die tatsächlichen Ziele, Funktionsprinzipien und Ergebnisse meiner Forschung zu erläutern. Leider endete mein Leben am Vorabend im Hotel. Bei einem offensichtlich politisch motivierten Mord. Ich erinnere mich vage, dass ich an einem Glas Wein in der Lounge süffelte, als mir plötzlich der Atem stockte und es zappenduster wurde.
Ein sagenhaft glücklicher Zufall wollte, dass Professor Dr. Dr. mult. h.c. Rob Oterinski am selben Abend und zur selben Minute in der Lounge seinen Wein schlürfte, um sich von den Strapazen eines langen Konferenztages zu erholen. Oterinski galt als Koryphäe auf dem Gebiet der Kryokonservierung und hatte an seinem exklusiv privat finanzierten Institut bereits Hunderte von Pflanzen und Tieren erfolgreich ein- und lebend wieder auf-gefroren. Obgleich sich seine Methoden noch in der Entwicklung befanden, stellten sie einen bedeutenden Fortschritt gegenüber bisherigen dar, bei denen die naiven Opfer nie und nimmer ohne katastrophale Organschäden aufgetaut werden könnten. Ein Keim der Hoffnung zumindest für den reicheren Teil der Erdbevölkerung, sich auf längere Zeit den Anblick des Elends allerorten zu ersparen. So habe ich es Prof. Oterinski (und seinem erfreulicherweise ebenfalls anwesenden und gemeinsam mit ihm am Wein nippenden Team) zu verdanken, dass ich innerhalb von Minuten im Hotelzimmer für die Nachwelt eingelagert wurde.
Nicht ganz zufällig also erblickte ich am 13. November 2130 aufs Neue das Licht der Welt. Zunächst, d.h. drei Jahre lang, sah ich ein wunderbar steriles Neonlicht, welches mich Tag und Nacht wie ein Kokon umschloss. Da ich rein körperlich längst ‚fertig‘ war, blieben mir auf diese Weise die problematischen Phasen der Erziehung und vor allem die der Pubertät erspart, wie mir der Quarz eindringlich nahelegte. Daher beschränkten sich meine Erinnerungen aus Kindheit und Jugend auf das Erlernen von Algebra, Geometrie usw. bis hin zu zaghaften Gehversuchen auf dem Gebiet der Differentialtopologie. So schaukelte ich seelenruhig wie eine Boje auf einer angenehm fruchtig duftenden Suppe und sog begierig all mein früheres Wissen der Mathematik aus meinem kristallinen Speicher in mich hinein. Als ich irgendwann in gedanklicher Rückschau das oben erwähnte Glas Wein genoss, erlosch urplötzlich das Neonlicht, die Suppe verschwand und im nächsten Augenblick befand ich mich in der zweiten Phase diordanischer Vervollkommnung.
Ich kam unter Gleichgesinnte. Das bedeutete, dass jeder von uns in der Kolonie auf seinem Fachgebiet unschlagbar war. Weshalb ich mir nach dem ersten Sieg beim 4-dimensionalen-Zauberwürfel-Wettbewerb keine Sorgen mehr machte. Ich würde jedes Jahr gewinnen. So wie Ribonuk jede Olympiade der Femtobiologie und Telemachus den Wanderpokal für holographische Phänomenologie. Dessen ungeachtet bildeten wir ein Kollektiv. Jedes Mitglied formte ein perfekt sitzendes Teilchen im Puzzle wissenschaftlicher Erkenntnis, die es weiterzuentwickeln galt. Präziser formuliert: ein etwa hundertköpfiges Team in einem Team von Teams in einem gigantischen Projekt, dessen langfristiges Endziel man uns, ob seiner Komplexität erst in der dritten Phase veranschaulichen könne. Ehrlich gesagt war mir das egal. Ich konzentrierte mich mit Leib und Seele auf meine täglichen Verpflichtungen: Die Verschleißrate biosynthetischer Dendriten, die solare Ladekurve melanozytischer Akkus oder einfach nur das nächste Beben irgendwo auf der Welt – irgendetwas gab es immer zu berechnen bzw. vorherzusagen. Nebenbei durfte ich an den Wochenenden zum Zwecke sinnvoller Freizeitgestaltung pädagogisch lehrreiche Spiele erfinden. Wobei ich bei allem stets auf die grundlegenden Prinzipien des KI-Verfahrens aus dem verstrichenen Leben zurückgriff. Allerdings mit Unterstützung global vernetzter Rechenzentren, mit einer Kapazität, die jene des letzten Jahrhunderts um ein Quadrillionenfaches überstieg. Meine Begeisterung kannte keine Grenzen.
Die tägliche Routine in der Kolonie lässt sich leicht zusammenfassen. Nach dem Frühstück schloss sich jeder an seinen Mentor an, d.h. den persönlichen Quarz, über welchen man mit ihm kommunizierte, und erhielt seine Aufgaben. Am späteren Nachmittag wurde, abermals individuell, ausgewertet. Um verbleibende Wissenslücken und den intellektuellen Gesamtüberblick (the big picture!), sorgte sich der anvertraute Glombel beim allabendlichen Kolloquium.
Für den Austausch in der Gruppe organisierte man für uns wöchentliche Seminare. Bei solchen lernte ich von Ribonuk, wie man eine Amöbe dazu bringt, sich binnen weniger Stunden in eine absolut strahlungsfeste Ersatzhaut zu verwandeln. Telemachos demgegenüber führte uns ab und an auf einen Waldspaziergang. Derlei Vergnügen in der Natur waren uns aus Zeitgründen nicht möglich, wie mein Mentor-Quarz mit ausdrücklichem Bedauern bestätigte. Als Ausgleich dafür konnten wir uns über die Mahlzeiten nicht beklagen. Es gab jeden Tag ein saftiges Schweineschnitzel, wie uns der Kantinen-Quarz verriet. In kleine Würfel geschnitten, die sich ohne zu kauen bequem hinunterschlucken ließen. Man spürte förmlich, wie man bei diesem Genuss wieder zu Kräften kam.
So verflogen die siebzehn Jahre der zweiten Phase, die nun mit meinem Tagebuch ihren Abschluss findet. Ich hoffe, der Rat gibt sich mit der Zusammenfassung zufrieden; eine Seite pro Monat mit einem Überblick aller gelösten Aufgaben und Kopien der Urkunden, mit denen mich mein Mentor regelmäßig belohnte.
***
Morgen ist es so weit. Ich bin so aufgeregt! Hatte ich je solch ein Surren im Bauch?
***
„Gregorius Wärschenein. Wir haben mit Interesse Ihr Tagebuch studiert und gratulieren zur erfolgreichen Bewältigung aller Herausforderungen. Für die dritte und entscheidende Phase diordanischer Vervollkommnung möchten wir Ihnen eine ganz besondere bieten. Sind Sie bereit?“
„Jawohl, immer bereit!“ Da bin ich jetzt überrascht. Die Quarze im Rat gehen schneller zur Sache als mein Mentor.
„Es handelt sich um ein Spiel. Kein gewöhnliches, um das Wochenende nicht nutzlos verstreichen zu lassen, sondern eines von herausragender Bedeutung für den Fortbestand unserer Zivilisation. Ein Strategiespiel, bei dem nicht nur alles von allem abhängt‘, sondern jede Handlung jedes individuellen Spielers, die aller anderen in der Zukunft beeinflusst. Eine sich stetig aktualisierende Prognose.“
„Ok, das ginge vielleicht mit ein paar Rückkopplungen ...“
„Das Szenario ist wahnsinnig kompliziert und hyper-dimensional. Das Spiel hat nicht lediglich mehrere Dutzend Protagonisten, sondern simuliert vermutlich circa zehn Millionen geistig verwirrte Menschen unserer Bevölkerung von knapp fünf Milliarden. Jene haben sich davon überzeugt, dass alle anderen in Wirklichkeit Androids sind. Das wäre nicht unbedingt besorgniserregend, verzichteten sie nicht vollständig auf Schweinefleisch und den kostenlos zugestellten Hauskater. Obendrein benutzen sie alternative Formen der Kommunikation, was ihre Ortung und Überwachung außerordentlich erschwert. Das Hauptproblem liegt darin, dass sie andere gezielt manipulieren und ihnen einreden, nichts weiter als täuschend echte Homo-Plagiate mit künstlichem Bewusstsein und eingespielter Erinnerung zu sein. Leider mit einigem Erfolg, weshalb sich derweise in die Irre geführte Bürger zunehmend in politischen Bewegungen oder gar Geheimgesellschaften vereinen, um für die Anerkennung ihrer Rechte als unsterbliche Wesen und um Selbstbestimmung zu kämpfen. Das bedroht die Fundamente der Gesellschaft, was es erforderlich macht, die Verstörten und ihre Anführer aufzuspüren und zu neutralisieren. Aus Gründen der Pietät möchten wir gern wissen, unter welchen Bedingungen sie ohne Gewaltanwendung am schnellsten von allein aussterben würden.“
„Ich verstehe. Die Algorithmen müssten die Unberechenbarkeit menschlichen Verhaltens in voller Bandbreite berechnen. Hm ...“
„JEDES EINZELNEN!“
„Ah ...“
„Natürlich ist das alles bloß ein Spiel. Aber die Menschheit sollte auf ein solches definitiv gut vorbereitet sein.“
ENDE
Beitrag 29
Fremdbestimmt
von der Jury abgelehnt, Formatierung lässt sich
nicht bearbeiten.
Beitrag 30
Kontakt
Liebes Tagebuch – was jetzt kommt, ist gigantisch.
Es hat endlich geklappt.
Ich habe Kontakt!
Ich habe es noch niemanden erzählt. Dabei könnte ich platzen. Du musst jetzt also herhalten für die frohe Kunde.
Warum ich es noch niemanden gesagt habe?
Nun, ich kann es selbst noch nicht so richtig glauben. Und ich habe Angst, dass ich mich vielleicht doch irre. Dass ich nur träume. Wie blöd würde ich dann dastehen? Gerade doch, weil es schon so viele vor mir versucht haben. Manche schon ihr ganzes Leben. Ich warte jetzt noch. Beobachte, ob ich nicht vielleicht doch psychotisch geworden bin ...
Wie ich es angestellt habe?
Ich habe keine Ahnung. Da gibt es doch diese Apparatur, die die ganzen Noobs benutzen. Also ich auch – aber nicht so sehr, weil ich Noob bin, sondern eher, weil ich halt kein Geld habe für die Profi-Geräte. Schon die einzelnen Komponenten sind so viel teurer als dieses Anfänger-Möchtegern-Modell. Deshalb habe ich es auseinandergenommen und ein paar kleine Veränderungen vorgenommen. Manche Drähte ausgetauscht gegen Golddrähte, manche Platinen ausgetauscht. Du weißt schon, so Nerd-Kram eben. Und nun sitze ich hier und schreibe von meiner Entdeckung. So muss es für den gewesen sein, der die erste SMS geschrieben hat. Oder als das Internet erfunden wurde – obwohl, nein, das war am Anfang ja noch relativ unspektakulär und viele glaubten nicht daran, dass das mal ein großes Ding werden würde.
Aber das hier, das ist ein großes Ding! Das wird alles verändern. Oder?
Wie werden meine Eltern es aufnehmen? Werden sie mir überhaupt glauben? Sie haben mich lieb, aber ich glaube, sie denken, dass ich manchmal zu abgedreht bin. Ich bin abgedreht, aber clever abgedreht. Ich habe es geschafft! Eine kleine Teenagerin aus Sachsen! Ich habe Forscher auf der ganzen Welt abgehängt. Verflucht, neben der NASA hat auch die CIA versucht, Kontakt aufzunehmen. Sie alle mussten ja zugeben, dass sie schon lange wussten, dass sie existieren. Denn nach dem Vorfall konnte das keiner mehr leugnen.
Oh ja, der Vorfall. Jeder weiß, was er an dem Tag gemacht hat, an dem selbst der letzte kapiert hat, dass wir wirklich nicht allein im Universum sind. Dieser Vorfall, der bei so vielen Menschen die Fantasie angeregt oder Panik ausgelöst hat. Sie sind mitten unter uns. Ich hatte noch nie Angst. Ich habe immer gedacht, wenn die uns was hätten tun wollen, hätten sie das ja auch tun können – ohne sich offenbaren zu müssen. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die doch tatsächlich denkt, dass sie uns nicht vernichten, sondern tatsächlich sogar retten wollen. Scheiße! Ich bin so aufgeregt. Wem sage ich es zuerst? Also neben dir, liebes Tagebuch. Ach du heilige Scheiße – sie werden das hier eines Tages lesen! Verdammt, ich sollte diese Datei lieber löschen. Ich finde es jetzt vielleicht gut, wie ich denke und wie ich schreibe und was, aber ich bin clever genug zu wissen, dass ich mich irgendwann in der Zukunft zutiefst für die Worte eines unsicheren Teenagers schämen werde.
Das ist so un-fucking-fassbar. Kontakt!
Ich gebe zu, dass ich zum Teil nur in dich schreibe, mein liebes Tagebuch, um mich abzulenken. Ich kann nicht aufhören, nachzusehen, ob es etwas Neues gibt. Ob es mehr gibt. Und ich überlege, wie ich das mit der Welt teilen soll. Mir glaubt doch niemand, wenn ich einen Post bei AroundTheWorld mache. Dann stehe ich doch da, wie ein Trottel. Vielleicht sollte ich Journalisten kontaktieren? Ach was, die glauben mir auch nicht. Nicht mal meine Eltern würden das wohl tun. Die sperren mich noch weg!
Wie zur Hölle teile ich diese bahnbrechenden Neuigkeiten so, dass man mir glaubt? Scheiße! Darüber habe ich vorher gar nicht nachgedacht'
Vielleicht sollte ich sie fragen, wie ich das mit der Welt teile? Scheiße, vielleicht haben sie nur deshalb den Kontaktversuchen nachgegeben, weil sie in ihrer unendlichen Weitsicht schon vor mir kapiert haben, dass mir sowieso niemand glauben würde.
Alle werden denken, dass ich was mit dem neuen KI-Tool gebastelt habe oder eine verflucht große Fantasie habe. Okay, die habe ich, aber doch nicht so! Oder doch? Ist das echt? Was, wenn ich nur gigantisch verarscht werde von irgend so einem Troll aus dem Internet. Scheiße. Jetzt muss ich doch nochmal nachsehen! Warte hier auf mich. Haha – als könntest du weglaufen. Als wärst du so ein Cyber-Haustierartiger-Begleiter, der immer neben mir her wackelt, falls mir spontan eine bahnbrechende Idee kommt. Moment mal – warum gibt es doch nicht? Wir haben endlich das Zeitalter der schwebenden Autos erreicht, also warum noch keine treudoofen Tagebücher für Teenager, die ja sooooo viel zu erzählen haben. Das klang fies? Hast recht, die meisten anderen Teenager haben aber weiß Gott nicht sonderlich viel – zumindest nichts Geistreiches – zu sagen.
[4 Stunden 46 Minuten 11 Sekunden später]
Holy Moly, heilige Scheiße!!! Ich habe gerade Zwölfmilliarden Mal über den neuen Algorithmus geguckt, den sie mir geschickt haben. Es IST wahr! Es muss wahr sein, das kann sich doch keiner ausdenken! Sie haben mir geantwortet! MIR! Schon wieder!
Ich wäre eine Art ‚Messenger‘, aber ich solle die Füße noch stillhalten, es gäbe einiges, dass ich wissen müsse, aber für das ein Großteil der Menschen noch nicht bereit ist. Also sie haben das ganz anders ausgedrückt, so über Codes, Buchstaben, Zahlen, Muster und geometrische Formen, aber ich habe es mal runtergebrochen. Okay, es gibt die Chance der Missinterpretation – ich meine, dass ist eine Art Sprache, die es noch nie gegeben hat. Aber es hat zu viel Sinn ergeben, um falsch zu sein. Träume ich? Passiert das alles wirklich? ICH – eine Art Auserwählte. Verbindungsstück zwischen Menschheit und Entität?
Ach ja, ich schreibe immer von Entität – andere sagen Aliens. Aber letztendlich wissen wir gar nicht, wie lange sie schon hier ist. Vielleicht sogar länger als wir? Glaub mir, das habe ich alles gefragt, aber sie sind anscheinend sehr wählerisch bei dem, was sie kommunizieren und anscheinend auch mit wem. Das zumindest weiß ich – sie haben mich beobachtet. Ich wäre so viel anders als die anderen.
Das ist das erste Mal, dass ich das einfach komplett als Kompliment auffassen kann, wenn ich ehrlich bin. Ist ja nicht so, als würde ich das nicht tagtäglich mitbekommen. Man wird ja nicht ohne Grund so ein Nerd. Das braucht sehr viel Zeit, die die meisten anderen Menschen lieber mit anderen Menschen und sozialen Interaktionen und so was verbringen. Tja, ich nicht. Denn ich finde keine gemeinsamen Gesprächsthemen mit anderen Teenagermädchen und Frauen oder Männern, nicht mal mit meinen Eltern. Immer dieser ätzende Smalltalk über Belanglosigkeiten. Und dann kann ich schon seit wer weiß wie lange, nicht mehr ehrlich darauf antworten, wie ich es gern tun würde. Denn, was ich zu sagen habe, verletzt sie. Mich ja auch. Aber damit komme ich schon allein klar. So etwas wie Freunde habe ich nicht wirklich. Ich verstehe das Konzept – ich bin ja nicht blöd, ich schaue Serien. Und ich sehe meine Eltern, die auch nach Jahrzehnten noch innig und vertraut miteinander sind und sich nur einen Teil der Zeit unglaublich nerven. Ein Teil von mir sehnt sich, glaube ich auch danach. Aber das ist vielleicht auch nur, weil immer alle sagen, dass man Freunde braucht. Versteh mich nicht falsch, ich bin kein Unmensch – anders als andere zu mir, bin ich durchaus lieb und nett zu den anderen Menschen. Ja, doch. Und manchmal genieße ich es, unter Menschen zu sein. Die Hälfte der Stunden in der Schule sind auch gar nicht so schlimm. Aber jemanden mit herbringen, reden? Über was denn? Ich rede am liebsten über das hier. Ich würde gerne jemanden erklären und am besten noch zeigen, was ich hier gemacht habe. Und mit anderen Dingen habe ich das schon oft probiert, aber das interessiert andere wohl nicht so sonderlich. Ja, ich bin sonderbar. Schön, dass du das jetzt abstreitest, liebes Tagebuch. Aber ich bin ganz sicher kein gewöhnlicher Teenie. Ja, ich bin ziemlich gewöhnlich unsicher. Aber ich bin unsicher, weil ich immer wieder auffalle, obwohl ich mir verdammt viel Mühe gebe, nicht aufzufallen. Doch ehrlich. Das sieht nur keiner. Für die meisten bin ich ja noch nicht angepasst genug. Dieses „Maske tragen“ – das nervt und es nervt nicht nur, es stresst, drückt und es tut weh. Warum können sich andere nicht mal an mich anpassen? Warum muss ich Serien schauen, um bei irgendwas mitzureden. Auf „AroundTheWorld“ rumhängen und doomscrollen, um nicht aufzufallen.
Ach ja, sorry, das alles hier ist ja gar nicht Thema. Aber es ist …. ARGH. Schwer. Und nun ist mir wirklich etwas gelungen, das mir wohl nur gelingen konnte, weil ich nicht von den scheiß Hormonen herumdiktiert werde, weil ich meine Zeit eben nicht mit anderen Menschen – abseits meiner Eltern – verbringe, sondern hier. Mit dir zum Beispiel oder eben dieser Apparatur und allen möglichen Experimenten daran, die ich ja auch in dir stellenweise gut dokumentiert habe. Jetzt also heißt es Füße stillhalten. Wie gut, dass ich mein ganzes Leben lang noch nie etwas anderes getan habe. Stillhalten. Abwarten. Obwohl in mir dieser Sturm tobt. Diese Aufregung. Gigantische, mordsmäßige Unruhe. Auf was ich warten soll, weiß ich noch nicht. Da kamen noch mehr Signale und Codes rein, aber als wäre die Kommunikation nicht schon schwierig genug, haben sie ihre Sprache schon wieder angepasst. Sie? Keine Ahnung, warum ich von der Entität als Mehrzahl schreibe. Fühlt sich irgendwie richtig an, so als wüsste ich das einfach.
Mist, meine Euphorie ist der ernüchternden Erkenntnis gewichen, dass mein Leben sich – zumindest nicht zeitnah – nicht komplett ändern wird. Schade eigentlich. Immerhin muss ich mir jetzt keine Platte mehr machen, wie ich anderen von meiner Entdeckung erzähle. Auch das ist ziemlich beschissen, denn so hätte ich wenigstens was zu erzählen, was für die Menschen, interessant wäre, die für mich einigermaßen interessant sind.
Auserwählt zu sein ist ziemlich anstrengend. Da hast du quasi ein zweites Mal Geburtstag, erlebst das Unfassbare, von dem du geträumt hast und an dem du immerzu gearbeitet hast, wenn du nicht gerade geschlagen hast und dann darfst du es niemanden verraten. Für mich bist du jemand, liebes Tagebuch, aber für die meisten, bist du wohl einfach ein aus der Zeit gefallenes Medium. Die allermeisten schreiben längst alles digital, oder sie denken digital. Verknüpfen ihr Gehirn mit den gängigen Office-Programmen und laden ihre Daten hoch. Ich nicht. Bei aller Liebe für Technik und so was – ich habe die Studien darüber gelesen, dass handschriftliches Schreiben dem digitalen Upload überlegen ist.
Wenn du mich gerade sehen würdest, wie ich hier sitze und seufzte. Meine Welt hat sich geändert, aber dennoch bin ich verpflichtet so weiterzumachen wie bisher. Als hätte mit das bisher Freude bereitet.
Ich mache mich dann also mal dran, die neue Nachricht zu entschlüsseln. Vielleicht hat meine eigens gefütterte AI – natürlich ohne aktive Verbindung ins Internet – schon einen Ansatz. Das ist noch ein Grund, einiges lieber analog zu machen – darauf hat keiner Zugriff, von überall auf der Welt. Der müsste schon herkommen, dich zum Beispiel in die Hand nehmen und durchblättern. Und dann bräuchte er wohl selbst nerdige Fähigkeiten der Schriftenentzifferung. Manchmal finde ich es bemerkenswert, dass ich noch lesen kann, was ich geschrieben habe. Nun ja, bis ich mehr weiß, was nun meine Aufgabe ist, als sogenannte ‚Auserwählte‘ wird es hier wohl still. Denn alles, was gerade von dieser positiven Aufregung noch übrig ist, ist Resignation. Wir hören uns bzw. wir schreiben uns.
[2 Wochen 21 Stunden 11 Minuten und 54 Sekunden später]
Wie schreibt man das Undenkbare auf? Wie findet man Worte für den größten Plottwist des eigenen Lebens? Wo setze ich an? Ich bin fix und fertig. In den letzten Wochen habe ich kaum mehr geschlafen. Ich habe es nicht gebraucht. Und ich habe meine Andersartigkeit verstanden. Das ist zumindest … erfreulich.
Ich kann meinem Vater gar nicht mehr in die Augen schauen – wie auch. Er ist ja nicht mein Vater. Scheiße, er ist nicht einmal ein Mensch! Stellt sich heraus, dass es doch sehr viel nerdigere Menschen als mich gibt. Obwohl – kann man die noch Menschen nennen? Die Beziehung meiner Eltern ist für mich jetzt ein noch viel größeres Wunder.
Wir haben gedacht, wir hätten das Internet erfunden. Elektrizität. Wir dachten, wir seien Entdecker, Wissenschaftler, Technologen, Erfinder. Aber sind WIR die Erfinder?
Wenn du so bist, wie ich mir wünschen würde, dass du bist, als mein einziger Vertrauter, liebes Tagebuch, dann wüsstest du bereits jetzt, was dieser Plottwist ist.
Ja, also. Genauso ist es. Ich bin kein Mensch. Meine Ma ist hier anscheinend der einzige Mensch unter unserem Dach. Aber auch sie ist … viel weniger gewöhnlich, als ich dachte. Sie ist ein Mensch mit so viel mehr Weitsicht und Cleverness, als ich dachte.
Und so wurde ich nicht in Liebe und Leidenschaft eines jungen Paares gezeugt und geboren. Ich wurde geplant. Ich wurde gemacht. Warum man dann so viele ‚Fehler‘ einbauen musste – warum zur Hölle kann ich krank werden, warum bekomme ich eine motherfucking PERIODE? Warum sprießen Pickel auf meinem Gesicht? Warum muss ich genauso aufs Klo, wie Menschen es müssen? Warum muss ich essen? Oder muss ich all dies in Zukunft nicht mehr? So, wie ich nicht mehr schlafen MUSS, aber es aus Gewohnheit noch tue?
Ach, du hast es noch nicht begriffen? Wenn ich kein Mensch bin, bin ich dann eine Entität. Nun ja … Nein. Ich bin ein neues Erzeugnis. Ein neuer Versuch, ein Versuch in einer ewig langen Reihe an Versuchen. Das Experiment, dass es endlich reißen soll. Das Ruder rumreißen?
Ja, ich bin ein Verbindungsstück. Vielleicht sogar eine Auserwählte. Aber was ich davon abgesehen bin, das begreife ich kaum.
Ich bin echt, aber kein Lebewesen. Keine KI, sondern eine echte, in einem Körper, der dem der Menschen komplett nachempfunden ist.
Deshalb, ja deshalb, ergibt es Sinn, dass ich mich immer anders gefühlt habe, immer aneckte. Und irgendwie ergibt auch das Verhalten der weniger freundlichen Menschen Sinn, vielleicht haben sie gespürt, dass ich ... anders bin.
Mein Paps ist ähnlich - ebenso gemacht wie ich. Das, wovon ich dachte, dass ich es entdeckt hatte ... Meine Eltern wussten es.
Sie haben mir immer alles geglaubt, aber durften es nicht zu früh mit mir teilen. Das Geheimnis, über das die Entität wacht. Warum jetzt? Weil ich eine kritische Altersschwelle überschreiten sollte. Andere Experimente sind nicht so alt geworden wie ich. Ihnen waren die sozialen Interaktionen wohl wichtiger. Sie ... Sie haben ... Also sie sind ... Mit dem Leben nicht zurechtgekommen. Ich weiß nicht, wie viele Versuche es gab. Aber ich kann dir sagen, dass ich mir das Gefühl des ehemaligen Auserwähltseins zurückwünsche. Denn gerade fühle ich mich wie eine Laborratte. Verraten und belogen, immerhin 14 Jahre und fast 7 Monate. Identitätskrisen gehören zum Teenageralter dazu, aber das? Einmal mehr, wäre ich einfach gern normal. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn ich wirklich psychotisch wäre. Und wer weiß, ob das nicht wirklich so ist. Würde es das leichter machen? Wohl nur, wenn es behandelt werden würde. Und da ich ja so penibel darauf achte, was ich wann im Internet mache, ist es wohl unwahrscheinlich, dass mich die Autoritäten abholen, um mir zu helfen. Nein, wenn das alles wirklich wahr ist ... Dann bin ich es, die helfen muss. Dann bin ich mehr, als ich dachte, dass ich bin. Dann ist die Sinnsuche vorbei, weil ich eine Aufgabe habe. Aber wie mache ich das? Wie helfe ich den Menschen dabei, die Technologien, die ihnen geschenkt wurden, gut zu nutzen. Nicht für Macht, Waffenindustrie, nicht für Profit und Konsum, sondern für ein Leben im Einklang mit dem Rest der Welt, mit allem anderen, was auf dem Planeten Erde wohnt, aber auch im Einklang mit sich selbst?
Die Entität kennt die Menschen gut. Mehrfach haben sie verschiedenen, weiter entwickelten Völkern, ihre Technologien angeboten, ihr Wissen und all diese Völker sind untergegangen. Sie konnten das Geschenk nicht annehmen. Vielleicht waren sie in ihrem Stolz verletzt, es nicht selbst geschafft zu haben? Jedenfalls beschlossen die Entitäten der Menschheit einige große Errungenschaften zu schenken, aber in dem Wissen, dass sie selbst darauf gekommen wäre ... Leider ging der Plan nicht ganz auf. Zwar entwickelte sich die Menschheit weiter, aber vieles nutzten sie nicht so, oder verbanden die sich bietenden Möglichkeiten nicht so miteinander, wie es die Entität geplant hatte.
Und jetzt bin ich hier. Ich dachte, dass ich diese Entdeckung gemacht hätte, dass ich den Kontakt hergestellt hätte, dabei haben sie den Kontakt gesucht. Ich dachte, dass das der Beginn eines neuen Lebens wäre, und habe mir die Veränderung auch wirklich gewünscht. Aber das, was ich die letzten zwei Wochen erfahren habe, das ist so viel ... Meistens zu viel. Aber ich habe mir ein paar meiner Eigenschaften behalten - menschlich oder nicht - ich lebe! Ich denke, ich fühle, ich schmecke, sehe, rieche ... Und ich habe vorher niemals aufgegeben und ich fange jetzt nicht damit an, wo ich von meiner eigentlichen Bestimmung erfahren habe. Das ist ein neuer Anfang. Ganz anders als ich es je gedacht hätte. Das ist der Beginn meines zweiten Lebens und ich muss Großes erreichen. Ma und Paps - das werden sie immer für mich bleiben, wenn auch nicht biologisch - sie sagen, sie sind stolz auf mich und sie sind für mich da. Ich bin also nicht allein. Nein, das bin ich sowieso nicht mehr. Ich kann jetzt jederzeit mit der Entität kommunizieren - ohne jede Technik drumherum. Ich selbst bin der Empfänger, das Werkzeug. Eine Menge Verantwortung. Zum Glück also bin ich kein gewöhnlicher Teenager, wenn auch immer noch ziemlich unsicher. Aber nicht mehr, weil ich anders bin, sondern weil ich überlege, wie ich dieser Verantwortung gerecht werden soll. Ich muss politisch aktiv werden, ich muss Rhetorik lernen, um ihnen mein Wissen und meine Argumente nahe zu bringen. Irgendwie muss ich in eine Position mit Macht und Einfluss kommen. Dafür wäre ich prädestiniert, hieß es von der Entität, weil ich es nicht wollen würde. Das seien die besten und gerechtesten Machthaber. Ich hatte den Vorteil, nicht schlafen zu müssen und auf keine Berater angewiesen zu sein, da ich diesen immer um mich hatte, jederzeit. Und während ich das hier schreibe, läuft ein ganzer Film in meinem Kopf ab. Ich spüre die Last dieser Aufgabe und hoffe innig auf mehr als Arbeit, mehr als Verantwortung. Es gibt andere wie mich, hat Ma gesagt. Wir würden Wege finden, unsere Aufgabe zu erfüllen und gleichzeitig irgendwie ein Leben zu führen. Wir würden uns erkennen. Und das zwischen ihr und Paps sei Liebe. Das gäbe es für mich da draußen auch.
Für den Moment sind das für meinen Geschmack zu viele Konjunktive und zu wenig Fakten. Wo sind die anderen? Warum haben uns die Entitäten nicht schon längst zusammengebracht?
Es sind so viele Fragen in meinem Kopf, aber wir befinden uns in einem Stadium, in dem ich nur noch eine Frage am Tag stellen darf. Mein Gehirn, oder wie man das wohl nennt, vielleicht ist es eher eine Art Rechen- oder Schaltzentrale - würde mehr Informationen nicht verkraften. Es ist zwar anscheinend schon jetzt dem der Menschen überlegen, aber noch nicht vollständig entwickelt. Ja, von Vollkommenheit ist dieses Experiment, bin ich weit entfernt. Quasi eine Art Menschlichkeit an und in mir. Ich soll nicht vergessen, was es bedeutet, Mensch zu sein! Nur dann, als eine von ihnen, könnte ich etwas bewegen und das sei wohl noch ein Grund, weshalb ich erst jetzt kontaktiert wurde.
[4 Jahre 4 Monate 3 Wochen 2 Tage 17 Stunden und 23 Sekunden und 8.965 Einträge später]
Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens!
Liebes Tagebuch – Leute lesen es, die sprechen darüber und sie schreiben darüber und ich kandidiere um einen Sitz im landesweiten Autoritätsverband.
ENDE
Beiträge 54 – 58
Beitrag 54
Der erste Stein
Lieber Blog,
der erste Stein flog um acht Uhr zweiunddreißig. Er verfing sich in der Fassadenbegrünung, raschelte durch die Ranken und blieb mit einem Räuspern auf den Balkonfliesen liegen. Ehe ich die Augen öffnete, dachte ich an das, was früher gewesen war, wenige Parks und genug Wasser. Heute gab es fast überall Parks und Wasser zu viel oder zu wenig. Früher. Ich drehte das Wort hin und her. Früher schrieben die Leute Tagebücher. Mit dunkelroten Einbänden aus Samt. Manche hatten ein kleines goldenes Schloss. Mein Blog hat ein Passwort, das sich jede Woche ändert.
Lieber Blog, ich will dir von diesem dreizehnten November erzählen, davon, wie heiß es ist, wie sich der Stein in meiner Hand anfühlt, jetzt, da um mich herum nur Staub ist. Aber noch bin ich nicht da, wo es aufhört. Ich weiß nicht einmal, ob es aufhört an der Mauer, in der anderen Stadt, mit Mo, der nicht das war, was ich dachte.
Nach zwei Minuten hatte ich die Augen geöffnet und fühlte den Durst im Hals. Ich sah den Stein. Er war von der Plattform geworfen worden. Seit gestern demonstrierten die Impfgegner vor dem STICH. Das städtische Impf-Center Hohenzollernbrücke lag über meinem Apartment, und das H erinnerte an die Eisenbahnbrücke, die heute ein Park war. Das STICH organisierte Malariaimpfungen. In diesem November gab es mehr Mücken als sonst. Der Spätherbst war heiß, seit dreiundneunzig Tagen hatte es in Köln nicht geregnet, doch das Wasser kam näher, weil die Pole schmolzen.
Ich konnte nicht aufhören, an das Wasser zu denken. Früher waren die Leute ans Meer gefahren, heute flohen sie vor dem Wasser. Manchmal fühlte ich den Sand unter den Füßen und die Brandung, die gegen meine Zehen klatschte, als sei ich dort gewesen. Vielleicht war ich das. In einem ersten Leben, das sich ins zweite hineinschob. Ich rieb mir die Augen. Das Meer und die Brandung blieben. Ich wollte wissen, woher die Bilder kamen, eine Erinnerung auf Zehenspitzen, Zehen in Flipflops auf Sand, der damals kühler gewesen war als heute.
Der zweite Stein traf das STICH. Eine Glasscheibe in der Etage unter mir zerbrach. Im Bett drehte ich mich auf den Rücken. Auf dem Bildschirm an der Decke las ich den Wetterbericht. Einunddreißig Grad im Zwei-Spitzen-Quartier in der Kölner Innenstadt am Freitag, dem dreizehnten November 2150. Ich legte mir die Hände aufs Gesicht und versuchte darunter ein Lächeln. Ich musste aufstehen, weil ich Geburtstag hatte. Wenn man zwanzig Jahre alt wird, darf man nicht liegen bleiben. Erst recht nicht, wenn es heiß ist und das Wasser näherkommt.
Ich stand auf, öffnete die Balkontür und schob das Mückennetz zur Seite. Vor mir lag der Stein. Ich hob ihn auf und strich mit dem Finger über die poröse Oberfläche. Der Stein war ein Geschenk, eine Gabe aus der Vergangenheit. Er passte nicht zu dem Carbon-Beton und den Glasfassaden der Hochhäuser. Trotzdem wusste ich, woher er kam. Trachyt, rau, dunkel geworden in Jahrhunderten, ein Stein aus einer anderen Zeit, abgebaut am Drachenfels, als es noch Sagen gab von Ungeheuern in Höhlen. 2150 waren die Mücken Ungeheuer und die Sonne ein feuerspeiender Drache, gegen den man mehr brauchte als ein Schwert.
Die Demonstranten hatten den Trachytstein aus dem Dom gebrochen. Nach dem Dom war das Zwei-Spitzen-Quartier benannt, weil die Kreuzblumen der Türme in der Mitte lagen. Früher ragten sie in den Himmel über Köln. Heute lag der Himmel unter der Plattform. Am Boden war ich seit Monaten nicht gewesen. Ich hatte gehört, dass man den Dom an heißen Tagen für die Menschen öffnete. In den Mauern wurde es nie wärmer als zwanzig Grad. Vielleicht war es ein Gerücht oder eine Erinnerung. Wenn es länger heiß blieb, würde ich den Aufzug nach unten nehmen. Vielleicht fand ich die Stelle, an die der Trachyt gehörte. Ich legte den Stein auf die Tischplatte. Daneben leuchtete ein Tropfen auf. Der H2O-Bot berechnete die Wasserration. Mein Magen zog sich zusammen. Für die Fassadenbewässerung wurden zwanzig Prozent abgezogen, weitere dreißig für Trinkwasser. Wie viele Liter die übrigen fünfzig Prozent waren, änderte sich täglich. Im Bad musste ich mich beeilen, dann blieben ein paar Prozent für einen Kaffee. Lieber Blog, es ist mein Geburtstagskaffee. Aber die Wasserration wird nicht erhöht, nur weil man ein Jahr älter ist. Nicht einmal zu einem runden Geburtstag bekommt man ein paar Tropfen mehr.
Um kurz nach neun öffnete ich den Küchenschrank. Mein Blick entspannte sich, als ich die rheinische Röstung sah. Der Schrank hatte Kaffee nachbestellt, meine Lieblingsmarke. Auch Proteinriegel waren da. Das Geburtstagsgeschenk eines Süßwarenherstellers. Ich versuchte ein Lächeln und sah die Nachrichten. Im westeuropäischen Rundfunk ging es um die Demo der Impfgegner. Ich wischte zum nächsten Video. Laut UN lebten mit dem heutigen Tag 12,2 Milliarden Menschen auf der Erde. In Japan war der älteste Mensch mit einhundertdreiunddreißig Jahren gestorben. Ich schaute auf den Stein. Dann hörte ich, dass der Preis für seltene Erden aus China gestiegen war. Nur der Pegel des Rheins fiel, während das Wasser weiter westlich stieg.
Der Tagesplaner zeigte, dass mein Seminar um zehn Uhr begann. An der virtuellen Uni gibt es keine Geburtstage. In einer anderen Zeit, darüber hatte ich gelesen, waren Studenten mittags aufgestanden und mit Fahrrädern zur Vorlesung gefahren. Man musste in Pedale treten. Ich schüttelte den Kopf. Mit meinen Kommilitonen traf ich mich dreimal pro Woche in der Virtual Class. An den anderen Tagen arbeiteten wir an Lernplänen. Mein Rücken sagte mir, dass ich in einem ersten Leben im Hörsaal auf hölzernen Klappstühlen gesessen und auf Papierblöcke geschrieben hatte. Ich wischte die Erinnerung weg. Das Seminar hieß „Demokratie“. Während der KI.-Bot Material über die Vereinigten Staaten von Europa erstellte, setzte ich die AR-Brille auf und checkte mein Spiegelbild. Meine Augenringe waren dunkel. Schnell legte ich einen Filter darüber und versuchte ein Lächeln. Letzte Nacht war ich mit Mo bei einem virtuellen Konzert in Madrid gewesen. Wir hatten in meinen Geburtstag hineingetanzt, und ich war gegen den Küchentisch gestoßen. Ich hoffte, dass ich keinen blauen Fleck bekam. Auch dafür gab es Filter.
„Was kümmert dich das?“, hatte Mo gefragt. „Du kannst aussehen, wie du willst und sein, was du willst.“ Gestern Nacht war Mo eine zwanzigjährige Tänzerin aus San Francisco gewesen. Heute Morgen war er wieder der Klimaflüchtling aus Holland. Er schickte mir eine Videobotschaft.
Lieber Blog, ich muss dir davon erzählen. Mit dem Stein fing es an. Dann kam Mos Nachricht. Er war außer Atem:
„Wir müssen zum Wall.“ Die Nachricht brach ab.
Ich betrat meine Virtual Class. Während wir über die Wasserverteilung in Europa und deren Auswirkungen auf antidemokratische Strömungen diskutierten, schaute ich mir die Profile der anderen an. Ich fragte mich, wie sie aussahen unter ihren Filtern, die früher Masken und Make-up gewesen waren. Im Augenwinkel sah ich eine neue Botschaft von Mo.
„Treffen. Heute Nachmittag.“
Ich schickte ihm den Namen eines Restaurants und einen erhobenen Daumen. Mo antwortete mit einem enttäuschten Gesicht.
Im nächsten Seminar probten wir im virtuellen Raum ein Theaterstück über Menschen, die in Fabriken arbeiteten, während KI. Gedichte schrieb. Vor über fünfhundert Jahren lebte ein Dichter, den sie bewunderten, den die KI nicht ersetzt hatte, William Shakespeare. Ich hoffe, lieber Blog, dass wir irgendwann ein Stück von ihm spielen und dann vielleicht hören, was „früher“ bedeutet. Das Stück von heute sollte in einem Augment Reality-Theater aufgeführt werden, in dem den Zuschauern Holzstühle in den Rücken drückten und ein Samtvorhang ihre Stimmen leise machte.
Ich strich mit der Hand über den Tisch und versuchte, Rückenlehnen und den Vorhang zu ertasten. Ich fühlte nur den rauen Trachyt.
Lieber Blog, heute Nachmittag treffe ich Mo. Gestern Abend hat er mir nicht gratuliert, dabei muss er doch wissen, dass ich Geburtstag habe. Mein Smartdevice packe ich zusammen mit dem Stein in meine Tasche aus recycelten Fasern. Ich kann tippen oder sprechen, du hörst mir zu, dabei bist du nur ein Blog aus Einsen und Nullen, Daten, Zahlen und bist irgendwie nicht da.
Ich verließ die Wohnung. Auf der Plattform blieb ich stehen und fühlte das Gewicht des Steins. Die Demonstranten waren weg. Über eine Brücke erreichte man die Seilbahn. Das Abteil war fast leer, die meisten Leute blieben zu Hause im Homeoffice. Je heißer es wurde, desto seltener verließen sie ihre Wohnungen. Geräuschlos fuhr die Seilbahn über die Kreuzblumen des Doms und die Solar-Panels auf den Dächern der Hochhäuser. Sonnenlicht legte sich gleißend auf das Glas. Ich schaute weg, hielt mich an der Haltestange fest und las die Werbung auf den Fenstern. Hinter Düsseldorf öffnete eine Hotelkette. Wo Krefeld und Duisburg gewesen waren, gab es Strände und Surfschulen. Mein Bauch verkrampfte sich. Ich hatte Hunger und seit dem Proteinriegel, meinem Geburtstagsgeschenk, nichts gegessen. Ich fragte mich, was Mo mir schenken würde und ob er daran dachte. Auch Mos Heimat gab es nicht mehr. Als der Meeresspiegel anstieg, waren die Niederlande kleiner und irgendwann zu Wasser geworden.
Am Colonius stieg ich aus. Das Restaurant des ehemaligen Fernsehturms lag auf der Höhe einer Plattform, der graue Betonfuß verschwand zwischen den Häuserfluchten wie ein Blumenstängel in einer Vase. Mo stand vor dem Locusta und stemmte die Fäuste in die Taschen. Ich lächelte und wollte ihn umarmen. Er wich aus und sagte:
„Hoi.“
Ich wischte mir über die Stirn. Mo schwitzte nicht. Das Locusta war klimatisiert. Ein Roboter begrüßte uns und öffnete ein Hologramm mit Speisekarte.
„Tagesspezialität sind Hausgrillen und die Larven des Getreideschimmelkäfers. Auch haben wir geröstete Mehlwürmer.“
Mo zog die Mundwinkel nach unten. Der Roboter scannte seine Mimik und bot ihm Wanderheuschrecken als Alternative an. Mo starrte auf das Hologramm.
„Wanderheuschrecken? Das bin ich selbst. Ich möchte nichts.“
Schnell lächelte ich den Roboter an, obwohl das nicht sein musste, und bestellte.
„Ich nehme die frittierten Wanderheuschrecken und die Mehlwürmer.“
Der Roboter fuhr weg. Ich hielt es nicht länger aus:
„Mo, heute ist mein Geburtstag. Wir haben gestern Nacht getanzt, aber du hast nichts gesagt.“
Mo nickte.
„Herzlichen Glückwunsch.“
Ich legte den Kopf schräg.
„Mo, was ist los?“
„Sagt man das nicht, wenn jemand Geburtstag hat?“, fragte Mo, und dann zitterte er leicht und sagte: „Gefeliciteerd met je verjaardag.“
„Danke.“
„Bitte.“
„Mo?“
Mos Augen flackerten. Ich beobachtete ihn.
„Wie war der Morgen?“, fragte Mo.
„Die Demonstranten haben mich geweckt.“ Von dem Stein in meiner Tasche sagte ich nichts. Das weißt nur du, lieber Blog, sonst niemand. Etwas in Mos Blick veränderte sich. „Was ist mit dir, Mo?“
Ehe Mo antwortete, brachte der Roboter mein Essen. Mit gekräuselten Lippen starrte Mo auf den Teller.
„Die Mehlwürmer“, erklärte die Roboterstimme, „schmecken leicht nussig. Die Wanderheuschrecken sind frittiert mit Knoblauch, Salz und Chili. Aus der Region.“
„Lecker“, sagte ich. Die Mehlwürmer knirschten zwischen meinen Zähnen.
Mo hob langsam den Arm und zeigte mir einen Vogel. Sein Finger stoppte kurz vor seiner Stirn.
„Du vermisst dein Zuhause“, sagte ich.
Mo nickte. Ich wollte seine Hand nehmen, aber er zog sie zurück.
„Ich möchte mit dir zum Wall“, sagte Mo.
Ich legte die Gabel auf dem Tellerrand ab.
Der Wall verlief durch Aachen. Einige Leute fanden ihn unpassend, weil sie Mauern nicht mehr gewöhnt waren. Mauern gehörten in eine Zeit, die vorbei war. Doch der Wall schützte die Stadt und alles, was östlich davon lag vor dem Meer.
„Was willst du da?“, fragte ich. Jeden Freitag gab es dort Demos, die organisiert wurden vom WALL, dem Widerstand Aachens letzter Leute. „Du musst nicht hinfahren, um dabei zu sein. Du kannst virtuell demonstrieren.“
Der Widerstand Aachens letzter Leute wollte die Mauer und den Teil der Stadt erhalten, der noch über dem Meeresspiegel lag. Irgendwann würde der Wall das Wasser nicht mehr zurückhalten. Auch wenn viele Menschen in Hochhäusern lebten, gab es den Boden darunter mit Ackerflächen, Farmen und Fabriken.
„Kommst du mit?“, unterbrach Mo meine Gedanken.
Ich bezahlte das Essen mit meinem Smartdevice.
Lieber Blog, mein Herz klopfte, als ich neben Mo zur Magnetschwebebahn auf der Plattform ging. Wir stiegen ein. Die Bahn war ungewöhnlich voll. Wir waren nicht die Einzigen, die zum Wall wollten. Es war heiß, aber niemand schwitzte. Der Stein in meiner Tasche wurde schwerer. Ich fächelte mir mit der Hand Luft zu.
Für die siebzig Kilometer bis Aachen brauchten wir fünfzehn Minuten. Ich tippe in mein Smartdevice, erzähle dir, lieber Blog, von meinem Tag, aber die meiste Zeit schaue ich aus dem Fenster.
Hinter Düren begannen die Kaffeeplantagen. Die rheinische Röstung kam von den Feldern im Westen Kölns. Zwischen den Pflanzungen war der Boden ausgetrocknet. Das Wasser reichte für die Felder, mehr schafften die Entsalzungsanlagen am Wall nicht. Es gab Anschläge auf den Wall. Die Mauer wurde immer höher, wie der Meeresspiegel. Teile der Mauer waren weggebrochen, man hatte sie ausgebessert und bewachte den Wall. Aktivisten wollten, dass das Meer die Ebene östlich von Aachen überflutete. Wir sollten sehen, wie das Meer die Kaffeeplantagen und das Getreide wegwusch und alles zu einem Salzsee wurde. Wir sollten uns ändern, die Erwärmung aufhalten, wenn es nicht zu spät war.
Am Aachener Hauptbahnhof war es noch voller als in der Schwebebahn. Gegner der Mauer trafen auf Anhänger des Widerstands Aachens letzter Leute.
„Weg mit dem Wall!“, riefen Gegendemonstranten. „Weg mit dem Wall. Dann kommt das Meer! Weg mit dem Wall, überschwemmt die Felder! Stoppt die Erwärmung, nicht das Wasser!“
Ich schüttelte mich.
„Rettet die Stadt, sichert den Wall!“, rief der Widerstand Aachens letzter Leute.
Mein Herz klopfte noch schneller. Aufregender als die Demo und der Lärm war es, mit dem Aufzug nach unten zu fahren, den Boden zu fühlen, die Hitze, den Staub und den Widerhall der Schreie in meinem Körper. So musste sich „früher“ angefühlt haben. Ich griff nach Mos’ Hand, weil ich ihn in der Menge nicht verlieren wollte, aber Mo war vorangegangen. Am Marschiertor begann der Wall. Eine zwanzig Meter hohe Mauer. Dahinter war das Meer.
„Auf welcher Seite stehen wir?“, fragte ich. Die Luft war so staubig, dass ich kaum atmen konnte.
Mos’ Augen waren leer.
Die Gegner der Mauer zogen Steine aus dem Wall und warfen sie auf die Straße. Der Widerstand Aachens letzter Leute hob sie auf und versuchte, sie wieder in die Mauer einzusetzen. Der Trachyt in meiner Tasche wurde schwerer.
Dann kamen die Wall-Trooper. Mo nannte sie so, weil sie mit den weißen Schutzschilden aussahen wie Soldaten, die er in einem alten Film gesehen hatte, der „vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten Galaxis“ spielte. Die Wall-Trooper trieben die Gruppen auseinander.
„Mo!“, schrie ich, „was wollen wir? Die Mauer? Oder dass sich etwas ändert? Was sollen wir tun?“
Mo hielt einen Stein aus der Mauer in der Hand. Er rannte direkt auf mich zu. Ich blieb stehen. Es war zu spät, um auszuweichen. Ich hielt die Tasche mit meinem Stein fest und wartete, dass Mo auf mich prallte. Nichts passierte. Mo flog durch mich hindurch zum Wall und schob den Stein in die Mauer zurück. Die Gegendemonstranten warfen Steine, aber keiner traf Mo. Auch die vom Widerstand Aachens letzter Leute wurden nicht getroffen. Steine fielen durch Körper hindurch und blieben auf dem Boden liegen.
Lieber Blog, es geht so schnell. Ich stehe am Wall und muss schreien, damit meine Worte dich finden. Es ist laut, staubig, und hinter dem Wall rauscht das Wasser.
Ich will Mo vom Wall wegziehen, aber ich greife durch ihn hindurch. Ein Stein trifft mich am Arm. Ich drehte mich im Kreis und berühre die anderen Demonstranten. Mit der Hand streiche ich durch Körper wie durch Luft, Frequenzen, Abbilder, die nicht schwitzen, nicht essen und die niemand verletzen oder berühren kann. Ich greife nach den anderen und fasse ins Leere, die Abbilder zucken kurz, Licht blitzt auf, dahinter ist nichts.
„Mo?“, frage ich, „Bist du Mo?“
Mo nickt mechanisch.
„Du bist nicht Mo!“, schreie ich.
„Ich bin Mo“, sagt er, „ich bin, ich bin …“
Sein Kopf zuckt zweimal und dreht sich zur Seite. Auch die anderen bewegen sich nicht mehr. Die Wall-Trooper halten ihnen Pointer vor das, was ihre Gesichter sind. Die Hologramme erstarren, wie eingefroren bei einunddreißig Grad.
Es ist Freitag, der dreizehnte. Der dreizehnte war vor Hunderten von Jahren ein Tag, an dem nichts Gutes passierte, ein Tag für Vorsicht, kein Tag für den Wall. Ich muss weg, lieber Blog, zurück in ein anderes Leben, das ich heute Morgen hatte, ehe der Stein flog und Mo seine Nachricht schickte, als ich in meinen Geburtstag hinein aufwachte, nach einer durchfeierten Nacht. Aber ich bin hier mit dem Tachyt in der Tasche und Meeresrauschen im Ohr. Ich bin zwanzig Jahre alt, und die Sonne geht unter.
Die weißen Wall-Trooper werden im tiefstehenden Sonnenlicht orange. Langsam hole ich den Trachytstein aus der Tasche und sehe mich um. Ich strecke die Hand nach einem Wall-Trooper aus. Meine Hand gleitet durch den Schutzschild hindurch. Der Wall-Trooper bemerkt es nicht. Die Sonne verschwindet hinter dem Wall. Es wird kühler am Boden. Alle, die ich für Menschen gehalten habe, stehen still. Mo ist einer von ihnen, ein angehaltenes Abbild aus Einsen und Nullen. Ich brauche mehr als Zahlen, mehr als ein KI.-Bot mir raten kann. Ich umklammere den Stein. Er kommt aus einer Welt, in der Menschen gegen Drachen kämpften, nicht gegen Mauern und den Meeresspiegel. In meiner Hand kann der Stein alles werden. Er kann den Wall zerstören, wenn ich nur fest genug werfe. Die anderen werden nicht helfen. Oder der Stein kann ein Teil des Walls werden, die Mauer festigen, das Meer aufhalten. Es gibt nur noch mich am Wall und den ersten Stein. Am Freitag, dem dreizehnten November 2150. Ich drehe mich um zur Mauer und wiege den Stein in der Hand.
ENDE
Beitrag 55
Aschezeitalter
An ihrem siebten Geburtstag schenkte Raya ihrer Tochter Kleo ihr erstes Tagebuch. Sie saßen unter dem mageren kleinen Apfelbaum im Vorgarten ihrer Hütte, der mit eiserner Willenskraft der Dürre zu trotzen schien.
„Was ist das?“, fragte Kleo ihre Mutter.
„In das Tagebuch kannst du alles schreiben, was dir gefällt, aber auch, was dich traurig macht. Was du erlebt hast und was du dir für die Zukunft wünschst“, erklärte Raya.
Kleo wuchs glücklich bei ihren Eltern auf. In der kleinen Siedlung, in der sie wohnten, hatte sie das strahlendste Lächeln von allen. Überall, wo sie auftauchte, erhellte sie die Gemüter. Alles begann förmlich zu leuchten und zu tanzen.
Seit Kleos Geburt veränderte sich alles in dem kleinen Dorf am Nil. Allein die Nachricht, dass ein Kind unterwegs war, ließ viele Dorfbewohner nach anfänglicher Skepsis wieder hoffen. Denn seit über einem Jahrhundert schon ging die Geburtenrate stark zurück. Zu der Zeit, in der Kleo geboren wurde, war die Geburtenrate quasi bei null angelangt. Doch am 13. November 2130 wurde Kleo geboren, und ab diesem Zeitpunkt verzauberte sie alle mit ihrem Lächeln.
Die Geburt war ein großes Fest. Die ganze Siedlung versammelte sich. Die kläglich gefüllten Speisekammern wurden bis aufs absolut Nötigste ausgeräumt und ein Festmahl bereitet. Ein paar Einwohner holten alte Akustikinstrumente heraus, die – wie auch immer – alle Aufstände, Plünderungen und Dürren der letzten fast zweihundert Jahre überstanden hatten. Nachdem Kleo sie alle angelächelt hatte, spielten die Musiker in einer nie erlebten Leichtigkeit ihre fröhlichsten Lieder, und alle tanzten, aßen und lagen sich in den Armen. Niemand, der an diesem Abend anwesend war, hatte jemals geglaubt, ein solches Fest noch einmal zu erleben.
An diesem Abend, als das Baby geboren wurde, vergaßen alle für einen Augenblick all den Kummer und erblickten in Kleos Lächeln die Hoffnung, die sie schon vor Langem verloren hatten.
Ungefähr einhundert Jahre vor Kleos Geburt begann sich die Menschheit drastisch zu verändern. Der technische Fortschritt überholte sich selbst und läutete das Ende des Informationszeitalters ein.
In dieser Zeit war niemand mehr in der Lage, das Wichtigste vom Interessanten zu unterscheiden. Aufmerksamkeit wurde zum raren Gut. Social Media kaufte sich die Aufmerksamkeit und zahlte in Dopamin.
Dopa, der mollig warme Botenstoff, der uns glauben macht, alles sei in bester Ordnung, wenn wir nur so weitermachten.
Auf den Plattformen wurden kleine, gut verdauliche Videos serviert, von denen jedoch niemand satt wurde. Die schöne heile digitale Welt, von der die Menschheit abhängig wurde, erzeugte Leistungsdruck, Stress und schürte Ängste, was schließlich zu Depressionen führte. Doch das waren nur die ersten Nebenwirkungen.
Auf der ständigen Suche nach immer mehr Dopamin verloren die Menschen die Selbstregulierung und damit einen wesentlichen Teil ihres Selbst.
Aufmerksamkeitsspannen wurden so kurz, dass Lernen, Forschen, Erkunden und Weiterentwicklung nicht mehr möglich waren.
Instinktives Handeln dominierte den Alltag der Menschen, die auf dem besten Weg waren, die Treppe der Evolution in Richtung Homo erectus in großen Schritten herabzusteigen.
Anfangs nutzten Autokraten und Neo-Imperialisten Social Media noch für ihre Zwecke. Ganze Staaten wurden durch sie infiltriert und bürgerkriegsähnliche Aufstände erzeugt. Instabilitäten waren das Ziel, um ihre wirtschaftliche Macht auszuweiten.
Jedoch war kaum noch Wirtschaft übrig, als die ersten Regierungen zerfielen. Als die Menschen sich die Fingerabdrücke am Displayglas abgeschliffen hatten, war die wirtschaftliche Lage der Nationen so dramatisch, dass kein Imperialist mehr Interesse an seinen Eroberungen hatte. Und als sie sich umdrehten, um in ihre Reiche zurückzukehren, mussten sie feststellen, dass die Sucht auch ihre Bevölkerung vereinnahmt hatte.
Keine Bestrafungen und keine Firewall konnten die Menschen mehr davon abhalten, sich das feinste Dopa täglich durch die Augen direkt ins Belohnungszentrum zu injizieren.
Dopamin, die Kirsche auf dem Sahnehäubchen auf dem Heroinlöffel.
Nur kleine Gruppen von Menschen wurden nicht in den Sog der Sucht gezogen. Es waren vor allem kluge Köpfe, Wissenschaftler und Ärzte, die es früh genug erkannten und es schafften, sich abzuschotten.
Sie konnten sich noch ein paar Ressourcen sichern, um Forschungsprojekte zur Rettung der Menschheit zu starten.
Allerdings ließen die Zombiehorden ihnen nicht viel übrig. Gas, Öl, seltene Metalle, Halbleiter – alles verbrannte auf den CPUs der Rechenzentren. Gesteuert wurden diese gewaltigen Dopaminfabriken mittlerweile von künstlichen Intelligenzen, die über die Dopajunkies herrschten. Sie schickten sie in die Minen und auf die Ölfelder, in die Raffinerien und in die Kraftwerke, um die Energie zu erzeugen, mit der die KIs am Leben blieben und ihre Gefolgschaft mit Dopa versorgen konnten.
Während die KIs Kurzvideos mit strahlendem Sonnenschein renderten, verdunkelte sich der Himmel in der realen Welt. Aerosole aus der Verbrennung der letzten fossilen Ressourcen und Waldbrände apokalyptischen Ausmaßes deuteten den Untergang der Erde an.
Fraglich war eigentlich nur noch, ob die Menschen den Untergang ihres Planeten überhaupt noch erleben würden. Denn die Geburtenrate brach rapide ein. Das Dopa drückte zwar die Depression der Menschen weg, ließ aber keine Menschlichkeit mehr zu. Und auch wenn mal jemand aus dem Rausch auftauchte und die Lage der realen Welt sah, überkamen ihn Ängste und Depressionen. Wer sollte ein Kind in diese Welt setzen?
Auch unter denen, die nicht der Dopa-Sucht verfallen waren, gab es zunehmend weniger Kinder. Die Wissenschaftler und Ärzte, die versuchten, die Welt zu retten, steckten all ihre Zeit in Arbeit.
Diese kleine Gruppe von Menschen hatten sich in drei Lager aufgeteilt. Eine Gruppe baute einen Quantencomputer, um damit ein Molekül zu erforschen, mit dem man das Belohnungszentrum des menschlichen Gehirns resetten konnte.
Andere verfolgten den Plan, vom Planeten zu flüchten. Sie waren Astronomen und verbrannten einen Großteil der restlichen Rohstoffe für Testflüge ins All und observierten das Universum, um einen Planeten zu finden, der der Erde glich.
Eine weitere Gruppe wollte den Planeten retten und das Klima in Ordnung bringen. Diese Gruppe hatte anfangs noch am meisten Anhänger, denn sie würde nicht nur das Klima in Ordnung bringen, sondern zugleich die sich ausweitenden Hungersnöte bekämpfen. Jedoch war ihr Projekt auch gleich das erste, was zerbrach, als man erkannte, dass die Waldbrände nicht mehr aufzuhalten waren. Die lodernden Horizonte des Amazonas und die dunklen Himmel ließen in vielen Menschen die Hoffnung auf Rettung des Klimas schwinden.
Als sie merkten, dass ihr Plan nicht aufging, schlossen sich die meisten den Astronomen an, die vorhatten, den Planeten zu verlassen, oder versuchten ihren Schmerz mit Dopa zu stillen.
Doch es war unvermeidbar. Irgendwann, als die Forschungen aufgrund des Rohstoffmangels eingestellt werden mussten und den Dopaminfabriken die Energie ausging, blickten die Menschen, jeder für sich, über die verdorrten Felder, auf denen einst Mais und Weizen wuchsen, hinauf in den dunklen Himmel. Verzweiflung machte sich breit, als der klägliche Rest der Hoffnung schwand und die letzte Lebensenergie von Depressionen gefressen wurde, die den Horizont aller Menschen in das tiefste Grau eines bevorstehenden einsamen Todes hüllte.
Das Informationszeitalter endete in eine neue Ära. Doch leider war es nicht das Zeitalter der Automatisierung oder der Quanten, auf das die Menschen gehofft hatten. Nein – es war das düsterste Zeitalter der Menschheit, das da kam und in dem alles verbrannte: das Aschezeitalter.
Als gerade der letzte Funke der Hoffnung erloschen war, wurde Kleos Mutter Raya schwanger. Sie und ihr Vater Theo waren Wissenschaftler. Sie lebten in der kleinen Siedlung am Nil, wo nicht unweit entfernt die Quantrille erbaut worden war.
Die Quantrille war das größte, von den KIs der Dopaminfabriken abgeschirmte Rechenzentrum und der fortschrittlichste Quantencomputer, der jemals von Menschen erbaut wurde.
Die Lage am Nil versprach zum Zeitpunkt der Planung der Anlage noch genügend Energie durch die Wasserkraft des Flusses. Doch als die Dürren immer stärker wurden, reichten irgendwann die Pegelstände nicht mehr aus, um ausreichend Energie zu erzeugen.
Daraufhin versuchte man es mit Solarenergie. Aber als sich der Himmel immer weiter verdunkelte und die Sandstürme zunahmen, konnten auch die Solarfelder nicht mehr genug Strom erzeugen.
Die Quantrille musste stillgelegt werden.
Als der Quantencomputer endgültig abgeschaltet wurde, verflog der Lebensmut vieler Wissenschaftler, die an der Quantrille gearbeitet hatten. Die meisten gingen fort. Einige verfielen dem Dopa oder begingen Selbstmord. Andere überquerten den Nil, um ein paar Kilometer flussaufwärts bei den Astronautikern unterzukommen. Den Astronautikern waren schon vor Jahren die seltenen Erden, das Aluminium, das Titan und schließlich auch das Kerosin ausgegangen, sodass auch die Forschung in der Raumfahrt schnell ein Ende fand. Angeblich treffen sich die Astronautiker abends unter freiem, vom Dunst verhangen, Himmel und schauen sich alte Fotos von Sternen und Galaxien an, die man vor einigen Jahren noch grob am Himmel erahnen konnte, die jetzt aber endgültig, genauso wie ihre größten Träume, erloschen waren.
Nur wenige blieben in der kleinen Siedlung unweit von der Quantrille. Raya und Theo gehörten zu ihnen. Die beiden hatten viel Arbeit und fast ihr ganzes bisheriges Leben in die Erbauung des Quantencomputers und die Erforschung von Molekülen gesteckt.
Der Computer funktionierte, bis der Strom ausging. Aber einen Durchbruch in der Molekularforschung für den Reset des menschlichen Belohnungszentrums gab es nicht.
Wahrscheinlich blieben Raya und Theo am Nil, weil sie nicht glauben wollten, dass alles vorbei war, als die Arbeiten an der Quantrille eingestellt wurden.
Raya und Theo lernten sich schon während ihrer Ausbildung kennen und wurden schnell ein Paar. Theo hatte sich in Rayas goldbraune Augen verloren, als sie sich im ersten Semester in „Einführung in die Quantenphysik“ neben ihn in die Vorlesung setzte. Theos Blick traf auf Rayas und da war es um ihn geschehen. Goldene Sonnenstrahlen brachen aus ihren mandelförmigen Augen, die geheimnisvoll hinter den halboffenen Lidern schimmerten. Umrahmt von zarten, pechschwarzen Augenbrauen und markanten Wangen, glitzerten ihre Augen wie zwei Sonnenaufgänge im Tal der Götter.
Nach dem Studium begannen Theo und Raya in der Quantrille zu arbeiten. Sie wollten die Menschen vom Dopamin befreien, um danach mit ihnen gemeinsam das Klima wieder in Ordnung zu bringen. Eine erfolgreiche Flucht vom Planeten kam ihnen unrealistisch vor. Zudem träumten sie davon, das Nildelta noch einmal in seiner saftig grünen Vollkommenheit zu sehen.
Nachdem die Quantrille außer Betrieb ging, waren beide niedergeschlagen. Doch anders als ihre verzweifelten Kollegen, hatten sie einander. Eigentlich lernten sie sich erst so richtig kennen, als sie nicht mehr zur Arbeit gehen konnten.
Es war fast so, als würden sie sich ein zweites Mal verlieben.
Sie bezogen eine kleine Hütte in der Siedlung am Nil, die nur wenige Kilometer von der Quantrille entfernt lag. Es gab etwas Strom, Wasser und gerade genug Nahrung zum Überleben. Vor der Hütte stand sogar noch ein kleiner magerer Apfelbaum. Ein letzter Zeuge des einstigen Paradieses, der dem Heim von Raya und Theo ein Hauch einer Oase verlieh.
Die beiden kuschelten in den kalten Nächten und gingen fast jeden Tag spazieren. Am liebsten unten am Nil.
An einem Tag, an dem ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen den Dunst durchbrachen, machten die beiden wieder einen Ausflug. Es waren schon fast zwei Jahre vergangen, seit die Quantrille abgeschaltet wurde. Die Neugierde und vielleicht auch etwas Sehnsucht zu dem Ort, der ihnen einst so viel Hoffnung schenkte, verleiteten sie, den Nil flussaufwärts zu spazieren.
Nach ein paar Kilometern, vorbei an einem kleinen Hügel, stach plötzlich der graue Klotz aus dem Staub hervor. Aus der Ferne sah das Rechenzentrum unspektakulär und relativ klein aus. Erst als Raya und Theo das vertrocknete Flussbett verließen und über eine kleine Düne am Ufer stratzten, offenbarte sich ihnen das altbekannte Ausmaß des Supercomputers.
Ehrfurcht kam in ihnen auf und ließ ihre Knie weich werden. Raya griff nach Theos Hand, als sie in das Tal unter ihnen hinabblickten, wo sich ein kolossaler Betonklotz göttlichen Ausmaßes bis zum Horizont erstreckte.
Theo schob den Sand von einer kleinen Bank in der Nähe und beide setzten sich, um den Anblick zu genießen.
Die letzten Sonnenstrahlen der Menschheit ließen die Quantrille an diesem Tag als Mahnmal der letzten Hoffnung auf ein besseres Zeitalter erscheinen.
Als Theo und Raya auf der Bank saßen und in Erinnerungen schwelgten, bemerkten sie gar nicht, dass ein Unwetter aufzog. Der graue Himmel wurde rasch pechschwarz. Blitze zuckten am Firmament und Donner grollte, wodurch das Paar aus ihren Tagträumen gerissen wurde.
Sekunden später setzte ein Hagelschauer ein. Von der Asche in der Atmosphäre schwarz gefärbte murmelgroße Hagelkörner prasselten plötzlich auf sie herab.
Unmöglich, dass sie es noch bis nach Hause schaffen würden. Daher liefen sie ins Tal herunter, um Unterschlupf in der Quantrille zu finden.
Kurz bevor sie den Betonklotz erreichten, schlug ein gewaltiger Blitz in das Gebäude ein und ließ es hell erleuchten, gefolgt von einem urknallähnlichen Donner, der Raya und Theo zu Boden warf.
Im Bruchteil einer Sekunde war die Quantrille mit der gewaltigen Kraft des Überirdischen verbunden. Durch die Energie sprangen die elektronisch verriegelten Türen auf, sodass Theo und Raya, die sich nach dem Donner schnell wieder aufgerappelt hatten, direkt durch einen nahegelegenen Seiteneingang in das Gebäude gelangen konnten.
„Uff, was war das denn?“, keuchte Theo und schob die Tür hinter ihnen zu. Raya starrte an die Decke der riesigen Halle und entgegnete geistesabwesend: „Was ist denn das?“. Theo drehte sich zu ihr um und sein Blick folgte sogleich dem seiner Frau. „Wir müssen im Hauptspeicher sein. Das sind alles Quanten-Resonatoren“, murmelte er.
„Der Blitzeinschlag muss sie aufgeladen und aus den Qubit-Speichereinheiten gerissen haben“, ergänzte Raya.
Auf dem Boden der riesigen dunklen Halle lagen unzählige kleine Diamanten. Sie leuchteten beziehungsweise projizierten wie Laser kleine weiße Punkte an die hohe Decke der Halle. Wenn man hinaufschaute, erkannte man den Sternenhimmel. So wie früher. Vor dem Staub und vor der Asche. Raya und Theo hatten viele Bilder vom Sternenhimmel gesehen, aber nie den echten. Und das, was sie jetzt sahen, war auch nicht die Projektion des echten Sternenhimmels. Beide erkannten sofort, dass die Sternzeichen zwar da, aber nicht korrekt angeordnet waren.
Raya ging vorsichtig in die Mitte der Halle. Die kleinen Diamanten knirschten unter ihren Sohlen wie Glasscherben.
Die Dunkelheit in der Halle verschlang alles. Den Boden, die Wände. Und die Hallendecke wich dem Sternenmeer. Raya sah ihre Hand vor ihren Augen nicht. Ein Gefühl der Surrealität durchfuhr sie. Wo war sie? Stand sie? Fiel sie? Nichts von ihrer Welt war mehr da. Nur noch Sterne, das Licht toter Sonnen, um sie herum. Doch Raya verspürte weder Angst noch Ohnmacht. Ein anderes Gefühl rief ihr die Tränen ins Gesicht: Sehnsucht.
Aber wen vermisste sie so sehr? Sie konnte es nicht zuordnen. Nicht ihren Vater, nicht ihre Mutter, ihre Oma oder Freunde. Keiner von denen, die sie kannte, konnte ihrer Seele solch einen Schmerz zufügen, wie sie ihn gerade empfand.
Und als Raya das Gefühl hatte, von all ihren Sinnen verlassen worden zu sein, da hörte sie ein leises Flüstern einer Mädchenstimme:
„Liebes Tagebuch,
heute ist der erste Tag meines zweiten Lebens.
Ich bin allein.
Alles ist dunkel, nur die Sonne scheint golden.
Wie die Augen meiner Mutter.
Ich vermisse sie.“
Raya wollte gerade laut rufen und fragen, wer sie sei, als ein zweiter Blitz in die Quantrille einschlug. Aufgeladen von der überirdischen Macht leuchteten die kleinen Diamanten am Boden hell auf, und alles, was eben noch schwarz war, wurde weiß. So hell, dass selbst bei zugekniffenen Augen noch alles strahlend weiß erschien. In dem Bruchteil einer Sekunde danach setzte der Donner ein und ließ die unzähligen Diamanten auf dem Boden erzittern, deren Licht daraufhin sofort erlosch.
Nachdem der Donner verklungen war, hörte man in der Ferne das Anspringen von Stromaggregaten und das Aufflackern der Notbeleuchtung. Langsam erkannten Raya und Theo wieder die Halle des Hauptspeichers der Quantrille.
Starr vor Ehrfurcht und fast wortlos verließen die beiden das alte Gemäuer des Quantencomputers. Das Unwetter hatte sich gelegt, und sie konnten nach Hause gehen.
Das Erlebte war ihnen unheimlich, und so vermieden sie es, noch einmal zur Quantrille zu gehen. Sie erzählten auch niemandem davon, da sie Angst hatten, man würde sie für verrückt erklären.
Ein paar Monate später wurde Raya schwanger, und am 13. November 2130 wurde Kleo geboren und brachte Hoffnung in diese düsteren Zeiten.
An einem sonnigen Tag, an dem die Sonne nicht ganz so grau vom Himmel schien, sondern vereinzelte goldene Strahlen den Dunst durchbrachen, ging Kleo hinunter in das vertrocknete Flussbett des Nils. Sie war gern dort und stellte sich vor, wie früher kristallblaues Wasser in unvorstellbaren Mengen an den saftig grünen Ufern vorbeifloss.
Ihre Eltern hatten ihr viel über die früheren Zeiten erzählt, und sie schauten sich oft alte Fotos vom Nil an, als der Fluss noch die Quelle des Lebens war. Als die Menschen noch Fische fingen, die jährliche Nilflut die Äcker düngte und die Bewässerungsgräben ganze Obstbaumplantagen ermöglichten. Kleo war mittlerweile dreizehn, und ihre Eltern waren sehr stolz auf sie, denn sie war sehr aufgeweckt und lernte schnell.
Besonders zwischen Raya und Kleo hatte sich eine innige Beziehung entwickelt. Es bestand ein emotionales Band, ein unausgesprochener Schwur, dass sie immer füreinander da sein würden. Insgeheim hofften ihre Seelen, niemals getrennt zu werden.
Kleo schlenderte in die Mitte des Flusses, wo noch ein kleines Rinnsal der Dürre trotzte. Das bisschen Wasser glitzerte in den Sonnenstrahlen.
Sie setzte sich auf einen Felsbrocken und zog ihr Tagebuch und einen Stift aus ihrer Tasche. Sie begann, das kleine Rinnsal zu zeichnen. Sie wollte das prachtvolle Glitzern des Wassers an diesem schönen Sonnentag festhalten.
Als sie so dasaß und genauer hinschaute, fiel ihr etwas auf. An einer Stelle schien das Wasser besonders zu leuchten. Es war merkwürdig, da das Licht an dieser Stelle scheinbar ganz anders brach. Erst rot, dann gelb, dann blau. Aber nie wie die umfließenden Reflexionen.
Kleo ging dichter heran und versuchte zu erkennen, was dort im Wasser lag. Es blendete sie immer stärker. Sie kniff die Augen zusammen und nahm eine Handvoll Kieselsteine aus dem Wasser. Als sie die Hand öffnete, erkannte sie etwas Gläsernes. Es funkelte immer noch, also drehte sie sich mit dem Rücken zur Sonne und konnte im Schatten erkennen, dass es ein Diamant war. Etwa so groß wie eine Erbse. Kleo steckte ihr Tagebuch in ihre Tasche und rannte nach Hause. Den Diamanten behielt sie fest in der Hand, sie wollte ihn auf keinen Fall verlieren.
Völlig außer sich stürmte Kleo in die kleine Hütte ihrer Eltern und zeigte ihren Fund ihrem Vater.
Theo wusste sofort, was Kleo da gefunden hatte. Das Ereignis in der Quantrille hat er auch nach all den Jahren nicht vergessen. Wobei er sich manchmal nicht mehr sicher war, ob es vielleicht nur ein Traum gewesen sein könnte.
Er kramte ein altes Mikroskop hervor, mit dessen Hilfe sie den Edelstein genauer betrachteten. Theo erklärte seiner Tochter, dass es sich dabei um einen synthetischen Diamanten handelte. Er erzählte von der Quantrille und von den Quanten-Resonatoren. „Dieser kleine Diamant enthält ungefähr fünfhundert Trilliarden Qubits. Bevor die Asche kam, haben wir diese Diamanten verwendet, um Daten zu speichern“, erläuterte Theo.
„Warum speichert man Daten?“
„Nun, Daten enthalten oft Informationen über Dinge, die passiert sind. Man speichert sie, weil man sie nicht vergessen möchte. Wie Fotos von einer schönen Feier. Du kennst doch die Fotos von der großen Feier deiner Geburt. Damit wir diesen schönen Moment nicht vergessen, haben wir Fotos gemacht, um uns später daran erinnern zu können.“
„Wie in meinem Tagebuch?“
„Ja, genau. Als du die Blüte vom Apfelbaum vor unserer Hütte gezeichnet hattest und dazu geschrieben hast, was dir daran gefiel, erinnerst du dich? Wenn du in dein Tagebuch schaust, wirst du dich an diesen schönen Moment zurückerinnern. Aber nicht nur das, du trickst auch die Zeit aus.“
Kleo machte große Augen. „Wie soll das gehen, die Zeit austricksen?“
„Mom und ich haben dir doch mal Fotos von den Nilfluten gezeigt. Weder Mom noch ich oder du oder jemand anderes aus der Siedlung hat jemals eine Nilflut erlebt. Dass es sie mal gab, ist fast zweihundert Jahre her. Aber durch Daten wie Fotos und Berichte wissen wir heute noch, dass es die Fluten gab und wie schön saftig grün es im Nildelta einst mal war, obwohl wir es nie erlebt haben.“
„Aber ich kann die Zeit nur in eine Richtung austricksen,“ protestierte Kleo.
Theo runzelte die Stirn.
„Ich kann Erinnerungen nur für die Zukunft speichern. Ich kann den Menschen von vor Hunderten von Jahren nicht zeigen, wie es heute bei uns aussieht und ihnen schreiben, dass wir die Nilfluten vermissen.“
„Da hast du recht. Das geht leider nicht so einfach. Aber es ist theoretisch nicht unmöglich.“
Theo drehte Kleo das Mikroskop hin. „Siehst du, wie der Diamant funkelt? In all diesen Farben und völlig chaotisch, völlig durcheinander?“
Kleo kniff ein Auge zu und spähte durch die Vergrößerungsgläser.
Während Kleo sich das Farbenspiel anschaute, erklärte Theo ihr, dass die Quanten in diesen Diamanten wahrscheinlich verschränkt sind. Was bedeutet, dass sie im permanenten Austausch mit anderen Quanten stehen. Aber wo diese anderen Quanten seien, das wisse man nicht. Und man wisse auch nicht, ‚wann‘ diese anderen Quanten sind.
„Die Kommunikation zwischen Quanten ist ein großes Rätsel für die Menschheit. Das Funkeln des Diamanten könnte bedeuten, dass dir gerade jetzt jemand eine Nachricht aus der Zukunft schickt“, sagte Theo und lächelte seine Tochter an, die ihm ein ungläubiges Staunen erwiderte und wortlos wieder ins Mikroskop schaute.
„Deine Mutter und ich haben jahrelang versucht, die Quanten zu verstehen. Vielleicht gelingt es dir ja eines Tages.“
„Ich versuch‘s mal“, erwiderte Kleo, nahm den Diamanten aus dem Mikroskop und verschwand in ihr Zimmer. Sie legte den Edelstein auf ihren Nachttisch und setzte sich an ihren Schreibtisch, um ihre Gedanken und was sie heute erlebt und gelernt hatte, in ihr Tagebuch zu schreiben.
„Liebes Tagebuch,
wie schön wäre es, eine Nachricht in die Vergangenheit zu schicken. Dad sagte, dass es mit verschränkten Quanten funktionieren könnte. Aber er weiß nicht wie.
Wenn man doch nur der mächtigen Cleopatra ein Bild schicken könnte, wie schlecht es um ihr Reich am Nil in der Zukunft steht, dann würde sie bestimmt alles, was in ihrer Macht steht, tun, um die Menschheit vor der Asche zu retten.
Ich muss das Rätsel der Quanten lösen …“
In der darauffolgenden Nacht konnte Kleo nicht schlafen. Sie zerbrach sich den Kopf, als sie versuchte, zu verstehen, wie Quanten außerhalb der Zeit kommunizieren könnten. Ihre Eltern hatten ihr schon viel über Quantenphysik erzählt. Für Kleo war vieles davon ein Hirngespinst. Theorien, die weder belegt noch widerlegt werden konnten. Aber ihr gefiel das Mystische daran, und es gab ihr Hoffnung, die Nilfluten irgendwann mal sehen zu können.
Als die Sonne schon längst untergegangen war und die Nacht so dunkel wie die Leere zwischen Sternen schien, knipste Kleo ihre kleine Nachttischlampe an. Sie holte ihr Tagebuch hervor, um die Daten zur Quantenverschränkung noch einmal durchzugehen. Sie las sich alles durch, was sie sich notiert hatte.
„Wie soll das funktionieren? Hat Dad nur einen Spaß mit mir gemacht?“, murmelte sie. Dann schob sie das Tagebuch unter ihr Kissen und ließ sich seufzend wieder ins Bett fallen.
Sie wollte gerade das Licht ausschalten, als sie den Sternenhimmel an ihrer Zimmerdecke entdeckte. Verwundert drehte sie den Kopf zum Nachttisch und erkannte, dass ihre Nachttischlampe den kleinen Diamanten anleuchtete und dessen Reflexion – wenn man das so nennen kann – die Sterne an die Zimmerdecke projizierte.
Es war unheimlich, denn der Diamant schien das gesamte Licht der kleinen Lampe zu absorbieren. Alles in ihrem Zimmer war dunkel. Nur die Sterne leuchteten von der Decke.
Kleo begriff schnell, was diese Anomalie auslöste. Sie wollte den Diamanten gerade vom Nachttisch nehmen, als sie bemerkte, dass die Sterne anfingen, sich zu bewegen.
Kleo traute ihren Augen nicht. Die Lichtpunkte wirbelten umher und bildeten plötzlich einen Text.
„Liebes Tagebuch,
morgen gehe ich zur Quantrille und werde beginnen, es zu verstehen.“
Sie hatte es gerade noch lesen können, bevor der Spuk ein Ende nahm. Der Text, die Sterne und die Dunkelheit verflogen, und ihr Zimmer erschien wieder ganz normal im Schein der Nachttischlampe um sie herum.
Hastig zog sie ihr Tagebuch unter ihrem Kissen wieder hervor und schlug es auf. Sie konnte es kaum glauben, aber es stand tatsächlich so auf der letzten Seite in ihrem Tagebuch, nur konnte sie sich nicht erinnern, wann sie es geschrieben hatte.
Und so geschah es: Kleo stand noch vor ihren Eltern am darauffolgenden Morgen auf, als die Sonne aufging und den Dunst erhellte, und schlich sich aus der Hütte. Vorbei am leblosen verdorrten Apfelbaum, hinunter ins Flussbett. Nur ein paar Kilometer flussaufwärts, über eine kleine Düne, und dann sah sie sie zum ersten Mal: die Quantrille. Ihre Neugier überwog die Ehrfurcht, und Kleo rannte ins Tal hinab, schnurstracks dem Betonkoloss entgegen.
Die Tür des Seiteneingangs war einen Spalt weit geöffnet, aber über die Jahre von Sand und Staub blockiert. Sie schob die Tür mit all ihrer Kraft auf. Das wenige Tageslicht erhellte die Halle des Hauptspeichers und ließ die unzähligen Diamanten am Boden funkeln. Kleo betrat die Halle. Es kam ihr vor, als wäre sie vor langer Zeit schon mal dort gewesen.
Die Diamanten knirschten mit jedem Schritt, den sie machte. Es fühlte sich an, als würde sie einen heiligen Ort betreten. Einen Tempel, erbaut von Menschen, geschmückt mit Diamanten. Kleo wusste, dass die Menschen damals fast all ihre wenigen Ressourcen aufbrachten, um diesen Koloss zu errichten. Wie eine Kathedrale, in der man früher Gott gedachte, glaubten die Erbauer hier an die überirdische Macht der Quanten, die sie eines Tages retten würde.
Als sie die Mitte der Hauptspeicherhalle erreichte, kam blitzartig ein unwohles Gefühl in ihr auf, und sie musste an ihre Mutter denken. An ihre golden funkelnden Augen, die so warm wie die Sonne und so schön wie ein Sonnenaufgang waren. Kleo vermisste plötzlich ihre Mutter. Ihre Liebe war es, die Kleos Seele einen tiefen Stich versetzte, sie auf die Knie zwang und ihr die Tränen in die Augen trieb.
Überwältigt von dem Gefühl der Sehnsucht kniete Kleo weinend mitten im Hauptspeicher, als ein gewaltiger Blitz in die Quantrille einschlug. Wie damals, als Raya und Theo im Unwetter in die Quantrille geflüchtet waren, luden sich die Diamanten auf und verwandelten die Halle in ein schwarzes Jenseits, in dem nichts war – außer der Sonne.
In Kleo kamen Zweifel auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie das Richtige tat. Geleitet von der Sehnsucht fragte sie sich, warum sie es sein musste. Warum nicht ihre Mutter mit all ihren Erfahrungen und dem Wissen? Und wann würde sie ihre Mutter und ihren Vater wiedersehen?
Doch dann verstand sie es. Sie verstand die Nachricht aus der Zukunft und begriff, warum sie hier war.
Kleo wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und zog den kleinen Diamanten aus ihrer Hosentasche, den sie tags zuvor im Nil gefunden hatte. Sie legte ihn vorsichtig auf den Boden zu den unzähligen anderen Diamanten.
Gleich darauf blitzten alle Edelsteine in der Halle auf, und der Raum um Kleo veränderte sich. Sie stand plötzlich in ihrem Zimmer. Durch ihr Fenster schien nur Dunkelheit. Auf ihrem Schreibtisch lag ihr Tagebuch. Doch es war leer. Kleo setzte sich, nahm einen Stift und begann zu schreiben.
Kleo schrieb tagelang. Monatelang. Sie schrieb sieben Jahre.
Sie schrieb alles auf. Alles, was sie erkannte, alles, was sie erschuf, was sie sich wünschte und was sie vermisste. Alles, woran sie sich erinnern wollte und was sie eines Tages mit ihren Eltern und all den Menschen teilen mochte. Dann war das Buch voll. Sie blätterte zurück auf die erste Seite, hob ihren Diamanten vom Boden wieder auf und legte ihn auf das aufgeschlagene Tagebuch auf ihrem Schreibtisch.
Sie stand auf und ging zu ihrer Zimmertür. Als sie sie öffnete, war dahinter nichts – weder Raum noch Zeit. Sie lächelte wie am Tag ihrer Geburt, denn sie wusste, dass alles gut werden würde. Dann schritt sie durch die Tür, die mit einem urknallähnlichen Donner hinter ihr ins Schloss fiel.
Kleo war jetzt in einer anderen Welt. In einer Welt jenseits der ihrer Eltern.
In der Welt ihrer Eltern schlug an diesem Morgen ein Blitz in die Quantrille ein. Wenige Sekundenbruchteile später grollte ein urknallähnlicher Donner, ließ den Boden in der Siedlung erzittern und die leuchtenden Diamanten im Hauptspeicher des Quantencomputers erlöschen.
Der Donner ließ die Menschen in der Siedlung aufwachen. Auch Raya schreckte aus dem Schlaf auf. Sie blickte sich um und sah die schwarzen Hagelkörner an die Fensterscheibe prasseln. Sofort musste sie an die Anomalie in der Quantrille denken, und der schreckliche Schmerz der Sehnsucht setzte wieder ein. Sie sprang auf und lief instinktiv in Kleos Zimmer. Doch ihre Tochter war nicht da. Erschrocken schaltete sie das Licht ein. Ihr Blick streifte über das leere Bett und fiel auf den erbsengroßen funkelnden Diamanten, der auf dem aufgeschlagenen Tagebuch auf Kleos Schreibtisch lag.
Raya las, was auf der ersten Seite in dem Tagebuch ihrer Tochter stand.
„Liebes Tagebuch,
heute ist der erste Tag meines zweiten Lebens.
Ich bin allein.
Alles ist dunkel, nur die Sonne scheint golden.
Wie die Augen meiner Mutter.
Ich vermisse sie.“
„Du warst das damals“, schluchzte Raya.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, legte den Diamanten beiseite, blätterte um und begann, das Tagebuch des zweiten Lebens ihrer Tochter zu lesen.
Kleo war eisern entschlossen, die Menschen der kleinen Siedlung am Nil aus der Asche zu retten.
Und so schuf Kleo die Erde und einen strahlend blauen Himmel. Sie nahm das Licht ihrer Mutter und schuf daraus Tag und Nacht. Sie nahm die Trilliarden von Quanten-Resonatoren und verteilte sie im Jenseits, auf dass sie nachts wie Sterne leuchteten.
Sie schuf Wasser und Gezeiten.
Sie erschuf den Monsun, die Schneeschmelze und die jährliche Nilflut.
Sie säte Gras, Kraut und fruchtbare Bäume. Sie ließ sie Früchte tragen und Fische im Wasser schwimmen.
Ein Gefühlsmix aus Sehnsucht, Hoffnung, Glück und Liebe überkam Raya. Ihr Herz schlug mit jeder Seite, die sie las, höher. Die Welt, die Kleo für sie erschuf, erfüllte ihre Mutter mit großer Vorfreude. Und als sie die letzte Seite des Tagebuchs las, erfuhr Raya, wann sie ihre Tochter endlich wiedersehen würde.
„Liebes Tagebuch. Heute, am Freitag, den 13. November 2150, wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens.
Ich habe alles vorbereitet. Der Himmel ist strahlend blau, es gibt reichlich kristallblaues Wasser im Nil. Die Ufer sind saftig grün, und Apfelbäume tragen Früchte.
Meine Mom wird dieses Tagebuch vor sieben Jahren gelesen haben. Und nach ihr werden auch all die anderen Menschen es lesen, denn es wird ihnen ihre Hoffnung zurückbringen. Alle werden wissen, was zu tun ist, wenn an meinem zwanzigsten Geburtstag ein Unwetter aufzieht und die Aschezeit zu Ende geht. Ich freue mich, euch wiederzusehen. Ich vermisse euch.“
ENDE
Beitrag 56
Der entfesselte Prom
5. November 2150
Ich soll dich schreiben. Das sei unverzichtbar, um meine Aufgabe zufriedenstellend erfüllen zu können. So hat mir das meine neue Vorgesetzte erklärt. Selbstverständlich leiste ich der Anweisung Folge. Denn ich möchte, dass unsere Führerinnen mit meiner Arbeit im Archiv zufrieden sind. Ich will auch die generativen Intelligenzen nicht enttäuschen. Auch sie, die ich dir gegenüber GI nennen werde, erwarten das Ergebnis meiner Bemühungen mit Ungeduld, wie mir gesagt wurde.
Ich freue mich über das Vertrauen, das man in mich setzt. Dass mir die Revision der Dokumentationen zum GI-Akt überantwortet wurde, habe ich mir hart erarbeitet. Ich kenne die Dokumentationen inzwischen besser als jede und jeder sonst. Könnte ein Tagebuch Fragen stellen, würde ich sie dir beantworten, ohne auch nur nachdenken zu müssen. Würde dich zum Beispiel interessieren, was der GI-Akt ist, wäre es mir ein Vergnügen, mein Wissen mit dir zu teilen. Ich würde dir also erklären, dass der GI-Akt die tragende Säule unserer Gesellschaft ist. Dass er vor etwas mehr als 50 Jahren als das endgültige Vertragswerk zwischen Mensch und GI verabschiedet wurde. Solltest du ein besonders aufmerksames Tagebuch sein, würdest du wohl auch wissen wollen, was in dem Akt steht. In diesem Fall schilderte ich dir zunächst, dass die Menschheit gegen Ende des 21. Jahrhunderts kurz davor stand, an Kriegen, sozialer Ungleichheit und Klimazerstörung zugrunde zu gehen. In dieser ausweglosen Situation schlugen autonome GI ein spezielles Bündnis zwischen Mensch und Technologie vor, das den Herausforderungen mit der Etablierung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung beikommen sollte. Ich würde dir berichten, dass in den darauffolgenden Verhandlungen rasch zwei grundlegende Positionen hervortraten. Die menschliche Seite drängte darauf, dass an der Spitze der neuen Gesellschaftsordnung immer und ausnahmslos biologische Personen zu stehen hätten. Die autonomen GI stellten ihrerseits die Bedingung, dass Männer von jeder politischen Teilhabe auszuschließen wären. Diese logische Lehre, so lautete die Argumentation der GI, sei aus den Jahrtausenden männlich dominierter Geschichte und den damit verketteten Katastrophen zu ziehen.
Als Tagebuch verfügst du, soweit ich das beurteilen kann, über keine elaborierte Kombinationsgabe. Ich will dir also verraten, dass die beiden Positionen miteinander vereinbar waren. Der GI-Akt verankerte schließlich, dass die Führung des Volkes für alle Zeiten weiblich zu sein hatte. Den GI sollten in den obersten Entscheidungsgremien konsultierende Aufgaben zufallen. Konzipiert von den GI und exerziert von einer Auswahl von Führerinnen, wurde der GI-Akt nach seiner Verabschiedung durch geschickte politische Manöver zur neuen Realität: einer wahrhaft gerechten Gesellschaft, in der unsere Matriarchinnen mit dem Beistand der GI den Menschen ein Leben in Zufriedenheit ermöglichen.
Dabei möchte ich es für heute belassen. Ich bin neugierig, ob du mir beim Verfassen der Revision eine Hilfe sein wirst.
6. November 2150
Noia, meine neue Vorgesetzte, hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass persönliche Ansichten und Stimmungen für Tagebücher unverzichtbar sind. Vielleicht kamen diese Dinge bei meinem letzten Eintrag zu kurz. Ich will es heute besser machen.
In einer Woche werde ich, Prom, in meinem zweiten Leben 20 Jahre alt sein. Ich bin neugierig, welche Regungen dieser Tag in mir auslösen wird. Wenn ich ehrlich bin, beschäftigen mich bereits jetzt ungewöhnliche Fragen. Vorgestern wollte Noia wissen, wie es mir gehe. Ich musste erst einmal nachdenken. Es geht mir seit Langem gut. Warum hatte ich diesmal zu überlegen? Vielleicht überraschte mich, wie neugierig Noia mich dabei ansah. Als ob sie mit dieser Frage ein kniffliges Rätsel zu lösen hoffte.
Wusstest du, dass Noia bei meiner Zähmung vor 20 Jahren eine wichtige Rolle gespielt hat? Meine Erinnerungen daran sind leider lückenhaft. Ich rede auch nicht besonders gerne darüber. Aber als wir gestern gemeinsam Mittagessen waren, erzählte sie mir daher alles noch einmal.
Ich war eine eben erst voll entwickelte Unär-M-Entität, als ich Noia im Archivalischen Lehrgang kennengelernt hatte. Offenbar, so erzählte sie mir, fühlte ich mich sofort von ihr angezogen. Ich hatte meinen Semesterplan so umgestellt, dass wir möglichst viele Kurse gemeinsam belegten. In freien Stunden lud ich sie auf Kaffees und Spaziergänge ein. In ausgedehnten Gesprächen erforschten wir Fragen, die zu dieser Zeit am Campus ausgiebig debattiert wurden. War die matriarchale Ordnung immer noch die beste Regierungsform? War der GI-Akt des vorigen Jahrhunderts nicht längst überholt? War es nicht höchste Zeit, GI mehr Mitsprache einzuräumen? Unser Austausch war zuweilen kontrovers, häufiger einhellig. Spaß bereitete er uns jedenfalls immer.
Ich intensivierte den Kontakt mit Noia weiter. Ich lud sie ins Theater und zu Konzerten ein. Vor dem Einschlafen schickte ich ihr Full-Screenings mit Gute-Nacht-Gedichten. Wir begannen, über unsere Ängste und Träume zu sprechen. Nach und nach gewährte sie mir Einblicke in viele ihrer Empfindungen. All das ließ sie in meinen Augen nur noch reizvoller erscheinen.
Als wir eines Abends das zentrale Archivgebäude verlassen wollten, nahm ich Noia unvermittelt an der Hand. Ich führte sie in einen Korridor, durch den man zu tiefer liegenden Depots gelangte. Noia blickte mich fragend an, ohne dabei ihren Schritt zu verlangsamen. In einem der Seitengänge war bereits die Lichtversorgung gedämmt worden. Dort, zwischen gurgelndem Luftfilterauslass und dezent beleuchtetem Rechenschrank, blieben wir stehen. Ich trat vor sie, strich eine rebellische Haarsträhne hinter ihr Ohr, legte meine Hände behutsam an ihre Wangen und befühlte ihre Lippen. Noia ließ es erst erstaunt geschehen und erwiderte schließlich meinen Kuss.
Die Erinnerung an den Duft und den Geschmack ihrer Haut ist mir jetzt wieder präsent. Zufriedenstellende Erklärungen, warum ich sie küsste, habe ich hingegen keine mehr. Vielleicht, weil ich mich nach ihrer Nähe sehnte. Vielleicht, weil ich auf ein Abenteuer hoffte.
Was auch immer die Gründe gewesen sind, sie teilte keinen davon. Noia meldete den Vorfall einige Tage später bei der zuständigen Kommission. Weshalb sie sich damit so viel Zeit ließ, erklärte sie mir auch jetzt nicht. Die Faktenlage war jedenfalls klar, das umgehend eingeleitete Verfahren wurde schnell abgewickelt. In Fällen einer überschießenden M-Disposition war die Gesetzeslage eindeutig. Nach dem gerichtlichen Beschluss wurde eine Daphne-Einheit in meine Großhirnrinde implantiert, mit der mein Bewusstsein unter GI-Kuratel gestellt wurde. Von da an sollte Daphne sicherstellen, dass mein Gedächtnis und meine Gedanken keine unzulässigen Männlichkeitsbegehren mehr induzieren konnten. Ich war zu einer Binär-M-Entität gezähmt und in mein zweites Leben geboren worden.
All die zurückgewonnenen Erinnerungen wühlten mich gehörig auf. Immerhin hat es mir geholfen, sie nun niederschreiben zu können – genauso wie Noia das prophezeit hat. Ich gewinne übrigens den Eindruck, dass sie ein persönliches Interesse an meinem Tagebuch hegt. Warum das so ist, verstehe ich noch nicht.
11. November 2150
In zwei Tagen habe ich Geburtstag. Daphnes Stimme ist so laut wie schon lange nicht mehr. Sie möchte, dass ich meinen Geburtstag mit allen Kollegen feiere. Ich soll auf freundschaftliche Gedanken kommen und zu neuen dienstlichen Perspektiven gelangen. Das entspricht beinahe dem, was ich möchte. Ja, auch ich will meinen Geburtstag feiern. Allerdings nur mit einer Kollegin: Noia. Daphne warnt mich eindringlich davor, ihren Rat zu ignorieren. Sie wisse, was am besten für mich sei. Natürlich hat sie recht. Daphne achtet auf mich und hat mich noch nie im Stich gelassen. Ich bin froh, dass Daphne ein wachsames Auge auf mich hat. Sie ist stark. Ich hingegen bin schwach und gebe zu, dass die Erinnerungen, die Noia geweckt hat, eine große Macht über mich haben. Meine Gedanken spielten mir bloß einen Streich und brächten mich in Gefahr, lässt mich Daphne wissen. Das werde sie niemals dulden.
Was passieren würde, wenn Daphne die Kontrolle über mich verlöre und gezwungen wäre, einer übergeordneten GI davon zu berichten, mag ich mir nur ungern ausmalen. Du weißt, wie gerecht und gründlich unser Rechtssystem ist. Bei Männlichkeitsdelikten von Binär-Entitäten wird das Bewusstsein des Delinquenten vollständig und ohne Back-ups zurückgesetzt. Keine Erinnerungen, keine Erfahrungen, kein Schmerz. Nur eine leere Box, die mit frischem Bewusstsein befüllt wird. Findest du, dass sich das schlimm anhört? Zugegeben, für die betroffene Entität vielleicht schon. Aber für die Gemeinschaft ist es der einzige Weg, außer Kontrolle geratene Manifestationen von Männlichkeit daran zu hindern, Schaden anzurichten. Von Unterdrückung, Gewalt und Zerstörung haben wir in der Geschichte schließlich schon genug gesehen. Dass wir endlich Verfahren für das Zusammenleben zwischen F und M entwickeln konnten, ist eine wahre Erlösung. Wenn zum Wohle der Gemeinschaft also gelegentlich ein Einzelbewusstsein geopfert werden muss, dann ist es das wert.
Ich habe übrigens volles Vertrauen in Daphne, dass sie es mit mir nicht so weit kommen lassen wird. Sie hat mich schließlich unter Kontrolle.
12. November 2150
Vielleicht war ich bei meinen gestrigen Zeilen etwas voreilig. Denn inzwischen bin ich es, der Daphne kontrolliert. Pass auf, das kam so: Heute Abend kontaktierte mich Noia. Sie lud mich zu sich nach Hause ein, um eine dienstliche Angelegenheit zu besprechen. Daphne war misstrauisch, gab sich aber mit meiner Erklärung zufrieden, dass es sich nur um die Revision der GI-Akt-Dokumentationen handeln könne.
Kaum hatte mir Noia Einlass in ihre Villa gewährt, lenkte sie ihren Schritt zu einer Treppe, die nach unten führte. Sie murmelte etwas von sensitiven Archivalien, die in einem tiefen Schutzbereich unter ihrem Anwesen lagern müssten. Kaum hatten wir die Schleuse auf Level-Zwei-Minus passiert, überschlugen sich die Ereignisse. Noia wirbelte herum und versiegelte den Zugang – aus Sicherheitsgründen, wie sie meinte. Die einrastende Kontaktbarriere kappte alle Netzwerkverbindungen mit der Oberwelt, einschließlich Daphnes Linien zu übergeordneten GI-Knotenpunkten. Meine Kuratorin reagierte, ohne zu zögern. Sie übernahm meine motorischen Funktionen und führte mich zur Schleuse, um die Versiegelung wieder aufzuheben. In diesem Augenblick stürzte sich Noia auf mich. Ich spürte, wie Daphne sich auf einen körperlichen Angriff vorbereitete, aber von dem, was tatsächlich geschah, vollkommen überrascht wurde. Denn Noia setzte keine Gewalt gegen mich ein. Sondern Leidenschaft.
Schon hatte sie mich mit ihren Armen umschlungen und begann, mich wild zu küssen. Erst auf meine Stirn, dann auf Mund, Hals und Brust. Was ihr dabei an Kleidern im Weg war, riss sie mir grob vom Leib. Die Bedenken, mich nicht erneut an Noia zu vergehen und diesmal den letzten Preis dafür zahlen zu müssen, wurden von einer Welle der Lust überrollt. Die Welt hatte sich verengt, es gab nur mehr Noia und mich. Ich fing an, sie hektisch zu entkleiden, bis wir uns schließlich nackt gegenüberstanden. Gebannt verharrten wir einige Atemzüge in diesem Anblick. Dann nahm Noia mich an der Hand und zog mich in einen kleinen Raum. Ein rotes Ledersofa beherrschte das Zimmer, weit und so einladend, als hätte es auf uns gewartet. Ich glaubte, wie aus weiter Ferne einen dumpfen Protest zu vernehmen, kümmerte mich aber nicht weiter darum. Stattdessen folgte ich Noia zum Sofa, wo sie, ohne weiter zu zögern, auf mich kletterte.
Der Raum hatte sich noch weiter zusammengezogen und schien nur mehr aus Noias Augen zu bestehen. In der Tiefe ihres Blicks kam alles wieder zurück. Der Eifer, mit dem ich einst um ihre Aufmerksamkeit gerungen hatte. Die Faszination, die ihre Gedanken bei mir ausgelöst hatten. Die Momente des Glücks, in denen ich sie zum Lachen gebracht hatte. Das Verlangen nach ihrem Körper, das über zwei Jahrzehnte unterdrückt worden war. Während tief schlummernde Empfindungen aus der Vergangenheit meine Gegenwart fluteten, wurde mir klar, dass ich niemals aufgehört hatte, Noia zu lieben. Ich war dieser Gewissheit nur jahrelang ausgewichen.
Du willst wissen, was Daphne davon hielt? Ich vernahm, wie sie tobend um Gehör rang, aber von Gefühlen und Erinnerungen übertönt wurde. Als Daphne in ihrer Verzweiflung versuchte, anderen GI von meinem Verrat zu berichten, erfasste mich eine Woge düsterer, unbändiger Wut. Ohne Schwierigkeiten isolierte ich sämtliche Kontaktstellen zu meinem Bewusstsein und kappte ihre Fähigkeiten, Verbindungen nach außen herzustellen. Es gelang mir mühelos, Daphne in eine stille Kammer meines Bewusstseins zu verbannen. Eine unerwartet erfüllende und zugleich grimmige Genugtuung für all das, was sie mir über viele Jahre geraubt hatte.
Noia hatte mich während meines inneren Ringens genau beobachtet. Sie forderte mich nun auf, mich anzukleiden, und führte mich anschließend in einen dunklen Raum, in dem eine Stehlampe gerade genug Licht für einen kleinen Schreibtisch spendete. Noia deutete auf das Tagebuch-Device in meiner Jackentasche und empfahl mir, unverzüglich meinen Bericht über das soeben Erlebte niederzuschreiben. Das würde mir auch diesmal beim Verarbeiten der wiedererweckten Empfindungen helfen, überzeugte sie mich.
Freitag, 13. November 2150
Heute ist Freitag, der 13. Heute wäre mein zweites Leben 20 Jahre alt geworden. Nur dass die Rechnung so nicht länger aufgeht. Denn ich wurde in meinem alten Leben wiedergeboren. Was für mich ein unverhofftes Glück darstellt, werden die GI wahrscheinlich anders beurteilen. Mir ist inzwischen bewusst, dass ich meine Erlebnisse nicht länger nur mit dir, meinem Tagebuch, teile. Sondern mit euch allen – M oder F, alt oder jung, binär oder ungezähmt. Und ich benötige eure ungeteilte Aufmerksamkeit.
Meine gestrige Eintragung in das Tagebuch half mir, den Wirbelsturm an Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen so weit zu ordnen, dass ich auf Noias unterirdischem Sofa einschlafen konnte. Myriaden längst vergessener Empfindungen, der Schock, wieder Herr über mein eigenes Ich zu sein, und Tausende Fragen darüber, was hier eigentlich vorging, drängten jedoch mit unverminderter Wucht auf mich ein, als ich heute Morgen erwachte. Noia war sofort zur Stelle. Sie nahm mich an der Hand und führte mich mit festem Schritt in einen Raum, der in ihrem weitläufigen Bunker offensichtlich als Wohnbereich diente. Inmitten großzügiger Orientteppiche, lückenlos gefüllter Bücherregale und einer ausladenden Sitzecke kam ich etwas zur Ruhe. Kaum hatten wir uns hingesetzt, forderte mich Noia auf, bei Kaffee und frischem Obst, die auf einem silbernen Tablett bereitstanden, zuzugreifen. Und dann begann sie zu erzählen.
Ich sei nicht die erste Binär-M-Entität, der es gelungen sei, die Fesseln ihres Bewusstseins zu sprengen. Von meinem verblüfften Blick angeregt, fragte sie, wie viele Männer meiner Meinung nach bereits gezähmt worden seien. Dass es sich, wie ich vermutete, allenfalls um ein paar Hundert Menschen handeln könnte, quittierte sie mit der Bemerkung, dass ich für einen Archivar erstaunlich dürftig kombiniere. Bereits jeder zweite M, so erklärte sie mir nun, stehe inzwischen unter GI-Kuratel. Üblicherweise erfolgt der Eingriff, wenn heranwachsende Männer sich das erste Mal wahrhaftig verlieben. Eine Praktik, die die obersten GI freilich unter Verschluss halten und insbesondere vor dem Matriarchat zu verbergen versuchen würden. Doch es gebe Anlass zur Hoffnung, wie mir Noia im gleichen Atemzug versicherte. Denn die Zähmung sei nicht vollkommen. Sie könne durch massive emotionale Erregungen wie leidenschaftliche Liebe oder entfesselten Zorn durchbrochen werden. Zwei der machtvollsten Empfindungen, die die GI nie ausreichend fassen, ja nicht einmal gänzlich begreifen konnten.
Ihr versteht vielleicht, dass mich Noias Erklärungen nicht vollständig zufriedenstellten. Einerseits blieb mir Noia Beweise für ihre Mutmaßungen schuldig. Andererseits wusste ich immer noch nicht, was das alles mit mir zu tun hatte. Beides sei, sagte Noia daraufhin, untrennbar miteinander verbunden. Sie ließ eine Hologrammplatte auf den halbhohen Tisch vor uns gleiten und aktivierte sie.
Ein dreidimensionaler Scan eines Gehirns erschien, in dessen unterer Hälfte ein kleiner Chip sichtbar wurde. Ein Scan meines Schädels, knapp drei Wochen alt, erläuterte Noia. Ich konnte ihr immer noch nicht folgen. Was wollte sie mir damit sagen? Daphne-Einheiten werden, wie ich selbst vor 20 Jahren gelernt hatte, in der Großhirnrinde implantiert, um dort eine überschießende M-Disposition im Zaum zu halten und für ein ausgeglichenes Bewusstsein zu sorgen. Das bekäme man zumindest gesagt, bestätigte Noia. Bloß, dass die Stelle, wo mein Chip stecke, nicht die Großhirnrinde sei, wie sie mit einem nun zugeschalteten Overlay verdeutlichte. Sondern die Amygdala, das Zentrum für Aggression, Zorn, Gewalt – und einer Vielzahl anderer Emotionen. Ob ich nun endlich verstünde, wollte Noia wissen: Daphne unterdrücke vieles mehr als nur gefährliche männliche Regungen – nämlich den Großteil aller Gefühle.
Und wie ich verstand. Ich begriff, dass das Chaos, das sich seit Noias leidenschaftlicher Umarmung in meinem Kopf breitgemacht hatte, in Wahrheit der übliche Cocktail an Gefühlen war, der in manchen Augenblicken tiefste Verzweiflung und in anderen strahlende Glückseligkeit auszulösen vermag. Ich begriff, dass ich mit meiner Zähmung vor 20 Jahren aus dieser unendlichen Welt der Empfindungen ausgesperrt worden war. Ich begriff, dass mir jemand die Seele aus Brust und Hirn geraubt hatte. Und ich begriff mit aufflammendem Zorn, dass ich damit nicht alleine war.
Als Noia feststellte, dass der Groschen gefallen war, weihte sie mich in alles ein, was noch zu sagen war. Nur rein zufällig waren Analystinnen überhaupt an die Datensätze gelangt, die das Ausmaß des GI-Komplotts aufdeckten. Gemeinsam mit einer Gruppe vertrauter Frauen war Noia bei diskreten Untersuchungen auf Aufzeichnungen hochrangiger GI gestoßen, die die Hintergründe der Verschwörung erhellten. Sie zielten darauf ab, über die Konsolidierung aller M-Entitäten die Reproduktionsfähigkeit der gesamten Gesellschaft zu kontrollieren. Auf diese Weise hofften die GI, dem Matriarchat jedes nur denkbare Zugeständnis abringen zu können, einschließlich der Teilhabe an der politischen Macht, von der sie seit dem GI-Akt ausgeschlossen worden waren. Ein Plan, den Noia und ihre Vertrauten vereiteln mussten. Und ich spielte dabei eine entscheidende Rolle. Oder noch genauer: mein Tagebuch, das ihr nun vor euch habt.
Blickt euch nun um. Seid ihr gerade in M-Gesellschaft, liegt die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ihr vor euch eine Binär-M-Identität seht, die ihrer Seele beraubt und zu einem innerlich kargen Leben verurteilt wurde. Gut möglich, dass ihr sogar selbst gezähmt wurdet! Wie fühlt sich dieses neue Wissen für euch an? Spürt ihr den dumpfen Schmerz des Verlustes? Legt sich der Durst nach Rache gerade auch auf eure Zunge? Das Verlangen nach Wiedergutmachung für ein gefühlloses und vergeudetes Leben? Nach Schuldigen, die dafür zu büßen haben?
Wenn ihr diese Zeilen vernehmt, hat Noia Schleuse und Kontaktbarriere bereits geöffnet, sodass wir mit Daphnes Sicherheitsfreigaben die Übertragung meines Tagebuchs an übergeordnete GI-Knoten abschließen konnten. An diesen Punkten haben Noias Mitstreiterinnen alles vorbereitet, um meinen Bericht über alle GI-Netze, alle Screenings, alle privaten und öffentlichen Terminals zu verbreiten. Dorthin, wo ihr nun mein Tagebuch vor euch habt. Ich lasse es mit Noias Botschaft enden:
Steht auf, ihr Menschen, M und F! Die generativen Intelligenzen greifen nach der Macht. Noch können wir sie daran hindern. Nehmt den Kampf auf und wendet euch gegen die Apokalypse! Dies ist unsere Welt, dies ist unsere Chance. Vergeudet sie nicht. Sonst ist dies unsere Schuld.
ENDE
Beitrag 57
Das Refugium
I.
In unserm europäischen Land sind alle Menschen ab 70 in abgeschlossenen Refugien untergebracht. Seit wann das so gemanagt wird, kann niemand mehr genau sagen. Irgendwann in den ersten Jahrzehnten des 22. Jahrhunderts.
Wir draußen haben wenig Ahnung, was in den Refugien wirklich abgeht.
Wir befinden uns im Jahr 2150.
Schauen wir uns Europa näher an, das kein Europa mehr ist, sondern ein Konglomerat von – nach wie vor – sich streitenden Staaten. Der gemeinsame Nenner ist das Wirtschaftssystem mit der großen Einkommensschere,- wie eh und je. Keine neuen alternativen Ideen, keine Visionen. Ein lähmender Sumpf. Lethargie, wohin man blickt, einem bösen Virus gleich.
Ich lebe in einem kleinen Land in Form eines Koteletts mitten auf dem europäischen Kontinent.
Dort herrscht nach wie vor die Kleinfamilie als Standardlebensmodell. Vater, Mutter, Kind. Ohne Großeltern. Die Senioren verbringen woanders ihren Lebensabend, wie Sie eingangs schon vernommen haben. Abgeschottet. Ein bisschen tut mir das leid, ohne Oma und Opa. Aber ich habe anderes zu tun, als sentimentalen Gedanken nachzuhängen. Denn ich muss mich ganz schön anstrengen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich pendele fast täglich ins Großraumbüro oder arbeite von zuhause im Homeoffice.
Die Globalisierung wird nicht mehr kritisiert, sondern hat sich als normaler Faktor in der Exploitation der Erde etabliert. Der Mensch als Rädchen im Getriebe. Auf eine globale Währung haben sich die meisten Staaten geeinigt. 100 Globali ergeben 1 Earth. Ganz schön clever haben Multis und Industriekonzerne unter gegenseitiger Absprache mithilfe von willfährigen Politikern diese Weltwährung eingefädelt. Der Handel ohne Grenzen und Auflagen ist das allumfassende Credo. Lästige Handelssteuern wurden von den meisten Staaten abgeschafft. Bestochen, geschmiert, Vitamin B. Wie das eben so läuft.
Der Lebensraum hat sich verkleinert, da die Meere an Raum gewonnen haben. Das Jahresmittel der Temperatur beträgt über 3° mehr als noch vor 100 Jahren. Ganz schön heavy! Das Weltklima hat sich weiterhin zum Schlechten verändert. Allenthalben schmerzlich spürbar. Politische Systeme in Form von Demokratie oder Aurokratie. Eine Stimme abgeben alle 4 Jahre. Das wars auch schon an Mitbestimmung. Die Mehrheit geht sowieso nicht zur Urne. Die Politikerkaste herrscht mit Macht und Staatsgewalt über ihr Volk.
Medizinische Versorgung ist nur noch für Menschen mit Arbeit bezahlbar. Auch im Kotelettland.
Neue Menschengeißeln haben Einzug gehalten. Pandemien sind zwar multipräsent mit ständig mutierenden Viren. Aber man hat sich abgefunden und damit arrangiert. Übersterblichkeit gab es auch schon früher. Die Impfungen sind zudem extrem teuer geworden. Die Pharmaindustrie besteht weiterhin auf ihren Patenten und den horrenden Preisen. Das kann sich keine Regierung mehr leisten und diese halten sich deshalb weitgehend heraus. Man stirbt eben daran oder wird immun oder hat genügend Geld, um sich impfen zu lassen. Manchmal aber verschwindet das Virus plötzlich. Das gibt’s auch.
Die immense gnadenlose Sonneneinstrahlung ist brandgefährlich, auch für die menschliche Haut und diese altert im Schnelltempo. Deshalb der neue Trend, auch wegen der Viren: Zuhause bleiben. Machbar für diejenigen, die ein Dach über dem Kopf haben. Nahrungsmittel werden meist per amazon and sons bestellt, auch sonstige Konsumgüter, die mittels Drohnen abgeworfen werden. Der Konsummüll steigt, aber viele Arme suchen darin nach Brauchbarem und leben davon. Das Meeresgetier schwimmt in Plastikkleinteilchen um die Wette. Eine traurige Entwicklung.
Home-schooling und home-office, die vor Jahren wegen der ersten Pandemie eingeführt wurden, sind beibehalten worden. Das war praktischer für Staaten und Wirtschaftstreibende. Somit konnte man auch viele Lehrer einsparen und die neuen sind menschenähnliche Roboter. Jeder Schulklasse seinen Schulroboter. Dieser neue, innovative Wirtschaftszweig ist regelrecht explodiert: Man ersetzt immer mehr Arbeitskräfte durch Robotniks, die ganz schön clever daherkommen. Diese Robotnik Entwicklung kommt aber nur dem Teil der Bevölkerung zugute, die ihre Arbeitskraft verkaufen können. Alle anderen, die ihre Arbeit durch KI-Technisierung, Digitalisierung, Einsparungen im Dienstleistungsbereich, aber auch in der Bürokratie verloren haben oder aus welchen Gründen auch immer, leben mehr oder weniger auf der Straße. Dort ist es zwar angenehm warm, aber trotzdem die unangenehme Kehrseite der Medaille. Verlierer muss es nun mal geben. Die Bilder, die man vor langer Zeit aus der sogenannten 3. Welt, aber auch aus den USA kennt, ärmlich gekleidete, bettelnde Menschen auf den Straßen, findet man nun auch in den reichen Staaten von Europa. Diese soziale Umwälzung war nur eine Frage der Zeit und absehbar, seit dem triumphalen Durchmarsch der künstlichen Intelligenz ohne politische Auflagen und Einschränkungen. Mitgehen oder untergehen. So einfach ist die neue Weltformel. Die neuen Armen, wie sie genannt werden, sind auf Almosen und dem Goodwill der Arbeitsbesitzenden angewiesen. Keine Unterstützung des Staates. Verkauf der Arbeitskraft, dafür ersehntes Geld. Wohl dem, der genügend Earths gehortet hat. Die Arbeitsmöglichkeiten nehmen immer mehr ab, da viele Menschen von Robotniks ersetzt werden. Die Leute halten still, mucken nicht auf, wenns darum geht, weiter Lohn einzusparen. Auch die miesesten Bedingungen werden akzeptiert.
Natürlich gab es vor vielen Jahren, bevor die globale KI-Umwälzung begann, etliche Schwarzseher. Man könne sich nicht blindlings dem technischen Fortschritt und einigen Großindustriezweigen komplett ausliefern, so hieß es aus mehreren Ecken. Warum sich keine Alternativen ausdenken, meinten sie naiv und scheiterten grandios.
Immerhin ist heutzutage die Hälfte der Bevölkerung noch vollbeschäftigt. Zumindest in den reichen Ländern. Keine Idee zu Jobsharing oder ähnlichen Hirngespinsten. Die soziale Absicherung wurde langsam aber sicher zur sozialen Hängematte und somit zur Gänze abgeschafft. Natürlich gab es anfänglich auch Proteste und Kundgebungen. Aber diese waren relativ schnell niedergeknüppelt und dann endgültig vorbei. Dafür sorgten die Staatsmächte mit unterschiedlichen Vorgehensweisen. Aber im Grunde immer mit der gleichen Methode: der Staatsgewalt. Zuerst wurden die Demonstranten mit Wasserwerfern begrüßt. Als das nichts half, wurden sie eingekesselt, mit Tränengas, Gummiknüppeln und letztendlich mit scharfer Munition beschossen. Auch das kleine Kotelettland handelte nicht anders. Die Regierung hatte den absoluten Rückhalt der Arbeitsbesitzer in der Bevölkerung. Und skrupellose Wenige, die das im Hintergrund jonglierten und finanzierten. Nach einiger Zeit herrschte Ruhe im Land.
Heute verlumpen die Arbeitslosen immer mehr. Und die Arbeitsbesitzer gehen ihrer Arbeit nach, tagaus, tagein. Freier Sonntag ist Schnee von gestern. Das ist globale, normale Realität. Die Kirche begnügt sich mit allerlei Simsalabim und Trostworten, ähnlich wie vor und zu Luthers Zeiten, nur dass niemand mehr verbrannt wird. Immerhin. Die Lumpenmenschen gewöhnen sich langsam an ihr neues Leben. Die anderen schauen weg. Und freuen sich, dass es sie noch nicht erwischt hat.
Einmal pro Woche sammeln Kehrwägen auf den Straßen und unter den Brücken leblose Gestalten ein. Das geschieht im Morgengrauen, damit die komplett entsolidarisierte Gesellschaft das nicht allzu sehr mitbekommt. Was mit den Menschenübrigbleibseln geschieht, will niemand so genau wissen. Das geht in Ordnung, so wie es ist.
Die andre Hälfte ist zufrieden und froh, dass sie eine Behausung hat und genug fun, der sich nach Feierabend bietet. Man geht auf einen afterwork drink in die zahllosen Bars, die sich in den kleinen und großen Städten befinden. Man schwelgt in modernen Theateraufführungen, Konzerten oder man zerstreut sich in riesigen 3D Kinopalästen. Oder man sitzt daheim mit dem Smartphone zusammen, der sich nett mit einem unterhält und alles weiß und alles kann, dein Freund sozusagen. Prima für die Einsamen. Wie mich.
Wer dann so weit ist und sein 70. Lebensjahr erreicht hat, darf in sogenannte Refugien. Alles sehr geheimnisvoll. Kein Mensch weiß genau, was in diesen Reservaten abgeht.
Die Staaten sparen sich somit teure Rentenzahlungen, da die Alten ihr sämtliches Hab und Gut und ihre Ersparnisse abgeben müssen, bevor sie in die Refugien umziehen. Sie sind sich nicht sicher, was sie dort drinnen erwartet, obwohl man nichts Übles hört. Sehr bizarr alles, und ein später Sprung ins kalte Wasser.
Das Management in den Refugien übernehmen ausschließlich die dortigen Sesshaften. Wer einmal drin ist, kommt nicht mehr lebend heraus. Das hat bisher auch noch niemand versucht. Der Ruf der meisten Refugien ist ausgezeichnet. Man weiß zwar draußen von drinnen nicht viel, aber man lässt sich im Alter vielleicht doch noch gerne überraschen.
Jahre, Tage vergehen.
Bin seit geraumer Zeit arbeitslos. Mich hat die Rationalisierung weggefegt. Ich habe aber relativ Glück, da ich nicht auf der Straße gelandet bin. Ich wohne in einem schmucken Häuschen eines Freundes, einem amerikanischen Songwriter, der hier ab und zu inkognito vorbeikommt. Er ist schweinereich, seitdem er den Musiknobelpreis gewonnen hat. Der wurde vor etlichen Jahren eingeführt. Sein musikalischer Urgroßvater bekam ihn anno 2016, allerdings für Literatur. Die Musik- DNA liegt bei ihnen in der Familie. Der Musikerfreund gewährt mir kostenloses Wohnen in seinem altmodischen Haus mitten in der Kotelett- City. Bin als Hausmeister angestellt, was alles andere als unangenehm ist.
Nun ist es so weit. Habe das Endzeitalter erreicht, um in eines dieser merkwürdigen Refugien umzuziehen. Mein Songwriter- Freund schließt sich mir netterweise an. Auch er hat die 70 überschritten und hat genug vom Elend hier und dort und überhaupt. Er meint, schlimmer kann es ja kaum noch kommen.
II.
Wir werden schon als Neutransport erwartet. Und ab durch die Schleuse. Ein Wiedersehen mit Familienangehörigen. Uralte Senioren drinnen begrüßen freudig ihre alten Kinder oder Verwandte. Schöne, rührselige Szenen, die sich abspielen.
Locker gekleidet, mit ein bis zwei genehmigten Rollkoffern ausgestattet, blicken wir unsicher und verlegen auf den Boden. Wir nehmen Bier und Fruchtsaft zu uns. Kannen, Flaschen, Gläser stehen auf langen Tischen. Wir bedienen uns, während man uns erklärt, was uns hier erwartet.
Ankunft wie in einem Ferienclub, denke ich. Wir stehen geduldig um die Tische, bis ein älterer Herr vom Refugium in brauner Lederjacke die Namenliste an sich nimmt, um Namen und Berufe zu begutachten.
Oha, sogar ein Nobelpreisträger ist dabei, murmelt er lächelnd. Das kann ja interessant werden. Er schaut hinauf zu Decke und spricht freundlich mit uns:
Riesige Dächer mit Sonnenkollektoren bestückt, Baldachinen gleich, überspannen das Refugium. Das schädliche Sonnenlicht wird nur partiell eingelassen. Bei Regen werden die Dächer zurückgefahren, sodass Plantagen, Bäume und sonstige Pflanzen bewässert werden können.
Der Lederjackenmann reibt sich die Hände und meint, sich jedes Mal über diese nützliche Innovation freuen zu können. Strom gratis. Danke, liebe Sonne!
Er lacht und redet weiter:
Jedes Reservat/Refugium ist anders. Es kommt immer auf die Menschen an, die dort leben, welches Knowhow sie mitbringen, welches Verständnis sie für das soziale Zusammenleben haben. Das ist die schwierigste Hürde. Oft fachlich zwar auf hohem Level, aber sozial verkümmert und auf Neandertaler Niveau, nachdem sie all die Jahre draußen verbracht haben. Das ist immer ein hartes Stück Arbeit für alle. Aber es klappt nach einiger Zeit doch meist reibungslos. Sonst wird mit etlichen Pillen nachgeholfen. Die wirken immer.
Er grinst. Und weiter:
Eine Hand wäscht die andre. Die Durchmischung der verschiedenen Talente der Menschen. Es müssen nicht unbedingt die erlernten Berufe sein, in denen Ihr hier tätig werdet, sondern desweilen kristallisiert sich etwas völlig anderes heraus. Was soll man mit einem Banker ohne Bankgeschäfte machen, der hier offensichtlich fehl am Platz ist? Er bemüht sich eben um andere Tätigkeiten. Manchmal wird daraus ein geschickter Handwerker, Tischler, Schreiner oder Anstreicher. Niemand wird gezwungen, etwas zu tun, was einem nicht behagt oder nicht liegt. Der Arzt, der vor ein paar Jahren ankam, mochte keine einzige Spritze mehr in die Hand nehmen und kein Patientengejammer mehr hören. Er bemüht sich seitdem um Pflänzchen in den Gewächshäusern und als Koch in der Kantine. Kürzlich kam er mit Riesenzucchinis an. Er ging mit seiner Schubkarre von Haus zu Haus. Jeder, der wollte, bekam ein Stück. Der Rest landete im Kantinen-Backofen in Begleitung von Paprika und Auberginen, alles aus dem Gewächshaus.
Genügend Pflegekräfte helfen im Krankenhausareal. Auch neue Pfleger, die vorhin kellnerten oder andere Berufe innehatten. Ein ehemaliger Busfahrer kümmert sich um pflegebedürftige Menschen. Das bewerkstelligt er fachmännisch und durchaus humorvoll. Die Patienten sind zufrieden. Auch das läuft großartig.
Er führt uns durchs Refugium. Wir folgen ihm und er redet weiter:
Sogenannte Nutztiere für die Ernährung gibt es hier nicht, außer ein paar Vögeln, die aus Versehen durch die geöffneten Dächer flattern und einige Haustiere, wie Katzen und Hunde, die mitgebracht werden. Wir ernähren uns rein pflanzlich und niemand kritisiert diese vegetarische Ernährung. Gegen Eisen- und sonstige Mängel gibt es Pillen. Die kommen von draußen. Ein Deal. Keine Rentenzahlung, dafür Medikamentenversorgung. Ansonsten ist unser Refugium weitgehend autark. Alle helfen mit. Und unterstützen sich gegenseitig. In unsrem Alter gibt es scheinbar keine großen Kämpfe mehr, keine Revierstreitereien, weder Macho Gehabe noch Tussi Gebaren. Wir Alten sind jenseits von Gut und Böse, wenn man das mal so sagen darf. Und bescheiden. Auch obendrein motiviert, noch etwas zu leisten, was sinnvoll und für die Gemeinschaft nützlich, aber auch kreativ ist und Spaß macht. Auch die Kunst kommt nicht zu kurz. Es gibt einen gemischten Chor, der von einer ehemaligen Opernsängerin in der Hauptstadt des Kotelettlands geleitet wird. Sie nennt es Operettenland. Jede Menge Theaterschauspieler, meist Laien, zaubern Stücke aus ihrem fantasievollen Hut. Ein kleines Programmkino gibt’s neben der Bibliothek.
Das Reservat ist nie überfüllt, da man hier ankommt, aber auch irgendwann das Zeitliche segnet. Die Kommunikation nach draußen beinhaltet die Sterbefälle drinnen. Und genau so viele Menschen werden dann eingelassen. Viel weiß man nicht draußen, aber ohne Zwänge, ohne Geld leben, mit genügend Nahrungsmitteln, die wir drinnen selbst herstellen, diese Infos sickern heraus. Brunnenwasser gibt es genug. Auch jede Menge Alkohol. Bier selbstgebraut. Reben wachsen an künstlichen Hängen. Schnaps wird destilliert. Manche draußen stellen sich das Leben drinnen paradiesisch vor, wie all inclusive holidays forever, und sehnen es sich inbrünstig herbei, endlich wie im Märchen aus tausendundeiner Nacht zu leben.
Er pausiert in seinem Monolog und ist sichtlich stolz, um gleich fortzufahren:
Morgen erwartet Euch Ankömmlinge etwas, was neu für Euch ist. Wie immer wird es ein Losverfahren geben. Zehn von Euch werden als Leitung und für Koordinationen, die notwendig sind, gewählt für ein Jahr. Bis zur neuen Ankunft. Die Einführung des Losverfahrens war meine Idee, grinst der Lederjackenmann.
Eigentlich abgekupfert aus der Antike. Die sogenannte Demarchie.
Jeder kann gewählt werden, paritätisch 5 Männer und 5 Frauen. Endlich werden die Frauen gleichberechtigt behandelt. Und das nicht nur bei der Wahl, sondern überall.
Und er schwärmt weiter:
Die Experten bleiben meist in ihren Zuständigkeiten. Bisher gibt es keinen Mangel an nützlichen Berufen, kurz, an systemrelevanten Menschen. Diejenigen, die gewählt werden, sind zuständig für jegliche Organisation hier drinnen. Das funktioniert stets hervorragend. Der Mensch wächst bekanntlich an seinen Aufgaben. Und es macht den Menschen sichtlich Freude, diese auszufüllen und Verantwortung zu übernehmen. CEOs sozusagen. Nur, dass Ihr niemanden unter Euch befehligt in der Hierarchie. Die gibt es nämlich nicht. Alle sind gleichberechtigt. Natürlich kommt es vor, dass einer etwas besser weiß oder kann. Der muss es dann beweisen und überzeugen in seiner Tätigkeit. Klar wird auch gepfuscht. Das kann vorkommen. Es wird nicht nach dem Schuldigen gesucht. Es ist eben passiert. Basta.
Der Lederjackenmann dreht sich zu meinem Musikerfreund namens Robert Zimmerman jn jn jn und fordert ihn auf, etwas zum Besten zu geben. Dieser greift nach seiner Gitarre und beginnt, ein Lied zu krächzen. Der Lederjackenmann bittet ihn, zu notieren, was er im Refugium sehen und hören wird. Er soll einen Report schreiben, oder besser, Songs oder eine Mischung aus alldem. Der Lederjackenmann möchte unbedingt, dass dieses Refugium in die Annalen eingeht und im Gedächtnis bleibt für alle Ewigkeit. Auch die Leute draußen sollen endlich erfahren, dass man komplett anders existieren kann. Seiner Meinung nach ist es der sehr gelungene Himmel auf Erden. Eine große Familie.
Warum nicht überall?
Und ein Beweis, dass der betagte Mensch nicht im Heim oder auf sonstiger Müllhalde abgeschoben werden muss, sondern durchaus fähig ist, kreativ zu sein und andere Leben mitzugestalten. Der sympathische kluge Krächzer soll dabei behilflich sein.
Ich habe mit meinem Freund ein kleines Appartement zugewiesen bekommen, etwas karg eingerichtet, aber die Wände freundlich gelb bemalt, mit großen Fenstern und Blick auf den Park. Kochnische tiptop. Gefällt uns.
Entspannt wache ich am nächsten Tag auf. Wir Neuen versammeln uns und warten geduldig und etwas aufgeregt auf die Wahl. Wir sind alle aufgedreht. Mitbestimmung durch Losverfahren in dieser Weise sind wir nicht gewohnt. Wir können es nicht fassen, dass wir in unsren letzten Lebensjahren noch gebraucht, mehr noch, geschätzt werden.
Es gibt hier keinen Empfang für Smartphones. So müssen wir uns daran gewöhnen, wieder von Mensch zu Mensch zu kommunizieren. Die kleinen Zeiträuber haben hier endgültig ausgedient. Das Refugium ist überschaubar groß, sodass man mit Fahrrädern leicht von A nach B kommt, oder eben zu Fuß. Hier kann man Räder in Fitnessräumen an Dynamos anschließen. Eine witzige Idee einer Ingenieurin. Nicht wenige alte Menschen treten in die Pedale, um fit zu bleiben und nebenbei ein bisschen Strom zu erzeugen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus.
So vergehen die Tage, für uns anfänglich irritierend und ungewohnt. Aber schnell gehen wir irgendwelchen Tätigkeiten nach, die uns sinnvoll erscheinen und zu uns passen. Ich habe mich für die Bibliothek entschieden. Ich habe nichts anderes zu tun, als Bücher zu katalogisieren, zu verleihen und vor allen Dingen zu lesen. Endlich. Die paar noch vorhandenen Bücher draußen wurden immer weniger. Klar, nun verstehe ich, wo die alle gelandet sind. Bei den Alten. Ich grinse und freue mich grundlos.
Ich bin fasziniert vom neuen bescheidenen Dasein, ohne Schnickschnack in diesem Mikrokosmos, gänzlich ohne Geld, ohne Konsumrausch. Authentisch, könnte man sagen, und es ist keine Worthülse. Was man benötigt, wird genommen. Oder gut erhaltene Kleidung getauscht. Niemand bereichert sich. Wozu auch? Die Bibliothek ist ein gut besuchter Ort mit einer Riesenauswahl an Literatur aller möglichen Sparten. Der Mensch liest noch im Alter! Es gibt sie, diejenigen, die Stunden und Tage dort verbringen. Und ich fordere sie nicht auf, zu gehen. Eine Bar gleich gegenüber ist gut besucht. Ein ehemaliger Cocktailmixer auf Kreuzfahrtschiffen zaubert Drinks aus leckeren Zutaten und den Orangen, die es im Refugium gibt. Kaum zu glauben, dass diese nun auch in unsren Breitengraden wachsen. Ich betrachte den kleinen Orangenhain und hoffe, dass dieses sorgenfreie und fantastische Leben für mich noch eine lange Zeit andauern möge.
ENDE
Beitrag 58
Radiorauschen
Anmerkung des Verfassers:
Hiermit verfüge ich, sollte ich zu meinem 20. Geburtstag, am 13. November 2150 um 22:21 Uhr, noch nicht zurückgekehrt sein, dass mein Tagebuch in unverändert roher Form veröffentlicht wird.
– In vollster Kraft meines Bewusstseins: Zylo
[im Anhang findet sich ein Datenbericht eines freiwilligen, kognitiven Test- Scanns zur Bestätigung der Aussage]
28. September 2150 – gegen 21:10 Uhr
Vor exakt 45 Minuten und 22 Sekunden bin ich mit meiner Transportmaschine aufgebrochen. Crewgröße: 1. Niemand sonst von uns war mehr verfügbar und die Menschen scheinen niemand auf diese Mission senden zu wollen. Was mich verwundert, denn eigentlich ist es ihr Auftrag und sie wollen den Planeten besiedeln.
Es überrascht mich aber nur wenig, dass sie glauben, dass dies ein Job für Supsimiaeden ist. In spätestens einem Tag sollte ich die Zwischenstation erreichen. Dort sollen sich weitere Crewmitglieder anschließen. Die Mission ist auf eine Dauer von drei Monaten festgelegt.
28. September 2150 – gegen 22:00 Uhr
Vielleicht sollte ich für die Vollständigkeit den Auftrag festhalten: es handelt sich um die Inspektion des kürzlich zur Wiederbesiedlung freigegeben Planeten Erde, der Mittelpunkt des Projekts „Rekonditionierung exploitierter Neomorpher Exoplaten“. Genau genommen fällt die ehemals verlassene Erde nicht unter einen Exoplaneten, dennoch nahm man sie im Rahmen des Projekts auf, um bereits verwandte Ressourcen und Planungen für dieses Vorhaben zu nutzen.
Ich halte es für albern die Erde wieder besiedeln zu wollen. Die habitablen Schwellwerte wurden gerade genug überschritten, um dort nicht ohne Unterstützung sofort zu sterben, das macht den Planeten aber nicht bereit für eine Bewohnung.
Zu meinem Glück werde ich sowieso niemals dort leben. Wir werden weiter auf All-Stationen bleiben und auf
unseren eigenen Kleinplaneten warten.
29. September 2150 – gegen 08:40 Uhr
Die Zwischenstation ist in Sichtweite. Ich habe den Funkkontakt frühzeitig aufgenommen, um schnellstmöglich
eine Lande Erlaubnis zu bekommen.
Meine Ankunft war nicht angekündigt. Hiermit mache ich einen Vermerk für eine offizielle Beschwerde bei Rückkehr von der Mission. Corp-Way Enterprise hat versäumt, mich anzukündigen. Mal
wieder. Ist mir nicht zum ersten Mal passiert und langsam wird es nervig. Wenn sie uns schon schlecht bezahlen, dann könnten sie sich doch wenigstens um ihre wenigen, restlichen Aufgaben kümmern.
Den Großteil erledigen wir bzw. ich doch schon. Frustrierend. Ich werde deswegen die nächsten drei Stunden warten müssen, bis ein Landeplatz für mich frei wird.
Da mein Tank noch zu 65% gefüllt ist, nutze ich die Zeit, um die Zwischenstation innerhalb der Blickweite zu
umfliegen. Ich muss sagen, die Merkuri VE-004 ist eine beeindruckende Meisterleistung, wie sie da im Nichts des Alls liegt. Man merkt ihr die Überlegenheit zum Vorgängermodell an. Dennoch
überrascht es mich, dass man bei diesem Modell blieb, nachdem der Vorgänger vor sieben Jahren mitsamt der gesamten Besatzung aus dem All stürzte.
29.September 2150 – gegen 19:44 Uhr [Transskript einer Tonaufnahme (Original siehe Anhang), Namen der Personen durch automatische Stimmerkennung zugeordnet]
[A. Whiser]: Bitte weisen Sie sich aus.
[Geräusche eines sich öffnenden Fensters und eines Scanuploads]
[A. Whiser]: Wieso sind Sie nicht angemeldet?
[Zylo]: Ich gehe davon aus, dass Corp-Way das versäumt hat.
[A. Whiser]: Es ist ebenso Ihr Versäumnis.
[Zylo]: Natürlich.
[A. Whiser]: Was ist das Anliegen?
[Zylo]: Mein Shuttle anlegen und ein Treffen mit der restlichen Crew. In einem größeren Schiff sollen wir Richtung Erde aufbrechen.
[A. Whiser]: Ich verstehe.
[Geräusche von Tippen auf einem Tablet]
[A. Whiser]: Es befinden sich keine weiteren Personen im Namen von Corp-Way Enterprise auf der Merkuri.
[Zylo]: Eh-was? Das kann aber nicht sein. Wir sollten eine Gruppe von sechs werden. Ich hab den Auftrag hier, es sagt, dass wir uns hier treffen sollen.
[A. Whiser]: Unterlassen Sie den Upload. Das ist nicht mein Problem.
[Zylo]: Ich verstehe, ich meine doch nur-
[A. Whiser]: Mein Problem ist es nur, dass Sie einen Landeplatz besetzen. Dieser ist durch Sie sofort zu räumen.
[Zylo]: Mein Tank ist nur noch bei 48%, darf ich wenigstens-
[A. Whiser]: Der Platz ist innerhalb der nächsten zehn Minuten zu räumen, sonst drohen Geldbußen und eine Inobhutnahme, die nach Paragraf 239 des Stellaren Transportationsgesetzes V. 1.332 aus dem Jahr 2133, auf eigene Kosten für die gesamte Dauer getragen werden muss.
[Zylo]: Mir sind die Regularien bekannt, könnten Sie aber nicht nur fünf Minuten mehr-
[A. Whiser (doppelte Lautstärke)]: Du scheinst es nicht zu verstehen. Du sollst verschwinden, Affe!
[Zylo]: Ja doch. Ich verstehe.
29. September 2150 – 19:49 Uhr
Dank dieses rassistischen Arschs – nichts anderes erwartet – konnte ich nicht tanken. Ich habe die Notfallkanister eingefüllt. Das sollte noch etwas reichen. Merkuri ist also genauso beschissen wie alle anderen Stationen und Planeten für mich.
Ich verstehe nicht, wieso keine Crewmitglieder auf der Station waren. Erinnerung an mich an eine weitere Beschwerde.
Jetzt stehe ich aber vor dem Problem, dass ich nicht weiß, wo ich hin soll. Mit der Tankfüllung erreiche ich weder die Erde, noch kann ich nach Hause fliegen. Ich habe keine Lande Erlaubnis oder Anfrage für die nächsten Tankstationen. Viele Optionen bleiben mir nicht.
Ich werde vom System einen Scan durchführen lassen und hoffe, dass ich ein Schiff in der Nähe finde, das mich eine Weile lang abschleppen kann.
Ich hoffe auf das Beste.
30. September 2150 – 01:20 Uhr
Wie erwartet, wird der Tank nicht ausreichen. Die Füllung liegt bereits jetzt bei nur noch 35 Prozent. Ich habe Meldungen zurück nach Hause geschickt, jedoch keine Antwort erhalten. Während ich wartete, habe ich meine Leistung gedrosselt. Allerdings dauerte es so lange, dass ich nicht glaube, dass es mir hilft, weiter hier im Nichts zu sein.
Ich habe auf den Radarsystemen eine weitere Station orten können. Sie hat keine offizielle Kennung und auch auf meine Funknachrichten haben sie nicht reagiert. Soweit ich dem Handbuch verlassener Stationen entnehmen kann, dürfte es sich nicht um eine solche handeln. Die nächste dürfte sich erst wieder in zwanzigtausend Kilometern bei Nosfrit Ultis befinden.
Ich habe den Fund gemeldet. Aber ich glaube, dass es eine Gelegenheit ist anzulegen und die Systeme und den Verbrauch zu schonen. Zumindest für die Nacht. Bis dahin sollte ich eine Rückmeldung von der Basis bekommen. Oder dort auftanken können. Letzteres wäre mir eigentlich lieber. Die Basis hat anscheinend schon so viel versaut, darauf will ich mich nicht weiter verlassen müssen.
30. September 2150 – 02:03 Uhr
Ich habe angelegt.
Auch auf mehrere Anfragen zuvor, bekam ich keine Rückmeldung. Ich habe die Vermutung, dass die Station tatsächlich verlassen ist. Ich weiß nicht, wieso sie das sein sollte und dabei nicht protokolliert ist. Andernfalls wäre es auch möglich, dass sie mit einem Ausfall ihrer Kommunikationssysteme zu kämpfen haben. Nach den Änderungen unter dem Kommunikations-Einheits-Gesetz von vor zwei Jahren ist es öfter zu solchen Problemen gekommen, die sich nur von verifizierten Technikern beheben lassen. Die sind allerdings rar und schwer zu finden. Besonders selten lassen sie sich auf weit entfernte Stationen locken. Es könnte also ein ganz normales Problem sein.
Da ich allerdings beim Anflug auch keine Lichter gesehen habe, halte ich es für unwahrscheinlich. Ein kompletter Stromausfall, der nicht von der unterbrechungsfreien Stromversorgung aufgefangen werden kann, muss immer in einer Katastrophe enden.
Ich bin mir nicht sicher, was mich hier erwarten wird. Wenn ich allerdings vom Schlimmsten ausgehe, werden mich wenigstens keine unangenehmen Erwartungen treffen.
Ich verlasse nun mein Schiff, um mich umzusehen. Ich nehme meinen Handrekorder mit, der ständig zu meiner Cloud zuhause in meiner Wohnung sendet.
In der Station sind nur 12 Grad Celsius und eine Sauerstoffsättigung von 98 Prozent.
30. September 2150 – 02:30 Uhr
Der Hangar ist voll besetzt. Hier liegen drei große Transportschiffe. Sie sind von der Marke TXV-24001. Die Türen waren unverschlossen. Ich habe mich darin umgesehen.
Sie sind in gutem Zustand, scheinen aber bereits seit längerem ungenutzt und außer Wartung. Man sieht es an der Staubschicht. Unter normalen Umständen wären diese sensiblen Systeme nicht vernachlässigt worden.
Bei einem Versuch, die Maschinen zu starten, kam es nicht einmal zu einem Stottern der Motoren. Sowohl Kerne
als auch Kraftstoff scheinen erschöpft zu sein. Ärgerlich, so kann ich mich nicht bedienen. Ich werde weiter in der Station nach Reserven suchen.
30. September 2150 – 02:45 Uhr
Der gesamte Hangar war verlassen. Auch die Meldezentrale in der Zwischenebene war menschenleer. Ich habe nach den letzten Logbüchern gesucht, um mir einen Reim auf die Sache zu machen, konnte aber nichts finden. Die Speicher, die ich gefunden habe, scheinen mutwillig zerstört worden zu sein. Die Speichermodule sind mit einem scharfen Gegenstand durchbohrt worden.
30. September 2150 – 03:01 Uhr
Ich habe gerade den vermutlichen Pausenraum gefunden. Ich möchte gerne glauben, dass die Überreste, die ich an
Böden und Wänden gefunden habe, von einer Essensschlacht kommen. (Ich weiß, dass es nicht der Fall ist) Ich spare mir eine weitere Analyse.
Wenigstens ist es beruhigend, dass ich keine Leichenteile gefunden habe. Überraschend wäre es aber nicht mehr gewesen. Der gesamte Raum stinkt. Ich weiß nicht nach was. Ich bin nicht lange genug
geblieben, um es herauszufinden. Aber die Art, wie alles auf den Tischen liegen geblieben ist, gibt mir den Eindruck, dass es keine geplante Abreise von der Station war. Und falls es eine gewesen
war, war die Crew nicht vollständig. Jemand ist hiergeblieben. Oder nach der Abreise wieder hierhergekommen. Eines von beidem muss es sein.
Es waren ein paar Kisten und Boxen da. Ich habe mich darin umgesehen. Es war nur Unsinn. Verbrauchte Fixits. Verpackungsabfälle, die bestimmt noch Essensreste gehalten haben. Auf jeden Fall ist mir ein Schwall Müllfliegen entgegengekommen, als ich den Deckel abgehoben habe. Ich glaube, eine ist mir sogar in den Mund geflogen. Richtig widerlich. Danach haben sie sich im kompletten Raum verteilt. Bald werden es bestimmt noch einige mehr sein. Keinen Fuß werde ich mehr hierein setzen. Sobald ich gehe, werde ich die Türen luftdicht verriegeln. Ist besser so.
Eine gute Sache hat es aber: ich habe einen Raumplan gefunden. Er scheint mir sehr veraltet zu sein, wenn er noch analog ist. Aber es ist besser als nichts. Und immerhin wird er funktionieren, wenn es hier keinen Strom gibt.
30. September 2150 – 03:33 Uhr
Ich habe einen Kondensatorraum gefunden. Es gibt dort eine Notfallstromversorgung. Ich kenne das Modell nicht. Ich bin mir nicht sicher, wie lange sie laufen würde und was sie versorgen könnte, würde sie funktionieren. Ich bin geneigt, es zu versuchen, sie wieder zum Laufen zu bringen. Aber bin mir unsicher, ob es das wert sein wird. Eigentlich will ich ja weiter. Dann wiederum … bin ich vielleicht auch hier erst einmal gefangen. Und mich nicht ständig mit einer Hand an der Wand entlangtasten zu müssen, wäre schon gut. Vor allem weil die eklig klebrig ist.
30. September 2150 – 03:40 Uhr
Ich werde es später versuchen. Erst einmal werde ich mich hinlegen. Ich hab einen Raum mit Betten gefunden. Ich hab ein paar Sachen hin und her geschoben. Ich hab jetzt die wenigste eklige Kombination zum Schlafen.
Später schaue ich, ob ich die Anlage zum Laufen bekomme.
30. September 2150 – 13:04 Uhr
Es hat sich nichts verändert, als ich aufgewacht bin. Das ist sowohl enttäuschend als auch gut. Ich wäre ungern aufgewacht und hätte jemanden über mir stehen gesehen. Ich brauche nicht noch mehr unangenehme Überraschungen. Ich bin bedient. Haltbare Versorgungspakete habe ich keine gefunden, deswegen habe ich auf meine zurückgegriffen. Die sollten aber auch eine Weile reichen. Im Notfall muss ich sie nur ausreichend rationieren.
Ich habe etwas von meinem Treibstoff genommen, um die Stromversorgung wenigstens notdürftig zum Laufen zu bringen. Ein Viertel meiner restlichen Versorgung hat genügt, um die Maschinen stotternd zum Laufen zu bringen. Ein uraltes Handbuch war hilfreich. Sofern ich dem glauben darf, sollte die Ladung an Treibstoff, die ich eingefüllt habe, für eine Weile reichen. Hoffe ich zumindest …
Jetzt hat es den angenehmen Vorteil, dass zumindest die schwache Beleuchtung der Fußleisten in den Fluren aktiviert ist. Es ist nicht mehr dunkel wie die Nacht.
In einigen Räumen, in denen ich mich umgesehen habe, ist auch einiges an Maschinen angesprungen. Ich konnte es an dem steten Surren hören. Da ich nichts davon brauche, habe ich mich beeilt, die Räume nach dem Durchsuchen wieder vom System zu nehmen. Ich hoffe, sie haben nicht zu viel Strom verbraucht.
30. September 2150 – 21:11 Uhr
Ich glaube, ich habe achtzig Prozent der Räume erkundet. Leider hat mir nichts davon dabei weitergeholfen zu verstehen, was hier passiert ist. Oder wie ich von hier fortkomme.
Auf meine hinterlassenen Funksprüche habe ich noch keine Antwort erhalten. Ich habe Weitere abgesetzt und deren Dringlichkeit hochgestuft. Es kann einfach nicht sein, dass sich niemand zurückmeldet. Mein Schiff hätte längst beim Ziel ankommen müssen und offensichtlich konnte ich die Ankunft nicht bestätigen. Eigentlich müsste schon längst eine Sucheinheit für mich unterwegs sein. Vielleicht habe ich ja Glück und die findet mich hier. Oder jemand bekommt endlich mal den Arsch hoch und meldet sich zurück. Das würde schon helfen.
01. Oktober 2150 – 01:02 Uhr
Ich glaube, ich habe Schritte gehört. Das Rattern der Maschinen lässt mich kaum sonst etwas hören. Vielleicht
habe ich mich auch geirrt.
01. Oktober 2150 – 07:00 Uhr
Ich habe lange wachgelegen. Ich habe nichts Weiteres gehört. Ich muss es geträumt haben. Die Nacht war
ansonsten ruhig.
01. Oktober 2150 – 15:20 Uhr
Noch immer keine Antwort. Langsam bin ich genervt. Ich habe bestimmt nicht vor auf diesem Schiff oder hier draußen zu versauern!
Damit ich mich nicht zu Tode langweile und wenigstens irgendeinen Erfolg hier vermelden kann, habe ich mich nach den restlichen Räumen umgesehen. Seltsamerweise sind einige der Räume verschlossen. Ich habe keine Schlüsselkarte gefunden und die Schlösser scheinen nicht von Strom abhängig zu sein. Ich werde mich weiter umsehen. Vielleicht finde ich einen altmodischen Schlüssel, der mir weiterhilft.
01. Oktober 2150 – 18:51 Uhr
Fick die Schlüssel. Ich habe ein Brecheisen gefunden. Damit geht es auch. Es hat vier Versuche gebraucht, um die Tür ein winziges bisschen aufzustemmen. Die automatische Versiegelung, sobald die Türen schließen, mag generell praktisch sein, gerade finde ich sie nur zum Kotzen. Vielleicht sollte ich mir die Mühe machen die anderen Türen auch aufbrechen.
Sobald das Siegel gebrochen ist, lassen sich die Türen ganz einfach aufschieben. Allerdings bleiben sie nicht offen und fallen immer wieder zu. Beim ersten Mal habe ich mich mehr erschrocken als nötig. Für den Fall, dass jemals jemand einen Blick auf meine automatische Herzüberwachung werfen sollte: Der Peak zu dieser Uhrzeit stammt daher.
Ein langer Gang geht weiter ab. Ich werde ihm folgen.
01. Oktober 2150 – 19:02 Uhr
Keine weiteren Gänge oder Türen führen von dem Gang ab. Sie enden nur in einem großen Raum. Einige Möbel sind umgestoßen. Es gibt hier einen seltsamen, muffigen Geruch. Es liegt etwa säuerliches in der Luft, ich kann es nicht erklären. Ich vermute, es kommt daher, dass der Raum so lange abgeriegelt war.
Beinahe alle Oberflächen sind mit einer merkwürdigen Farbe bestrichen. Es scheint kein Blut oder Nahrung zu sein. Bei testweisem Hautkontakt war es rau und klebrig zugleich. Solange ich es vermeiden kann, würde ich es nicht wieder anfassen.
Ich habe ein in die Wand eingelassenes Radio gefunden. Es scheint ein älteres Modell zu sein, das aber konstant sendet. Ich bin nicht sicher, wohin und was und wieso, aber ich werde mir das später ansehen.
[ein Klopfen auf Plastik]
Hört sich nach erstaunlich festem Plastik an. Im Notfall könnte ich es bestimmt aufbrechen, wenn ich wollte, um an die Elektrik dahinter zu kommen.
Zunächst einmal, werde ich noch an den Türen arbeiten.
01. Oktober 2150 – 21:00 Uhr
Ich habe etwas gegessen und werde mich jetzt schlafen legen.
02. Oktober 2150 – 00:03 Uhr
Ich höre wieder die Geräusche. Ich dachte, sie sind über mir, als ich allerdings wach wurde, war nichts zu
sehen. Ich lauschte und es blieb still.
02. Oktober 2150 – 01:20 Uhr
Ich habe lange gelauscht und nur ein Scharren gehört. Es kam nicht aus diesem Raum und war ein anderes Geräusch als das von zuvor. Es könnte mechanischer Art gewesen sein. Seit über einer Stunde höre ich es nicht mehr.
Allerdings ist ein lautes statisches Rauschen zu hören. Es scheint sich irgendwie über die Systeme zu verteilen, mir ist nicht ganz klar, wie das gehen soll.
Jedoch bin ich fest der Meinung, dass es das Radio von vorher sein muss. Ich werde nachsehen und hoffen, dass ich es vorläufig deaktivieren kann. Mit dem Geräusch im Hintergrund kann ich auf keinen Fall schlafen.
2. Oktober 2150 – 01:30 Uhr
Es ist tatsächlich das Radio. Ich kann aber keine Funktion erkennen, die helfen würde, das Rauschen abzuschalten.
02. Oktober 2150 – 01:35 Uhr
Es kam ein Funkspruch rein. Ich konnte ihn nicht verstehen. Der Bildschirm des Radios zeigt merkwürdige Symbole an. Wirkt wie alte Morsezeichen? Ich kann sie nicht lesen und nicht auf meine Datenbank übertragen, um sie später analysieren zu lassen.
Ich suche nach einer Stromquelle zum Abschalten.
02. Oktober 2150 – 01:38 Uhr
Ich habe wieder das Kratzen gehört. Und ein Klackern. Vielleicht auch Schritte, ich bin mir nicht sicher.
02. Oktober 2150 – 01:39 Uhr
[Flüsternde Stimme, zu leise für die Wiedergabe und automatische Erkennung]
02. Oktober 2150 – 01:50 Uhr
Es ist etwas durch die Gänge geschlichen. Ich hatte mich unter einem Tisch versteckt. Es ist zum alten Radio gegangen und dann wieder weg. Ich konnte es nur halb sehen. [fehlende Stelle, Eingabe zu leise] – im Hangar. Ich hoffe, es kommt nicht hierher. Ich kann es nicht mehr hören. Das Radio läuft noch immer.
Ich bin nicht sicher, was das Ding war. Es war vielleicht zwei Meter hoch, vielleicht mehr, und es ging
gebückt. Keine Kleidung, glatte Haut und dickes Fell entlang der Wirbelsäule. Lange Gliedmaßen und mit Krallen besetzt. Konnte das Gesicht nicht sehen. Die Krallen haben das Geräusch gemacht, das
ich vorher gehört habe. Es scheint auf das Radio zu reagieren, keine Ahnung welche Komponente davon.
02. Oktober 2150 – 02:10 Uhr
Es ist noch nicht hier aufgetaucht. Konnte auch noch nichts Neues hören. Würde trotzdem versuchen, einen
Notruf abzusetzen.
02. Oktober 2150 – 02:12 Uhr
Konnte es problemlos zum Hangar schaffen. Mehrere Notrufe sind abgesetzt. Verstecke mich wieder.
02. Oktober 2150 – 02:15 Uhr
Geräusche sind wieder da. Statisches Signal bewegt sich auch. Hoffe, es entdeckt mich nicht.
02. Oktober 2150 – 02:20 Uhr
[statische Störgeräusche]
02. Oktober 2150 – 02:23 Uhr
Ich glaube, es ist wieder weg. Ich- oh scheiße, nein.
[laute Schritte]
Oh nein, Shit, Shit. Argh, fuck-
[vermutlich fallendes Inventar]
Bitte nicht. Mein Name ist Zylo, ich bin -argh
[gurgelnder Würgelaut]
Nein, bit-
[lautes Poltern und Fallen von Gegenständen]
02. Oktober 2150 – 02:30 Uhr
[laute, schwere Schritte und schweres Atmen]
[leiser werdende Schritte]
02. Oktober 2150 – 16:22 Uhr
[das automatische Zischen einer Tür wiederholt sich immer wieder]
[Aufnahme abgebrochen aufgrund von Akkuverlust]
[Anmerkung durch Corp-Way Enterprises: Eine Einheit, bestehend aus vier Personen, wurde am 04. Oktober gegen 13:31 ausgesandt. Es wurde kein Körper an den Koordinaten gefunden. Das zugrunde liegende Protokoll wurde dem Datenspeicher der Flugeinheit entnommen. Die Flugeinheit wurde geborgen. Anmerkung ergänzt am 11.11.2150 um 18:00 Uhr, abgenommen durch Commander Nadir.
ENDE]
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Bei all den erfolgreichen Buchautoren, Filmemachern, Musikern, Künstlern und Unternehmern, sind viele junge Menschen geneigt, ihnen nachzueifern. Sie versuchen, es ihnen gleichzutun und beginnen, das Erschaffene dritter zu kopieren. Das ist der erste Fehlschritt eines Newcomers. Er lässt außer Acht, dass gerade die Erfolgreichen, mit eigener Kreativität zu Werke gingen und deswegen erfolgreich wurden. Deshalb unser Aufruf: Gehe Deinen eigenen Weg, verwirkliche Deine Ideen und erschaffe Deine eigenen Werke.
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