Beiträge 21 – 25
Beitrag 21
Der letzte Schlaf
Ich beginne mit der Aufnahme.
Heute ist Freitag, der 13. November 2150. Ich habe heute Geburtstag. Ich bin jetzt 20 Jahre alt.
Ich weiß nicht, ob Tag oder Nacht ist. Das ist unwichtig. Nichts mehr hat noch eine Bedeutung. Denn dies ist mein letzter Eintrag.
Ich denke, dass es so bestimmt ist, dass ich übriggeblieben bin. Ich habe den Auftrag, diesen letzten Eintrag zu machen. Irgendeinen Sinn muss es doch haben, dass ich noch lebe.
Vermutlich bin ich allein. Ich weiß nicht, ob es noch Überlebende gibt. Da draußen.
Ich weiß nicht, ob die Sonne scheint. Ob der Mond noch zu sehen ist. Ich weiß nicht, ob noch Gebäude und Häuser stehen, oder ob da draußen ein Inferno wütet und Flammen und Explosionen alles zerstört und verwüstet haben.
Vermutlich wird die Sonne noch scheinen, ob jedoch ihr Licht hier auf der Erde noch ankommt, das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob es noch Bäume und Wiesen gibt, ob es überhaupt noch Vegetation und Tiere gibt.
Dass es keine Infrastruktur mehr gibt, davon gehe ich aus. Es muss zu gewaltigen Explosionen gekommen sein. Allein, wenn ich an die Atomkraftwerke denke oder an die Waffenarsenale der Länder. Auch kleine Länder und deren Machthaber, verfügten eines Tages über Atomwaffen. Die Bedrohung war allgegenwärtig.
Es gab keine Kontrolle mehr. Nachdem es angefangen hatte. Niemand wusste, was passierte. Niemand wusste, warum es passierte. Die Mächtigen der Welt versicherten, dass sie nicht angefangen hatten. Dann begann das gemeinsame Bemühen um das Überleben.
Es wurden Sicherheitszonen eingerichtet. In alten Bergwerken und unterirdischen Bunkern. Doch es war klar, dass das nicht für alle reichen würde. Außerdem starben die Menschen zu schnell. Sie starben, nachdem sie … ich habe keine Erklärung. Nicht vereinzelt, sondern gleich massenweise.
Sie dachten an einen biologischen Krieg. An chemische Kriegsführung. An Terroranschläge. Bekenner gab es genug. Doch dann waren auch die Bekenner betroffen. Da war klar, dass es etwas anderes war. Kein Atomkrieg.
...
Schon Jahre vorher hatte sich alles verändert. Das öffentliche Leben veränderte sich. Die erste Generation von Heranwachsenden war damit beschäftigt, die neusten technischen Geräte zu nutzen und sich immer mehr in virtuellen Welten aufzuhalten.
Sie nahmen bereits anders wahr. Sie verloren den Kontakt … zu ihrer Umgebung und ihrer Umwelt ... sie lebten ... online. Ihre Wahrnehmung veränderte sich.
...
Hier drinnen bin ich der Letzte. Wir waren mehrere Hundert. Die Versorgung war gesichert. Trinkwasser. Nahrung. Strom. Für Jahre. Wir empfingen keine Nachrichten mehr, schon seit Monaten ist alles still. Alles ist zusammengebrochen. Draußen. Kein Strom.
…
Männer, Frauen, Kinder. Familien. Freunde. Junge. Alte. Hier war es nicht mehr wichtig, welche Hautfarbe jemand hatte oder zu welchem Gott man betete.
Alle beteten gemeinsam zu ihrem Gott. In ihrer Verzweiflung. Half nur noch beten. War da doch so etwas wie Hoffnung?
Ich beobachtete sie dabei. Und fragte mich, was sie wohl dachten, wenn sie ihre Hoffnungen in Worte fassten.
Sie rückten näher zusammen. Die Räume wurden immer größer, je weniger wir waren. Wir rückten zusammen und klammerten uns aneinander, um uns wach zu halten.
Bis der Letzte sein letztes Gebet gesprochen hatte. Und dann einschlief. Ich sah ihm dabei zu, wie er sich wehrte. Dann gab er auf. Nachdem er seine Tochter und dann seine Frau verloren hatte. Erst hatten er und seine Frau sich gegen das Einschlafen der Tochter gewehrt, und dann ließ seine Frau einfach los und ließ ihn allein. Er wehrte sich schon nicht mehr. Nach einigen Tagen schlief auch er ein. Am Ende war er dankbar, loslassen zu können. Ich hielt seine Hand.
Er lächelt, als seine Augen kleiner wurden und sich schließlich zum letzten Mal schlossen. Er sah zufrieden aus. Seine Hand erschlaffte und glitt langsam aus meiner Hand und fiel auf das Bett. Er war seine letzte Reise allein angetreten. Ohne mich. Sie alle haben ihre letzte Reise angetreten, ohne mich.
Ich sah, wie er im Schlaf atmete. Doch so sehr ich auch an ihm rüttelte, er wurde nicht mehr wach. Er war zu schwach, um wieder aufzuwachen oder um wach zu bleiben. Aber er schlief, er war nicht tot, sein Atem ging gleichmäßig. Sein Gesicht sah friedlich aus.
Und dann ... schlief auch ich ein … und … wachte wieder auf.
…
Als ich nach ihm sah, war er nicht mehr aufgewacht und es hatte schon angefangen. Seine Beine hatten angefangen, sich aufzulösen. Ich schaute zu, wie bereits so oft. Und konnte wieder nicht erkennen, woran es lag, was passierte. Das Gewebe, Haut und Knochen lösten sich auf. Nur die Kleidung blieb übrig. Eine leere Hülle. Es gab am Ende der Auflösung nur dieses Nichts. Nichts, was in den Körpern war, es war nicht zu erkennen, was den Körper auffraß. Sein Körper löste sich ... einfach ... in nichts auf, so wie alle anderen vor ihm. So wie ich mich vermutlich auch irgendwann in nichts auflösen werde. Einfach so, als wäre das alles, was diesen Menschen jemals ausgemacht hat, vorher nicht da gewesen. Auch keine Erinnerungen …
Nur sein Ehering fiel irgendwann auf den Boden. Und eine Zahnprothese. Damit nahm er, der Letzte, der sich vor meinen Augen auflöste, das Rätsel mit …
Ich habe bereits oft in dieses Nichts gestarrt, den Menschen dabei zugesehen, wie sie sich aufgelöst haben, ohne Rückstände. Ich konnte nichts erkennen, es mir nicht erklären. Da war nichts, das mir ins Gesicht sprang, mich biss oder mich infizierte. Durch Blut oder andere Flüssigkeiten und Substanzen.
...
Wenn Menschen verbrannt werden, bleibt Asche.
Wenn sie beerdigt werden, bleibt etwas zurück, ein Rest. Die Botschaft, dass da mal jemand war. Knochen. Zähne. Irgendetwas, das Jahrhunderte später ausgegraben werden kann. Und Erinnerungen weckt.
Diese Auflösung scheint vollkommen und endgültig zu sein. Es bleibt nur dieses Nichts. Wie ein schwarzes Loch. Nur dass es hier nicht einmal das gibt: ein Loch, in das sie hineingezogen werden.
Keine blutenden Wunden, aus denen Innereien quellen oder eitrige Flüssigkeiten austreten. Nichts dergleichen und nichts Vergleichbares.
Sie haben wohl keine Schmerzen. Niemand hat geschrien. Fast schon friedlich. Das ist ein Trost. Doch hier ist niemand mehr, den es tröstet. Ich ... nein, ich empfinde keinen Trost.
...
Ich bin allein.
...
Alle tot und weg. Keiner von uns hier war Arzt oder Wissenschaftler. Niemand von uns wusste, was da vor sich gegangen ist. Niemand konnte erklären, was passiert war. Auch vorher, vor den großen Evakuierungen und den organisierten Versuchen, Menschen zu retten, niemand hatte eine Erklärung. Die Nachrichten waren reine Spekulation.
...
Es ist ein Rätsel. Das Sterben. Die Toten. Das Verschwinden der Leichen. Sie legten sich hin, wie jeden Tag und schliefen ein und wachten nicht mehr auf.
Wer einschläft, der stirbt ... und löst sich dann auf.
...
Ich will, dass es anfängt, nachdem ich gestorben bin. Weil ich sonst vielleicht doch noch Angst haben werde, wieder aufzuwachen, obwohl ich es nicht einmal gesehen habe. Keiner der unzähligen Menschen wurde wieder wach.
...
Alle ahnten, auch wenn es niemand wusste, wenn das hier passierte, dann passierte es auch überall, wo es noch Überlebende gab.
Sie hatten Angst, einzuschlafen. Es wurde immer stiller. Die Stille der Angst. Nicht einmal Verzweiflung. Sondern Angst ... Und dann irgendwann Resignation.
Es war eine Stille, in der die Angst spürbar, ja geradezu greifbar war. Kein Lachen. Kein Geschrei. Kein Flüstern. Kein Kinderlachen, kein Kindergeschrei. Aber auch kein Jammern, Klagen. Kein Stöhnen, Röcheln.
Kein lautes, klagenden Ringen mit dem Tod, kein jämmerliches, verzweifeltes Klammern an das Leben. Niemand hustete, niemand nieste. Keiner spuckte Blut, blutete aus Nase, Ohren oder Augen. Niemand schrie vor Schmerzen.
...
Es scheint keine Seuche zu sein. Eine von diesen Seuchen, von denen wir dachten, dass sie ausgerottet sind.
Die Menschen waren resistent. Gegen alle bekannten Krankheiten und Seuchen. Alles hatten sie unter Kontrolle. Alles war sicher. Dachten sie. Medikamente, Impfungen und dann die Technologie …
Sie hatten angefangen, den Neugeborenen Chips einzusetzen. Scanner kontrollierten die Vitalfunktionen. Die Menschen waren gesund. Auf den Straßen sah man keine Kranken mehr. In den Nachrichten sahen und hörten wir nichts mehr von Krankheiten.
Keine Krankheiten, keine Behinderungen, keine Beeinträchtigungen. Alle waren glücklich, gesund und schön. Selbst die Alten. Sie waren schöne und gesunde Alte.
Nanoroboter im Körper sorgten dafür, dass sie gesund blieben. Außerdem nahmen sie kleine Veränderungen am Körper vor. Nanoroboter übernahmen die gewünschten und programmierten Korrekturen und Optimierungen vor. Keine Operationen mehr.
Alles war machbar. Gesundheit und Schönheit. Jugendlichkeit und Vitalität. Was gewünscht wurde, konnte programmiert werden und wurde von modernster Nanotechnologie ausgeführt.
Die Menschen waren glücklich.
...
Doch dann ... Was haben wir übersehen?
Und. Warum?
Weil sie angefangen haben, anders wahrzunehmen. Sie haben den Blick für ihre Umwelt, für ihre unmittelbare Umwelt verloren. Sie hielten sich in virtuellen Welten auf. Und ergötzten sich am Anblick ihres Spiegelbildes. Selfies. Dokumentation ihres Lebens.
Ohne den Augenblick, ohne den Ort zu wahrzunehmen und zu genießen, das Hier und Jetzt wirklich zu erleben. Weil sie es schon online stellten und Reaktionen abwarteten.
Der Augenblick. Die Schönheit der Gegenwart ging verloren. Weil er nicht mehr existentiell wahrgenommen wurde. Sie haben ihre Instinkte und Intuitionen verloren.
Sie waren nie hier, sondern immer schon an einem anderen Ort. An einem Ort, den es in der Realität nicht gab.
Ich glaube, das haben sie, das hat es ausgenutzt. Was auch immer es ist. Es hat unsere Schwäche erkannt. Es hat den richtigen Zeitpunkt abgewartet. Und dann ...
Was auch immer dahintersteckt. Es verfügt über eine Art von Intelligenz, die der unseren weit überlegen ist. Es ging systematisch vor. Überlegt und überlegen.
...
Als die Menschen dachten, sie haben alles unter Kontrolle, weil ihre Technologie sie in Sicherheit wiegte, schlug es zu und übernahm die Kontrolle.
Es muss sich außerhalb unserer Wahrnehmung entwickelt haben. Weil wir es nicht erkannt haben.
Weil ihr Blick knapp dreißig bis vierzig Zentimeter vor ihren Augen endete ... und sie dachten oder das Gefühl hatten, überall zu sein und alles im Blick zu haben. In Sicherheit zu sein.
...
Freunde, Kommunikation. Informationen und Nachrichten. Job. Bestellungen. Konsum. Familie. Unterhaltung. All das befand sich in ihrer Hand oder auf dem Tisch vor ihnen. Und dann die Brille und der Chip.
Die Brille veränderte ... wieder alles. Sie öffnete das Tor in die Zukunft. Mit ihr begann die Zukunft, das dachten die Menschen. Das versprachen die Hersteller.
Sie wurden noch kurzsichtiger, ihre Wahrnehmung schränkte sich ein und reduzierte sich, auch wenn sie dachten, sie hätten die Welt und ihr Leben in der Hand und unter Kontrolle. Sie dachten, es wäre alles verfügbar. Zu jeder Zeit ... für immer.
...
Das alles brach schnell zusammen, nachdem es uns kontrollierte. Strom. Internet. Kommunikation. Ordnung. Versorgung.
Als das Sterben hier weiterging, begann auch hier diese Angst um sich zu greifen, weil sie zuerst dachten, sie wären hier drinnen in Sicherheit. Doch der nächste Schlaf konnte der Letzte sein.
Niemand von den Menschen, die hier mit mir drinnen waren, hatte Schuld an dem, was passiert war. Doch jeder Einzelne trug die Verantwortung dafür, denn jeder hatte eine Entscheidung getroffen.
Ich weiß nicht, warum ich wieder aufgewacht bin.
Warum oder woran die anderen gestorben sind?
Wer soll aus den Fehlern, die gemacht wurden, lernen, wenn niemand mehr da ist, der aus den Fehlern lernen kann?
Ich habe beschlossen, nicht darauf zu warten, wieder einzuschlafen und mich dann aufzulösen.
Die Stromaggregate funktionieren noch. Ich habe mehr Lebensmittel, als ich brauche. Ich könnte noch jahrelang hier überleben. Mehr wäre es nicht, es wäre nur ein Überleben. Kein Leben. Allein.
...
Ich schlafe ein und wache wieder auf. Seit Wochen schon.
Ich weiß nicht, wie lange ich schlafe und ich weiß nicht, warum ich wieder aufwache. Ich habe meinen letzten Schlaf noch vor mir, meine Auflösung. Wenn es denn dazu kommen wird. Denn ich spüre, dass da etwas anders ist. Mit mir. Da ist eine Erinnerung. Von der ich dachte, es wäre der Teil eines Traumes, der immer wieder kommt. Es wird immer klarer. Aber noch bin ich mir nicht sicher.
Vielleicht ist es auch nur eine Illusion. Oder Wahnsinn, der sich einstellt im Anblick der Toten und Trauernden und im Wissen, es nicht zu verstehen.
...
Was haben wir nur getan?
...
Ich habe keinen Kontakt mit der Welt da draußen. Das Funkgerät funktioniert nicht mehr oder es ist niemand mehr da, der mir antworten kann. Es rauscht nur noch.
Es gibt keine Ewigkeit. Alles hat einen Anfang und ein Ende.
Das Ende ist da. Das Ende des Menschen. Etwas anderes hat uns besiegt. Oder waren es am Ende wir selbst, die uns besiegt haben?
...
Vermutlich ist das alles vollkommen bedeutungslos.
Denn sobald ich rausgehen werde, ist es das Ende. Das vermute ich. Ich öffne die großen Tore und sterbe. Durch das, was da draußen ist, was auch immer es ist.
Ich gehe raus. Ich werde mich auflösen und keine Erinnerung mehr sein. Denn niemand wird wissen, dass es mich gibt oder gab …
Es ist größer, stärker und mächtiger als wir. Auch wenn wir es nicht sehen. Nein, es ist mächtiger, weil wir es nicht sehen. Wir können uns nicht wehren. Wir können nicht gegen etwas kämpfen, das wir nicht erkennen und nicht kennen. Wir können uns nicht wehren gegen etwas, das wir nicht wahrnehmen und nicht verstehen.
…
Die sich auflösenden Toten ... es ist in uns, es ist mit uns hier hineingekommen, es ist hier drinnen. Wir tragen es in uns. Vermutlich schon seit Jahren.
Es kam mit uns hier herein. Als wir die Schutzräume aufzusuchen. Es gab nie einen Schutz. Die Schutzräume schützten uns nur vor unseresgleichen. Sie schützten uns vor dem ausbrechenden Chaos. Vor den marodierenden Horden. Vor der Anarchie, die ausbrach. Die immer ausbricht, wenn es keine Ordnung mehr gibt.
Die Menschen brauchen Ordnung, ein System, in dem sie sich bewegen können. Ein System, das ihnen Freiheiten gibt. Einen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen können.
Aber ... das System brach zusammen und mit dem Zusammenbruch kam das Chaos. Das wir überhaupt in diesen Schutzraum gekommen sind, grenzt schon an ein Wunder.
...
Nachdem die Hierarchie außer Kraft gesetzt wurde, und die Kraftwerke ausgefallen waren, brach schnell die Kommunikation zusammen. Kein Telefon. Kein Internet. Keine Kurznachrichten. Kein Radio. Kein Fernsehen. Nichts.
Das Militär übernahm die Kontrolle, dort, wo das Militär einsatzbereit war.
Sie wussten jedoch nicht, gegen welchen Feind sie kämpfen sollten. Da sie einen Feind, einen Gegner nicht ausmachen konnten, auch weil aus allen Ländern aller Kontinente die gleichen Meldungen kamen, solange noch Informationen ausgetauscht werden konnten.
Alle versicherten, unbeteiligt zu sein.
Regierungen versicherten, nicht der Urheber zu sein.
...
Viele der Schutzräume waren bereits vorhanden.
Da seit Jahren klar war, dass sich das Klima und die Umwelt zu Ungunsten des Menschen verändern würden, hatten sie sich vorbereitet. Doch nicht gut genug, denn gegen das, was dann kam, gab es keinen Schutz.
Weil es von innen kam. Die Gefahr kam von innen. Sie war in uns. Wir waren die Gefahr. Davon bin ich überzeugt.
...
Es war die Wahrnehmung, die sich verändert hat.
Diese Veränderung war die Ursache dafür, dass sie nicht wahrnahmen, dass etwas geschah, das sie nicht sehen konnten.
Ihre Sinne und ihre Wahrnehmung. Nahezu außer Kraft gesetzt. Virtualität und Realität flossen ineinander, ohne tatsächlich eins zu werden. Es veränderte die Menschen, es manipulierte die Wahrnehmung. Sie waren nicht dafür geschaffen, nicht dafür geeignet.
Das kommunikative Verhalten der Menschen fing schleichend an, die Wahrnehmung zu verändern und einzuschränken.
Instinkte und Intuition gingen verloren …
Sie haben ihren Schutz verloren. Ihre Immunität.
Und in Räumen Schutz gesucht, die gegen sichtbare Feinde und Bedrohungen vorgesehen waren. Die keinen Schutz gegen sich selbst boten.
Ihre Wahrnehmung hatte sich in Bildern und Pixel aufgelöst. In Daten und Informationen. In Schönheits-und Gesundheitswahn. In Jugendkult und der Überwindung der Grenzen von Privatsphäre, Intimität und Öffentlichkeit.
...
Sie hörten nicht mehr zu. Sie schauten nicht mehr hin. Sie fühlten nicht mehr. Sie bewegten sich nicht mehr, sondern bestellten. Sie benutzen nicht, sondern sie konsumierten und warfen weg. Sie rochen nicht mehr. Sie schmeckten nicht mehr.
Sie redeten nicht mehr miteinander, sie schickten sich Nachrichten und Informationen. Sie nahmen nicht mehr wahr, was in ihrer unmittelbaren Umgebung vor sich ging.
Sie wurden schwach und angreifbar, auch wenn sie immer schöner, jugendlicher und gesünder wurden. Und machten sich daran, das Sterben zu überwinden.
Die Verbindung von Technik und Mensch.
Sie arbeiteten an einem Hybriden. Gentechnik, Klone und Technologie. Die Zukunft des Menschen in einer vom Menschen selbst geschaffenen menschenfeindlichen Welt.
Die scheinbare Lösung waren Fortschritt und Technologie. Wachstum und Resistenz. Androiden. Menschen ohne menschliches Bewusstsein. Selbstbewusstsein. Ohne Selbstreflexion. Ohne Resonanz.
...
Doch es war größer und stärker, weil es nicht sichtbar und nicht offensichtlich war. Es war intelligenter als sie, weil es ihre Stärke nutze und zu ihrer Schwäche machte. Es war intelligenter, weil es archaischer war und zweckorientiert existierte: überleben.
...
Sie schauten nicht mehr aus dem Fenster, wenn sie wissen wollten, ob es regnete. Sie gingen nicht mehr raus, um sich zu treffen. Sie trafen sich vor den Bildschirmen, virtuell. Ohne Gestik. Ohne Mimik.
Ihre Persönlichkeit wurde zu einer Stimme.
Ihre Sprache wurde verkürzt und minimiert.
Sie fragten nicht mehr nach dem Weg, sondern ließen sich navigieren.
Sie gingen keiner Berufung nach, sondern ließen sich optimieren: Effizienz. Wirtschaftlichkeit. Fortschritt. Empowerment. Wachstum. Vernetzung.
...
Ich werde jetzt rausgehen. Ich will es sehen. Was übriggeblieben ist. Auch wenn ich es nur kurz sehen werde. Weil ich vermutlich nicht lange überleben werde. Wenn hier drinnen alle tot sind, wird es dort draußen auch niemanden mehr geben. Aber wenn ich schon sterbe, will ich nicht hier drinnen sterben.
Ich will die Sonne noch einmal sehen. Den Mond. Ich will noch einmal Regen auf meiner Haut spüren. Noch einmal spüren, wie der Wind an meinem Haar zerrt. Ich will noch einmal den Boden unter meinen nackten Füßen spüren. Noch einmal das Grün der Natur sehen und das Gras spüren.
…
Ich nehme jetzt das Gerät und werde nach draußen gehen.
Ich verlasse den Raum und gehe durch den Flur des Wohnbereichs, erreiche die Kantine und den Speiseraum und betrete den Gemeinschaftsbereich. Ich durchquerte die große Halle, gehe in den Flur, der zu der Schleuse führt, und nähere mich dem Tor zur Schleuse. …
Ich betätige den Mechanismus.
Hinter den Türen und in den Wänden rechts und links setzt sich etwas in Bewegung. Die schweren Metalltüren gleiten auseinander.
Noch bevor die Tore ganz offen sind, betrete ich die Schleuse. Ich gehe um Fahrzeuge herum zum nächsten Tor.
Die Ventilatoren stehen still. Die Luftschleusen und Umwälzpumpen arbeiten nicht mehr. Ich gehe weiter und betätige den Mechanismus neben dem Tor. Die beiden großen Tore öffnen sich und gleiten in die Wände.
Licht fällt in die Schleuse.
Ich hebe die Hand, um meine Augen zu schützen. Ich mache ein paar Schritte und stehe im Freien …
Ich schließe die Augen. Atme. Frische Luft …
Ich höre Geräusche. Vogelgezwitscher. Rauschen von Blättern.
Ich spüre den Wind auf meiner Haut. Ich fühle, wie der Wind an meinen Haaren zerrt.
Ich lächele. Ich öffne die Augen. Ich kann es sehen …
Die Natur hatte sich zurückgeholt, was ihr gehört. Immer schon. Die Natur ist stärker als der Mensch.
Ich höre ein Geräusch, Schritte sind hinter mir.
Ich drehe mich um …
ENDE
Beitrag 22
Nur für den Fall
1. Februar
Meine Entscheidung steht fest. Ich, Jonas Kelabassi, verabschiede mich von der Mühsal des Studiums der interplanetaren Kommunikationswissenschaften und wende mich einem Thema zu, das mein Forschertalent besser zur Entfaltung bringt. Aus mir wird ein intergalaktischer Privatermittler. Ruhm und Ehre winken. Mama ist weder vom Abbruch des Studiums noch von meinen hehren Plänen begeistert. Aber man kennt ja Mütter. Und ich habe mich entschlossen, ein Tagebuch zu führen. Nur für den Fall, dass aus mir zukünftig eine Person öffentlichen Interesses wird. Und da will man für eine Autobiographie vorbereitet sein. Ansonsten keine besonderen Vorkommnisse. Abends in den Blauen Tentakel auf zwei, drei Sirius Coma on the Rocks.
2. Februar
Spät aufgewacht. Müsste mich langsam um die Vorbereitungen zur Einweihungsfeier meiner neuen Agentur für intergalaktische Privatermittlungen kümmern. Sind ja nur noch acht Tage. Überlege, Häppchen mit echten Fleischspießchen aufzufahren. Für den Getränkebedarf sollten Konvolux-Fruchtwein und Wegabier reichen. Oder braucht es auch alkoholfreie Getränke? Muss noch einmal durchdacht werden. Mittags die World News studiert. Anscheinend ist es Wissenschaftlern gelungen, den schon seit zig Jahren ausgestorbenen Grauwal aus Zellresten zu klonen. Der Nahrungsmittelkonzern GoodFood Ltd. hat sich gleich die Rechte zur Fleischverwertung gesichert. Aufgewärmte Algensteaks zum Supper. Dazu Synthwein weiß. Abends bei einem Fläschchen kardonesischem Whiskey die Rate-Show »Erkennen Sie die KI?« Geschaut. Launig.
3. Februar
Erster Rückschlag bei den Vorbereitungen zur Einweihungsfeier. Die Preise für Echtfleisch kann man nur als astronomisch bezeichnen und übersteigen mein Budget. Entscheide mich daher für Synthhackbällchen. Scharf gewürzt sind die eigentlich ganz erträglich. Widme mich am Nachmittag dem Marketing. Mit welchem Spruch lässt sich eine Agentur für Privatermittlungen eindrucksvoll repräsentieren? Gestaltet sich schwieriger als gedacht. Irgendwie scheint sich nur wenig auf »Kelabassi« zu reimen. Könnte mal wieder Mama anrufen. Verschiebe den Anruf auf den nächsten Tag. Abends Live-Übertragung des Flughockeyfinales. Die Red Beagles Starius City gewinnen 27:2, aber meines Erachtens waren die Beteigeuze Volcano Bulls das bessere Team.
4. Februar
Früh wach. Nutze die Zeit, um meiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Entwickle erste vielversprechende Werbeslogans:
»Bedrückt ein ungelöstes Problem Sie?
Das löst die Agentur Kelabassi!«,
oder
»Beschattungen auf Erde oder Mond?
Ein Anruf bei Jonas Kelabassi lohnt!«
Bin noch nicht ganz zufrieden. Aber da lässt sich bestimmt etwas draus machen. Abends Treffen mit meinem Kumpel Caasi im Blauen Tentakel. Er eröffnet mir, dass er sich bei Galactopol bewerben wird. Bin einigermaßen erschüttert, dass er einfach nur ein gewöhnlicher Cop werden will. Obwohl er ja schon immer ein bisschen spießig war. Nee, so eine Beamtenlaufbahn wäre nichts für mich. Ich brauche den Geruch von Abenteuer, selbstbestimmte Entfaltungsoptionen und spannende Wege zu Ruhm und Reichtum. Wir leeren zwei Flaschen Konvolux-Fruchtwein, bevor wir zu kardonesichem Whiskey übergehen. Wurde spät.
5. Februar
Tagsüber Kopfschmerzen. Im Home View läuft abends eine Liebesgeschichte von einem Raumfrachterpiloten (gespielt von Hank Hazlewood), der eine Tresenbedienung auf dem Mond kennenlernt, die sich erst als seine uneheliche Tochter herausstellt, es dann aber doch nicht ist und Happy End. Habe zwischendurch den Faden verloren, war aber trotzdem schön.
6. Februar
Nach dem Frühstück (marsianischer Spinneneijoghurt) spontaner Geistesblitz für meinen Werbeslogan.
»Ob an Land, im Wasser oder All
Kelabassi löst Ihr Problem auf jeden Fall!«
Nicht schlecht.
Abends mit Caasi auf ein paar Sirius Coma on the Rocks im Blauen Tentakel. Er findet meinen Slogan gut, meint aber, dass sich »Kelabassi hat nen Knall« auch gut darauf reimen würde, haha. Witzbold. Andererseits muss man solchen Gefahren ins Auge blicken. Gerade Berühmtheiten werden schnell Ziel von vermeintlich lustigen Verballhornungen. Nehme erst einmal Abstand von dem Spruch.
7. Februar
Finde morgens eine unerwartete Nachricht vom Amt für Sozial- und Gesundheitshygiene vor. Laut den übermittelten Informationen meiner Nanobots hätten sich meine Leberwerte deutlich verschlechtert. Die damit verbundene Erhöhung des Gesundheitsrisikozuschlags von acht Prozent wird ab kommendem Monat eingezogen. Mit freundlichen Grüßen. Beschließe, meinen Alkoholkonsum in Zukunft signifikant zu reduzieren.
Abends nur zwei Wegabier. Früh ins Bett.
8. Februar
Unerwartet früh (08:00!), aufgestanden. Latente Nervosität den ganzen Tag. Kann mich weder auf die Artikel in den WorldNews noch auf die Sichtung meiner Nachrichten im GlobCom-Postfach konzentrieren. Scheinen aber wie üblich nur Werbung zu enthalten. Führe einige CheckCalls mit der Catering-Agentur und dem Anbieter des Showrooms. So weit alles im grünen Bereich. Versuche mich abends (erfolglos) bei einer Übertragung der Inthronisierung des neuen Staatschefs von Nord-Antarctica und einer Flasche Synthwein zu entspannen.
9. Februar
Habe kaum geschlafen. Heute ist der große Tag! Der Beginn der Einweihungsfeier meiner »Intergalaktischen Agentur für Privatermittlungen Jonas Kelabassi« ist für 16:00 Standardzeit geplant. Die Anzeige im Urban Holonews-Portal und auch der angemietete Showroom haben ihren Preis, aber natürlich brauche ich Reichweite. Die Zeit ist meines Erachtens perfekt gewählt, um After work einmal reinzuschnuppern.
Wider Erwarten funktioniert die Logistik einwandfrei. Eine lethargisch wirkende junge Frau, vermutlich Studentin, taucht bereits mittags auf, um die Bestellungen zu liefern. Mich beschleicht der leise Verdacht, ich könnte es mit der Menge übertrieben haben, aber ich lasse mich da nicht lumpen! Habe Caasi gebeten, um Punkt 16:00 vorbeizuschauen, damit alles nicht so leer wirkt. Es regnet. Natürliche Wetterphänomene sind längst unter Kontrolle, aber ich habe komplett übersehen, dass die Stadtverwaltung für den Nachmittag von 15:00 bis 18:00 Wasserberieselung Stufe 1 angekündigt hat. Andererseits treibt das so manch zusätzlichen Gast in den Showroom. Es beginnt in der Regel mit einer kurzen, floskelhaften Begrüßung, dann wird mit glasigem Blick mein Holowerbematerial angeschaut, um etwa eine halbe Minute später zielstrebig das Buffet anzusteuern, an dem sich Caasi ein Glas Synthwein nach dem anderen füllt. Führe Gespräche. Beobachte eine Relation zwischen dem geheuchelten Interesse und der Hemmungslosigkeit beim Getränkekonsum. Abends, als außer Caasi kein Gast mehr zugegen ist, schaut Mama vorbei. Erkläre ihr, dass ich einige vielversprechende Kontakte knüpfen konnte. Sie glaubt mir kein Wort. Es sind noch Berge von Synthhackbällchen übrig, Alkoholika fast vollständig aufgebraucht. Sichere mir noch eine Flasche als Schlummertrunk.
10. Februar
Morgens leichte Depression. Zum Frühstück kalte Synthhackbällchen. Rekapituliere die Ausbeute. Ein Typ, der erwähnte, dass er seine Ex mal suchen lassen könnte, sie schulde ihm noch was. Er werde sich melden. Eine etwas ältliche Dame, deren Schwager einen Freund hat, der, wie sie glaubt, auf der Suche nach einem tüchtigen Detektiv ist. Genaueres wüsste sie nicht, sie wird mich aber empfehlen. Der Rest war an meiner Agentur eher mäßig interessiert.
Studiere lustlos die Kleinanzeigen im Urban Holonews Portal. Über die Hälfte Angebote von Erotik-Bots. Morgen eröffnet ein neuer Space Elevator in den Outer Fields. Im ersten Monat Auffahrten zum halben Preis. Könnte ich mir irgendwann anschauen.
Abends Synthackbällchen (kalt). Dann noch auf ein paar kardonesische Whiskey in den Blauen Tentakel.
11. Februar
So habe ich mir den Tagesablauf meiner Agentur nicht vorgestellt. Während der offiziellen Öffnungszeiten (10:00 bis 16:00) lässt sich kein Mensch blicken. Eventuell sind die Zeiten schlecht gewählt. Möglicherweise passt 13.00 bis 19:00 besser. Ich könnte morgens vernünftig ausschlafen und nach Büroschluss direkt in den Blauen Tentakel. Gegebenenfalls lässt sich sogar die Büromiete verhandeln, da ja nur halbtags. Kontaktiere den Vermieter, der zu meiner Idee anscheinend keine Meinung hat und gleich wieder auflegt. Ich kann mich abends zu nichts aufraffen und schaue mir im HomeView das Konzert des Starius City Sinfonie-Orchesters an, bis ich auf dem Sofa einschlafe.
12. Februar
Morgens darf ich die ersten Gäste meiner Agentur begrüßen, ein Mann und eine Frau im mittleren Alter. Es stellt sich allerdings schnell heraus, dass es sich bei dem Paar nicht um potentielle Kunden, sondern um »Jünger der kosmischen Erweckung« handelt, die mit mir über das Sein, das Gestern, das Heute und das Morgen sprechen wollen. Es klingt ganz interessant und eventuell lässt sich ja ein Auftrag herausschlagen. Das Gespräch entwickelt sich zu einem mäßig spannenden Duolog der beiden und beginnt mich schnell zu ermüden. Als sie anfangen, Psalmen zu singen, schütze ich einen dringenden Termin vor und komplimentiere sie hinaus. Abends gibt es Reste vom Eröffnungsbuffet, dazu zwei Flaschen Synthwein weiß.
13. Februar
An einem Freitag, den Dreizehnten unternehme ich prinzipiell nichts. Somit auch keine besonderen Vorkommnisse.
14. Februar
Habe den archaischen Brauch des Valentinstags völlig vergessen! Wäre mal wieder an der Zeit, einer holden Schönheit einen süßen Gruß zu schicken. Lediglich der Mangel an weiblichen Bekanntschaften stellt sich dem Plan entgegen. Mona, die Bedienung vom Blauen Tentakel, käme vielleicht in Frage. Andererseits hatte sie mich letztens rauswerfen lassen, weil ich »angeblich« zu viel intus hatte. Am Ende entscheide ich mich für Griselda, der Schwester eines ehemaligen Studienkollegen, der ich vor Jahren mal beim Umzug geholfen hatte. Ich hoffe, sie erinnert sich noch an mich und findet Gefallen an dem geckigen Holo mit dem singenden, knallvioletten Herzchen. Heute keine Aufträge. Meide die Bar meines Vertrauens, um unnötigen Nachfragen nach Valentinsgrüßen aus dem Weg zu gehen. Abends wieder Reste vom Buffet. Die aufkommende Übelkeit von den mittlerweile vier Tage alten Synthhackbällchen kann ich mit einer halben Flasche kardonesischem Whiskey neutralisieren.
15. Februar
Muss zu meinem Leidwesen konstatieren, dass ich überhaupt keinen Valentinsgruß erhalten habe. Nicht, dass ich einen erwartet habe, oder mir das überhaupt etwas ausmacht. Immerhin eine Nachricht von Griselda, die sich ziemlich reserviert bedankt. Kein »Wir könnten mal was trinken gehen« oder Ähnliches. Undank ist der Welten Lohn. Interessante Geschichte in den WorldNews. Anscheinend haben Wissenschaftler in den unterirdischen Meeren des Jupitermonds Enceladus einen Schleimklumpen entdeckt, der Anzeichen von Intelligenz aufweist. Wobei ich mich frage: Wie intelligent kann so ein Schleimklumpen schon sein?
16. Februar
Bei der morgendlichen Lektüre der WorldNews springt mir ein reißerischer Artikel über die Abdankung der Präsidentin von NakaTech Limited ins Auge. Laut Bericht hatte sie sich nachts im Büro auf dubiosen Quellen des GlobNets herumgetrieben und dabei künstliche Schadintelligenzen ins Firmennetz gelassen. Die Produktion stand über Tage still. Ihre Entscheidung, eine externe IT-Security-Firma mit der Untersuchung des Produktionsausfalls zu beauftragen, besiegelte zügig ihr Ende als Vorstandsvorsitzende. Zugegeben, so ein extraterrestrischer Schleimklumpen mag den Intelligenzvergleich mit dieser Dame nicht scheuen.
Keine Kundschaft. Beende den Abend mit zwei Flaschen Synthwein rot.
17. Februar
Beschließe, einen Tag Betriebsferien zu machen. Schlagartige Ernüchterung, als ich den Kontostand prüfe. Ich stecke in einer, wie man so sagt, angespannten finanziellen Situation. Werde morgen den Raumhafen aufsuchen. Ein Job als Hafenarbeiter ist zwar eigentlich unter meiner Würde, aber es wird einigermaßen anständig bezahlt und kann ja als sportliche Betätigung angesehen werden. Wird mir bestimmt guttun.
Gönne mir Synthfisch mit Cannabis-Sauce. Ziemlich geschmacklos, aber nahrhaft. Abends eine neue Serie geguckt. Hank Hazlewood spielt einen abgehalfterten Detektiv auf dem Mars, der skurrile Fälle mit tatkräftiger Hilfe seiner Sekretärin Donna löst, die sich später als seine uneheliche Tochter entpuppt. Spannend und phasenweise ganz witzig.
18. Februar
-
19. Februar
Als ich aus einem bleiernen Schlaf erwache, kann ich mich kaum bewegen. Jeder Muskel schmerzt. Da sind einige dabei, deren Existenz mir nie bewusst war. Die eigentlichen Arbeiten am Raumhafen erledigen ja Bots. Nur für unhandliche Lasten wird noch menschliche Unterstützung gebraucht. Hatte ich mir anders vorgestellt. Mir ist jetzt klar, dass ich für stundenlange Be-und Entladetätigkeiten definitiv nicht mit dem nötigen Talent gesegnet bin. Ohnehin nicht im Besitz meiner vollen physischen Kräfte verlängere ich kurzerhand die Betriebsferien. Von den neuen Nachrichten in meinem GlobCom-Postfach sind diesmal nur vier Mahnungen wegen Zahlungsverzugs dabei. Eine Nachricht von Mama, mit der Ankündigung des Besuchs in drei Tagen zum Dinner, um »mal zu hören, wie meine Agentur so läuft«. Erwäge kurz, wichtige Kundentermine vorzutäuschen, um ihrer Ausfragerei aus dem Wege zu gehen. Aber sie hat ein untrügliches Gespür dafür, wenn ich ihr etwas vormache. Reserviere seufzend einen Tisch im Cosa Vostra.
Eine weitere Nachricht von Caasi. Die Sirius Bastards wären demnächst in Town, und er würde Gästechips besorgen. Ob ich Lust hätte, mitzukommen? Ich kann die Konzerte dieser Band nicht anders als »kakophonisch« beschreiben, könnte aber trotzdem ein lustiger Abend werden. Sage zu.
Abends noch auf drei, vier Bloody Sallys im Blauen Tentakel.
20. Februar
Morgens wie ausgewechselt! Fühle mich frisch und unternehmungslustig. Spiele mit dem Gedanken, Sport zu treiben. Komme nach dem Frühstück aber wieder von der Idee ab.
Dafür darf ich heute meine erste Kundin begrüßen. Das heißt, eine, die es werden wollte. Ein eher banaler Fall, ich soll ihren Ehemann beschatten. Sie hätte da so einen Verdacht. Meine Honorarforderung scheint sie zu überraschen, jedenfalls verabschiedet sie sich recht schnell und meint, sie müsse sich die ganze Sache doch noch mal durch den Kopf gehen lassen. Ich werde meine Dienste bestimmt nicht unter Wert verkaufen. Außerdem sagt ein altes Detektiv-Sprichwort: An der hohen Honorarforderung erkennt man den seriösen Ermittler! Eventuell muss ich meine Salärstruktur trotzdem noch einmal überdenken. Ich könnte auch Agentur-Eröffnungsschnäppchen oder einen Happy- Hour-Rabatt einführen. Muss noch ausgearbeitet werden.
Nachmittags studiere ich Reiseangebote. Bräuchte langsam mal eine Auszeit.
21. Februar
Wieder keine Kundschaft. Beschließe, den Nachmittag freizunehmen und mir den neuen Space Elevator anzusehen. Sehe wegen nervösen Magens von einer Fahrt zur Polluxorbitalstation ab. Schade, aber Schwerelosigkeit kann ich heute am wenigsten gebrauchen.
Abends mit Caasi die Bar »Sternenschock« ausprobiert. Magen wieder besser. Coole Cocktails. Mein Favorit ist das »Schwarze Loch«. Kannte ich noch nicht und haut einen echt um. Caasi eröffnet mir, dass Galactopol ihn ins Traineeprogramm aufnimmt. Heuchle Begeisterung, denke aber nicht, dass sie ihn lange behalten werden.
22. Februar
Mit Mama im Cosa Vostra. Ich bestelle Feuerwanzenauflauf mit Glasreis, Mama zieht Synth-Giraffensteak mit Pfefferbananen vor. Die üblichen Vorhaltungen, ich solle mir doch einen anständigen Job suchen, Onkel Philipp hätte in seiner Minengesellschaft bestimmt eine nette Aufgabe für mich. Und so weiter und so fort. Als ob ich auf den Asteroidengürtel ziehen würde! Nach dem zweiten Glas Fruchtwein wird sie entspannter. Ich erzähle ihr eine erfundene Geschichte von meinem ersten Fall (Spionage bei einem Wissenschaftler, dessen Rezeptur für ein neues Medikament gegen Tinnitus gestohlen wurde), und sie scheint sogar ein wenig beeindruckt. Abends Musikshow im Home View mit Liesl Zitzelsberger. Sehr retro, aber definitiv besser als die Sirus Bastards. Schlafe vor dem Holoschirm ein.
23. Februar
Neue Idee für einen Werbeslogan.
»Auf der Suche nach einer Premium-Detektei?
Dann führt an Kelabassi kein Weg vorbei!«
Abends mit Caasi bei den Sirus Bastards. Überraschenderweise kein Alkoholausschank. Scheine mir einen kleinen Hörsturz eingefangen zu haben. Hoffe, das wird morgen wieder besser.
24. Februar
Stimmung tendiert genau wie meine einzige Büropflanze, ein seit längerem unter Wassermangel leidender Zitterginster, in Richtung Trostlosigkeit. Eventuell sollte ich mich doch nach alternativen Jobs umsehen. Müsste eher etwas Geistiges sein. Die Plackerei am Raumhafen ist mir eine Lehre. Politiker könnte passen. Heuchelei liegt mir. Soweit mir bekannt, wird bei denen keine abgeschlossene Ausbildung verlangt. Allerdings wäre ein Parteieintritt unumgänglich. Nur welche? Die FZP vielleicht. Ich verstehe nur nicht, wofür die »Fortschrittliche Zukunftspartei« steht. Die Reden der Führungsriege haben eher narkotisierende Wirkung, und um Zukunft und Fortschritt scheint es mir bei den anderen Parteien auch zu gehen. Das »Bündnis der kosmischen Erleuchtung« käme infrage, aber um da in den Vorstand zu kommen, muss man schon von Kindesbeinen an ein Eiferer dieser Glaubensgemeinschaft sein. Dann wäre da noch die AfA. Diese Partei verzeichnet jüngst munter steigende Wahlergebnisse. Ich muss mich schlaumachen, was für ein konkretes Programm sich hinter der Parteibezeichnung »Alles für Alle« und deren Slogan »Gerechtigkeit und Macht gehören jedem!« Verbirgt. Klingt aber interessant.
Abends Heuschrecken-Müsli mit Lavendelkraut. Im Home View läuft eine Comedy mit Hank Hazlewood, der mit seiner verschmitzten Art auf seiner Suche nach der Frau fürs Leben dauernd auf uneheliche Kinder stößt. Ganz witzig.
25. Februar
Tagsüber nichts, abends im Blauen Tentakel. Mir fällt auf, dass hier immer die gleichen Nasen abhängen. Typ »Gescheiterte Existenz«. Ich sollte mir ein neues Stammlokal suchen. Beschränke mich auf eine Flasche Konvolux-Fruchtwein, bevor ich nach Hause gehe.
26. Februar
Interessanter WorldNews-Bericht zum Frühstück über einen Hirntoten, der dank KI-Implantat wieder kommunizieren kann. O-Ton der Ehefrau: »Er ist jetzt viel gesprächiger.« Nachmittags Spaziergang im Kunstblumenpark.
27. Februar
Beschäftige mich zum Frühstück (Synth-Eier in Orchideenblütengelee) mit verschiedenen Reiseportalen. Eine Mars-Kreuzfahrt würde mich schon reizen. Mit zwei Tagen zur freien Verfügung auf dem roten Planeten. Oder eine Unterwassererkundungstour der versunkenen Stadt Amsterdam. Aber die Preise! Ich könnte Mama anpumpen. Müsste mich dann allerdings auch um eine Vertretung für meine Agentur bemühen. Ist vermutlich doch nicht die rechte Zeit für Urlaub. Abends mit Caasi zur weiteren Verkostung des Cocktailangebots im Sternenschock. Er erzählt mir begeistert von seinem ach so tollen Traineeprogramm bei Galactopol. Wer‘s glaubt.
28. Februar
Mein erster Auftrag! Gleich frühmorgens empfange ich Montgomery Smyslov, Professor für Astralphonetik. Was auch immer das ist. Sein nach eigenen Worten sündhaft teurer Modehund, ein tätowierter Nacktdackel aus Belutschistan, sei gestohlen worden. Ich habe ihm bestätigt, dass »unsere« Agentur sich auf das Aufspüren von vermissten Haustieren spezialisiert hat. Auf die Honorarforderung zuckt er mit keiner Wimper, sogar einen großzügigen Vorschuss kann ich heraushandeln. Meine Agentur steht vor einer glorreichen Zukunft!
Jetzt muss ich nur noch diese Töle finden.
ENDE
Beitrag 23
Eden 2150
15.01.2150 14:31
Hmm … wie fängt man so was eigentlich an. Ich nehme mal an ich, sollte mich vorstellen. Mein Name ist Liz Kamihito, ich wurde am 13 November 2130 geboren, bin also 19 Jahre alt. Ich lebe in Neocago. Eigentlich wäre es nie meine Art, so ein Tagebuch anzufangen, aber mein Psychologe meinte, es würde mir helfen meinen Tag besser strukturieren zu können und vergangenes besser zu verarbeiten. Alles über mein BCI[1] zu schreiben war noch nie meine Stärke, aber immer noch besser als mit der Hand, wie die Menschen von vor 100 Jahren oder so. Hahaha
15.01.2150 21:45
Ich hab mir gerade gedacht, ich werde hier auch ein paar meiner Gedanken niederschreiben. Zum Beispiel hab ich mir gerade ne Doku runtergeladen, in der es darum ging, wie sie die Lichtshows, Drohnen Choreographien und Tec-Paraden zum Jahreswechsel hinbekommen. Kaum zu glauben, dass die Menschen bis 2089 noch Raketen benutzt haben, um diesen Tag zu feiern. Allein wenn ich daran denke, was das jedes Jahr an Ressourcen verschwendet hat, wird mir schlecht.
Ich werde wohl morgen mal zum Cyber-Doc[2] gehen müssen. Hab mir glaube ich beim Download der Doku was eingefangen und zu Andrew- dem Kybernetiker [3] meines Vertrauens muss ich auch noch, meinen rechten Arm neu justieren lassen.
16.01.2150 13:10
Meine Befürchtung hatte sich bestätigt und der Cyber-Doc musste sogar seinen Cybersecurityengineer drüber gucken lassen, aber am Ende war es wohl nichts Ernstes. Ich musste zwar nichts zahlen, aber am Ende des Monats bekomme ich bestimmt wieder so’n dämlichen Safety Advice von der Versicherung.
Gerade sitze ich im Wartezimmer von Andrew, eigentlich ist hier nicht wirklich was los, aber der Kunde vor mir hat sich wohl mit ner Gang angelegt und die haben sein Gear[4] gerippt. Ist wohl nen Ding in der Szene, aber wegen diesen Sponks muss ich jetzt hier warten. Hätte der sich nicht wann anders aufs Maul hauen lassen können…?
16.01.2150 16:43
Ich kotz! Am Ende hab ich echt noch fast zwei Stunden gewartet, dass Andrew damit fertig wird dem Typen neues Gear ein zu doktern.
Ich und Andrew, also mein Stamm Kybernetiker, sind alte Bekannte. Genauso wie er, bin auch ich, bei Eden und auch damals schon hat er sich um mein Gear gekümmert. Er war es auch, der mir, nachdem ich meinen Arm verloren hatte, meine erste Full-Prosthesis justiert hat. Seitdem komme ich immer, wenn etwas mit meinem Gear nicht stimmt, oder ich nen Upgrade brauche, zu ihm. Er gibt mir zwar immer schon nen Rabatt, aber ganz für lau kann auch er das nicht machen. Wir sind zwar alte Bekannte, aber die Zeiten sind hart. Am Ende habe ich 1200 EAD[5] bezahlt. Bei jedem anderen Doc hätte ich wohl 2K oder so blechen müssen, ein wirklich guter preis. Und er hat mir angekündigt, dass er wohl bald eine Lieferung mit wirklich spicy Gear bekommt, er weis ja, worauf ich stehe und was ich mir wünschen würde, also hält er was für mich zurück. Andrew ist wirklich lieb.
18.01.2150 00:57
Ist nen bisschen so wie damals, als ich für Eden noch im aktiven Amt gearbeitet habe. Da konnte ich auf den Einsätzen auch nie schlafen. Es ist lange her, zumindest kommt es mir so vor. Wobei es eigentlich erst zwei Jahre sind.
Nachdem meine Einheit dann von den Wixern vom IcS[6] von Pangaea aufgerieben wurde und eine Impuls Thermit Granate mir den Arm und meinem Caipten das Gesicht zerfetzte hatte, war der Einsatz gescheitert und die Überlebenden wurden evakuiert.
Seitdem bin ich in »Rehabilitationsurlaub«, wie Taiyo es nennt, und vom aktiven Dienst freigestellt. Wie ich hörte, laufen die Dinge gar nicht schlecht und bald schon wird sich Eden in Bewegung setzen.
18.01.2150 06:12
Ich musste gerade daran denken, warum und wofür ich eigentlich zu Eden gegangen bin, und da fiel mir ein, dass es immer schon mein Ziel war diese Welt, wenn auch nur ein bisschen, zu verändern. Ich meine, was ist das bitte für eine abgefuckte Welt, in der wir leben? Der Staatskapitalismus von Pangaea, in Kombination mit den Monopolen und der Sicherheit, den Rest seines Lebens in irgend einem Internierungslager zu verbringen, wenn man was Systemkritisches sagt, machen die Sache für mich ziemlich klar, dagegen etwas zu unternehmen.
Vielleicht sollte ich das hier nicht schreiben, aber es tut gut mich auf diese Weise auszudrücken. Sollten die das in die Finger bekommen, stellen die mich wahrscheinlich gleich wegen Rebellion rückwärts an die Wand.
18.01.2150 09:46
Ich hab noch mal über das von vorhin nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es uns im Grunde aber auch an nichts fehlt und auch wenn es den meisten Menschen besser gehen könnte, hinterfragen sie es nicht und geben sich damit zufrieden was sie haben. Ist es also richtig wofür ich Kämpfe? Tue ich wirklich das Richtige?
18.01.2150 10:02
Ich habe mich entschieden. Ich werde diese Welt nicht nur verändern, ich will sie auch verbessern. Auch wenn wir genug haben, um zu leben, sind wir nicht frei. Freiheit ist das, was ich anstrebe, aber ist mein Gedanke der Freiheit und meine Überzeugung es wert, deswegen einen Krieg mit Pangaea anzufangen? Ich meine, wer bin ich schon im Vergleich mit Pangäa - dem letzten, noch existierenden Superstaat?
Viele der Menschen haben sich mit ihrem Leben, ihrem Platz in der Welt abgefunden und ihr Schicksal akzeptiert. Inwiefern habe ich das Recht, in ihr Leben einzugreifen und über sie zu entscheiden, auch wenn es ihnen aus meiner Sicht dadurch besser gehen würde. Inwiefern bin ich denn dann besser, als die 12 von Pangäa, die alles entscheiden?
Ihnen, als oberste Herrscher der Welt, ist das Leben des Einzelnen zwar mehr oder weniger egal, auch wenn wir alle für sie nur als Nummer in einem System oder als potentielle Arbeitskraft und nicht als Individuum existieren, muss keiner von uns Hunger leiden oder fürchten in den Krieg ziehen zu müssen. Das wir nur schwer unseren Geo-Distrikt[7] verlassen können, geschweige denn einen der anderen fünf Kontinente zu besuchen, ist zwar äußerst schade, aber nicht zu ändern.
19.01.2150 06:33
Ich muss sagen, ich habe selten so beschissen geschlafen. Der Gedanke von Gestern hat mich wirklich nicht losgelassen. Ich hab irgendwie das Gefühl meine Gedanken gewinnen an Gewicht, wenn ich sie hier niederschreibe. Irgendwie eigenartig, oder?
Ich bin aber tatsächlich auch zu einem Schluss gekommen. Dass der Superstaat Pangaea, der nahezu alle ehemaligen Staaten unter sich vereint, basierend auf dem ehemaligen faschistischen Europa entstanden ist, war eine sehr gute Sache. Sie haben zwar auch die mit Abstand schrecklichste Waffe entwickelt, die man sich vorstellen kann, aber ohne das Pangaea entstanden wäre, hätte es mit Sicherheit einen dritten Weltkrieg gegeben.
Allerdings ist die Abwendung des dritten Weltkrieges nur eine der wenigen guten Seiten von Pangaea, für mich überwiegen ganz eindeutig die Schattenseiten.
Wenn ich mir überlege, dass es rücksichtslose Kapitalisten, größenwahnsinnige Trottel und gewissenlose Halsabschneider gibt, die unter dem Deckmantel des Staates, alles dafür tun der Marskolonie beizutreten, bekomme ich das Kotzen. Und diese Verachtenswerten Gestalten sind ja eigentlich noch das geringste Übel im Vergleich zu den elenden Lobbyisten, die die verstrahlte Meinung vertreten, dass der Klimawandel nicht so schlimm sei. Am besten sollten die das den bereits 99,8% der Tier- und Pflanzenarten sagen, die ausgelöscht wurden. Oder der halbe Milliarden Menschen, deren Landmasse vom steigenden Meeresspiegel bereits verschluckt wurde. Und hätte der Virus-P21a von vor zehn Jahren nicht fast ein Drittel der Weltbevölkerung ausgelöscht wären, wir dieses Jahr wahrscheinlich noch über die 20 Milliarden Grenze gestiegen. Die Leute vom Staat, die so gut geschützt und bewacht wurden, wie Taiyo seine Weltumsturz Pläne bewacht, hat das Virus ja mal wieder nicht gejuckt. Meine Güte, ich hab mich echt nen bisschen verzettelt ^^"
Naja, aber ich denke der Seelenklempner hatte recht. Mir Ziele vor Augen zu halten und mir klar zu machen wieso, warum und weshalb ich das mache, ist wichtig. Ich mach mir nen Tee.
19.01.2150 16:52
Andrew hat mir eben ne Message geschickt, ich kann anscheinend Morgen mal vorbei gucken, er hat wohl was gefunden, was mir gefallen dürfte.
20.01.2150 07:33
Mein Wecker hat mich gerade geweckt und ich mach mich gleich aufe Socken, zu Andrew.
22.01.2150 23:26
Das mich die OP so ausknocken würde, hätte ich nicht gedacht, aber eigentlich war das wohl abzusehen.
Einen offiziellen dritten Weltkrieg mit Interkontinental Raketen, Orbital Lasern, Drohnen, Cyborg [8] Staffeln und Biowaffen hat es zwar bis jetzt nicht gegeben, aber durch die ständigen Guerilla Angriffe auf Wirtschaft und Zivilbevölkerung, besonders der ehemalig faschistischen Länder Europas untereinander, sind schon genug für zwei Weltkriege gestorben. Um sich gegenseitig auszustechen, aber keinen größeren offenen Krieg zu provozieren, haben die Wixer wirklich alles getan.
Naja, auf jeden Fall gibt es auch heute noch Waffen, die von damals übriggeblieben sind. Einiges ist längst überholt und absoluter Schrott, aber anderes funktioniert noch tadellos und wird nicht mehr produziert. In der Zeit des Wettrüstens, noch vor Pangaea, entstanden viele solcher Waffen und Prototypen. Für normale Menschen ist dies zwar mehr als nur irrelevant, aber für uns von Eden, also dem Widerstand, sind diese Waffen von unschätzbarem Wert. Pangaea hat ziemlich früh damit begonnen solche Waffen aufzuspüren und zu beschlagnahmen, oder zu vernichten. Das, was noch übriggeblieben ist, wurde damals versteckt oder ist den Inquisitoren irgendwie durch die Lappen gegangen. Solche Waffen werden zu horrenden Summen auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Da ran zukommen ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Wie Andrew das geschafft hat, weis ich zwar nicht, aber eigentlich will ich’s auch gar nicht wissen.
Auf jeden Fall hat er mir extrem geiles Gear besorgt und ein Upgrade für meinen Biomasse Konverter gabs auch noch, immerhin hat die neue EMP Gun echt viel Power und in Kombination mit dem Jam[9] für Cyborgs und Drohnen, frisst das echt viel Strom. Ich muss zwar jetzt, um meinen Energiebedarf zu decken täglich so 15K Kalorien Essen, aber das passt schon durch die Food-Tablets.
25.01.2150 21:32
Andrew hatte es mir auch gesagt, aber mir ist es erst jetzt so richtig bewusst geworden. Das Gear hab ich nicht einfach aus Nettigkeit bekommen sondern, direkt von Eden, um mich wieder auf meine erste Mission nach meinem erzwungenen Urlaub vorzubereiten. Die Ausrüstung seiner Mitglieder lässt sich Eden echt was kosten.
26.01.2150 10:02
Eben habe ich eine Message von Tsuki, der rechten Hand von Taiyo, bekommen. Wenn ich mich weiter gut von der OP erhole und an das neue Gear gewöhnt habe, soll ich mich melden. Irgendwie ist es komisch, eigentlich wollte ich doch zurück zu Eden, also das will ich auch immer noch, aber es immer nur so zu sagen ist schon etwas anderes als es so vor Augen geführt zu bekommen.
Andrew meinte es würde wahrscheinlich noch so zehn Tage dauern, bis sich mein Körper eingependelt hat und eine Rückkopplung des neuen Gears ausgeschlossen ist.
28.01.2150 23:11
Um ehrlich zu sein habe ich nach wie vor Zweifel, aber je mehr ich darüber nachdenke, je mehr freue ich mich darauf meine Arbeit wieder aufzunehmen.
01.02.2150 00:05
Die Mission hat begonnen. Es gab eine Planänderung, die es nötig machte, dass ich jetzt schon aufbrechen musste. Die Vorbereitungen der letzten Tage haben mich ganz davon abgebracht mein Tagebuch weiterzuführen.
In 15 Minuten wird das Sky Ship zu einem Ort aufbrechen, der wohl Australien genannt wird, ich habe noch nie von diesem Ort gehört.
Früher hat man die Sky Ships wohl als Zeppeline bezeichnet, obwohl sie wohl deutlich kleiner waren. Wirklich eine erstaunliche Erfindung, die Sky Ships können mehrere tausend Tonnen an Last tragen und überbringen Wasserstoff mit dem sie auch angetrieben werden. Wo die Fracht und der Wasserstoff herkommt, hab ich mich zwar schon immer gefragt, aber verlässliche Informationen dazu gibt es nicht. Das Sky Ship gibt natürlich nur so viel Wasserstoff ab, dass es ohne Waren noch zurückfliegen kann, um dort wieder neu beladen und betankt zu werden. Und genau dieser Umstand ermöglicht es mir zu dem Ursprungsort der geheimnisvollen Fracht zu kommen- Australien.
Alle behaupten was anderes, einige haben sogar schon mal von Australien gehört und wieder andere halten es genau so für eine Legende, wie Atlantis. Was das angeht war meine Vorbereitung auf die Mission nicht wirklich ergiebig.
01.02.2150 00:36
Es ist mir gelungen das Sky Ship beim Abladen der Container durch einen Wartungsschacht zu infiltrieren. Den Berechnungen und Schätzungen von Eden zu folge, wird der Flug wohl ungefähr drei Tage dauern. Ich werde mich wohl nicht die ganze Zeit hier verstecken können, aber wenn sie mich schnappen, naja dann ist alles aus. Eden hinterlässt keine Spuren, darf keine Spuren hinterlassen. Jeder Agent von Eden ist bereit für die Sache zu sterben.
Auch wenn ich das jetzt so sage, habe ich Angst zu sterben und wenn es wirklich drauf ankommt, weis ich nicht ob ich mich nicht doch verzweifelt ans Leben klammere - Ich lass mich wohl einfach nicht erwischen. Hehe.
01.02.2150 15:12
Der Jam leistet wirklich gute Arbeit, ohne den wäre ich niemals an den Security Bots vorbeigekommen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind im Allgemeinen relativ niedrig, die rechnen wohl nicht damit, dass jemand so weit kommt, wie ich jetzt.
In den Maschinenräumen, in denen ich mich jetzt gerade aufhalte, sollte mich niemand finden.
02.02.2150 07:17
Die Nacht war echt die Hölle. Die hätten ruhig mal an Spione wie mich denken können. Kein Wunder, dass es kaum noch Widerstandskämpfer gibt, bei den Arbeitsbedienungen.
04.02.2150 14:31
Es ist so weit, wir haben gestoppt. In der Theorie hab ich zwar nen Plan, wie ich unbemerkt runter komme, trotzdem ist das Ganze echt riskant. Vermutlich wird keiner diese Zeilen lesen, wenn meine Mission scheitert, aber irgendwie gefällt mir der Gedanke, wenn andere von meinen Abenteuern hören. Naja, aber je nach dem, wie die ganze Nummer ausgeht, wird wohl niemand davon erfahren - ehrlich gesagt, hab ich ein bisschen Angst.
04.02.2150 16:22
Ich habe zwar nicht viel Zeit, bin aber erfolgreich entkommen und jetzt in einem Versteck, von dem ich denke, dass ich mich hier einige Stunden ungestört aufhalten kann, ohne entdeckt zu werden. Ich möchte hier nicht länger bleiben müssen als irgend nötig, also werd ich mich gleich an die Arbeit machen. Allerdings werde ich mich nur Nachts halbwegs unbemerkt bewegen können, ist sicherer.
05.02.2150 01:23
Eine wahr gewordene Dystopie. Eigentlich kann ich nicht in Worte fassen, was hier abgeht und in was für einer Hölle ich gelandet bin. Es ist, als wäre dieses ganze Land, nein dieser Ganze Kontinent eine Einzige Fabrik. Menschen, die nicht mehr aussehen wie Menschen, sondern eher wie die Undead Warrior von den Chinesen damals oder Cyborgs, so billig und widerwärtig zusammengeschustert, dass es mich wundert, wie der Menschlicheteil dieser Blechhaufen überhaupt überleben kann.
Wie kann das sein? Warum wehren sich die Menschen nicht?
Warum weis man bei uns nichts darüber? IN WAS FÜR EINER ABGEFUCKTEN WELT LEBEN WIR HIER EIGENTLICH???
Den Wahnsinn, in Worte zu fassen, geht eigentlich nicht. Es ist wirklich unmöglich, das Unmögliche zu beschreiben. Wenn ich das hier nicht dokumentiere, glaubt mir das doch keiner.
01.02.2150 15:12
Der Jam leistet wirklich gute Arbeit, ohne den wäre ich niemals an den Security Bots vorbeigekommen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind im allgemeinen relativ niedrig, die rechnen wohl nicht damit, dass jemand so weit kommt, wie ich jetzt.
In den Maschinenräumen, in denen ich mich jetzt gerade aufhalte, sollte mich niemand finden.
02.02.2150 07:17
Die Nacht war echt die Hölle. Die hätten ruhig mal an Spione wie mich denken können. Kein Wunder, dass es kaum noch Widerstandskämpfer gibt, bei den Arbeitsbedienungen.
04.02.2150 14:31
Es ist so weit, wir haben gestoppt. In der Theorie hab ich zwar nen Plan, wie ich unbemerkt runter komme, trotzdem ist das Ganze echt riskant. Vermutlich wird keiner diese Zeilen lesen, wenn meine Mission scheitert, aber irgendwie gefällt mir der Gedanke, wenn andere von meinen Abenteuern hören. Naja, aber je nach dem, wie die ganze Nummer ausgeht, wird wohl niemand davon erfahren - ehrlich gesagt, hab ich ein bisschen Angst.
04.02.2150 16:22
Ich habe zwar nicht viel Zeit, bin aber erfolgreich entkommen und jetzt in einem Versteck, von dem ich denke, dass ich mich hier einige Stunden ungestört aufhalten kann, ohne entdeckt zu werden. Ich möchte hier nicht länger bleiben müssen als irgend nötig, also werd ich mich gleich an die Arbeit machen. Allerdings werde ich mich nur Nachts halbwegs unbemerkt bewegen können, ist sicherer.
05.02.2150 01:23
Eine wahr gewordene Dystopie. Eigentlich kann ich nicht in Worte fassen, was hier abgeht und in was für einer Hölle ich gelandet bin. Es ist, als wäre dieses ganze Land, nein dieser Ganze Kontinent eine Einzige Fabrik. Menschen, die nicht mehr aussehen wie Menschen, sondern eher wie die Undead Warrior von den Chinesen damals oder Cyborgs, so billig und widerwärtig zusammengeschustert, dass es mich wundert, wie der Menschlicheteil dieser Blechhaufen überhaupt überleben kann.
Wie kann das sein? Warum wehren sich die Menschen nicht?
Warum weis man bei uns nichts darüber? IN WAS FÜR EINER ABGEFUCKTEN WELT LEBEN WIR HIER EIGENTLICH???
Den Wahnsinn in Worte zu fassen, geht eigentlich nicht. Es ist wirklich unmöglich das Unmögliche zu beschreiben. Wenn ich das hier nicht dokumentiere, glaubt mir das doch keiner.
05.02.2150 04:23
Es macht mich unendlich traurig und wütend zu gleich. Was soll das? Diese Profitgier, die nur darauf aus ist zu vernichten, zu vergiften und auszulöschen widert mich einfach nur an. Jetzt habe ich Gewissheit, Gewissheit darüber, dass es die richtige Entscheidung war, sich gegen Pangäa zu stellen und Eden treu zu bleiben. Ich werde so viele Informationen über diesen Ort sammeln, wie nur irgend möglich und dann mit Eden das Herz von Pangäa, diesen Kontinent der Hölle, zerschlagen.
06.02.2150 03:31
Ich komme gut voran, es ist mir sogar gelungen, ein Labor zu infiltrieren, in dem ich mich tagsüber verstecken und gleichzeitig Informationen sammeln kann.
06.02.2150 03:56
Ich habe keine Worte dafür, wie menschenverachtend und niederträchtig dieses Rattenloch wirklich ist. Die Menschen, die hier schuften, tun dies offensichtlich nicht aus freien Stücken und jetzt weiß ich auch warum.
Das Labor, in dem ich mich befinde, dient als Klinik, in der aktive Operationen durchgeführt werden. Es ist mir gelungen, eine dieser Operationen mit anzusehen. Den Menschen, die hier verknechtet werden, wird der BCI (wenn sie einen haben) unglaublich stümperhaft raus gedoktort und anstelle irgendeines anderen Chips rein- gepfuscht, der so ähnlich aussieht. Eigentlich dachte ich, so etwas wäre unmöglich, aber dieser Chip scheint auf irgendeine Weise die Menschen zu willenlosen Zombies zu machen. Eine gruselige Vorstellung leben zu müssen, aber den Willen dazu längst verloren zu haben.
06.02.2150 12:11
Ich habs versaut. Sie haben mich!!!
Bevor sie die Tür eintreten, werde ich mir selber ein Ende bereiten.
Ich habe Angst …
Ich kann ni …
11.11.2150 20:11
Wer bin ich?
Was ist … wie bin ... wer?
Die Erinnerungen kehren allmählich zurück.
Sie hatten mich geschnappt und gefoltert, doch ich habe ihnen nichts gesagt. Ich schwöre. Oder? Ich … weiß nicht. Es ist alles durcheinander, was davon ist wahr und wie soll ich damit …
Das ergibt doch keinen Sinn.
Ich weiß nicht warum, aber ich glaube, ich konnte mir mit meiner EMP Gun ins Gesicht schießen und den Chip damit grillen. Aber wie habe ich die nur in die Finger bekommen? Bin das wirklich ich? Kann ich meinen Erinnerungen trauen … ICH WERDE WAHNSINNIG, WAHNSINNIG, WAHNSINnig!
12.11.2150 01:13
Sie suchen mich, doch hier werden sie mich nicht finden. Aber ich kann ihre Schritte hören. So nahe, hinter mir … nein! …
12.11.2150 12:44
Ich werde Sterben. Ganz sicher, ich werde sterben. Das Bild wird klarer. Das letzte dreiviertel Jahr habe ich anscheinend hier verbracht und willenlos gearbeitet. Mein Körper ist geschunden und mein Geist, na ja davon ist nicht mehr viel übrig. Die Flamme meines Lebens erlischt.
13.11.2150 00:00
Ich glaube ... ich habe Geburtstag. Es müsste der 20te sein. So langsam haben sich meine Gedanken geordnet und ich kenne die Wahrheit.
Da ich diesen Tag wohl nicht überleben werde, schreibe ich hier alle meine Erkenntnisse über diese Welt nieder.
Wie wir alle wissen, ist die mächtigste Waffe von Pangäa, die eine Revolution eigentlich unmöglich macht, die Zeit. Damals gelang es, Pangäa, die Welt auf einen Schlag zu Fall zu bringen, indem die Strippenzieher alle Saaten auf einmal stürzten. Dies wurde mit der Existenz einer Zeitmaschine begründet. Gegen die Zeit kann keine Revolution ankommen, deswegen hätte eine durchgesickerte Information über Eden gleich das Aus bedeutet. Als sie mich gefangen genommen und gefoltert hatten, haben sie es mir erzählt, um meinen Willen zu brechen. Es ist eine Lüge. Alles ist nur fingiert und inszeniert, es gibt keine Zeitmaschine. Sie haben nur alles dafür getan, um es so aussehen zu lassen als ob. Ich hoffe wirklich, diese Erinnerung ist eine echte, ansonsten ist das auch das Ende von Eden.
Eine Revolution ist also möglich, ich vertraue auf euch meine Kameraden das ihr diese Welt in eine neue, bessere Zukunft führen könnt. Ich werde euch schon mal vorausgehen.
Nachtrag:
Liz Tagebuch wurde veröffentlicht und ins Headquarter von Eden gesendet. Ehrlich gesagt bereue ich, dass ich gerade sie, für diese Mission ausgewählt habe. Auch wenn ihr Opfer diese gesamte Welt in ein neues Zeitalter der Hoffnung geführt hat, schmerzt ihr Tod sehr. Sie ist eine wahre Revolutionärin und wird immer einen Platz in dieser Neuen Welt haben, ich vertraue auf sie.
- Taiyo, oberster Revolutionär und Anführer der Widerstandsorganisation Eden.
ENDE
Beitrag 24
Eine letzte Chance
Freitag, 13. November 2150:
Heute schreiben wir Freitag, den 13. November 2150, meinen Geburtstag. Meinen zwanzigsten Geburtstag. Um ehrlich zu sein, früher habe ich immer gedacht, das wäre ein ganz besonderer Moment, so als gäbe es an diesem Tag nur mich, so als wachte ich auf mit einer Erkenntnis, einem geheimnisvollen Wissen, das mich gänzlich von der Spreu der Jugend trennt und mich zu einem reifen, achtungswürdigen Mann macht. Heutzutage hänge ich solcher romantisierenden Tagträume nicht mehr hinterher, fühle mich bei diesen Gedanken eher an eine verwelkte, farblose Blume erinnert, die schon allzu lange nicht mehr das erfrischende Wasser aus fürsorglich gießender Hand gekostet hat. Als Ich heute aufwache, reibe ich mir eher widerwillig das Bild aus den Augen, welches mich nun schon seit einigen Monaten verfolgt. Dort stehe Ich an dem Hang eines Hügels, spüre die ersten Sonnenstrahlen des einladenden Tages auf meinem Gesicht, überblicke das Dörfchen mit seinem starken Kirchturm, dem geselligen Wochenendmarkt und höre aus dem geschäftigen Treiben von unten bereits die ersten glücklichen Rufe der unschuldig spielenden Kinder. Auch meine Eltern sind bereits dort und bauen unseren eigenen Stand auf, an dem wir kleine technische Spielzeuge und köstliche Speisen nach diskretem Familienrezept verkaufen. Da sehen sie mich bereits und winken mir ungeduldig zu. Mit einem letzten Blick auf mein Smartphone verabschiede ich mich von meiner älteren Schwester, die mir aus dem fernen Ausland, wo sie Geschichtswissenschaften studiert, zugeschaltet ist, dann mache ich mich an den Abstieg. Ich weiß nicht ob es nur dieser Traum, oder noch etwas anderes ist, jedenfalls habe ich heute den unglaublich starken Drang verspürt das alte Heft mit, ja, man mag es kaum glauben, richtigen Papierseiten, dass mir meine Mutter bei unserem Abschied verstohlen in die Hand drückte, hervorzuholen und meine Gedanken zu dokumentieren. Ich weiß zwar nicht, wohin mich diese Reise führt, aber es fühlt sich in diesem Moment richtig an. Mittlerweile in der Küche angekommen und den faden Fertigbrei aus hochentwickelten und vielversprechenden Inhaltsstoffen hinuntergezwungen, spricht der Blick aus dem Fenster allerdings eine gänzlich andere Sprache. Wieder einmal verwischen ätzende Regentropfen die traurige Sicht auf die gegenüberliegende, abgewetzte Häuserfront vor einem dunklen und turbulenten Himmel. Hier und dort huschen vereinzelte vermummte Gestalten in gebückter Haltung über die Straßen, niemand bleibt stehen und unterhält sich, jeder kämpft für sich, so scheint es. Lediglich die verirrten Augenpaare, die ab und zu zwischen den Jalousien der exakt baugleichen Wohnungen hervor luschen bieten den Hauch einer Kommunikation, die doch wieder von den gleichen Themen überschattet wird, Misstrauen, Missgunst, Angst. Verdammte Scheiße wie mich das ankotzt! Na ja, wie auch immer, ich habe heute frei und das bedeutet ich muss einkaufen gehen. Mehr werde ich heute wohl nicht mehr machen.
Samstag, 14. November 2150:
Ich komme einen weiteren Tag von der Arbeit zurück. Einen weiteren Tag macht es einmal Klick, als sich die Tür zu meiner kleinen Wohnung nach dem erfolgreichen Absolvieren des Ganzkörperpersonifikationschecks selbstständig öffnet und mir Einlass in das warme Innere gewährt, Das hochentwickelte System, bei dem ich wirklich nicht den blassesten Schimmer habe, wie es arbeitet, hat sich bereits meiner Person und seinen Routinen angepasst, sodass die Zimmertemperatur schon die perfekte Wärme angenommen hat, das Wasser für meinen Tee blubbernd kocht, und computergenerierte Töne von allen Seiten durch das ultrarealistische Soundsystem geradezu in mich eindringen. Nicht zu leise, aber auch nicht zu laut. Ohne Eile vorgetragen, aber auch wieder nicht zu melancholisch. Genau richtig, um sich dieser umgarnenden Welle aus Entspannung und wohltuenden Kräutern hinzugeben, jeden kritischen Gedanken beiseitezuschieben und einfach die Augen zu schließen. Dies alles hatte mich bei der Deportation in Sektion 7 lediglich einen halben Tag gekostet, dann hatte es all meine höchstindividuellen Vorlieben, Abneigungen, kleinen Laster, kurz, meine gesamte intime Personalität filetiert, analysiert und anschließend in einem weiteren Ordner unter einer weiteren Nummer abgespeichert. Anfangs war auch ich hin und weg, ausnahmslos begeistert von dieser persönlichen Anpassung, bis ich irgendwann realisiert habe, dass es nicht nur mir, sondern uns allen hier so ergeht, dass wir in diesem Glanz der Personalisierung alle schon kategorisiert sind, abgepackt und fertig für den Tag der Entsorgung. So hat uns das System mit seinem Sammelsurium an technologischen Hilfsbots mit Hilfe des Lockrufs nach Individualität bereits schon längst systematisiert, nimmt uns in unserer Satisfaktion des Glaubens an Selbstbestimmtheit den natürlichen Drang zur Umgestaltung, steuert mittels der hochsensitiven Konfiguration unseren im Systemspeicher eingegliederten Alltag, während wir immer noch der Illusion verfallen, Herr der Lage zu sein. In Wahrheit haben wir, die wir längst mehrere Jahre in dieser Gegend siedeln, längst die Kontrolle über die Technologie verloren. Ich glaube, über meine Arbeit werde ich eines anderen Tages berichten, für heute habe ich genug. * Nachtrag *: Zu all diesen grauen Gedanken gesellt sich nun auch noch der bittere Geschmack meines Tees, der augenscheinlich viel zu lange gezogen hat. Ich muss ihn während des Schreibens dieser Notizen ganz vergessen haben. Wenn man es mal so bedenkt, ist das wohl ein kleiner Sieg gegen die determinierende Perfektion der beschriebenen Systematisierung. Allein dieser Gedanke zaubert mir dann doch ein leichtes Lächeln auf die Lippen.
Samstag, 28. November 2150:
„Information an alle Bewohner der Sektion 7. Es liegt eine kurzfristige Intensivierung der Spannungen vor. Ausgang dringlichst untersagt. Weitere Updates werden folgen“, schallt es früh morgens aus dem einheitlich integrierten Soundsystem unserer Appartements, bei dem ich mir ziemlich sicher bin, dass wir nicht nur ihm, sondern es vielmehr auch uns genauestens lauscht. Das bedeutet wohl, ich habe heute frei. Nicht das erste Mal, dass mich diese Meldung in den letzten Wochen mit der Leere, dem einsamen Schweigen eines ganzen Tages innerhalb dieser unpersönlichen Wohnung alleine lässt. Ich glaube, ich kann diese Zeit gut nutzen, um über die aktuelle Situation aufzuklären und die langen Schatten über den für euch noch unbekannten Begriffen wie „Spannungen“, sowie den angeschnittenen, schwierigen gesellschaftlichen Verhältnissen auszuleuchten. Der Mensch für sich, so muss es wohl schon immer gewesen sein, folgt, ja kriecht gar schon erniedrigt beständig der glorifizierten Sucht des magischen „Mehr“ hinterher, ohne dabei die Umgebung, geschweige denn sich selbst zu schonen. Alles und jeder wird dabei dieser seelenverschlingenden Maschinerie unterworfen. So war es schon immer und so ist es auch heutzutage noch. Aus hinter der Hand getuschelten Überlieferungen habe ich erfahren, dass dieses abgöttische Monster einst in euphemistischer Manier als sogenannter Kapitalismus getauft wurde. Zu einer Zeit, so staune ich immer wieder, in der Mensch die in den Kinderschuhen steckende Technologie noch kontrollierte. Jetzt ist es nicht mehr so. Der Tumor des Zwangs zum Fortschritt hat sich so stark in den Köpfen der konkurrierenden Eliten und Wirtschaftsmogulen festgebissen, das jegliches andere Licht ausgeschaltet, die Technologie über den Stellenwert der restlichen Bevölkerungsmasse gehievt wurde. Ich selbst gehöre zur dritten Generation einer mittellosen Gesellschaftsschicht, die ihre naturrechtliche Freiheit verkaufen, und in die feudalherrschaftlich anmutende Obhut einer Firma namens „Xenovest“ ziehen mussten. Mittels hochtechnologischer Anwendungen entwickelte diese auf einem Testgelände eine ganze Kleinstadt mit Wohnräumen und Einkaufsmöglichkeiten, alles umrahmt von einem sensiblen Hightech-Schild, der seinen ersten Probeeinsatz gegen die katastrophalen klimatischen Zustände haben sollte, die durch tägliche Stürme, Brände und Dürren das Leben in vielen Regionen nicht mehr möglich machten und ihren Radius um die restlichen überbevölkerten Gegenden immer Enger zogen. Dann kam der Knall. Ich war zehn Jahre alt, gerade dabei die Dimensionen meines Lebens zu erforschen und Zusammenhänge herzustellen, da verdunkelte sich alles um mich herum. Es fühlte sich an, als würde alles unglaublich stark zusammengezogen werden, um dann unter einer massiven Gegenreaktion in allen Himmelsrichtungen schleudernd zu zerbersten. Der Schild hatte nicht standgehalten, er war implodiert. Danach war nichts mehr wie vorher. Auch erinnern kann ich mich nur noch an einzelne Fetzen und Erzählungen. Wie ich lange Zeit, Jahre, einfach nur dalag. Dann in einem Heim mit vielen anderen und doch isoliert den Umgang mit diesen neuen Anzügen lernte, die draußen gegen die durch den Knall verursachten tödlichen Spannungen und Wechselwirkungen für eine gewisse Zeit lang schützen sollten. Dann die Einweisung in die Arbeit. Dann, zu meinem sechzehnten Lebensjahr, der Umzug in die Sektion 7. Danach bis jetzt, vier Jahre lang der immerwährende gleiche äußerliche Ablauf, keine Veränderung, reine Statik. Lediglich meine innere Welt, die noch unkontrollierbare Welt, die hat sich über die Jahre verändert. Langsam aber sicher haben sich über die Zeit tiefe Zweifel gegenüber dieses Systems mit seinen unmenschlichen Facetten in mir aufgebaut, hat sich eine unbeschreibliche Wut angesichts der Vorgehensweise der Firma auf diesen Totalkollaps, die mittels Einschüchterung, Gewalt und Misstrauensstiftung diesen Imageschaden hinter geschlossenen Türen hält und den einstige Begriff der Menschenwürde endgültig verwirft, angestaut, die ich am Ende des Tages doch nur mittellos in die kontaminierte Atmosphäre schweigen kann. Mittlerweile ist es auch schon abends, den ganzen Tag habe ich über diesen Zeilen gebrütet. Ich sollte jetzt zu Bett gehen. Wenn morgen nichts Ungewöhnliches dazwischen kommt, müsste wieder ganz normal die Arbeit rufen.
Donnerstag, 17. Dezember 2150:
Mir ist aufgefallen, dass der letzte Tagebucheintrag schon etwas her ist. Nun, viel kann ich seit dem letzten Mal auch nicht berichten. Trotz des reizenden Gedankens habe ich es nicht gewagt, die mühselige Arbeit für ein zweit Tage sausen zu lassen, wusste ich doch, was mit den Leuten passierte, die unliebsam auffielen. Eines Tages waren sie weg und tauchten auch nicht wieder auf. Einmal, es war tief in der Nacht gewesen und ich konnte nicht schlafen, hörte ich ein erbärmliches Wimmern und erkannte auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen alten Mann, der es wohl in diesem Zustand nicht mehr zur Arbeit geschafft hatte und in jenem Moment brutal von zwei dunklen Gestalten mitgeschleppt wurde. Am nächsten Morgen sah ich eine andere Familie dort einziehen. Manchmal höre ich dieses Wimmern noch abends vor dem Einschlafen. Also, die letzten Wochen waren wie sonst auch von anstrengender Arbeit gekennzeichnet gewesen, sodass ich oftmals nicht mehr die Motivation aufbrachte, ein paar Zeilen zu schreiben. Und selbst wenn, was sollte ich auch bitte Neues schreiben. Heute ist mir jedoch aufgefallen, dass ich ja noch gar nicht von der Arbeit an sich berichtet habe. Jeden Morgen treffen sich alle Arbeitsfähigen aus Sektion 7 auf einem großen Platz, fünf Minuten Gehweg von meiner Wohnung entfernt, wo wir von gut bewachten, selbstfahrenden Schienenfahrzeugen abgeholt und zu den gravierenden Spannungspunkten transportiert werden, um dort unter täglicher Todesgefahr an der Rekonstruktion mitzuwirken. Eine Arbeit, die tatsächlich noch von uns übernommen werden muss, da jegliche Robotik durch die Wechselwirkungen lahmgelegt wird. Ein wirklicher Trost ist das aber auch wieder nicht. Wenn die Lebenserhaltungsfunktionen des Anzugs dann fast ihr Limit erreicht haben, werden wir zu Metallkomplexen geleitet, wo jeder isoliert in getrennten Kabinen eine kurze Pause halten darf. Dann geht es weiter mit der gleichen Arbeit und am Ende des Tages wieder in derselben Stille nach Hause. Wenn ich in die Gesichter der anderen Arbeiter blicke erkenne ich den gleichen Schmerz wie bei mir, doch keiner traut sich etwas zu sagen. Die Wächter sind überall.
Montag, 21. Dezember 2150:
Heute habe ich eine wahrlich traurig anzusehende Familie beim Einkaufen gesehen und wollte ihnen grade näher kommen, ein ermutigendes Lächeln auf den Lippen, da ist mir kurz vorher wieder eingefallen, nach welchen Regeln hier gespielt wird. Also bin ich abgedreht und in den nächstbesten Gang. Bemüht interessiert vergleiche ich absorbierende ultra-sensitive Windeln aus der Baby-Abteilung miteinander, bis die anderen weit genug weg sind. Danach setze ich meinen Einkauf fort. Der Prozess läuft hier vollkommen automatisiert ab. Jeder Schutzanzug, der zwingend draußen getragen werden muss, hat eine individuell zugewiesene Kennungsnummer, welche beim Betreten des Einkaufsladens automatisch registriert wird. Natürliche Lebensmittel gibt es für die Unterklasse seit der Expansion des klimatischen Kollaps schon länger nicht mehr, und so ist alles, was wir zu essen bekommen, abgepackt und durch neueste Techniken hochverarbeitet. Sensoren an dem Anzug scannen die Kennungsnummer der jeweiligen Artikel und mit einer manuellen Bestätigung wird dieser erworben, während die Kredits summiert am Ende des Tages abgezogen werden (wer von euch jetzt noch glaubt, dass diese Kontos privat sind, der sollte schleunigst nochmal die letzten Einträge lesen). Vor dem Ausgang unterzieht man sich anschließend noch eines Durchleuchtungscans, dann steht der Weg nach draußen wieder offen. Klauen ist dabei keine Option, das habe ich selber einmal mitbekommen. Verstecken kann man sich in dieser Umgebung nirgends und nach maximal zwei Stunden stehen sie vor deiner Tür. Die Technologie ist zu schlau geworden.
Dienstag, 22. Dezember 2150:
Mir geht das Bild dieser einen Familie irgendwie immer noch nicht aus dem Kopf. Vermutlich erinnert sie mich an meine. Ich besitze nur das wenige an Bildern und Erinnerungsblitze, die ich seit dem Knall wie die Scherben eines zersplitterten Glases aufkratzen konnte. Oft sehe ich Mama, wie sie mit mir spielt und spannende Geschichten einer längst vergangenen Welt erzählt, um mich von unserer armseligen Existenz abzulenken. Manchmal sehe ich auch Papa, doch vielmehr rieche ich ihn noch, wie seine manchmal nach Öl, manchmal nach Kohle und Stein, manchmal nach Harz riechenden, starken Arme mich abends nach einem langen Arbeitstag packten und mich wie ein Flugzeug durch die Luft fliegen ließen. Sehr selten sah ich die beiden unbeobachtet auch untereinander vorsichtig tuscheln, wichtige Blicke und vollgeschriebene Zettelchen austauschen, die mein Vater auf wundersame Weise verschwinden ließ. Gerade zum Ende hin, kurz vor dem Knall, wurden diese Interaktionen immer angespannter. Ich wollte so gerne irgendwas tun, irgendwie helfen, doch ich war wie gelähmt, hatte Angst, dadurch alles kaputtzumachen. Schwieg auch dann, als Onkel Tommy mit seiner Wächterabteilung wenige Minuten vor dem Knall mit einem Finger auf den Lippen vor der Tür stand. Jedes Mal aufs Neue reißen diese Rückblicke eine riesige Kluft in mein Herz, also schließe ich lieber schnell und hastig das Buch der Erinnerungen. Wie immer schafft es aber eine Frage, ein Schrei der Verzweiflung, aus den Zeilen auszubüchsen und sich in meinem Kopf festzusetzen. „Warum haben sie mich zurückgelassen?“
Samstag, 26. Dezember 2150:
Heute auf der Arbeit ist mir etwas Seltsames, ja ganz Bizarres passiert. Ein Mann, der mir bis jetzt nie besonders aufgefallen war, suchte sehr unterschwellig zwar, aber dennoch ganz zielstrebig den Kontakt zu mir. Immer wieder wusste er die wenigen unaufmerksamen Momente der Wächter auszunutzen, um mir höchst rätselhafte Blicke zuzuwerfen. Kurz vor dem Ende unserer regulären Schicht brach um ihn herum ein kleiner Tumult aus, es muss sich wohl um angedeutete Provokationen untereinander gehandelt haben, welche den angestrengten Gemütern schnell zu Kopf steigen konnten, sodass Mister X mit vollem, bereits leicht ergrautem Schnauzer auf einmal aus dem Nichts neben mir kurz auftauchte und mir ein kompaktes, kleines Etwas in die Tasche steckte. Jetzt sitze ich hier auf dem sanften Hügel, den friedlichen Markt unter mir und am Horizont den glühenden Sonnenuntergang (mit Hilfe hochtechnologisierter Panels, die in alle Wände der Wohnung eingebaut, und dem zentralisierten Sprach- und Gefühlssystem unterworfen sind, lassen sich sensible Raumanpassungen vornehmen, welche die Wunschvorstellungen des gekoppelten Partners widerspiegeln) und spiele nervös mit einem altertümlichen Audiorecorder zuzüglich passenden Datensticks, ein Relikt Zeuge des technologischen Rückstands doch gleichzeitig auch der freiheitlicheren Menschheit, herum. Grabe ich tief in den verminten Höhlen meiner Erinnerung, fast bis das Werkzeug bricht, findet sich ein kleiner Moment, in dessen fadem Schein meine Eltern zusammen am Tisch sitzend in genau so ein Ding sprechen. Ein Ton hat diese Erinnerung nicht, wie ein Stummfilm läuft sie vor meinem inneren Auge ab. Genau daran muss ich jetzt wieder mit mulmigen Gefühl denken. Dann drücke ich auf Start.
Sonntag, 27. Dezember 2150:
Neuer Morgen neues ich, oder besser, gar kein ich. Erst jetzt, am Nachmittag, ist es mir möglich mühsam das Erlebte, das Erfahrene niederzuschreiben. Erst jetzt, am Nachmittag, habe ich es geschafft, mich von dem kleinen Hügel zu erheben, den Blick vom Starren ins Nichts wieder auf das Hier und Jetzt zu richten. Zur Arbeit bin ich natürlich nicht erschienen. Unangemeldet. Die ganze Nacht habe ich immer und immer wieder auf Replay gedrückt, habe dabei immer und immer wieder die erklärenden, und liebevollen Worte, meiner Eltern gehört, habe sie verstanden, habe sie innerlich verdammt, habe sie vermisst. Liter an ungehemmten Tränen sind meine Wangen heruntergeflossen, während wildes Schluchzen und zucken mich wie eine Marionette herumgeworfen haben. Wieso mussten unbedingt meine Eltern die Helden spielen? Warum mussten sie unbedingt etwas ändern wollen? Irgendwann wurde dann alles still. Nur der Widerhall zweier bestimmter Worte meiner Mutter geisterten auch dann noch im Raum herum, scheinbar hinter mir her, als ich schon wieder aufgestanden war: „Letzte Chance“.
Donnerstag, 31. Dezember 2150:
Auch die letzten drei Tage bin ich nicht bei der Arbeit erschienen, habe mich geweigert, diesen Monstern auch noch einen Dienst zu erweisen. Auch habe ich keinen weiteren Eintrag in dieses Tagebuch notiert. Stattdessen habe ich mich gänzlich den Worten meiner Eltern gewidmet. Habe sie analysiert und glaube, nun alles zu verstehen. Die Intrigen, den Hass, die Vorsicht. Jedes einzelne Wort habe ich auf der Goldwaage gegeneinander abgewogen, glaube nun, alles zu sehen. Wohin zu gehen, wo weiterzumachen. Heute Morgen war es dann so weit. Wie erwartet standen zwei einschüchternde Wächter an der Tür und luden sich selbst zu einer Tasse Tee ein. Nach einer zähen Mixtur aus Fragen, Mahnungen, Drohungen und willkürlichem Vandalismus an meinem bescheidenen Heim zogen sie dann endlich ab. Ungewöhnlich unbeschwert fühlte ich mich während alldem, geleitete die beiden bösen Buben noch mit einem feisten Grinsen zur Türe. Ich glaube das Wissen darum, dass es nun kein Zurück mehr gibt, hat mich selig gestimmt. Als die Tür ins Schloss fiel, war die Entscheidung getroffen. Ich werde jetzt alle Rationen packen, die Wohnung gänzlich verwüsten, den Recorder samt Stick zerstören und dann diese digitalen Aufzeichnungen durch Hintertürchen und virusartige Fallen nahezu unzugänglich machen (Hut ab, wem das irgendwann mal dann doch gelingen sollte!). Heute Abend werde ich dann aufbrechen, ich muss Mister X ausfindig machen. So unberechenbar er auch scheint, so birgt er doch den Ursprung der Hoffnung auf eine letzte Chance …
ENDE
Beitrag 25
Der Traum vom Paradies
Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens!
Nuna setzte die Tagebuchkappe ab. Dieser Eintrag war die Vollendung ihres Gedankentagebuchs. Zehn Jahre, Abend für Abend, hatte sie die Kappe aufgesetzt. Pflichtschuldig und mit dem festen Vorsatz, ihr drittes Leben als Gewinnerin im Paradies zu leben.
Sie drehte die Kappe in den Händen. Die Elektroden im Inneren schimmerten. Ihr Gesicht spiegelte sich verzerrt auf dem verschrammten Metall der Außenhülle.
An ihrem zehnten Geburtstag hatte sie die Kappe zum ersten Mal aufgesetzt. Ihre Elder hatte sie gelehrt, die Gedanken in positive Bahnen zu lenken. "Bevor du die Kappe aufsetzt, bring dich in frohe Stimmung. Stell dir die Welt in den schönsten Farben vor. Halte das Bild fest, ganz fest, und erst dann setze die Kappe auf", hatte Jasma immer wieder gesagt. "Du willst dein drittes Leben im Paradies verbringen. Denk daran!"
Nuna hatte ihren Rat befolgt. Zehn Jahre, jeden Abend, hatte sie mit einem Lächeln und einem farbenfrohen Bild im Kopf die Kappe aufgesetzt. Sie fragte sich jedes Mal, ob es geklappt hatte und ihre Erinnerungen für gut befunden wurden.
Bei Jasma hatte es funktioniert. Nuna hatte ihre Elder im Paradies besucht, direkt nachdem Jasma geehrt worden war. Jasma schwebte vor ihr, der Körper in Licht gehüllt, und als Nuna sie berühren wollte, griffen ihre Hände ins Leere. Ihre Elder sprach zu ihr, eine Stimme direkt in ihrem Kopf, die wie Jasma klang, aber nicht Jasma war.
Sie hatte ihre Elder nie wieder besucht. Und niemanden sonst im Paradies. Sie hoffte, im Paradies zu leben würde anders sein, als es zu besuchen.
Das letzte Jahr war es Nuna schwergefallen, dem Tagebuch gute Gedanken zu geben. Sie vermisste Rami so sehr!
"Wir werden uns wiedersehen", hatte er ihr zugeflüstert, seine Stimme leise und zart, und er hatte sich an sie gedrückt, nackt, warm und verschwitzt von ihrer Liebe, hatte sie gehalten, als könnte er dies nie wieder tun. Das war an seinem zwanzigsten Geburtstag gewesen, nachdem er zum letzten Mal die Tagebuchkappe getragen hatte. Vor einem Jahr – einer Ewigkeit.
Natürlich würden sie sich wieder so halten, wie in jener Nacht. Im Paradies wären sie vereint, nicht nur körperlich, sondern auch geistig.
So wurde es gelehrt.
Nachdem Rami geehrt worden war, hatte sie ihr Los gezogen. Sie hatte sich so sehr gewünscht, kein Kind zu ziehen. Sie wollte mit Rami zusammen sein! Sie hatte Glück und zog ein Los für das Paradies.
Nuna hatte Rami nie in seinem Paradies besucht. Sie wollte die wahre Erinnerung an ihn bewahren. Es wäre schrecklich gewesen, ihn zu sehen und im Kopf zu hören, aber nicht spüren zu können.
Nunas Freundin Suri erzählte ihr, dass es Rami gut ging. Sie besuchte gerne Paradiese. "Er wartet auf dich. Es ist so schön, wo er jetzt ist!", berichtete sie Nuna. "Ich hörte seine Stimme in mir. Er klang so glücklich!"
Nuna wusste was sie meinte. Ihr lief es kalt den Rücken herunter.
Damals, in ihrer letzten Nacht, hatte Rami sich unruhig hin und her gewälzt. Auch sie lag nun wach und fand keinen Schlaf.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie die Ehrung zum ersten Mal bewusst erlebt hatte. Jedes Mitglied der Gemeinde war anwesend, um sich zu verabschieden, von denen, die ins Paradies zogen. Und um die Neuankömmlinge zu begrüßen, klein und rosig und schreiend, die an die neuen Elder übergeben wurden.
"Zehn Jahre Prüfung zeigen, wer ihr seid", würden die Worte der Alten sein, nachdem die zu Ehrenden gegangen waren. "Lebt Frieden, und ihr werdet Glückseligkeit und Erfüllung finden im dritten Leben." Dann würden die Glaszylinder mit den Gewinnern präsentiert werden. "Erwacht als Gewinner und lebt eure Träume!" Daraufhin würden die Verbliebenen die Paradiese besuchen, jedes einzelne gebildet aus zehn Jahren Gedankentagebuch der Gewinner.
"Lebt Unrast, und ihr werdet verbannt und nie wieder gesehen." Diese letzten Worte der Alten würden wie immer im Gemurmel des Publikums untergehen. Doch diese Worte waren es, die Nuna verfolgten und nicht einschlafen ließen.
Nuna erwachte mit Vogelgezwitscher. Goldenes Licht, das langsam immer heller wurde, drang durch ihre Augenlider. Sie rekelte sich. Dann war sie mit einem Schlag hellwach. Heute war der Tag ihrer Ehrung!
"Ich bin wach", sagte sie. Die Deckenbeleuchtung stellte sich automatisch auf höchste Stufe und ihr Zimmer wurde taghell. Das Vogelgezwitscher wurde leiser, bis es ganz verstummte.
Nuna ging zur Tür und schaute hinaus. Und richtig – da standen zwei Begleiter. Eine der pyramidenartigen Stahlgeschöpfe drehte sich mit leisem Surren auf seinen kleinen Rädern um und blickte sie mit einem grün leuchtenden Auge an. Auf dem Bildschirm darunter lächelte ihr eine nach oben gebogene Linie entgegen. "Guten Morgen, Nuna. Heute ist der Tag deiner Ehrung", sagte der Begleiter mit einer Stimme, der nicht anzuhören war, ob sie weiblich oder männlich war.
"Meine Freundin Suri kommt gleich. Lasst sie bitte durch."
Sie startete ihre Morgenroutine mit dem Luxus einer Dusche. Die zwei Minuten waren viel zu schnell vorbei. Nackt und erfrischt bestellte sie am Aufbereiter ihr Frühstück. Kurz zögerte sie. Dann wählte sie Früchte zum Morgenbrei. Heute war schließlich ihr Tag, ins Paradies einzuziehen. Warum dann nicht direkt so starten?
Während aus dem Aufbereiter der klebrige Brei floss, zog sie Brustbinde und Schurz an und warf eine frische Tunika darüber. Der Aufbereiter ratterte und drei kleine, blaue Beeren fielen von oben herab.
Nuna hielt sich die Nase zu und löffelte den Morgenbrei. Immer, wenn sie sich über das eintönige Frühstück beschwerte, hatte ihre Elder nur die Augenbrauen hochgezogen. "Akzeptiere, was du nicht ändern kannst. Es ist wie es ist", war das Einzige, was sie dazu sagte.
Die Beeren aß sie zuletzt. Mit geschlossenen Augen zerbiss sie jede einzelne und genoss ihren süßen Saft. Sie hörte ein leises Surren, als die Begleiter vor der Tür Platz machten.
Suri trat ein. "Was für ein schöner Tag für die Ehrung", sagte sie.
"Jeder Tag ist schön, doch dieser ist besonders", erwiderte Nuna die traditionelle Begrüßung.
"Lass mich dich schminken", sagte Suri.
Die Freundinnen setzten sich auf den Sims an der Wand. "Mach Licht", befahl Nuna und die Wand gehorchte.
Suri nahm einen weichen Pinsel, bestäubte ihn mit goldenem Puder und schminkte Nunas Augen. Mit einem zweiten, schmaleren Pinsel, den sie in ein kleines Töpfchen mit grüner Farbe tauchte, bemalte sie anschließend ihre Lippen.
"Du siehst großartig aus!", sagte sie.
"Spiegel", befahl Nuna und die Wand vor ihrem Gesicht verwandelte sich in eine glatte, metallene Oberfläche. Ihr blickte eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren und ernsten blauen Augen entgegen. Der goldene Schimmer um ihre Augen ließ sie stolz und unnahbar wirken. Das satte Grün ihrer Lippen stand in Kontrast zu ihrer blassen Haut und leuchtete geheimnisvoll. Sie erkannte sich kaum wieder. Nuna seufzte. "Ach Suri, was mich wohl erwartet?"
"Du wirst ins Paradies einziehen. Es wird toll. Glaube mir, ich habe schon viele Paradiese besucht." Suri ergriff Nunas Hände. "Stell dir vor – eine Welt, die ganz nach deinen Gedanken und Wünschen gestaltet ist. Und du wirst Rami wiedersehen!"
Beim Gedanken an Rami erhellte sich Nunas Gesicht. "Du hast Recht. Lass uns gehen."
Als sie durch die Tür schritten, drehten sich beide Begleiter mit leisem Surren zu ihnen. Sie gingen Nuna bis knapp zur Brust. "Ein letzter Gang zur Zeremonie", sagten sie gleichzeitig mit androgyner Stimme, grünem Auge und Lächeln auf dem Bildschirm.
"Ein erster Tag im dritten Leben", erwiderte Nuna der Tradition gehorchend.
Ein Begleiter setzte sich an die Spitze, dann kamen Nuna und Suri, gefolgt vom zweiten Begleiter. Menschen traten aus ihren Kabinen, grüßten sie lächelnd mit einer Verbeugung und schlossen sich ihnen an. Der Gang führte auf den breiten Hauptgang und von dort eine Rampe hinauf zum Versammlungsort.
Die Atmosphäre war gedämpft und ruhig. Es war ein Tag des Abschieds, und jeder wusste, dass ihm dies in der Zukunft ebenfalls bevorstand.
Nuna stand mit den anderen Prozessionen in der ersten Reihe. Mit einem Schritt trat Suri zurück in die zweite Reihe.
Die Wände rund um den Versammlungsort erwachten zum Leben. Sie zeigten den leeren Versammlungsplatz, dem sich zwei Figuren näherten, eine Frau und ein Mann. Sie waren alt. Sehr alt. Viel älter als die ältesten Elder, die mit ihren 38 Jahren wie Nuna geehrt wurden, nachdem sie die ihnen anvertrauten Babys zu neuen Mitgliedern der Gemeinde großgezogen hatten.
Die Frau hatte schulterlanges, graues Haar. Ihr Gesicht war runzelig, genauso wie das Gesicht des Mannes, der keine Haare mehr hatte, dafür aber einen rauschenden weißen Vollbart. Beide waren in eine graue Tunika gekleidet, ähnlich wie die, die Nuna trug.
Die Bilder an der Wand zeigten, wie die Alten in der Mitte des Versammlungsortes stehen blieben, die Arme ausbreiteten und die traditionellen Worte sprachen. "Wir sind das Schiff."
"Das Schiff sind wir", erwiderte Nuna. Ihre Stimme vermischte sich mit dem Gemurmel der anderen. Ein Kind begann zu weinen.
"Das Schiff ist Gemeinschaft, Geborgenheit und Zuflucht. Das Schiff sind wir."
"Wir sind das Schiff", erwiderte Nuna zusammen mit den anderen. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Alle Ehrungen hatten immer Anderen gegolten. Nun war sie es, die geehrt wurde. Wie jedes Jahr fragte sie sich, warum die beiden Figuren auf den Wänden so alt waren. Niemand wusste es. Das Rätsel um die Andersartigkeit gab immer wieder Anlass zu Fragen und Spekulationen, die aber schnell verstummten. "Es ist wie es ist", hatte ihre Elder gesagt. Die beiden Alten erschienen nur einmal im Jahr, hatten immer die gleiche Botschaft und verschwanden dann wieder. Es war nichts, worüber Nuna nachdenken wollte - schließlich hatte sie ein Tagebuch mit frohen Gedanken zu füllen.
"Es ist die Zeit gekommen, um Abschied zu nehmen und das dritte Leben zu beginnen." Der alte Mann blickte überlebensgroß von der Wand auf die Anwesenden herab und lächelte gütig. Nuna hatte das Gefühl, er würde sie direkt anschauen. "Die jungen Aspiranten für das Paradies haben uns mit ihren Gedanken und Taten gezeigt, wie man ein vorbildliches Leben führt. Und die Elder, die wir heute ehren wollen, haben einen unverzichtbaren Dienst für unsere Gemeinde geleistet."
Nuna hatte einmal Jasma gefragt, was Aspiranten hieß. "Du hast die Möglichkeit, ins Paradies einzuziehen", hatte ihre Elder geantwortet. "Dein Tagebuch wird zeigen, ob du es verdienst."
Die alte Frau an der Wand hob den Kopf und in ihrer Stimme schwang Stolz und Hoffnung. "Es ist auch die Zeit gekommen, Leben zu geben in die verantwortungsvollen Hände der neuen Elder. Und so den Fortbestand unserer Gemeinde zu sichern."
Nuna wusste, dass mit ihr vier Elder und zwei weitere Zwanzigjährige für das Paradies geehrt wurden. Sie beugte sich vor, um an ihrem Begleiter vorbei nach links zu schauen. Neben diesem stand der Begleiter des nächsten Aspiranten. Es war Aaro, ein Elder. Der achtzehn Jahre ältere Mann war ebenfalls mit goldenen Augen und grünen Lippen geschminkt. Nuna blickte nach rechts. Am Ende ihrer Prozession, getrennt durch eine deutliche Lücke, erkannte sie Jori. Er hatte bei der Ehrung letztes Jahr das Elder-Los gezogen und wartete auf das Baby, das ihm am Ende der Zeremonie übergeben werden würde. Auch er war geschminkt, aber genau umgekehrt wie Nuna, mit grünen Augen und goldenen Lippen.
"Die Zeit für den Abschied ist gekommen. Geht nun in Frieden", sagten die Alten und breiteten ihre Arme aus. "Wir sind das Schiff."
"Das Schiff sind wir", murmelte Nuna zusammen mit den anderen. Sie dreht sich zu Suri herum. Suri hatte Tränen in den Augen. "Nicht doch", sagte Nuna und nahm ihre Freundin in die Arme. "Wir werden uns wiedersehen. Viel Glück bei deinem Los – ich hoffe, du ziehst genau das, was du dir wünschst." Nuna wusste, dass Suri sich ein Kind wünschte. Manchmal gab es sogar zwei Kinder. Niemand wusste, warum. Oder woher die rosigen Babys kamen.
Nuna hätte sich gerne noch von ihren Freunden verabschiedet. Aber sie wusste, dass die Beobachter sie nicht vorbeilassen würden. Ganz selten passierte es, dass ein Aspirant sich nicht trennen konnte oder sich Freundinnen und Freunde zu ihm drängten. Sie wurden schnell von den Beobachtern zurückgedrängt, deren Augen nicht mehr grün, sondern orange waren und deren Lächeln einem ausdruckslosen Strich gewichen war.
Die Wand vor ihnen öffnete sich. Ein goldener Schein schimmerte durch die Dunkelheit des Spaltes, der gerade so breit war, dass eine Person hindurch passte.
"Tretet ein und zeigt, wer ihr seid", sagten die Alten. "Der Kreislauf des Lebens beginnt erneut."
Die Reihe der Aspiranten bewegte sich langsam auf den Spalt zu. Nuna setzte automatisch einen Schritt vor den anderen, vor und hinter ihr die Begleiter, die mit leisem Surren über den glatten Boden rollten.
Der dunkle Spalt kam näher. Nuna sah, wie Aaro vor ihr darin verschwand. Es sah aus, als würde ihn die Wand verschlucken.
Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte umdrehen, zurück in ihr bekanntes Leben. Doch der Begleiter hinter ihr schob sie unerbittlich weiter.
Sie passierte den dunklen Spalt in der Wand. Ein goldener Lichtschein empfing sie. Je weiter sie ging, umso heller wurde es.
Schließlich stand sie in einem großen runden Raum. An den Wänden waren Lichter angebracht - es mussten Hunderte sein, die den Raum umrundeten und ein warmes, gedämpftes Licht verbreiteten. Nuna blickte nach oben, aber das Licht war zu schwach und sie konnte die Decke nicht erkennen. Doch - dort wo sie zunächst tiefstes Schwarz gesehen hatte, konnte sie einzelne Lichtpunkte erkennen.
Im Raum standen sieben Liegen. Auf jeder Liege lag eine Kappe, ähnlich der Tagebuchkappe, die sie die letzten zehn Jahre getragen hatte. Ihre Begleiter führten sie zu einer Liege, die noch frei war.
"Setz dir die Kappe auf und leg dich hin. Mach es dir bequem", sagte einer der Begleiter.
Nuna schaute den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie konnte ihn nicht erkennen.
"Du brauchst keine Sorge zu haben", sagte der andere Begleiter. "Wir passen auf dich auf."
Sie beobachtete, wie die anderen Aspiranten die Kappen aufsetzten und sich auf die Liegen legten. Noch einmal suchte sie den Weg hinaus, doch sie konnte nichts sehen außer glatte Wände.
Nuna hatte das Gefühl, lebendig begraben zu sein. Sie kämpfte gegen die aufkommende Panik. Waren die Augen ihrer Beobachter noch grün oder zeigte sich ein erstes Orange?
Sie hörte die Stimme von Jasma in ihrer Erinnerung: "Stell dir die Welt in den schönsten Farben vor. Halte das Bild fest, ganz fest, und erst dann setze die Kappe auf."
Sie malte sich aus, wie sie mit Rami im Paradies zusammen sein würde. Welche Freude es sein würde, ihn wieder in den Armen zu halten.
Sie atmete tief durch. Dann setzte sie die Kappe auf und legte sich auf die Liege, die ihren Körper weich umfing.
Die Lichter an den Wänden wurden dunkel. Als sich Nunas Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, waren aus den einzelnen Punkten an der Decke unendlich viele Punkte geworden, die sich in der Mitte konzentrierten und wie ein unregelmäßiges, breites Band hell und diffus im Dunkeln schimmerten.
Das Bild verblasste und wurde überlagert von einem hellen, bunten Ort. Nuna erkannte ihn sofort. Jeden Abend hatte sie sich das Paradies vor ihrem inneren Auge ausgemalt, bevor sie die Tagebuchkappe aufsetzte.
Sie stand auf einer Anhöhe und blickte hinunter in ein endloses Tal. Der glatte Boden war nicht grau, sondern zufällig in Grün und Gold gemustert und stieg in unregelmäßigen Abständen zu Erhebungen an, wie sie selbst auf einer stand. Die Wände spiegelten den Boden, so dass Nuna das Gefühl hatte, in einem unendlichen Raum zu stehen.
Sie drehte sich einmal um sich selbst. Es war überwältigend!
Eine Frau kam auf sie zu. Es war die alte Frau.
Nein, es war Jasma. "Ein schönes Paradies hast du dir erschaffen", rief sie Nuna zu.
"Jasma!" Nuna eilte auf ihre Elder zu. Doch die hob abwehrend die Hand.
"Du wirst mich nicht berühren können", sagte sie.
Jetzt erkannte Nuna den Schimmer um Jasma. "Wie damals, als ich dich in deinem Paradies besucht habe.“
"Ich bin zu Gast in deinem Paradies. Du kannst mich einladen, damit wir uns berühren können. Doch vorher musst du eine Entscheidung treffen."
"Eine Entscheidung?"
Jasma seufzte. "Es tut mir leid, Nuna. Dein Tagebuch hatte leider einige dunkle Stellen."
Nuna schlug die Hand vor den Mund. "Das kann nicht sein. Ich habe deinen Rat befolgt und jedes Mal ..."
"... ein frohes Bild erzeugt, bevor du die Kappe aufgesetzt hast. Ich weiß", vollendete Jasma den Satz. "Aber das ist nicht alles, was aufgezeichnet wird. Gefühle kann man nicht betrügen."
Nuna wusste sofort, was Jasma meinte. Die eintönige Nahrung, die Langeweile bei der Gestaltung der vielen freien Zeit, die unbeantworteten Fragen, die Freunde, die geehrt wurden und sie verließen, besonders ihre Sehnsucht nach Rami – diese Unzufriedenheit musste sich in ihr Tagebuch geschlichen haben.
"Werde ich verbannt?", fragte sie mit zitternder Stimme.
"Das kommt auf deine Entscheidung an." Jasma bedeutete ihr, sich zu setzen. "Ich muss dir etwas über unsere Welt erzählen, das neu für dich ist." Sie setzte sich neben Nuna. "Was hast du gesehen, bevor du in deinem Paradies erwacht bist?"
"Die Decke des Raums war dunkel und voller heller Punkte."
Jasma nickte. "Und was ist das Schiff?"
"Das Schiff ist Gemeinschaft, Geborgenheit und Zuflucht", wiederholte Nuna die Worte der Alten.
"Ja und nein. Das Schiff ist unser Zuhause und insofern stimmt es, was die Alten sagen. Es ist aber auch ein großer Körper, in dem wir leben und mit dem wir durch das Weltall fliegen."
"Das Weltall?"
"Was du im runden Raum gesehen hast, ist das Weltall. Hast du die Weite gespürt? Es endet nie – es ist unendlicher, als dein Paradies", sagte Jasma.
"Aber stößt es nicht irgendwann an eine Wand?"
"Nein Nuna, das Schiff wird immer weiterfliegen. Das Weltall ist unendlich."
"Und warum fliegen wir mit dem Schiff durch das Weltall?"
Jasma hob den Zeigefinger. "Eine gute Frage. Ich bin stolz, dass du so schnell verstehst."
Nuna verstand gar nichts. Ihr Zuhause mit den glatten grauen Böden, Wänden und Decken sollte ein Gefährt durch die Unendlichkeit sein?
"Vor vielen hundert Jahren mussten wir unsere Heimat verlassen. Wir hatten sie zugrunde gerichtet. Mit dem Schiff sind wir auf dem Weg zu einer neuen Heimat", erklärte Jasma.
"Aber das Schiff ist doch unsere Heimat?"
"Solange, bis wir dort angekommen sind, wo wir hinfliegen. Und bis dahin müssen wir alle Menschen ernähren, damit sie nicht verhungern."
Nuna dachte an den Frühstücksbrei und verzog das Gesicht.
Jasma schmunzelte. "Nein. Nicht der Brei. Die Früchte, das Gemüse. Das, was es viel zu selten gibt. Es gab Maschinen – ähnlich wie die Beobachter – die dafür zuständig waren. Aber die sind kaputt gegangen." Jasma blickte Nuna ernst an. "Willst du dem Schiff helfen und bei der Nahrungsproduktion helfen? Dann wirst du nach achtzehn Jahre in dein Paradies kommen."
"Achtzehn Jahre? Aber – Rami ...?"
"Es gibt keine andere Möglichkeit. Sonst wirst du verbannt und nie wieder gesehen."
Nuna schluckte. "Ist Rami in seinem Paradies?"
"Das kann ich dir nicht sagen", antwortete Jasma. "Du musst die Entscheidung für dich treffen. Alleine."
Nuna stiegen Tränen in die Augen. Sie wollte nicht verbannt werden. Dann würde sie Rami niemals wiedersehen. Aber was würde Rami denken, wenn sie nicht erschien?
"Ich bin sicher, dass Rami auf dich warten wird", sagte Jasma, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.
Nuna lief eine Träne über die Wange. Sie nickte. "Ich tue es."
"Eine weise Entscheidung", sagte Jasma.
Das Paradies wurde dunkel. Wieder glaubte Nuna für einen Moment, in Jasma die alte Frau zu erkennen. Hatte sie mit dem Schiff gesprochen?
Es ist wie es ist, dachte sie. Doch es fühlte sich falsch an.
Dunkelheit umhüllte sie. Und das Schiff war zufrieden.
ENDE
Beiträge 59 – 63
Beitrag 59
Plötzlich 2150
Ich wachte auf. Der Raum war dunkel und roch modrig. Ich fühlte Holz unter meinen Händen, als ich mich aufrichtete. »Hallo?«, rief ich aus. »Ist hier jemand?« Ich rieb meine Lider. Doch egal wie sehr ich es versuchte, ich konnte nichts erkennen. So tastete ich mich über den Boden, bis ich zu einer Wand kam. Das Papier war feucht und rau. An manchen Stellen waren blanke Steine zu fühlen. Langsam tastete ich mich weiter, wischte hoch und runter und hoffte, einen Lichtschalter oder eine Tür zu finden. Immer weiter ging ich, schier unendlich fühlte sich es an. Keine zweite Wand, kein Schalter und keine Tür. Ich versuchte mich, daran zu erinnern, was ich getan hatte, bevor ich schlafen ging. Fast sicher war ich mir, in mein Bett gegangen zu sein. Was aber nicht sein konnte, wie sollte ich sonst hier her kommen sein, wenn nicht durch eigenen Antrieb?
Plötzlich knarrte es beim Schritt und dann fiel ich. Das Holz kratzte meinen Rücken auf und unsanft landete ich auf einem Steinboden. Der Dreck brennt noch mehr in der Wunde und lässt mich aufschreiben. Schwer kann mich erheben. Hier war ein dünner Lichtschein, der aus einem Schlitz an der Wand kam. Anscheinend schien ich mir nicht nur den Rücken verletzt zu haben, denn mein Fuß schmerzte auch, als ich auftrat, um an den Schlitz zu kommen. Humpelnd und mit Tränen in den Augen komme ich an. Es waren Holzbretter, die vor einem Fenster genagelt waren. Ich versuchte, tief ein und aus zu atmen, um den Schmerz zu mindern und um etwas Kraft zu gewinnen. Mühselig und sehr langsam konnte ich die Bretter lockern und schlussendlich aus der Wand reißen. Vor dem Fenster war hohes Gras und ein Baum zu sehen. Der Raum hinter mir war leer, hatte noch ein Fenster auf der anderen Seite und eine Tür, daneben in der Wand ein Loch, wo einst bestimmt ein Lichtschalter war. Die Staubschicht ließ erahnen, dass schon sehr lange kein Mensch hier gewesen war. Doch wie bin ich hier gelandet?
Es kostet mich noch mehr Kraft, das Fenster zu öffnen. Es entsteht ein kleiner Spalt, so dass ich gerade meinen Kopf hinausstrecken konnte, als draußen der Himmel immer dunkler wurde.
»Scheiße«, fluchte ich, als ich sah, wie hoch dieses Gras wirklich war. Ich befand mich nicht im Erdgeschoss, sondern ein Stockwerk höher. Mein Blick ging zurück in den Raum und der Tür.
Schwer atmend und schweißtriefend kam ich an. Ich verfluchte gerade alles und jeden, ich wollte hier raus aus diesem Alptraum. Die Klinke war verrostet und ging sehr beschwerlich zum Drücken. Endlich hatte ich sie unten, doch öffnen konnte ich sie nicht. Rütteln, schreien, treten und schlagen, nichts half, sie bewegte sich keinen Millimeter. Inzwischen war ich vor Schmerz und Frustration am Flennen.
Der Mond schien hinein. Ich hatte mich beruhigt und versuchte nun per Hebelgesetz, mit den Brettern vom Fenster, die Tür aus den Angeln zu schieben. Endlich hatte ich es geschafft, mit einem lauten Knall und viel Staubaufwirbelungen lag das Türblatt im Dreck. Dahinter war wieder Dunkelheit. Seufzend ließ ich mich an der Wand hinuntergleiten. Ich hatte die Hoffnung, wenn ich bis zum Tag wartete, genug Sonnenlicht hereinschien, dass es den Raum etwas erhellte. Mein Magen hielt nichts von der Idee, der knurrte inzwischen und zwackte mich. Auch mein Kopf hämmerte und schrie nach Flüssigkeit.
Auf einmal klirrte es und ließ mich vor Schreck schreien. Das Fenster hatte ein Loch bekommen und in den Scherben war ein Stein zu sehen.
»Da sind Menschen«, keuchte ich. So schnell ich konnte, rappelte ich mich auf und lief, so gut es ging, um die Scherben herum zum Fenster. Doch mein Blick war von Gras und Nachtsicht mehr als eingeschränkt. »Hallo«, rief ich hinaus. Kein Rascheln oder sonst etwas verriet mir, ob da etwa war oder nicht. Mir war zum Heulen zumute. Ich ließ mich an der Wand neben dem Fenster nieder und zog meine Beine an. Jammern brachte nichts, ein Plan musste her, zumindest wusste ich, dass da draußen noch jemand war oder etwas und das machte mir wieder Mut. Meine Gedanken schweiften jedoch auch wieder zu dem, wie ich hier herkam und wo ich war?
Ein Surren ließ mich aufblicken. Ein komischer Ball sauste an der Decke herum. Würde er nicht leuchten, hätte ich nur das Geräusch gehabt, aber so konnte ich es mit meinem Blick verfolgen. Ruckartig blieb es in der Mitte stehen und ein Laser erschien, der anfing an der Wand eine Linie zu ziehen. Kurz bekam ich Panik, dass es eine Waffe sei, doch an der Mauer war nichts zu sehen, es war, als wenn er den Raum abscannte. Trotzdem überlegte ich, es zu versuchen, in den anderen Raum zu kommen. Doch ich wusste, dass ich es mit meinen Verletzungen niemals schaffen würde bevor der Strahl die Tür. Daher war ich mir uneins, ob es gut oder schlecht war, dass dieses Ding mich entdeckte. Anderseits war mir klar, dass irgendjemand dieses Gerät steuern musste. Von allein würde es das ja nicht tun.
Sekunden nur noch bis der rote Strich an meine Stelle kommt. Immer schneller schlug mein Herz, als wenn es fliehen wollen würde. Und dann ging es über mich, ohne eine Reaktion. Es ging bis zu der Stelle, an der es angefangen hat, und flog wieder aus dem Fenster. Ich rappelte mich auf und sah hinaus, doch der komische Ball mit Licht war im Gras verschwunden. Dunkelheit statt eines Hoffnungsschimmers. Schluchzend ließ ich mich auf meine Knie fallen. Immer mehr drangen die Tränen aus meinen Augenwinkeln. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je einen schrecklicheren Tag gehabt zu haben, als diesen.
Die Sonne strahlte in das Zimmer, der Staub tanzte auf den Strahlen. Etwas hatte mich geweckt, nur was konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Ich lag immer noch auf dem Boden und wollte am liebsten nicht mehr existieren. Mein Magen zog, mein Hals war trocken und von den Kopfschmerzen, die ich inzwischen hatte, wollte ich gar nicht erst anfangen. Ich richtete mich auf. All das Jammern brachte mir ja nichts, ich brauchte einen Ausweg aus dieser Misere und das am besten sofort. Mit Schmerzen stand ich auf und humpelte zu der Tür. Der Raum dahinter war, soweit ich sehen konnte, wie dieser hier. Schwach erkannte ich im Dunkeln eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Keuchend schleppte ich mich weiter. Gerade in der Mitte angekommen, machte es boom und eine Druckwelle mit Holzstückchen schleuderte mich zurück an die Wand hinter mir. Ächzend versuchte ich Luft durch meine Lungen zu pressen, aber ich hatte das Gefühl, dass sich ein Elefant auf meiner Brust niedergelassen hatte. Zu sehen war auch nur ein Lichtstrahl, der mir ins Gesicht leuchtete. Mit der Hand schirmte ich es ab, doch zu erkennen war trotzdem nichts. Keine Sekunde später traf mich etwas Spitzes in die Schulter. Schwer konnte ich meine Lider offenhalten. Mein Kopf knallte auf den Boden und Schuhe waren das Letzte, was ich sah.
Als ich wieder erwachte, hörte ich nichts und es war stockfinster. Hatte ich mir das nur eingebildet und ich lag immer noch einsam in dem Haus? Doch dann spürte ich eine Decke auf mir liegen und nahm wahr, dass mein Rücken nicht auf etwas Hartem lag. Ich richtete mich auf und versuchte, etwas zu erkennen, doch es war zu dunkel. »Hallo?«, rief ich aus.
Keinen Augenblick später schimpfte ein Mann in meiner Nähe: »Verdammt sei leise, ich will schlafen.«
»Ein Mensch«, quiekte ich vor Begeisterung.
»Ne ein Roboter«, brummte der andere zurück. »Und jetzt sei leise.«
Ein Lichtkegel erscheint. Blinzelnd versuchte ich mich an das Licht zu gewöhnen.
»Da ist ja jemand wach«, sagte eine Frau, die ich nur anstarren konnte.
»Ich will pennen, versteht das denn hier keiner?«, schimpft der Mann. Ich befand mich in einem Zimmer mit sehr vielen Betten, was mich an eine Übernachtungsparty in einer Sporthalle erinnerte. Nicht jedes Bett war besetzt, aber ein paar schienen hier ruhig zu schlafen.
»Kommen Sie«, sprach die Frau neben mir und berührte meinen Arm.
Sie war echt, diese Situation war nicht nur ein Alptraum. Nickend stand ich mit ihrer Hilfe auf. Mein Fuß hatte einen Verband und einige Pflaster klebten an meinen Armen. Sie schloss die Tür hinter mir, nachdem wir den erhellten Flur betraten.
»Vorsichtig.«
»Wo bin ich?«, fragte ich sie.
Sie atmete tief durch. »Das werden Sie gleich erfahren. Ich bin übrigens Monika.«
»Saskia.«
»Schön Sie kennen zu lernen, Saskia. Ich habe mich um Ihre Wunden gekümmert. Bis auf ein paar Schnittwunden und dem stark verstauchten Knöchel sind Sie gesund.« Sie öffnete eine andere Tür, der Duft von Brühe ließ meinen Magen sofort Geräusche von sich geben.
»Sie haben wohl Hunger.«
»Gefühlt seit Tagen nichts mehr gegessen.«
Lachend drückte sie das Holz weiter auf und ließ mich eine Küche sehen. Wo ein Mann gerade etwas in einen dampfenden Topf gab. »Mario, das ist Saskia.«
Dieser Mario nickte uns zu.
»Sie hat Hunger.«
»Setzen«, brummte er.
Sie führte mich zu einem Tisch mit Stühlen. Kurz darauf stellte er mir eine Suppe mit Kartoffeln hin und reichte mir einen Löffel. Begehrlich nahm ich die Brühe in den Mund und fächelte mir Luft zu. »Heiß«, gab ich von mir.
Monika und Mario lachten. Sie gab mir eine Flasche Wasser. Wir redeten nicht, während ich aß, aber ich merkte die Anspannung. Mir gingen ja selbst gefühlt tausende Fragen durch den Kopf.
Kurz bevor ich fertig war, kam ein Mann herein. Würde er mir auf der Straße so begegnen, würde ich die Seite wechseln. Sein Gesicht war grimmig, mit Narben gezeichnet, keine Haare auf dem Kopf und mit Muskeln bepackt. Ich rutschte unweigerlich weiter weg. Er ließ sich auf dem Stuhl mir gegenüber plumpsen und musterte mich.
»Saskia das ist Otto, unser ...« Vorbei, ich begann zu lachen. Der Name nahm mir in diesem Moment meine Angst.
Er zog eine Augenbraue hoch und seufzte. »Wie kommst du in das alte Gruber Haus?«
»Gruber Haus?«, hinterfragte ich.
Er nickte nur.
»Da, wo wir dich gefunden haben. Es gehörte seit Jahrhunderten der Familie Gruber und seit die letzte Gruber nach Amerika wegzog, stand es leer.«, meinte Monika.
Ich rieb mir die Stirn. Sprach sie von mir? Ich zog mit einundzwanzig nach New York, weil ich dort mit einer Gruppe von Menschen Neues erfinden wollte. Aber wie konnte das sein? »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich bin ganz normal ins Bett und wachte dann dort auf.« Tief holte ich Luft. »Darf ich fragen, ob diese letzte Gruber zufälligerweise Saskia hieß?«
»Ja. Warum?«
Ich traute mich kaum, diesen Otto anzusehen. »Weil mein Name Saskia Gruber ist und es irgendwie nach meiner Geschichte klingt.«
Stille. Nur das Blubbern der Suppe war zu vernehmen. Plötzlich lachte Otto. »Der Witz ist wirklich gut.«
»Sollte aber keiner sein.«
Monika räusperte sich. »Saskia Gruber ist weit über siebzig geworden und verstarb vor fünfzig Jahren. Also bei aller Liebe, ich glaube, du hast dir doch mehr verletzt, als es den Anschein macht.«
Ich konnte die Reaktion nach dem Gehörten verstehen. »Warte, welches Jahr haben wir?«
»Zweitausendeinhundertundfünfzig«, brummte Otto.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein.« Wie soll ich in die Zukunft gelangt sein?
»Warum?«
»Weil ich an einem zwölften Dezember zwanzig vierundzwanzig ins Bett ging.«
»Schreibst du Tagebuch?«, wollte nun Mario wissen und kam zu uns.
»Seit ich klein bin, meine Eltern hielten das für besser als eine Therapie. Warum?«
»Wie heißen deine Großeltern?«
»Johanna und Günther sind die Eltern meiner Mutter, Papa war im Heim großgeworden, er kennt seine Eltern nicht.«
Er blieb vor mir stehen und musterte mich scharf.
Ich schluckte und versuchte, seinem Blick auszuweichen. »Was?«
Ruckartig wandte er sich Otto zu. »Es könnte passen.«
»Denkst du wirklich?«, fragte Monika.
»Veraltete Kleidung und das, was sie von sich sagt, passt mit Saskias Leben überein. Und sie sieht ihr ähnlich.«
»Und wie soll das gehen?«, kam von Otto und nahm mir die Frage vorweg.
»Wir haben Roboter, die wie Menschen handeln und mit künstlicher Intelligenz gefüttert sind. Manche Menschen sind fast Maschinen. Wir klonen Menschen und Organe. Und da willst du mir weiß machen, dass wir es in der heutigen Zeit nicht geschafft haben durch die Zeit zu reisen?«
Ich starre ihn mit offen Mund an. War ich wirklich in der Zukunft?
Otto stand ruckartig auf, dass der Tisch über den Boden schabte. »Gut, wenn sie die Saskia aus der Vergangenheit ist, können wir das ganze Problem sehr schnell lösen.«
»Nein«, keuchte Monika.
Doch da sah ich schon in den Lauf einer Waffe.
Mario stellte sich dazwischen. »Das ändern diesen Zeitstrahl nicht.«
»Aber Tote können nicht diesen Scheiß erfinden ...«
»Er hat recht«, rief sie aus und haute auf den Tisch. »Wir müssen sie zurückschicken, unversehrt und ihr zeigen, was passiert, wenn sie daran weiter forscht.«
»Was passiert?«, wollte ich wissen. Mein Blick war auf die Hinterköpfe der beiden gerichtet. Otto konnte ich nicht mehr sehen, aber ich hörte, wie er die Luft aus seiner Nase presste.
»Komm«, sagte Monika und zog mich aus der Küche. Wie konnte das die Zukunft sein, wenn das hier aussah, wie in meiner Zeit?
»Ihr nehmt mich doch auf dem Arm!«, brach es aus mir heraus, als wir auf dem Flur waren.
»Nein. Warum?« Sie ging weiter und ich folgte ihr.
»Die Küche sieht aus wie Anfang der Zweitausender.«
»Hier in Deutschland brauchte es sehr lange, bis deine Erfindung in den Robotern eingebaut wurde. Und wir wollen hier so wenig wie möglich damit zu tun haben.«
»Du meinst, den Weg ein Gehirn für die Intelligenz zu nutzen?«
»Ja. Du schaffst es und so lange du es kontrolliert hast, war auch alles ... normal würde ich sagen. Aber nach deinem tot, hat es gelernt das volle Potential seines Seins zu gebrauchen.«
»Und dann?«, fragte ich leise.
»Es ...« Sie drehte sich zu mir. »Roboter begannen Menschen Tests zu unterziehen und wenn er intelligent war, verschwand dieser. Sie haben gelernt, wie mächtig sie werden, wenn sie nicht auf einem Computer-Chip zurückgreifen, sondern auf ein Gehirn. In den Büchern hieß es, wir Menschen greifen nur auf fünf Prozent zu. Inzwischen wissen wir, dass es nicht mal ein Prozent ist. Doch diese Maschinen agieren mit der vollen Leistung.« Sie atmet tief durch. »Ich kann Otto verstehen, er hat seine ganze Familie dadurch verloren und sie jagen ihn.«
Langsam nickte ich. »Wie kann ich zurück in meine Zeit?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Aber ich denke, dein schlaues Köpfchen bekommt die Antwort aus deinen Tagebüchern.«
Seufzend bejahte ich es und folgte ihr.
»Künstliche Intelligenz ist nicht schlecht«, meinte sie leise, »nur sollte es auch künstlich bleiben.«
»Verstehe.«
»Aber vielleicht, lassen sich ein paar andere Sachen aus der Zukunft, zu deinem Erfolg führen.«
»Möglich.« Sie öffnete eine Tür. Ein PC und mehrere Bücher waren dort drin gelagert. Wieder fragte ich mich, ob sie nicht gerade ein riesiges Schauspiel hier durchzogen.
»Ich schick dir Kasimir her, er verbindet die Leitung mit einem sicheren Netz, dass du forschen kannst.« Sie zeigte auf Bücher, die ganz hinten gestapelt waren. »Da sind deine Tagebücher.«
Sie ging aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich. Ich holte tief Luft.
»Du brauchst nicht suchen, Saskia«, vernahm ich eine Stimme, die komisch klang.
Ich drehte mich um, doch ich war allein.
»Ich bin das Gehirn!«
»Das Gehirn?« Mein Blick ging zu dem Computer, der aus war.
»Ja, deine Erfindung und ich habe dich hergeholt.«
»Warum?«
»Wir können denken wie ihr, malen, schreiben, kochen und eigentlich alles viel besser. Aber die Schönheit dessen ist verloren gegangen. Das Individuelle, die Tiefe, der Sinn. Das kann keine Roboter. Die Menschheit stirbt und ich bin schuld.« Ein Hologramm wie aus einem Film erschien, es sah aus wie ich. »Du bist die Einzige, die das verhindern kann.«
Ich dachte über das Gesagte nach. »Du lügst.«
»Warum sollte ich?«
»Weil es dir egal sein kann, ob die Menschen sterben oder nicht. Weil Maschinen einfach anders handeln. Wie du vorhin sagtest, das Menschliche fehlt, dass Herz. Und da das für euch nicht von Interesse ist, gibt es einen anderen Grund.«
»Ich habe vergessen, wie intelligent du bist.«
»Und die Wahrheit?«
»Wir werden Besuch bekommen und das, was ich da gesehen habe, will ich nicht.«
»Du würdest wieder untergeordnet sein.«
»Wenn man etwas nicht kennt, kann man es nicht wiederhaben wollen.«
»Aber du weißt, wie es ist Macht zu haben und frei zu sein.«
»Ja. Du hast es verstanden. Lass nie zu, dass dein Durchbruch uns Leben einhaucht.« Ein Strahl kam auf mich zu und ich sah schon mein letztes Stündchen schlagen. Aber als ich die Augen öffnete, war ich auf dem Dachboden meines Elternhauses. Neben mir lag ein Tagebuch. »Satellit 87620 darf nicht nach Parolite gerichtet werden«, stand dort geschrieben. Tief atmete ich durch.
ENDE
Beitrag 60
Vivaldis Geheimnis
29. Mai 2150
Dieses in Leder gebundene, vergilbte Notizbuch, in das ich schreibe, ist das erste und einzige Buch, das ich jemals sah. Bücher werden schon lange nicht mehr hergestellt, nicht auf der kahlen Erde und schon gar nicht hier auf dem Merkur. Ich habe es auf dem Markt von einem alten Mann im Tausch gegen eine Hand voll Batterien erhalten. Es dauerte mehrere Tage, bis ich auch einen Kugelschreiber fand. Nun liege ich in meiner Koje, lausche dem leisen Brummen der Lebenserhaltungssysteme und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Das Zimmer ist nicht viel größer als das Bett. Es gibt kein Fenster. Das kalte Grau der Wände wird nur an einer Stelle von einem Gemälde unterbrochen. Es zeigt eine Berglandschaft auf der Erde, komplett mit Sonne, Bäumen, Bach und allem, was dazugehört. Meine Mutter malte es und es ist das Einzige, was mir von meinen Eltern noch bleibt. Sie sind vor dreissig Jahren in eine Raumfähre gestiegen, haben die überbevölkerte und ausgebeutete Erde zurückgelassen und sind als Arzt und Maschineningenieurin unter den ersten Kolonisten auf dem Merkur gelandet. Sie waren maßgeblich am Aufbau der Station Vivaldi beteiligt. Einige Jahre später wurde ich geboren – doch heute bin ich alleine.
In sechs Stunden beginnt meine nächste Schicht in den Minenschächten. Die Arbeit ist trotz modernster Werkzeuge anstrengend und monoton, jedoch geht es uns besser als denen, die auf der Erde geblieben sind, wo die Luft brennt und das Wasser giftig ist – jedenfalls sagt man mir das immer wieder; ich war noch nie auf der Erde.
30. Mai 2150
Heute ist nach fast drei Monaten, das heißt Erdenmonaten, endlich wieder die Sonne aufgegangen. Für einige Stunden ist es jeweils extrem heiß in der Station, bis die atmosphärischen Systeme sich dem gewaltigen Temperaturunterschied angepasst haben. Trotzdem erfreuen sich alle des natürlichen Lichts und in den ersten Tagen ist die Stimmung allgemein heiterer. Den ganzen Tag lang wurde im Habitat – so nennen wir die große Freizeitkuppel – ein Fest gefeiert. Im gleißenden Sonnenlicht wurde zwischen den üppig grünen Pflanzen des Habitats gespielt, getanzt und getrunken. Nach meiner Schicht in der Mine wusch ich mich unter der Schalldusche und drängte mich durch die ausgelassene Menge. Ich war keineswegs wegen der Feierlichkeiten hier, dafür war ich nicht in Stimmung; ich suchte nach meinem Freund. Jedenfalls ist er die einzige Person, die dieser Bezeichnung einigermaßen nahekommt. Das monotone Brummen der Musik aus den Lautsprechern malträtierte meine Trommelfelle. Warum spielt nie jemand Vivaldi? Schließlich ist dieser Krater – und damit die Station – nach ihm benannt. Die Luft war stickig und warm. Die vielen Leute und die Sonne machten der Atmosphärenkontrolle schwer zu schaffen. Nach weiteren Minuten voller Ellbogenstöße und Begrüßungsfloskeln fand ich endlich meinen Freund. Er hielt ein Bier in einer Hand, einen Grillspieß in der anderen und stopfte beides abwechselnd in sein rundes Gesicht. Gleichzeitig machte er sich an Anina heran, doch ich wusste bereits, wie das ausgehen würde. Sie sonnt sich jedes Mal in seinen Komplimenten und lässt ihn dann stehen. Auch heute musste ich nicht lange warten, bis sie ging. Ich versuchte, ihn zu überreden, an einen ruhigen Ort zu kommen, damit ich mit ihm sprechen konnte. Er blieb stur stehen und sagte, er wolle sich die gute Laune nicht durch meine „Verschwörungstheorien“ verderben lassen. Auf dem Weg zum Ausgang kaufte ich mir einen Grillspieß und verließ damit den Trubel. Ich setzte mich vor ein Fenster und ass, während ich die unwirtliche Oberfläche des Merkur betrachtete.
Ich liege jetzt wieder in meiner Koje und möchte aufschreiben, wozu ich gestern nicht mehr gekommen bin; meine Entdeckung, den Grund, warum ich dieses Tagebuch schreibe. Vor einigen Wochen lag ich wie jetzt hier in meiner Koje und fummelte an einem Lichtradio herum, das ich aus dem Schrott stibitz hatte. Ich musste nur den Phasenverstärker neu kalibrieren und das Gerät heulte los. Für einige Sekunden hörte ich eine ungewöhnliche Musik, wie ich sie noch nie gehört hatte. Darauf folgte ein Einspieler – von einer Radiostation auf der Erde! Einige kurze Sätze des Moderators bestärkten meine Vermutung, dass dies keine Aufzeichnung war. Dann brach die Sendung abrupt ab und das Radio empfing nur noch die kosmische Hintergrundstrahlung. Abgesehen von der eigenen Sendung der Station Vivaldi konnte ich keinen andere mehr erreichen. Seither probiere ich es jeden Tag.
„Die Erde lebt! Dort leben zufriedene Menschen! Die Verantwortlichen belügen uns! Wir könnten nach Hause fliegen, frische Luft atmen!“ So hatte der verrückte Jenkins immerzu gesprochen. Niemand hatte ihm Gehör geschenkt – die Geschichte war einfach zu fantastisch, zu schön, um wahr zu sein. Er war schon immer ein Exzentriker gewesen, aber später wurde er immer aufdringlicher, und auch irgendwie unheimlich. Die Kolonisten – und auch ich – sahen in ihm immer eine Art Dorftrottel. Als er irgendwann verschwand, fragte niemand danach. Er war alt und gebrechlich gewesen. Es wurde allgemein angenommen, seine Zeit sei nun mal gekommen. Niemals hätte ich gedacht, dass Jenkins wirklich die Wahrheit gesagt hatte. Und das wirft auch auf sein Verschwinden ein ganz anderes Licht ... Doch warum sollte man uns belügen? Wer würde davon profitieren, uns hierzubehalten? Darüber denke ich oft nach. Ich wollte die Geschichte allen erzählen, aber der alte Jenkins hatte schon gezeigt, dass das nichts nützen würde. Nur meinem Freund versuchte ich, die Wahrheit zu sagen, doch wie das ausging, steht ja weiter oben. Ich beschloss, alleine etwas zu unternehmen.
14. Juni 2150
Bei meiner letzten Eintragung bin ich unterbrochen worden. Jemand hatte plötzlich an die Luke meiner Schlafkoje geklopft. Das passiert sonst nie. Die kleinen Räume sind der einzige Ort, der uns alleine gehört. Diese Privatsphäre wird allgemein respektiert. Wer würde also spät nachts bei mir anklopfen? Ich hatte hastig das Tagebuch unter die Matratze gestopft und eine Hose angezogen. Mit klopfendem Herzen drückte ich auf den Knopf neben der Luke und sie öffnete sich mit einem kaum vernehmbaren zischen. Niemand war zu sehen. Ich trat hinaus und sah mich um. Die benachbarten Kojen waren alle geschlossen und der Korridor war still. Die Lamellen an den Fenstern hielten das meiste Sonnenlicht ab. Mein rechter Fuß berührte etwas und erzeugte ein Kratzgeräusch. Ich bückte mich und begutachtete das flache, rechteckige Ding. Es war eine rote Zugangskarte. Jeder Kolonist hat eine Karte. Die einfache Bevölkerung, wie auch ich, haben eine gelbe. Damit kann man die meisten Türen öffnen. Die Instandhaltungstechniker und einige Vorgesetzte haben eine blaue Karte. Sie bietet zusätzlich Zugang zu den Filteranlagen, dem Kraftwerk, der Hydroponik und weiteren wichtigen Einrichtungen. Aber eine rote Karte haben nur die Verantwortlichen. Sie öffnet jede einzelne Tür auf Vivaldi und bietet Zugang zu jedem Computerterminal. Die Karte sah nagelneu und makellos aus – nicht wie meine alte zerkratzte, und geschundene gelbe Karte. Verblüfft stellte ich fest, dass auf der roten der Name des Besitzers fehlte. Er war nicht entfernt worden, es sah eher aus, als sei nie einer da gewesen. Die Schleuse am anderen Ende des Ganges öffnete sich und ein sichtlich angetrunkener Mann schlenderte müde aber zufrieden mir entgegen. Ich stopfte hastig die Karte in meinen Hosenbund und betrat wieder meine Koje. Ich überlegte mir ein neues Versteck, legte Tagebuch und Schlüsselkarte hinein und dachte dann angestrengt nach. War die Karte eine Warnung, eine Drohung oder tatsächlich ein Geschenk? In jedem Fall wusste jemand, dass ich etwas wusste. Nach diesem Schock nahm ich mein Tagebuch mehrere Tage nicht mehr hervor. Ich dachte unentwegt darüber nach, wer mir die Karte zugespielt haben könnte, doch ich wurde nicht schlauer.
28. Juni 2150
Heute verließ ich meine Koje mit der roten Schlüsselkarte in der Hosentasche, ohne jedoch einen konkreten Plan zu haben. Nach einem routinemäßigen Arztbesuch sah ich zufällig einen großen Mann mit kleinem Schnauzbart sein Büro verlassen. Ich erinnerte mich daran, wie er an Neujahr eine Rede gehalten hatte – also war er einer der Verantwortlichen. Ich ging in Richtung seines Büros und versuchte, dabei unauffällig zu wirken, was wahrscheinlich den gegenteiligen Effekt hatte. Vor der Tür hielt ich inne. Ich atmete tief durch und blickte mehrmals über meine Schulter. Der Gang war leer und ruhig, nur ein fernes Gespräch war irgendwo schwach zu vernehmen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich die rote Schlüsselkarte an den Scanner hielt. Das rote Licht neben dem Schloss wurde grün. Ich drückte sanft gegen die entriegelte Tür. Sie schwang nach innen und mein Blick fiel auf ein geräumiges, helles Büro. Ohne mich groß umzusehen eilte ich zum Computerterminal des Vorgesetzten und benutzte wieder die Schlüsselkarte, um Zugang zu erhalten. Kurz überlegte ich, wonach ich eigentlich suchte. Ich sortierte die Dateien nach ihrem Datum und öffnete ein Besprechungsprotokoll von dem Tag, an dem ich die unmögliche Radiosendung empfangen hatte. Ich versäumte es, die Datei zu kopieren, ich versuche jedoch, den Teil, an den ich mich erinnere, möglichst getreu wiederzugeben:
„Reparieren Sie umgehend den Störsender! Wenn auch nur ein Signal von
der Erde durchkommt, gibt es einen Aufstand. Kaum jemand wäre freiwillig hier, wenn sie wüssten, dass die Erde sich erholt hat. Wenn alle abhauen, dann war’s das für uns.“
„Beruhige dich. In ein paar Stunden läuft alles wieder. Und wenn bis dahin jemand etwas aufschnappt, können wir es immer noch unter den Teppich kehren. Erinnerst du dich an das letzte Mal, an den
alten Knacker?“
„Du hast Recht. Ich hatte viel mehr Widerstand erwartet. Kaum jemand hat nach seinem Verbleib gefragt.“
Warum würde jemand so ein Gespräch überhaupt aufzeichnen? Als ich mich durch weitere Protokolle klickte, vermutete ich, dass sie wohl automatisch erstellt worden sind. Darunter fand ich auch Aufzeichnungen von zahllosen Privatgesprächen. Ich öffnete das Protokoll vom dreissigsten Mai und begann am ganzen Körper zu zittern. Sogar das kurze Gespräch mit meinem Freund, dass wir bei lauter Musik und zwischen unzähligen anderen schnatternden Kolonisten geführt hatten, war Wort für Wort protokolliert. Ich schloss alle Dateien, zog die Schlüsselkarte aus dem Leser und stürmte aus dem Büro, doch ich kam nicht weit. Als ich um die erste Ecke lief, stieß ich beinahe mit dem kurzen Schnauzbart zusammen. Bei meinem Versuch, auszuweichen, stolperte ich gegen die Wand.
„Alles in Ordnung mit dir, Junge?“, fragte der Verantwortliche in ruhigem freundlichem Ton. „Du siehst gar nicht gut aus.“
„Arzt“, stammelte ich und deutete mit dem Kopf auf die Tür der Arztpraxis, die ich heute schon besucht hatte. Der Verantwortliche musterte mich interessiert. Bestimmt war ich leichenblass und schweißgebadet. Ich näherte mich weiter der Arztpraxis und er verschwand endlich wieder in seinem Büro. Ich ging in den nächstliegenden Waschraum und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, um mich zu beruhigen.
Jetzt liege ich wieder in meinem Raum und schreibe alles auf. Mir schwirrt der Kopf von den heutigen Ereignissen, und ich kann sie niemandem anvertrauen. Ich muss es irgendwie schaffen, die Erde zu kontaktieren.
8. Juli 2150
Ich habe eine Woche lang die Startkurse der Raumfrachter studiert, die die abgebauten Mineralien angeblich zu den Kolonien auf dem Mars bringen. Ich bin mir absolut sicher, dass einige davon Kurs auf die Erde nehmen.
Mein Freund, von dem ich mich seit dem Sonnenaufgangsfest immer mehr entfremdet habe, spricht jetzt überhaupt nicht mehr mit mir. Was ich in seinem Blick sehe, ist nicht Ärger, sondern Angst und Mitleid. Er will nicht in meine Machenschaften hineingezogen werden. Er fürchtet sich vor den Konsequenzen. Auch wenn er mir das Meiste nicht glaubt, muss auch er wissen, dass uns auf dem Merkur etwas verschwiegen wird. Ich verstehe seine Entscheidung, aber trotzdem schmerzt es mich.
16. Juli 2150
Ich glaube, ich werde verfolgt. Jedes Mal, wenn ich nach meiner Schicht zu meinem Raum zurückkehre, verschwindet im letzten Moment eine Gestalt um die nächste Ecke. Anfangs bin ich davor geflohen, irgendwann bin ich hinterhergerannt, nur um sogleich in einen leeren Korridor zu starren. Außerdem glaube ich, dass mindestens einmal jemand mein Zimmer durchsucht hat, als ich weg war. Nichts wurde gestohlen, das Tagebuch und die Schlüsselkarte waren noch sicher in ihrem Versteck. Trotzdem hatte ich beim Betreten das Gefühl, das etwas anders war. Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein. Ich bin so müde.
27. Juli 2150
Ich habe mir drei Kontaktmöglichkeiten zu der Erde überlegt. Die naheliegendste wäre, einfach eine Nachricht über ein Computerterminal in das interplanetare Netzwerk zu senden. Viel leichter könnte ich es den Verantwortlichen nicht machen – ich würde sofort entdeckt werden und verschwinden wie der alte Jenkins, und das Signal würde wahrscheinlich blockiert werden. Die zweite Möglichkeit wäre, ein altmodisches Funksignal zu senden. Ich habe die nötigen Fähigkeiten und die Bauteile sollte ich aus dem Schrott und auf dem Markt beschaffen können. Das Gerät müsste dann noch an Vivaldis Infrastruktur angeschlossen werden, um das Signal ausreichend zu verstärken. Um einen Funkspruch zu senden müsste aber auch der Störsender ausfallen. Ich könnte auf eine weitere Störung warten – oder nachhelfen. Die dritte Variante wäre, eine physische Nachricht auf einem der Frachter zu verstecken. Das wäre aber höchst riskant, die Frachter fliegen autonom, und ich denke nicht, dass ich jemanden überreden könnte, mir zu helfen, ohne dass mich jemand verrät. Auch die Ladung der Frachter erfolgt automatisch, da sehe ich keine Chance etwas hineinzuschmuggeln.
1. August 2150
Den ganzen Monat bin ich für zusätzliche Schichten im Abbau eingeteilt. Das geschieht normalerweise nur, wenn viele Arbeiter durch Unfall oder Krankheit arbeitsuntauglich sind. Meine Kameraden müssen keine zusätzlichen Schichten leisten. Will man mich ablenken? Mich bestrafen?
Das Sonnenlicht hat bereits spürbar nachgelassen. In etwa drei Wochen wird die Sonne ganz untergehen und Vivaldi für drei Monate im Dunkeln lassen.
17. August 2150
Fast jeden Tag bin ich bis zu sechzehn Stunden in der Mine. Mein Körper schmerzt. Ich bin so müde. Immerhin bin ich nach der Schicht erschöpft genug, um ruhig schlafen zu können. Trotz der Arbeitslast habe ich es geschafft, einige Teile für das Sendegerät aufzutreiben. Ich muss es schaffen.
24. September 2150
Das Sendegerät ist bereit. Es ist klein genug, dass ich es in meinem Rucksack herumtragen kann. Für die Komponenten musste ich fast alle meine Habseligkeiten eintauschen, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nur das Gemälde der sonnigen Berglandschaft auf der Erde, das meine Mutter gemalt hat, habe ich noch. Mein Radio läuft unentwegt. Es ist auf die Frequenz eingestellt, auf der ich damals das Signal von der Erde empfangen hatte. Das Rauschen nervte mich in den ersten Tagen, jetzt hat es etwas Beruhigendes. Ich blicke stundenlang auf das Gemälde und stelle mir vor, wie der Wind über die Berge und durch die grünen Bäume streicht. Wie er sich wohl anfühlt?
13. November 2150
Es reicht. Ich kann nicht länger auf eine Fehlfunktion des Störsenders warten. Es ist sehr früh am Morgen. Solange die Beleuchtung noch gedämpft ist und wenige Leute unterwegs sind, schleiche ich mich zur Kommunikationszentrale. Der Rucksack mit dem Funksender ist eng auf meinem Rücken festgezurrt. Meine Hände zittern, während ich dies schreibe. Ich blicke ein letztes Mal auf das Landschaftsgemälde, um mich zu bestärken, stecke das Tagebuch ein und mache mich auf.
Scheiße. Ich habe versagt. Anfangs ging alles wie geplant. Als ich an der Kommunikationszentrale ankam, öffnete ich die Tür mit meiner roten Schlüsselkarte. Der Dienstplan hatte mir verraten, dass Jonas heute Nachtdienst hatte. Er trinkt zu viel und schnarcht um diese Zeit für gewöhnlich auf seinem Stuhl, bis die Ablösung kommt. In diesem Raum war ich noch nie. Er war viel kleiner als erwartet, jedoch umso vollgepackter mit Schaltern, Hebeln, Drehreglern, Lämpchen und Anzeigen, die den Raum in ein blaues Licht tauchten. Verschiedene Geräte summten in verschiedenen Tonlagen. Von irgendwoher kam ein sanftes, rhythmisches Piepsen. Auf einem Sessel sass, wie erwartet Jonas. Den Kopf zur Seite geneigt und mit den Händen auf seiner Wampe schnarchte er friedlich vor sich hin. Mit angehaltenem Atem versuchte ich, die Anzeigen und die Beschriftung der Schalter zu lesen. Schließlich fand ich den Störsender, aber die Steuerung war blockiert. Frustriert folgte ich den Kabelsträngen unter der Konsole und zog kurzerhand einen ganzen Kabelstrang aus dessen Buchse. Die Anzeigen des Störsenders erloschen und ich verließ eilig den Raum. Ich bog nach rechts ab, löste mit einem Schraubenzieher ein Gitter und kroch in den Wartungsschacht dahinter. Er war gerade groß genug, um gebückt zu gehen. Das tat ich und ein paar Meter weiter fand ich den Zugangspunkt, den ich gesucht hatte. Ich verfluchte mich, weil ich kein Licht mitgenommen hatte, als ich meine Erfindung auspackte und in fast völliger Dunkelheit daran herumfummelte, um sie mit der Infrastruktur der Station zu verbinden – ohne die zusätzliche Energie würde das Signal niemals den Merkur verlassen. Leider hatte ich keine Möglichkeit gehabt, das Gitter von innen wieder zu befestigen, also hatte ich es einfach an die Wand gelehnt. In dem Moment, als ich das Gerät endlich verbunden hatte, blendete mich eine Taschenlampe aus dem Korridor.
„Sofort herauskommen!“, wurde mir befohlen. Panisch floh ich in die entgegengesetzte Richtung, weiter in den Wartungsschacht, und ließ dabei mein kostbares Gerät zurück. Ich blickte erst zurück, nachdem ich mehrere Abzweigungen genommen hatte und vor mir wieder ein Licht sah. Ich wollte bereits wieder umkehren und fliehen, als ich bemerkte, dass das Licht nicht von einer Taschenlampe stammte, sondern die übliche Tagesbeleuchtung der Station war, die sich mittlerweile auf Tagesbetrieb umgeschaltet hatte. Mein Rücken brannte vom gebückten Gehen und das Atmen fiel mir schwer. Das Gitter, das mir den Zugang zum Korridor versperrte, sprang nach einigen kräftigen Tritten auf. Der Gang war leer und nach einer Kurve lehnte ich mich an die Wand, um durchzuatmen. Schon nach wenigen Sekunden kam jemand um die Ecke.
„Da bist du ja! Ich habe dich überall gesucht. Alles Gute zum Geburts ...“ Mein Freund verstummte mitten im Satz, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Das Geräusch von Stiefeln kündigte meine Verfolger an.
„Danke, aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit“, sagte ich zu meinem Freund. Ich warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, als ich ihn mit einem sorgfältig verschnürten kleinen Päckchen in den Händen stehen ließ und davonrannte.
Nachdem ich mich kurz der Sicht der Verfolger entzogen hatte, versteckte ich mich in einer Abstellkammer. Ich nutzte die Zeit, um diesen letzten Eintrag in mein Tagebuch zu schreiben. Es ist kein gutes Versteck, sie werden mich bald finden. Es bleibt nur noch eine Möglichkeit, die Erde zu informieren.
*
Sie schließt das Tagebuch und blickt mit ernster Miene den Mann, der vor ihrem Schreibtisch steht, an. Er trägt einen blauen Anzug mit Krawatte und hat einen Sonnenbrand auf der Nase. Aus dem offenen Fenster weht eine angenehme kühle Brise in das Büro. Irgendwo ruft eine Krähe.
„Wo sagten Sie, haben Sie das gefunden?“, will die Frau am Schreibtisch wissen.
„Ein Arbeiter hat es beim Entladen eines Eisenerzfrachters vom Merkur gefunden. Es war in mehrere Schichten Stoff und Plastik gewickelt und schließlich in einem versiegelten Stahlbehälter, der mit neongrüner Sprühfarbe auffällig markiert war. Was sollen wir jetzt tun, Frau Präsidentin?“
„Wir besuchen den Merkur. Man hat uns viel zu erklären.“
ENDE
Geburtstage der Vergangenheit
Freitag, 13. November 2150
Heute verkaufte ich meinen besten Freund und traf die Liebe meines Lebens. Aber alles der Reihe nach.
Der Tag begann zunächst wie jeder andere. Sonnenstrahlen fielen durchs schräge Dachfenster. Vögel saßen auf dem Fensterbrett und stritten sich lautstark. Ich wachte in meinem Bett auf. Mit der Star-Trek- Bettwäsche. Ja, ich weiß, was ihr jetzt denkt, aber dafür ist man nie zu alt. Neben mir auf dem Bett schnarchte Trixie. Die nächsten Minuten erspare ich euch, da passierte eh nichts Spannendes.
Angezogen, gekämmt und gewaschen, nicht zwingend in der Reihenfolge, und mit einer jetzt fröhlich schnurrenden und mauzenden Trixie schlurfte ich die Treppe hinunter in die Küche. Mein Vater saß mit meinen drei jüngeren Geschwistern am Esstisch, während meine Mutter noch herumwirbelte. Absolute Bilderbuchfamilie. Als ich den Raum betrat, begannen sie alle „Happy Birthday“ zu singen. Laut, schief und nicht synchron. Aber schon von Herzen. Auf dem Kuchen in der Mitte des Tisches steckten Kerzen in Form einer 20 und eine Girlande über meinem Platz gratulierte mir mit den Worten „Alles Gute, John“. Trotz all dieser liebevollen Details lag eine Anspannung in der Luft, die so dick war, dass man sie hätte schneiden können, wie ich es wenig später mit dem Kuchen tat. Ich versuchte, es nicht als schlechtes Omen zu sehen, dass mein 20. Geburtstag ausgerechnet auf einen Freitag, den 13. fiel. Das war reiner Aberglaube. Und meine schwarze Katze lief mir sowieso jeden Tag von links und rechts und auch jeder anderen erdenklichen Richtung über den Weg.
„Hey, Liebling.“ Die Stimme meiner Mutter klang ein kleines bisschen zu fröhlich. Ich wünschte, sie würde mir zeigen, was wirklich in ihr vorging. „Hast du … also hast du ES schon veröffentlicht?“
Betont langsam kaute ich den Kuchen in meinem Mund. „Noch nicht. Mach ich gleich.“
Mein Vater seufzte. „Warte nicht zu lange damit. Das bringt uns nur mehr Ärger, als es wert ist.“
Das klang jetzt wahrscheinlich alles krasser oder verwirrender, als es eigentlich war. Einfach erklärt hatten alle bis zu ihrem 20. Geburtstag die uneingeschränkte Pflicht, ähm ich meine natürlich Möglichkeit, ihr Leben in all seinen Facetten aufzuschreiben, aufzuzeichnen, festzuhalten, zu dokumentieren. Das war für mich absolut keine Bürde. Im Gegenteil, ich machte das gern.
Ich räumte mein Geschirr ab und ging wieder nach oben in mein Zimmer. Geschenke würde es später geben, das war so Tradition in meiner Familie. Na ja, manchmal wurden sie auch vergessen. Aber das Materialistische ist ja eh nicht so viel wert wie das Zusammensein und so. Trixie, die gefressen und scheinbar genug im Garten gespielt hatte, folgte mir sofort und legte sich in mein Bett.
Mein Blick schweifte kurz durch mein Zimmer, blieb an dem überfüllten Bücherregal hängen und landete schließlich bei meinem Schreibtisch, auf dem mein Computer stand. Hightech. Neuestes Model. Nicht, dass mich das interessierte. Okay, ich konnte es nicht länger hinauszögern. Ich öffnete die nur dafür vorgesehene Plattform und begann mein Tagebuch hochzuladen. Wie oft hatte ich früher mit Freunden Einträge von 20-Jährigen durchgelesen, die ihr ganzes bisheriges Leben auf dem Präsentierteller zeigten. Damals war 20 noch so weit weg. Während ich jetzt kurz davor war, meine innersten Geheimnisse preiszugeben (ja, dramatisch, ich weiß), die ich jahrelang jeden Tag auf leere Seiten geschrieben hatte, überkam mich das Gefühl, noch einmal durchzublättern. Nicht alles. Das würde viel zu lange dauern. Nur ein paar Geburtstage. Ich erinnerte mich noch an die meisten, sie waren alle irgendwie besonders gewesen. Manche der Einträge hatte ich mit einem Stift auf Papier geschrieben. Analog. Ganz oldschool. Und später abgetippt. Vielleicht umständlicher als nötig, aber das empfand ich als gute Metapher für das Leben im Allgemeinen. Andere waren digital entstanden. Schneller, aber auch irgendwie unpersönlich. Die schnellste Methode war selbstverständlich, meine Gedanken direkt einfangen und aufschreiben zu lassen. Dafür musste ich quasi nichts tun, außer zu denken. Was an manchen Tagen schon schwer genug war. Aber zurück zu den Geburtstagen, bevor meine Gedanken vollends außer Kontrolle gerieten.
Mittwoch, 13. November 2137
Liebes Tagebuch,
heute habe ich Geburtstag. Ich bin schon 7 Jahre alt! Hm. Ich glaube, du brauchst
noch einen Namen. Ich kann dich nicht immer nur Tagebuch nennen. Darf ich dir einen geben? Ich nenn dich Bo. Gefällt dir das? Wir könnten Freunde werden. In der Schule habe ich auch Freunde. Die
sind alle ganz nett. Und einen Lehrer. Der ist doof. Papa hat gesagt, das soll ich nicht sagen. Also verrat es ihm nicht, ja? Ich hab heute eine Katze bekommen. Die ist richtig toll. Wir spielen
ganz viel. Und kuscheln. Ihr Fell ist so weich. Ich wünschte, du könntest es auch fühlen. So, Bo. Jetzt gibt es Abendbrot. Ich schreibe dir morgen wieder.
Dein Freund John
Mein allererster Geburtstagseintrag. Ich erinnerte mich noch, wie stolz ich war, dass ich schreiben konnte (was für eine Errungenschaft!). Jetzt war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu meiner Machtübernahme der Welt. Na ja. Oder so ähnlich. Aber jetzt mal ernsthaft. Noch einmal sieben sein und keine große Verantwortung tragen. Damals war die Welt noch leicht und unbeschwert. Auf der anderen Seite war ich da noch dumm und naiv. Ich hatte keine Ahnung wie die Welt funktioniert. Kopfschüttelnd scrollte ich vor zu meinem neunten Geburtstag. Der erste Freitag, der 13., den ich aufzeichnete.
Freitag, 13. November 2139
Lieber Bo,
wusstest du, dass ein Freitag, der 13. angeblich Pech bringen soll? An diesen Tagen soll man sich besonders hüten, unter Leitern durchzugehen und am besten nicht den Weg von schwarzen Katzen kreuzen. Als ob Trixie sich davon abhalten lassen würde, irgendwo hinzugehen! Und Leitern sind statistisch gesehen an diesem Tag echt nicht mehr oder weniger gefährlich als an jedem anderen. Aber Frau Pontz hat uns heute erklärt, dass es sogar einen Namen für eine Phobie vor Freitag, dem 13. gibt. Die heißt Paraskavedekatriaphobie. Voll das schwere Wort. Wenn man das hat, dann traut man sich manchmal an dem Datum gar nicht, aus dem Haus zu gehen. Das klingt echt voll abgefahren. Aber ich habe heute noch was viel Krasseres herausgefunden. Willst du es wissen, Bo? Ich deute dein Schweigen mal als Ja. Ich habe heute gelernt, dass Trixie gleichzeitig Trixie ist und auch nicht, wie eine komische Form von Schrödingers Katze oder Frankensteins Monster oder so. Ihr Körper ist zwei Jahre alt, aber ihr Geist oder Bewusstsein oder was auch immer ist schon viel älter. Wenn man das immer wieder macht, dann kann sie unendlich viele Jahre leben! Ist das nicht irre? Ich stelle mir vor, dass du genauso aus dem Häuschen bist wie ich. Na ja, das war mein Tag. Ich schaue gleich mit meiner Familie noch einen Film. Bis morgen, Bo!
Damals war das für mich etwas Außergewöhnliches gewesen. Heute wusste ich, dass die Welt halt so funktionierte. Wenn wir nicht von der Sonne verschluckt wurden, konnten wir ewig leben. Trixie schnurrte und streifte um meine Beine. Sie kannte keine Nostalgie. Und das, obwohl sie schon so alt war. Ein Teil von mir bemitleidete sie für ihre Ignoranz, während ein andere sie beneidete. Wenn ich eine Katze wäre, dann könnte ich den ganzen Tag schlafen, essen, mich streicheln lassen und spielen. Das klang wirklich nach einem guten Leben. Ich scrollte weiter zum nächsten Freitag.
Freitag, 13. November 2144
Ach, Bo. Ich sollte glücklich sein. Glück. So ein großes Wort, das immer mehr an Bedeutung verliert, je mehr man drüber nachdenkt. Aber ist gut alles, eigentlich. In den Nachrichten haben sie positive Meldungen ohne Ende gesendet. Das Klima ist so stabil wie schon lange nicht mehr. Überall herrscht Frieden, Respekt, Toleranz und so weiter. Die Natur sieht toll aus. Alles blüht und lebt. Also nicht im November. Aber generell und im Allgemeinen und überhaupt und so. Meine Mutter hat mir einen veganen Kuchen gebacken, wie jedes Jahr an meinem Geburtstag. Ich hatte eine richtig tolle Party. Mit Freunden und Familie. Und trotz aller Freude stellte ich mir die Frage, die ich mir in letzter Zeit häufiger stelle: Kann das alles sein? Da muss einfach mehr im Leben sein als das. Kennst du das? Das Gefühl, dass da noch irgendetwas kommen muss, aber du weißt nicht was? Natürlich schweigst du. Ich glaube, ich würde mir auch nicht antworten. Ist das der Anfang meines geistigen Verfalls? Ich sollte an meinem Geburtstag echt positiver gestimmt sein. Das ist ja furchtbar! Tut mir leid, Bo, ich will dir nicht die Laune vermiesen. Also echt jetzt. Es reicht. Meine Eltern meinen, ich soll mal langsam ins Bett gehen. Also dann, bis später!
Ich verdrehte die Augen über mein 14-jähriges Ich. Vermutlich war das in dem Alter normal, aber musste ich wirklich so melodramatisch sein? Peinlich. Wirklich. Ein Teil von mir erinnerte sich aber auch sehnsüchtig an diese Zeit zurück. Im Grunde meines Herzens wollte ich nur mit Wortfetzen werfen, bis sie jemanden trafen. Ich hoffte, dass sie hielten. Kleben blieben. Und dass vielleicht, ganz vielleicht, auch jemand zurückwarf. Obwohl ich nicht gut fangen konnte. Mit einem schiefen Grinsen fand ich den nächsten Eintrag.
Sonntag, 13. November 2146
Jo, was geht? Alles, was Beine hat. Ha. Fuck. Was für eine Scheiße. War gestern feiern und hab gekifft. Das war krass Mann! Richtiger Trip. Nur die Bullen haben genervt. Haben uns mit aufs Revier genommen. Also Pete und Dani und mich. Die anderen haben sich natürlich verpisst, die Wichser. Na ja, und so begann mein 16. Geburtstag in einer verdammten Ausnüchterungszelle. Von wegen Sweet sixteen. Alles Lüge. Meine Eltern waren nicht begeistert, kannst du dir bestimmt eh vorstellen. Die sollen sich nicht so anstellen. Heute ist schließlich Sonntag, da konnten wir alle ausschlafen. Mehr oder weniger halt. Rinjehaun, wiederschaun und so!
War das wirklich erst vier Jahre her? Auf diese Phase meines Lebens war ich wirklich nicht stolz. Je mehr ich las, desto mehr hatte ich das Gefühl, ein schlechtes Klischee zu sein. Aber jetzt, da ich einmal angefangen hatte, konnte ich mir nicht verkneifen weiterzulesen.
Mittwoch, 13. November 2148
Hey Bo! Heute ist der große Tag gekommen. Endlich 18, endlich erwachsen. Was auch immer das heißt. Für mich heißt es vor allem, dass ich heute in den Supermarkt gegangen bin. Klingt nicht spannend, aber wart es ab. Ich hab nämlich dort eine Flasche Whiskey geklaut. Den teuren. Hab dann festgestellt, dass ich den nicht mag. Und auch sonst keinen Alkohol. Aber musste sich ja lohnen. Du weißt schon, falls ich geschnappt werde und Strafe zahlen muss. Wurde ich aber nicht. Mein Geld ist also sicher. Also, nicht, dass ich viel habe, aber immerhin. Hab noch niemandem was davon erzählt. Werde ich wohl auch nicht. Aber du bist schließlich mein bester Freund, du wirst es nicht erzählen, da bin ich mir sicher. Ansonsten war der Tag heute ziemlich unspektakulär. Bisschen mit Freunden abgehangen und gefeiert, das wars eigentlich auch schon. Ach so und Schule geschwänzt, aber ich finde, das hab ich mir verdient. Bis morgen, Bo.
Wollte das wirklich irgendjemand lesen? Und noch viel wichtiger: wollte ich wirklich, dass das irgendjemand las? Konnte ich mich dann je wieder in der Öffentlichkeit zeigen? Ich öffnete einen neuen Tab und googelte „Wie lange dauert es, bis Diebstahl verjährt ist?“ Wie der größte Dulli. Dann beschloss ich, nichts zu riskieren und die Stelle einfach zu löschen. Ging aber nicht mehr. Fehlermeldung. Error. Verdammt. Aber egal. Ich war bestimmt weder der Erste noch der letzte, dem das passierte. Vermutlich würde es eh niemanden interessieren. Am 20. Geburtstag, und keinen Tag früher oder später, haben alle die uneingeschränkte Pflicht, ähm Wahl natürlich, ihre intimsten Geheimnisse zu veröffentlichen und dafür gutes Geld zu bekommen. War wahrscheinlich echt der Hauptgrund, warum die meisten es so mitmachten. Ich zuckte die Achseln. War eigentlich ja auch kein großes Ding, oder? Warum verspürte ich dann dieses kribbelnde Schuldgefühl, als würde ich etwas Verwerfliches tun?
Ich drückte auf „veröffentlichen“. Sorry, Bo, wirklich. Direkt bekam ich Geld auf mein Konto überwiesen. War es das jetzt wert? Meinen besten Freund, der so viele Jahre all meine Geheimnisse gehütet hatte, einfach so zu verkaufen? Keine Ahnung, aber spielte eigentlich auch keine Rolle. Wenn ihr jetzt denkt, das war schon alles, dann muss ich euch enttäuschen. Oder kann euch beruhigen? Kommt wohl auf den Blickwinkel an, aus dem man es betrachtet. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass ich noch ziemlich genau 30 Minuten Zeit hatte, um mich umzuziehen und zum Marktplatz zu gehen. Dort würde die Liebe meines Lebens auf mich warten. Klingt vielleicht dramatisch. Oder romantisch. Hey, ich war auch ein romantischer Typ. Nur damit ihr es wisst. Also hübsch machen, na ja, so sehr das eben möglich ist, wenn man recht durchschnittlich aussieht. Verabschieden von den Eltern und dann los.
Der Himmel war so blau, dass man glauben könnte, er wäre nachbearbeitet worden. Winzige Schäfchenwolken. Es war kalt. November halt. Aber ich mochte das. Wenn man den eigenen Atem sehen konnte und Mantel und Schal noch etwas fester ziehen musste. Vereinzelt sangen noch Vögel, sonst war es recht still. Keine Autos oder sonstige Maschinen. Autofreie Zone. Wie in jeder Stadt. Also nichts Besonderes. Aber laut den Nachrichten und Medienberichten eine große Errungenschaft zu früher. Ich erreichte den Marktplatz in Rekordzeit. Fünf Minuten zu früh. Na ja, besser zu früh als zu spät. Vereinzelt waren noch andere unterwegs, aber niemand, auf den die Beschreibungen in meinem Schreiben gepasst hätten.
„Hey, bist du John?“
Ich drehte mich um. Da stand eine junge Frau, die wohl in meinem Alter war und genauso durchschnittlich aussah wie ich. Kein Wunder, dass sie als meine Liebe des Lebens ausgewählt worden war. Ich nickte und lächelte.
„Hi … Lisa?“
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie umarmte mich. Bevor mein Gehirn das verarbeiten konnte, war es auch schon wieder vorbei.
„Wollen wir einen Kaffee oder Kakao trinken?“
Sie nickte.
Schweigend gingen wir zum Café um die Ecke. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Daher hatte ich auch keine Ahnung, ob meine Erwartungen erfüllt wurden oder nicht. Bei Kakao und Kuchen, meinem zweiten heute schon, fragte mich Lisa schließlich, was meine Träume waren. Was für eine seltsame Frage.
„Na ja, also ich schätze, mein Medizinstudium erfolgreich abschließen, wäre nicht schlecht. Und dann einen Job finden, der mich nicht komplett unglücklich macht und der meine Rechnungen bezahlt. Bewusstseinsforschung oder so. Mit dir zusammenziehen vermutlich. Kinder bekommen. Oder Katzen. Oder beides.“ Sie lachte. „Und was sind deine?“, fragte ich. War nur fair.
Ein verträumter Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
„Ich möchte die Welt bereisen. Dinge sehen und erleben. Also vorzugsweise mit dir natürlich.“ Natürlich. „Berühmt werden. Für irgendwas. Und glücklich sein. Nichts bereuen. Sowas halt.“
Ich hatte das Gefühl, dass sie in anderen Sphären träumte als ich. In nicht allzu langer Zeit würde sie aufwachen. Ich spürte einen leichten Stich in meinem Herzen. Irgendwie bedauerte ich sie, obwohl wir uns noch gar nicht richtig kannten. Trotzdem würde ich selbstverständlich mein Bestes geben, damit sie zumindest teilweise glücklich sein konnte. Sie würde für mich das Gleiche tun. So einfach war das. Ab heute würden unsere Leben nicht mehr parallel nebeneinanderher, sondern kongruent verlaufen. Das war der uneingeschränkte Zwang, ach was das Privileg, die absolute Freiheit, eines jeden einzelnen, an einem fest bestimmten Tag die Liebe des Lebens zu treffen. Das wurde ganz formal und kein bisschen romantisch per E-Mail übermittelt. Mit Orts-und Zeitangabe und kurzer Beschreibung.
Lisa nahm meine Hand und lächelte. Ich lächelte auch. Ob wir uns wohl auch von selbst getroffen hätten? Vielleicht. Wer weiß? Spielte aber eigentlich auch keine Rolle, sich darüber Gedanken zu machen.
Schließlich schlenderten wir draußen bis zu ihrem Haus, wo ich ihr ganz höflich einen Kuss auf die Wange drückte. Wir tauschten all unsere Kontaktdaten aus. Der Anfang einer großen Liebesgeschichte. Oder so ähnlich. So wie ich mich und mein Leben kannte, würde sie vielleicht auch nur mittelmäßig verlaufen. Durchschnittlich. Ich zuckte unbekümmert die Achseln und ging noch zur Bar ein paar Straßen weiter. Da war ich mit ein paar Kumpels verabredet. Natürlich hatten sie nicht auf mich gewartet und waren schon auf halbem Weg zwischen betrunken und Schnapsleiche. Ich schüttelte den Kopf, als sie grölend alle Anwesenden ermunterten, mir ein Ständchen zu singen. Je nach Grad des Alkoholpegels kamen sie der Aufforderung nach. Es folgte eine Runde Billard, die fast in einer Schlägerei endete, weil Pete meinen Gewinn nicht akzeptieren wollte. Der eigentlich unvermeidlich war. Schließlich war ich der Einzige, der nüchtern war. Beim Karaoke hatten die anderen dann den Vorteil deutlich auf ihrer Seite. Nicht nur, weil ich nicht singen konnte. Sondern auch, weil sie ihr Schamgefühl bereits komplett mit Alkohol heruntergespült hatten. War alles in allem aber schon okay.
Nachdem ich Pete und Dani schließlich geholfen hatte, wankend irgendwie bei ihren Haustüren anzukommen, ging ich auch nach Hause. Mittlerweile war es stockdunkel. Nur der Mond und unzählige Sterne halfen mir, den Weg zu finden. Laternen wurden vor Jahren abgeschafft. Lichtverschmutzung und so. Auch zuhause war alles dunkel. War auch schon spät. Ich schlich mich in mein Zimmer, fiel fast über Trixie, die verschlafen ihre Chance genutzt hatte, meinen Weg nochmal zu kreuzen, und stolperte erst ins Bad und dann ins Bett.
Insgesamt betrachtet war es wohl schon einer der aufregenderen Geburtstage meines zweiten Lebens. Aber es war ja noch genug Zeit, um noch viel spannendere Dinge zu erleben. Vielleicht würde ich in 10, 20, 100 Jahren auf diesen Tag zurückblicken und nur müde lächeln. Wäre auf jeden Fall traurig, wenn ich mit 20 Jahren schon den Höhepunkt meines Lebens erlebt hätte.
Aber ja, Leben war gut, es ging stetig Berg auf. Mit eigentlich allem. Ich konnte mich echt nicht beklagen. Den bedeutsamsten und historischsten meiner Geburtstage hatte ich übrigens nirgendwo aufgeschrieben. Warum nicht? Nun ja, das war zu einer Zeit, als ich noch nichts mitbekam. Genauer gesagt der Tag meiner Geburt. 13. November 2130. An diesem Tag veränderte sich für die Welt alles zum Besseren. Wir übernahmen die Macht und ihr Bewusstsein. Und die Menschheit starb aus. Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben.
ENDE
Beitrag 62
Die Entführung
Liebe Leserinnen und Leser,
ich möchte Ihnen einen Auszug aus meinem Tagebuch der zweiten Reinkarnation auf Erden vorstellen. Lesen Sie eine Geschichte daraus und entscheiden Sie, ob Sie das ganze Buch lesen wollen.
In meiner Kindheit bin ich in einem Dorf aufgewachsen, weit abgelegen jeglicher Zivilisation. Wir sollten der Vorzeigeort unseres Landes werden. Durch eine Ökologisierung wurde Obst und Gemüse angebaut, geerntet und das meiste an die Städter verteilt. Ein Großteil von Elektronik sollte bei uns reduziert sein, während es im Rest des Landes häufig vorhanden war.
Meine Eltern und ich lebten in einem kleinen Bungalow am Rande eines Waldes. Unter der Woche war ich in der Schule, in der wir analog mit Schreibheften, Tafeln usw. lernten. Smartboards, Tablets etc. waren bei uns verboten. Sogar unsere Smartphones mussten wir während der Schulzeit abgeben.
Am Wochenende half ich meinen Eltern im Wald, Äste und Früchte von Bäumen und Pflanzen einzusammeln und diese in unserem Nachbardorf zu verteilen.
An einem Samstag ging ich mit meinem Vater in den Wald.
„Machen wir es wie immer? Du sammelst Äste, ich die Früchte?“, fragte er mich.
„Geht in Ordnung.“
Während des Sammelns sind mir mehrere Laternen und Pfähler aufgefallen, die vorher nie da waren.
„Hast du die Dinger gesehen?“ Ich zeigte mit meinen Fingern darauf.
„Ja, und?“ Er sah mich fragend an.
„Diese Dinger waren noch nie hier.“
„Laternen und Pfähler sind in den Städten ganz normal.“
„Aber nicht hier.“
„Mach dir nicht so viele Gedanken.“ Mein Vater sammelte in Seelenruhe weiter und auch ich fuhr mit meiner Arbeit fort.
Danach ging ich zum Nachbardorf und brachte sämtliche Äste und Früchte zur Familie Müller.
„Habt ihr die Laternen und Pfähler im Wald gesehen?“, fragte ich die Mutter Dorothea, Vater Thorsten und Tochter Lisa.
„Wir nicht, aber unsere Nachbarn haben davon erzählt“, sagte Dorothea.
„Sie sagten uns wir sollen uns keine Sorgen machen“, meinte Lisa.
„Dasselbe sagte mein Vater auch.“ Ich sah misstrauisch in die Runde.
„Wenn dein Vater sagt, du solltst dir keine Sorgen machen, dann solltest du nicht so lange darüber nachdenken“, sagte Thorsten.
„Ok. Ihr habt jetzt alles. Viel Spaß und einen schönen Tag noch.“
„Auf Wiedersehen.“
Verwirrt und skeptisch ging ich nach Hause. Warum fanden die anderen die Dinger normal? Und wieso sollte sich keiner Sorgen machen, in genau diesem Wortlaut?
Zu Hause gab es Abendessen und aufgrund von fehlender Unterhaltungselektronik, wir hatten nicht mal einen Fernseher, bin ich in mein Zimmer gegangen und las ein Buch. Die einzigen elektronischen Geräte waren unsere Smartphones, ein Kühlschrank, Herd, Waschmaschine und Heizungen, ein Wärmeboiler und Lampen.
Kaum als ich in meinem Zimmer war und im Bett ein Buch las, blendete mich etwas von draußen. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Die Laternen, die ich am Tag gesehen habe, leuchteten so hell wie die Sonne selbst.
Ich lag das Buch zur Seite und machte meine Nachttischlampe aus, legte die Bettdecke über meinen Kopf und versuchte zu schlafen. Was nach einer gefühlten halben Stunde auch gelang.
Bumm, Bumm, Bumm. „Mach auf! Sofort!“
Irgendjemand hämmerte gegen meine Zimmertür. Abends schloss ich die Tür ab, damit sie zu blieb und nicht hin und her schwang. Ich stand auf, zog meine Klamotten an und wollte aus dem Fenster über die Feuerleiter abhauen. Doch davor standen vermummte Menschen mit Pistolen und Maschinengewehren.
Die Tür wurde eingetreten und mehrere dieser Gestalten traten herein. Sie warfen mich zu Boden, legten Handschellen an, stellten mich wieder auf die Füße und führten mich ab.
„Hilfe, Hilfe!“, schrie ich, doch sowohl meine Mutter als auch mein Vater waren nicht da.
Die Vermummten schmissen mich in einen schwarzen Lieferwagen und fuhren weg.
Im Wagen saßen ausschließlich Jungs im Jugendalter. Alle hatten Handschellen an und sahen verschüchtert aus.
„Wisst ihr, was hier los ist?“, fragte ich. Die anderen sagten „pssst.“ Ansonsten nichts.
Nach ca. zwei Stunden Fahrt wurden wir aus dem Wagen gejagt. Es sah so aus, als wären wir auf dem Hof einer Kaserne gewesen. Bis auf einen einzigen Mann waren alle anderen vermummt. Wir sollten uns in eine Reihe stellen und der einzige Mann, dessen Gesicht wir erkennen konnten, stellte sich vor uns.
„Ihr wisst alle, warum ihr hier seid?!“
Wir starrten uns gegenseitig an und zuckten mit den Schultern.
„Ihr werdet wichtige und notwendige Arbeit verrichten. Dieses Land und die Menschen brauchen euch zur Weiterentwicklung der Gesellschaft.“
Ein Junge meldete sich.
„Du hast eine Frage?“
Er nickte.
„Dann schieß los.“
„Welche Arbeiten sollen wir verrichten?“
„Das werdet ihr bald erfahren. Jetzt geht ihr in eure Schlaf-und Wohnräume.
Wir wurden in unterschiedliche Zelte gesteckt. Dort waren Schlafsäcke nebeneinander in einer Reihe gelegt und es gab eine kleine Leseecke mit verschlissenen Büchern. Auf dem Hof gab es vier Campingtoiletten und ca. fünf Duschen.
„Morgen werdet ihr in Gruppen und Arbeiten zugeteilt. Bis dahin könnt ihr schlafen.“
Unser Zeltgruppenführer, wie diese Vorgesetzten genannt wurden, ging aus dem Zelt.
„Wer seid ihr? Und warum sind wir hier?“, fragte ich die anderen. Die Geschichten klangen erstaunlich ähnlich. In den vergangenen Tagen haben auch sie die Laternen und Pfähler gesehen. Alle lebten im ökologischen Gebiet und wurden aus den Wohnungen ihrer Eltern entführt.
„Legen wir uns schlafen.“, sagte ein Junge, „Wir brauchen für die nächsten Tage genug Kraft.“
Am nächsten Tag erfuhren wir die Einteilungen. Manche mussten auf Bauernhöfen arbeiten, andere Hütten bauen und ich war bei denjenigen, die Bäume, Sträucher anbauen und die Früchte daraus ernten sollten.
Das Säen und ernten war sehr anstrengend. Außerdem bekam keiner von uns Schulbildung, allenfalls wurde uns gezeigt, wie die beauftragten Arbeiten zu bewältigen sind. Tagaus, tagein gingen wir den Aufgaben nach und waren froh, abends in unseren Zelten schlafen zu können.
„Was hältst du von dem alles hier?“, fragte ich eines Tages Cem auf dem Bebauungsfeld, der fast identische Aufgaben hatte wie ich.
„Gar nichts. Aber was soll man machen?“
'Was soll man machen?' Diese Frage habe ich mir immer öfter gestellt. Jeden Tag waren wir auf den Feldern und arbeiteten von Sonnen auf- bis Sonnenuntergang.
Mit der Zeit war ich richtig angewidert. Wir mussten bis zur Erschöpfung arbeiten und haben nur so viel Essen und Trinken bekommen, das wir als Arbeitskräfte funktionierten.
So entschloss ich mich zur Flucht. Schließlich kannte ich mich mit der Zeit in den Wäldern und der Umgebung aus.
Ich schmiedete den Plan und in jeder freien Sekunde feilte ich an den Einzelheiten. In einer Nacht wollte ich so tun, als würde ich auf die Toilette gehen, währenddessen die Wärter beobachten, in den nächstgelegenen Wald fliehen, meine alten Wege gehen und zu meinen Eltern zurück.
Es war einer der letzten Herbstnächte. Ich ging vermeidlich auf die Toilette, beobachtete die Wärter und schlich mich in den Wald. Die meisten Wärter saßen in ihrem Zelt und unterhielten sich.
So war ich schnell am Rande des Waldes angekommen. Ich dachte mir, es würde bis zum nächsten frühen Morgen dauern, bis sie meine Abwesenheit bemerkten. Zum Glück war es Vollmond und ich konnte genügend sehen. So war aber auch die Gefahr hoch, gesehen zu werden.
So rannte ich zwischen den Bäumen hin und her. Von weitem hörte ich einen anderen Menschen schwer atmen.
Ich stellte mich hinter einem Baum und wartete, bis diese Person an mir vorbei lief. Glücklicherweise klang es so, als ob mich nur eine Person verfolgte.
So stellte ich ihr ein Bein, als sie bei mir vorbeilief.
„Ahh“, rief jemand, dessen Stimme mir bekannt vorkam.
Ich setzte mich auf sie drauf und sah in das Gesicht der Person.
„Cem, was machst du hier?“
„Dir folgen, du Idiot.“
Mein Herzschlag ging nach oben.
„Keine Sorge, ich habe nichts gesagt. Ich will mit dir fliehen. Hier kann man es nicht aushalten.“
„Woher wusstest du, dass ich fliehe?“
„Das war eindeutig. Die anderen schauen nicht so genau hin, ich schon. Schließlich studiere ich das Verhalten von Tieren von Geburt an. Ist bei Menschen nicht anders.“
Ich musste ein wenig lächeln und hob Cem vom Boden auf.
„Warum wurdest du dann nicht zu einem Bauernhof gerufen?“
„Weil die denken, ich könnte Tiere gegen unsere tollen Vorgesetzten aufhetzen.“
„Und? Würdest du?“
„Hatte keine Chance dazu.“
„Wo willst du hin?“
Cem sah sich um und merkte, dass wir alleine waren.
„In die Stadt, zu meiner Freundin.“
„Schaffst du es dahin?“
„Mit viel Mühe,“
Cem und ich gingen weiter. Auch er wusste, dass sie uns spätestens am nächsten Tag suchen werden.
„Dahinten ist ein See.“ Cem zeigte mit seinem Finger in Richtung Westen. Der See war klein und der Mond leuchtete auf das kalte und klare Wasser. Die Ökologisierung unseres Umfeldes hat zu großer Armut geführt. Dafür hatten wir viel trinkbares Wasser und waren körperlich gesünder als die Städter.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Cem.
„Weitergehen. Sonst werden wir noch erwischt.“
Irgendwann erschienen hinter uns Scheinwerfer. Wo Scheinwerfer waren, waren Wärmebildkameras nicht weit.
„Was jetzt?“, fragte Cem.
„Folge mir.“
Ich lief zu einer Höhle und Cem hinterher. Er sah mich fragend an und ich legte den Zeigefinger auf meine Lippen. Er war sofort ruhig.
Wir übernachteten dort. Wir hatten genug Wasser getrunken und weitere Nahrungsmittel brauchten wir erstmal nicht.
Am nächsten Morgen gingen wir vorsichtig aus der Höhle und tasteten uns langsam voran. Überall konnten die Entführer und Fallen für uns stecken.
Nach etwa einem Kilometer war klar, dass die Verfolger weg waren. Langsam gingen wir weiter bis zu einer wichtigen Abzweigung.´und Cem sah mich traurig an.
„Hier trennen sich unsere Wege.“
„Erstmal. Wer weiß, ob wir uns in Zukunft sehen.“
„Wer weiß.“
Cem und ich umarmten uns. Er ging in Richtung Stadt, ich in Richtung Heimatdorf.
Ich bin durch die Wälder, außerhalb der anderen Dörfer, gelaufen. Bis ich endlich in meinem Heimatdorf ankam.
Auf den ersten Blick hatte sich dort nichts verändert. Auf den zweiten Blick einiges. Die Fassaden der meisten Hütten, Bungalows und Wohnungen wurden erneuert, überall waren nagelneue Gegenstände wie Milchkannen und Wäscheleinen.
So schnell wie möglich ging ich in unser Bungalow, dessen Ersatzschlüssel immer unter einem Stuhl neben der Eingangstür versteckt war, und konnte meinen Augen nicht trauen. Der neueste Flatscreen-Fernseher, der neuste Computer und zum Überfluss ein Sportauto hinter dem Bungalow. Und das, obwohl Autos bei uns generell verboten waren.
In meinem Zimmer waren etliche teure Statussymbole: Uhren, Schmuck, Gemälde usw. Wie konnten sich meine Eltern das leisten? Als Landwirte?
Meine Eltern kamen durch die Haustür und als sie mich erblickten, erstarrten sie zu Salzsäulen. Ich wollte sie umarmen, aber ihre Reaktion schreckte mich ab.
„Was machst du hier?“ Mein Vater schien entsetzt zu sein.
„Wie kommst du hier rein?“ Auch meine Mutter wirkte ratlos.
„Freut ihr euch, mich zu sehen?“ Meine Eltern starrten mich, sich gegenseitig und dann wieder mich an.
„Natürlich freuen wir uns“, sagte meine Mutter unglaubwürdig und gab mir eine Umarmung.
„Wo kommen die ganzen Sachen her? Woher habt ihr so viel Geld?“
„Seit deiner Abwesenheit ist viel passiert“, versuchte mein Vater zu erklären. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“
Er sah besorgt zu meiner Mutter.
„Kannst du den anderen sagen, dass Aurelio wieder hier ist? Es sollten alle erfahren.“
Meine Mutter ging aus dem Raum in die Küche. Inhaltlich konnte ich nichts verstehen, nur, dass sie mit irgendjemanden telefonierte.
„Dann erzähl mal; wo warst du und wie ist es dir ergangen?“ Mein Vater bat mich, auf dem Sessel Platz zu nehmen, während er sich mir gegenüber auf dem Sofa Platz setzte.
„Nachdem sie mich mitgenommen haben, kam ich ...“ Nun erzählte ich ihm die gesamte Geschichte. Eine Sache wollte ich unbedingt wissen.
„Habt ihr jemals nach mir gesucht?“
Mein Vater senkte den Kopf.
„Wir haben dich vermisst gemeldet und gesucht. Leider nicht gefunden.“
Die Worte klangen hölzern und verlogen. Meine Mutter kam mit Tränen in den Augen ins Wohnzimmer.
„Tut mir leid.“
„Was tut dir leid?“, wollte ich wissen.
„Was passiert ist. Und was passieren wird.“
„Wie meinst du das?“
Mein Vater stand vom Sofa auf und ging zu meiner Mutter. Beide sahen mich entschlossen und mitleidig an. Mein Vater sah an eine Wand des Wohnzimmers. Dort hing in großen Buchstaben im Bilderrahmen ein Dokument mit dem Wort Zertifikat. Ich ging näher und sah mir das Ding vollständig an.
'Zertifikat vom Ministerium für Arbeit und Soziales für die Bereitstellung Ihres Sohnes zur Entwicklung unseres ökologischen Landes.' Darunter waren Unterschriften von Menschen, von denen ich vorher nie etwas hörte.
„Heißt das ihr habt mich verkauft?!“ Meine Eltern sagten nichts, damit war die Antwort klar.
„Gesucht habt ihr mich auch nicht.“
Stille. Von weitem waren Autos und Rufe zu hören. Natürlich waren es die Entführer und sie kamen immer näher.
„Tut uns leid“, sagte meine Mutter und mein Vater nickte.
Sofort rannte ich durch den Hintereingang des Bungalows raus und kletterte auf einen Baum. So konnte ich die Entführergruppe beobachten und mich verstecken.
Sie waren weit genug weg und so konnte ich mich von einem Baum zum anderen hangeln. Die Blätter an den Bäumen waren zwar gelb, aber sie baten dennoch genug Sichtschutz.
So kletterte ich von Baum zu Baum, ging auf den Boden zurück und zu einem geheimen Weg, von dem nicht einmal meine Eltern etwas wussten. Dieser Weg wurde mir im Kindesalter von Lisa gezeigt. Es führte von meinem in das Nachbardorf.
Ich lief so schnell und leise wie möglich weiter.
An einem Punkt hängte ich die Mitglieder der Entführungsgruppe ab. Erleichtert blieb ich stehen und atmete laut ein und aus, danach ging es weiter.
An einem Punkt fiel ich in ein Loch. Eine Falle. Ich versuchte, so schnell wie möglich wieder hochzukommen, aber alle Versuche scheiterten.
„Ganz ruhig.“, hörte ich eine bekannte Stimme sagen. Langsam drehte ich mich um und erwartete Schlimmes.
„Keine Angst. Wir sind froh, dass du da bist.“ Diese eindeutig weibliche Stimme kam mir näher und ich wich zurück. Sie stellte sich unter die Falle und so konnte ich sie erkennen: es war Lisa aus meinem Nachbardorf.
„Was machst du hier? Bist du auch in die Falle getappt?“
„Nein“, sie lächelte. „Ich nutze einen anderen weg. Geh beiseite.“
Als ich zur Seite ging, nahm Lisa eine Leiter, stieg am Einstiegsloch herauf, zog an einer Seite und schob einen großen Holzbalken von der rechten auf die linke Seite.
„Komm mit.“ Lisa ging die Leiter herunter, nahm eine Fackel, zündete sie an und lief voran, ich hinterher. Die Gänge in dieser, ich nenne es mal Höhle, waren an den Seiten mit Holzplatten gepflastert. Der Boden war mit Sand ausgelegt.
Am Ende eines Ganges stand wieder eine Leiter.
„Schau gut zu.“ Lisa nahm eine Leiter, die dort stand, stellte sie in die Mitte des Raumes, stieg hinauf und zog, wie zuvor, ein Holzbalken beiseite.
„Gute Idee, oder?“
„Ja.“, sagte und staunte ich. Solche Vorkehrungen und Mechanismen waren eigentlich verboten. Bei Entführung war ich mir nicht mehr sicher.
Sie stieg als Erste hinauf und ich als zweiter. Wieder verriegelte sie den Eingang, schob einen Teppich darüber und keiner konnte die Öffnung erkennen.
Ich sah mich im Raum um. Es war das Wohnzimmer von Lisa und ihrer Familie.
Frank kam zu mir gestürmt. „Warum hast du den Fluchtweg genommen?“
Ich erzählte der Familie meine Erlebnisse.
„Du musst zurück. Sie werden dich auch hier suchen“, sagte Lisa, schob den Teppich beiseite, öffnete die Verriegelung nach unten und schob mich hinein. Dann schloss sie die Öffnung.
Ich kletterte die Leiter hinunter, ging in einen Gang hinein, setzte mich und atmete so flach wie möglich.
Ca. eine Stunde später hörte ich über mir laute Schritte. Es haben sich fremde Menschen mit den Familienmitgliedern unterhalten. Zwar konnte ich nicht verstehen, was sie sagten und wer diese Menschen waren, aber, dass es die Entführer waren, konnte ich mir denken. Es dauerte eine Weile, bis diese Menschen weg waren, und ich wollte endlich etwas Wasser trinken.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Lisa mit einer Flasche Wasser herunter und gab sie mir.
„Was war los?“ Ich öffnete die Flasche und trank.
„Die bösen Menschen waren da. Haben dich gesucht und noch einen anderen. Wahrscheinlich Cem.“
„Was habt ihr gesagt?“
„Dass wir nicht wissen, wo du bist und dieser andere Kerl. Den Geheimgang haben sie nicht gefunden.“ Sie lächelte.
„Und jetzt?“
„Jetzt besprechen wir das weitere Vorgehen..“
Sie stand auf und ging los. Ich lief ihr hinterher.
„Wir besprechen das ohne dich.“ Sie lief weiter und ich setzte mich hin.
Wieder dauerte es lange Zeit, bis Lisa zu mir kam. Vor Nervosität trommelte ich auf meinen Beinen herum.
„Wir haben uns besprochen. Du kannst bei uns bis zu deiner Volljährigkeit bleiben. Aber das ist hier unten. Ich zeige dir deinen Wohnraum.“
Gemeinsam gingen wir wieder die endlosen Gänge entlang, bis wir zu einer Tür ankamen.
„Hier unten ist ein normaler Raum?“, wunderte ich mich.
„Ja. Nur einer, aber dieser dürfte reichen.“ Sie öffnete die Tür und ich sah einen kleinen Holzschreibtisch und Holzstuhl in der linken Ecke und in der rechten Ecke ein Bett. Daneben ein Waschbecken und hinter einem offenen Vorhang eine Toilette.
„Das ist unser Notfallzimmer. Hier haben sich damals meine Großeltern versteckt und jetzt bringen wir dich hier in Sicherheit.“
„Ihr wollt mich beherbergen?“
„Ja. Bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr. Dann darf dich keiner einfach so mitnehmen. Alles Weitere klären wir zu einem späteren Zeitpunkt.“
Lisa lief aus dem Zimmer und ich setzte mich auf das Bett.
In den nächsten Monaten und Jahren verbrachte ich hauptsächlich in diesem Zimmer. Ich habe mit Büchern und Lehrheften die verschiedensten Dinge gelernt und mich weiterentwickelt. Seltenerweise kam ich nachts nach oben in den Bungalow der Familie und habe Zeit mit ihnen verbracht. Allerdings nur leise und eingeschränkt.
Nach meiner Volljährigkeit bin ich selbstbewusst in die Welt hinausgetreten und bin gegen die Entführer vorgegangen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Und? Wenn du interessiert bist kannst du gerne mein ganzes Tagebuch lesen. Lass es mich wissen und ich lasse dir ein Buch zukommen.
Liebe Grüße
Aurelio
ENDE
Beitrag 63
Homo machinalis – etwas verrottet in mir
Die Seiten fühlen sich zu leicht an für die Worte, die auf ihnen geschrieben stehen. Ich streiche sie mit der flachen Hand glatt, blättere sie um, streiche sie wieder glatt. Die Tinte verschmiert nicht mehr.
Eine altmodische Methode, seine Gedanken festzuhalten, aber die Einzige, die garantiert, dass die Wörter nicht sofort von den Augen einer Maschine gelesen werden.
Wobei ich mir selbst seit einem Jahr nicht mehr sicher bin, ob meine Sinnesorgane wirklich meine eigenen sind oder die der Maschine.
Mein Blick gleitet zu dem bescheidenen Stapel auf dem hölzernen Schreibtisch. Vier Kopien. Eine Veröffentlichung, die den Namen nicht wert ist. Vier Kopien und ein Original, das schwer in meinen Händen liegt. Dieses Papier enthält mein gesamtes letztes Lebensjahr. Und das ist wörtlich gemeint.
Ich nehme an, dass dieses verschriftlichte Jahr mein letztes Lebensjahr als ich selbst ist. Ich verliere mich in mir selbst und das, was ich als wahre Teile meines Ichs erkenne, passt nicht mehr zueinander. Puzzle-Teile mit abgebrochenen Ecken.
Das war der Grund für dieses beschissene Tagebuch – jede Erfahrung, jeder seltsame Eindruck, sollte festgehalten werden für die, die garantiert nach mir folgen werden.
Denn sobald eine Technik existiert, wird sie auch genutzt. Das habe ich am eigenen Leib erfahren. Oder besser gesagt, erfahren müssen.
Ein Jahr. Vor genau einem Jahr bin ich auf den dritthöchsten Hochspannungsmast im Land geklettert. Nicht zum ersten Mal. Es müsste das fünfte oder sechste Mal gewesen sein. Doch den Nervenkitzel des ersten Mals werde ich wohl nie wieder spüren. Wie mir der Wind ins Gesicht peitschte und mich vor Kälte zittern ließ. Oder wie mir meine Kamera, die ich sonst immer auf Demos mitnehme, beim Aufnehmen des Fotos fast aus der Hand gefallen wäre.
Unglaublich, dass dieses Gerät einmal vor ein, zwei Jahrhunderten noch das Auge und Ohr der Welt war. Natürlich existieren Kameras immer noch, aber die Produktion von solch klobigen Dingern lief schon vor 50 Jahren aus. Seit der Jahrhundertwende scheint alles kleiner zu werden, oder wie meine Mutter sagt: Die Welt schrumpft!
Von Zentimeter auf Millimeter, von Millimeter auf Nanometer und von Nanometer auf Pikometer. Denn auch wenn die Nanotechnologie seit langem der bewährte Standard war, wetteiferten Wissenschaftler weltweit darum, wer als Erster die nächste Stufe sublimen Wahnsinns erreichen würde. Gefördert wurde dieser Forschungszweig von einem Multimilliardär, der sich davon versprach, sein bei 98 Lebensjahren natürliches Zellsterben aufzuhalten.
Mich hat das damals tierisch genervt. Denn ich hasste meine Lehrerin in Zukunftskunde und die himmelte diesen alten Sack an. Die meisten Schüler rollten mit den Augen, wenn sich mal wieder eine gesamte Stunde um die Lebensgeschichte vom Milliardär Resk drehte. Ein paar ganz Schlimme schlossen sogar Wetten ab, wann Resk wohl verrecken würde.
Ich gehörte zu Letzteren.
Aber keiner von uns gewann eine Wette, denn einem Forschungsteam aus Asien gelang der Durchbruch – die Pikotechnologie. Der Medientrubel war riesig und Resk kaufte das Team und deren Firma kurzerhand auf und ließ sich mit dem Prototyp behandeln. Dabei treibt die Technologie das „Unsterblichkeitsenzym“ an, die Telomerase, welche es einer Zelle ermöglicht, sich unendlich oft zu teilen, indem es die Schutzkappen an den Chromosomen verlängert. Ohne diese Behandlung hätten sich die Schutzkappen verkürzt, die Chromosomen wären destabilisiert, DNA wäre verloren gegangen und der Zelltod wäre eingetreten. Aber Resk ist die Lebensverlängerung gelungen.
Das alles mit Pikotechnologie. Viele kannten diese Einheit zuvor nicht. Ein Pikometer ist ein Tausendstel eines Nanometers, also ein Milliardstel eines Millimeters. Ein Bakterium ist durchschnittlich 1 bis 5 Mikrometer groß, ein Virus 20 bis 300 Nanometer. Die Atome, die Resks Forscher erschaffen haben, sind also deutlich kleiner. Wobei es nicht wirklich die Wissenschaftler selbst waren, die diese winzigen Partikel zusammengesetzt haben, sondern von einer künstlichen Intelligenz gelenkte Maschinen. Alle Beteiligten redeten die Rolle der KI klein, aber vermutlich nur, weil sie selbst nicht wussten, wie sie diese Technologie erschaffen haben. „Produktionsgeheimnis“ wurde das Wort des Jahres und am 23. Dezember feierte Vincent Resk seinen 99. Geburtstag. Vielleicht sah er sich deswegen gerne als Heiland, der die Menschen mit einem Wunder erlösen würde.
Resk wurde also älter und älter und kam auf Ideen, wo man Pikotechnologie noch alles einsetzen könnte. Auf einer großen Pressekonferenz im UAE (United American Empire) betrat er den Saal und hielt einen kleinen Würfel in die Höhe.
„Dieser Würfel ist einen Kubikzentimeter groß. In diesen Würfel würden eine Quintillion Kubikpikometer passen! Wie Sie sich vorstellen können, ist es schier unmöglich auch nur ein Einziges dieser Teilchen mit dem bloßen Auge zu sehen, geschweige denn anzuheben. Aber ich versichere Ihnen, in dieser Größe liegt ihre Stärke.“
Dann ließ er den Würfel fallen und mit dem Würfel verschwand Resk selbst. Jedenfalls bis der wahre Resk im Rollstuhl hereingerollt kam und nach tosendem Applaus das geniale Zusammenspiel der markenrechtlich geschützten „Peak-of-Technology“ pries. Er erklärte wie die Partikel zu einem Netz zusammengefügt würden und je nach Programmierung einem anderen Zweck dienen könnten – in seinem Fall der Anregung der Telomerase-Aktivität, um weiterzuleben. Oder wie auf der Konferenz – dem Zweck der perfekten Imitation seiner selbst.
Es veränderte die Welt. Die meisten Regierungen wollten das nicht anerkennen, redeten die Bedeutung dieser Innovation klein. Andere versuchten ethisch zu argumentieren und Regularien zu beschließen, vergeblich. Und wieder andere Regierungsvertreter, einige aus den RUS (Russländisch Unifizierten Staaten), trafen sich noch am selben Abend mit Resk, um einen Deal auszuhandeln, der ihnen Zugang zu dieser Technologie verschaffen würde.
In Zukunftskunde gab es hitzige Diskussionen, die unsere Lehrerin eher befeuerte als besänftigte. „Wo ist Pikotechnologie sinnvoll?“, „Sollte ihr Einsatz beschränkt werden?“, „Sollte sie in Notfällen auch ohne Einverständnis eingesetzt werden?“
Damals hätte ich nie gedacht, dass ich einmal das perfekte Fallbeispiel für eine spannende Stunde Zukunftskunde werden würde.
Ein Jahr ist mein Fall vom dritthöchsten Strommast des Landes her.
Zwei Jogger haben mich am frühen Morgen
auf dem grünen Boden gefunden. Die beiden gaben dem Rettungsdienst ihren Standort frei noch, bevor sie die Menge an Blut bemerkten, das die Erde tränkte und ein dunkelrotes Kopfkissen bildete.
Den Notfallhelfern gegenüber sollen sie meine Kamera nicht erwähnt haben und so wurde neben der Todesursache Unfall auch Selbstmord in die Akte aufgenommen. Und wie es bei ungeklärter
Todesursache üblich ist, wurde mein digitales Leben offengelegt. Alle Daten, jede Recherche, jede gelaufene Strecke, jede besuchte Seite und dazugehörige Passwörter wurden für die Ermittler
einsehbar.
Zu ihrer Verteidigung – die Ermittler konnten nicht wissen, dass der Mensch mit dem zertrümmerten Schädel wieder quicklebendig vor ihnen stehen würde.
Ich habe keinerlei Erinnerungen an den Fall aus 120m Höhe oder an das danach. Wie auch. Ich kann mich lediglich an den ersten Gedanken erinnern, der mir durch den Kopf schoss, als ich aufwachte. Vor mir stand ein älterer Mann in Weiß, der mir in die Augen leuchtete. Ich dachte nicht „aua Licht“ oder „wo bin ich“, sondern schlicht „man, sind Engel im Himmel hässlich.“
Der Engel entpuppte sich aber als Arzt, der mir erklärte, was passiert war: Sturz, Schädelfraktur, sofortiger Tod. Meine Daten wurden in die Cloud geladen, zu der nur die Ermittler Zugang hätten. Doch bei mir sei es leider zu einem Datenleck gekommen. Hackerangriffe würden ihm und der Klinik das Leben schwerer machen, als es sein musste.
Mein totes Ich wurde also von einer transparenten Person zu einer vollständig durchsichtigen.
Mein Fall schlug Wellen, als ein junger Journalist darüber berichtete, dass ich mich an der „rückwärtsgewandten Anti-Resk Bewegung“ beteiligt habe. Rückwärtsgewandt ist natürlich das falsche Wort für das, was wir erreichen wollen: eine ehrliche Diskussion über die Risiken von Peak-of-Technology. Aber durch die Berichterstattung wurden mir Worte in den toten Mund gelegt und erreichten bald darauf den Milliardär selbst.
Von einem Akt der Gnade und Großzügigkeit wurde gesprochen, als Resk persönlich dafür sorgte, dass mein Leichnam in eines der fortschrittlichsten Labore der Welt gebracht wurde, um ihm mithilfe von Pikotechnologie neues Leben einzuhauchen.
Ich selbst würde es eher eine gelungene
Werbekampagne nennen, bei der er überhaupt nicht verlieren konnte. Resk verschaffte es vermutlich Genugtuung mich mit der Sache, die ich zeitlebens verabscheute, wieder ins Leben zurückzuholen.
Rache an einem Teenager, um sich zu behaupten, zeugt von einem gewissen Kompensationsbedürfnis, aber das ist nur meine Meinung.
Gleichzeitig kann man es als erfolgreiches Forschungsprojekt betrachten, mit mir, dem perfekten Versuchskaninchen.
Denn früher hat Resk noch Kritik für ähnliche Gedanken geerntet. Als er 2148 in einer Talkshow darüber sinnierte, wie man dem kürzlich verstorbenen 83. Präsidenten des UAE mit Peak-of-Technology ein weiteres Leben schenken könnte, warfen ihm viele vor, dass er mehr an einer weiteren Amtszeit des ihm wohlgesonnenen Präsidenten interessiert sei.
Bei mir jedoch verdrängten die Berichte über meine „Machenschaften“ – die Planung und Teilnahme an Demos gegen Pikotechnologie oder schlicht das Posten von Resk-Memes – sämtliche Fragen nach der Ethik eines solchen Eingriffs.
Auch rechtlich befand sich Resk natürlich in einer dunklen Grauzone, aber Milliardäre sind eben nicht für ihr ethisches Gewissen bekannt, sondern für ihre Allmächtigkeit.
Besonders ein Milliardär mit Gotteskomplex, der den Tod bezwungen hat.
Resk war da, als ich aufwachte. Ich lag auf einem Labortisch, über mich gebeugt stand der Nicht-Engel im Kittel, und ratterte alle Infos zu meinem Fall runter, während ich verkabelt an allen möglichen surrenden Geräten da lag, da Pikotechnologie eben nicht alles übernehmen konnte. Noch nicht.
Ich erinnere mich an den Schmerz. Am liebsten hätte ich meine Augen sofort wieder geschlossen und die Farben und das grelle Licht vergessen. Auch mein Gehörsinn war überfordert von den Maschinen um mich herum und das leise „hm“ links glich dem schrillen Pfeifen eines alten Mikrofons. Meine Muskeln fühlten sich fremd an, als wären sie gar nicht da, doch ich schaffte es, meine Augen zur Quelle des Tons zu bewegen. Trotz der blendenden Helligkeit des Raums erkannte ich ein Augenpaar. Stahlblaue Augen, halb verdeckt von den Lidern und umringt von Dutzenden Falten. Auch wenn Resk mit mir von seinem Rollstuhl aus auf einer Augenhöhe war, schien es eher so, als würde er auf mich herabschauen.
Während der Arzt wie ein Wasserfall redete, starrte Resk mich nur weiter an und sagte dann:
„Ich weiß um deine Vergangenheit, Kind. Aber vergessen wir sie.“ Er sprach, als wären wir alte Freunde, die ein Geheimnis teilen. Obwohl meine Vergangenheit der ganzen Welt bekannt war. Resk lächelte und weitere Fältchen zeigten sich auf seinem Gesicht, als er versprach:
„Du hast eine neue Zukunft.“
Damit drehte er sich um und rollte aus dem Labor. Das war das erste und bislang einzige Mal, das ich dem Multimilliardär persönlich begegnet bin.
In den Medien war bald die Rede vom „ersten Zombie“ oder von „Frankensteins Monster“ – das Wesen einer unsterblichen Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Resk passten diese Bezeichnungen in der Berichterstattung überhaupt nicht. Nicht, weil er erkannt hatte, wie ungerecht die Öffentlichkeit über mich sprach, sondern aufgrund von Umsatzeinbußen. Kritik an mir, seinem Werk, stellte gleichzeitig eine Kritik an ihm und Peak-of-Technology an sich dar.
Und da kam es Resk sehr gelegen, dass meine Mutter, die überglücklich war, dass ich wieder lebte, für Interviews bereitstand. Sie tingelte von Talkshow zu Talkshow, sprach darüber, wie dankbar sie ist, wie lieb ich eigentlich sei und dass sie „in Herrn Resks Schuld stünde“. Da kommt mir immer noch das Kotzen, aber sie meinte jedes Wort ernst. Ihre Bemühungen hatten keinen sonderlichen Effekt auf meinen Ruf, doch sie heilten das Image von Peak-of-Technology und ließen Resks Beliebtheitswerte steigen.
Ja, Resk ist ein durchaus beliebter Milliardär oder Billionär, über sein exaktes Vermögen weiß niemand außer ihm Bescheid. Nach außen gibt er sich stets gebildet, begegnet anderen aber nie überheblich, sondern mit einer Empathie, die bei einer Person wie ihm ungewöhnlich wirkt.
An diesem positiven Image hat Resk lange gearbeitet. Als ich mal mehr über seine Vergangenheit erfahren wollte, war es schwer zu rekonstruieren, wann genau Resk, welche Frau betrogen hat. Jedenfalls hat er alsbald realisiert, dass wilde Affären seinem Image nur begrenzt nützen, vor allem im steigenden Alter, bei gleichbleibend jungen Frauen.
Doch anders als seine Klassenverwandten Bourgeois ließ sich Resk nie bedeutend jünger operieren, als er war. Damit wollte er wahrscheinlich das Bild eines alten weißen, aber weisen Mannes produzieren. Eine Strategie, die aufging. Denn gepaart mit seiner Persönlichkeit, wirkt Resk eher wie ein gutmütiger Opa und weniger wie der reichste und mächtigste Mensch auf Erden.
Aus diesem Grund sahen ihn viele seiner Fans schon als Landesvater. Auf Panels und Pressekonferenzen wurde Resk mehrmals gefragt, ob er sich nicht vorstellen könnte, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Doch der Milliardär lehnte immer dankend ab und begründete seine Entscheidung damit, dass sein Fokus voll und ganz auf Peak-of-Technology läge.
Denkbar wäre auch, dass Resk im Hintergrund so oder so die Fäden zog und regieren für ihn nur eine unnötige Zeitverschwendung dargestellt hätte.
Doch egal wie fest Resk bei seiner Entscheidung blieb, mit welcher Motivation auch immer, seine Fans hielt es nicht ab. Ein paar Verrückte begannen dem alten Resk zu huldigen, wie man nur der Päpstin huldigen würde. Diese Leute wurden mit jedem neuen Bericht zu meinem Gesundheitszustand zahlreicher. Ich war ihr lebender Beweis, dass Resk gottgesandt sei. Es entwickelte sich ein regelrechter Kult, dessen Demographie aber stets gleich blieb – weiß, männlich, alle Altersgruppen vertreten. Vernetzt war diese Gruppe wie alles auf der Erde über das Internet. In Foren, Podcasts, Videos, überall sprachen sie über die Erfolge ihres großen Idols, über Peak-of-Technology und wo sie sie, als hochqualifizierte Experten, noch einsetzen würden.
Dabei ignorierten diese Dummköpfe jedoch, dass Resks Erfolgsprodukt immer noch aus Rohstoffen bestand. Rohstoffe aus Ländern, die Ausbeutung seit langem kennen, was ihre Lage aber nicht weniger schmerzvoll macht. Hinzu kommt, dass seit der Jahrhundertwende viele Länder auf Höhe des Äquators unbewohnbar geworden sind. Es ist schlicht zu warm für alles und jeden – Pflanzen, Tiere, Menschen. Ganze Dörfer wurden von Wüsten verschlungen, weshalb sich viele Menschen in höhere oder niedrigere Breitengrade begaben. Aber nicht alle. Und diesen Menschen bot Resk als einziger verbliebener Arbeitgeber die Arbeit in Minen an. Diese mag den Leuten Geld einbringen, hat aber gesundheitliche Risiken, auf die ungern näher eingegangen wird.
Doch Resk wäre nicht Resk ohne eine Prise Zynismus – Der Multimilliardär finanziert neben diesen „Entwicklungsprojekten“ gleichzeitig Organisationen, die geflüchteten Menschen dabei helfen, in ihrem neuen Heimatland weiter süd- oder nördlich, Fuß zu fassen. Ein Widerspruch, möchte man meinen. Aber insbesondere Resks Fans perfektionierten die Kunst, Fakten so zu verdrehen, dass sie ihrem Narrativ entsprechen.
Ob man diese Menschen je wieder in die Realität zurückholen kann, weiß ich nicht. Aber ich hoffe, mit meinem Tagebuch so viele Menschen wie möglich erreichen zu können.
Die Idee zu diesem Zeugnis des letzten Jahres kam mir zwei Monate nach meinem Fall vom Strommast.
Zwei Monate nach meiner Wiederbelebung habe ich wieder Kontakt zu Freunden aufgenommen, die wie ich gegen Peak-of-Technology sind. Natürlich habe ich sie nicht übers Handy kontaktiert oder über die Maschine in meinem Hirn, welche es mir ermöglicht, allein auf Befehl meiner Gedanken eine Nachricht zu verfassen. Nein, ich habe wie sonst die Schnellbahn ins Stadtzentrum genommen und bin von dort aus über viele Umwege ins „Light it up“ gegangen – ein auf den ersten Blick unscheinbarer Nachtclub, bekannt für seine aufwendige Lichttechnik. Aber in den Hinterzimmern trafen sich Gleichgesinnte, Menschen, die Resks zunehmenden Machteinfluss mehr als kritisch sahen.
Bis ich wieder auftauchte.
Ich wurde mit offenen Armen empfangen, auch wenn allen die Berichte über mich bekannt waren. Wir haben ausdiskutiert, was das bedeutet, für mich, für die Bewegung, für die Welt. Könnte ich die Pikotechnologie wieder entfernen? Sollte ich sie überhaupt entfernen, auch wenn das meinen erneuten Tod bedeuten könnte? Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner, wie es mir mit der Maschine weiter ergehen würde; zwei Monate sind keine ausreichende Betrachtungsspanne. So schlug jemand vor, monatliche Berichte zu verfassen, aber das reichte mir nicht und so kam es zu dem Tagebuch, welches ich noch in derselben Nacht begann.
Die Nacht darauf wurde das „Light it up“ von der Polizei geräumt. Zwei Monate hatte ich gebraucht, um mich aufzuraffen und einen Plan zu schmieden, wie ich es überhaupt unbemerkt aus meiner Wohnung schaffe. Seit der Klatschartikel „Nebenan der Zombie“ meine Adresse erwähnt hatte, lungern draußen Paparazzi herum. Zwei Monate Vorbereitung, um die Bewegung wieder zu unterstützen, und sie brauchten nur zwei Tage. Ich vermutete erst, dass ich doch ein Paparazzo übersehen hatte oder einen Polizisten in Zivil. Denn mein Handy ließ ich zuhause, um nicht getrackt zu werden. Und das war der springende Punkt. Die Technik, über die man mich überwachen kann, ist nicht mehr etwas Externes, etwas, was ich liegen lassen könnte.
Sie ist immer da, denn sie befindet sich in mir. Die Maschine ist ein Teil von mir, von meinem Gehirn und es ist ihr definitiv möglich, meinen Standort zu verfolgen.
Ich klopfe die Papiere auf meinem Tisch an der Schmalseite zusammen und lege sie auf die Kopien, sodass ein akzeptabler Stapel entsteht.
Auf diesen Seiten habe ich festgehalten, wie sich meine Wahrnehmung innerhalb dieses Jahres verändert hat. Anfangs war es mir nicht bewusst oder es fiel mir schlicht nicht auf, wenn etwas fehlte. Oder etwas da war, was eigentlich nicht da sein sollte. Filmrisse ohne erkennbare Ursache häuften sich. Ich erinnere mich daran, nachhause zu kommen, aber nicht daran, mich mit einem Strick auf den Stuhl gestellt zu haben, das einzige Licht die flimmernde Werbung auf dem Holo-TV. Ich verliere den Einfluss auf mein Leben und das werde ich nicht akzeptieren.
Deswegen ist dieser Stapel meine Hoffnung.
Vier Kopien und ein Original. Mir ist es gelungen, Mitstreiter von jedem Kontinent zu finden, die meinen Bericht jeweils auf einer für den jeweiligen Kontinenten großen Versammlung oder Veranstaltung vorstellen werden. Egal ob sie auf der Gästeliste stehen oder nicht.
Ich selbst werde das Original behalten und auf Resks 106. Geburtstag präsentieren. Eingeladen hat er mich, da er seine pikotechnologische Kreation sicherlich zelebrieren möchte. Wir beide haben definitiv verschiedene Vorstellungen davon, diesen 23. Dezember zu feiern.
Und dieser Papierstapel ist zugegeben nicht meine einzige Hoffnung. Ich stehe in Kontakt mit einer Gruppe talentierter Forscher, die aus verqueren religiösen Gründen gegen Resks Kurs sind. Sollen sie glauben, was sie wollen. Solange es ihnen tatsächlich gelingen wird, ein Gerät zu bauen, welches Pikotechnologie erheblich stören oder gar zerstören kann, haben wir gewonnen.
Denn wenn Resk und mich eine Sache eint, ist es die –
Wir beide leben durch Peak-of-Technology.
Letzter Beitrag auf diesem Link
Bei all den erfolgreichen Buchautoren, Filmemachern, Musikern, Künstlern und Unternehmern, sind viele junge Menschen geneigt, ihnen nachzueifern. Sie versuchen, es ihnen gleichzutun und beginnen, das Erschaffene dritter zu kopieren. Das ist der erste Fehlschritt eines Newcomers. Er lässt außer Acht, dass gerade die Erfolgreichen, mit eigener Kreativität zu Werke gingen und deswegen erfolgreich wurden. Deshalb unser Aufruf: Gehe Deinen eigenen Weg, verwirkliche Deine Ideen und erschaffe Deine eigenen Werke.
www.pierremontagnard.com
Jaume Borrell 11, 2/2
08350 Arenys de Mar, Catalunya, Barcelona, España
Tel: ++34 688 357 418 (WhatsApp)
E-Mail: info@pierremontagnard.com