Beiträge 16 –20

 

 

Beitrag 16

 

Mein letztes Leben

 

Irgendwer sagte mir bei meiner Geburt, ich wäre in meinem zweiten Leben gelandet. Na, wer´s glaubt …?!

 

… aber die Wahrheit kann nun einmal knallhart sein. Vor allem, wenn man sich für das Leben der Seele – oder eher das SEIN – noch nicht geöffnet hat. Dann verschließt man sich, ob aus Schutz oder Unglauben, vor der Wahrheit. So wie ich es selbst noch vor einigen Jahren tat.

 

Meine Geschichte beginnt mit dem

 

 

Tag Minus 2

 

Erkenntnis des Tages:

 

Ich bin fest davon überzeugt, nein … es ist mehr … es ist inzwischen ein tiefes Wissen, welches vom Verstand her nicht erklärbar ist: Der Kern jedes Menschen ist heil! Dieser Kern ist göttlich. Unser wahres Ich. Pures Licht.

 

Viele, viele Jahre meines Lebens spürte ich diesen Kern nicht. Dieses Heil-Sein. Dieses Ganz-Sein. Dieses Getragen-Sein. Das Wissen darum war mal da, dann hatte ich es wieder versteckt – mit negativen Gedanken über meine gemachten Erfahrungen gedeckelt. Doch im Laufe der Zeit wurde mein innerer Kern immer größer, kraftvoller. Ich vertraute mehr.

 

Nach und nach, Schicht für Schicht, löste ich mich von diversen Erfahrungen, Denkmustern, Rollen und Themen. Alles Dinge, womit ich als Mensch mein wahres Licht verdunkelt habe. Ich nahm meinen inneren Kern in die Hände. Dutzende Male. Liebte ihn, verlor ihn – aber wo?! Fand ihn wieder. Berührte ihn selig. Ließ ihn voller Schmerz wieder fallen.

 

Vor einiger Zeit bemerkte ich, dass im Laufe der Zeit aus diesem Kern eine Kugel wurde. Nach und nach, Monat für Monat. Er wurde zu einem Ball. Ich dachte aber immer noch, dass er dieser kleine Kern sei. Ich lächle. Da sind sie wieder, die Gedanken, an die ich mich gewöhnt habe, ohne sie zu überprüfen. Ohne zu schauen, ob sie noch stimmen und ob sie wirklich wahr sind. Denn jetzt nehme ich etwas ganz anderes wahr:

 

Ich stehe in diesem Kern! Ja, er ist inzwischen so groß geworden, dass ich darin stehen kann! Und außerdem wurde aus diesem harten Kern ein wunderschöner Lichtball! Und ich mittendrin!

 

Tag Minus 1

 

Erkenntnis des Tages:

 

Wenn die Liebe fließt

 

Eines Tages, heute, ist es dann so weit und ich erkenne, dass ich im Fluss der Liebe bin. Ganz von allein. Die Liebe, sie ist einfach da. Ich muss gar nichts dafür tun.

 

Und diese Liebe, sie fließt aus meinen Handinnenflächen heraus. Ich halte meine Hände aneinander. Bilde eine Schale und dann verlässt ein rotes Herz meine Hände. Es ist ganz schrecklich aufgeregt und möchte hinaus in die Welt. Zu den Menschen. Zu denen, die glauben, es sei nicht genug da. Zu denen, die glauben, die Liebe stehe ihnen nicht zu. Zu denen, die im Mangel verhaftet sind. So wie ich es auch war. So viele Jahre lang, so viele Leben.

 

Und nun spüre ich sie. Diese wundervolle Fülle. Die Quelle, die in mir selbst ist und aus mir heraus sprudelt. Und dann in die Welt möchte. Eine wundervolle Liebe, die nicht drängt, erwartet oder fordert. Eine Liebe, die frei fließen möchte. In mir selbst. Von mir zu dir. Und in der ganzen Welt.

 

Immer neue Herzen entstehen in meinen Händen. Kaum habe ich irgendjemanden in meiner Familie, meinem Bekannten- und Freundeskreis Liebe in die Hände gelegt, entsteht automatisch in meinen Händen ein neues Herz. Die Liebe, sie ist unerschöpflich.

 

Tränen steigen auf. Über diese tiefe Erkenntnis. Dieses tiefe Spüren, Erkennen und Wissen. Wieder einmal nicht auf Verstandesebene. Sondern gefühlt. Erlebt. Erfahren.

 

Was für ein zauberhaftes (Er-)Leben.

 

Tag 0

 

Wiedergeburt

 

Drei Tage lang bin ich so sehr bei mir. Fühle mich so angekommen. In mir selbst im Leben, im Sein. Habe eine lebendige Begegnung mit einer guten Freundin. Ich bin so sehr ICH. Ich bin so tief in mir glücklich und zufrieden. Verwurzelt und fließe gleichzeitig frei. Bin geradezu berauscht. Von der Begegnung. Von mir selbst. Fühle mich beseelt. Meine Gedanken sind ganz automatisch positiv. Ich bin so frei! Unendlich frei. Was für ein wundervolles Leben.

 

Dann folgt der nächste Absturz. Ich bin leider schon daran gewöhnt. Das geht seit einigen Jahren so. Es begann bei mir mit der Pubertät. Aber gestern noch war ich mir so sicher, dass ich diese vielen Höhen und Tiefen hinter mir gelassen habe. Nun ändert sich alles, als ich drei Tage nach der Begegnung mit meiner Freundin einer anderen Bekannten begegne. Ich fühle mich gehemmt. Das Gespräch stockt. Ich bin eher auf der Flucht als anwesend. Nach zwei Stunden trennen sich unsere Wege. Grundlos fange ich danach an zu weinen. Versuche, vom Verstand her zu begreifen, was los ist. Was geschah?!

 

Vorhin ging es mir doch noch so gut! Eine Stunde später bemerke ich, dass meine Bekannte eine Schwingung im Gepäck hatte, die einen so unendlich großen Schmerz in mir freigelegt hat. Ein Schmerz, der aus den Tiefen meines Lebens, meines Seins auftaucht und nun endlich, endlich durchfühlt werden möchte. Um dann gehen zu können. Er will befreit werden. Auch, wenn es zunächst so unendlich weh tut.

 

Ich versuche, mich abzulenken. Doch das hat keinen Sinn. Ich kann diese Lawine nicht mehr stoppen. Etwas explodiert in mir. Ein riesengroßer Schmerz. Ich frage mich, was das für ein Schmerz ist. Als Antwort kommt: Es ist der Schmerz, zu sein. Der Schmerz zu Existieren. Und die Angst, die bedingungslose Liebe wieder zu verlieren. Die Liebe, die ich doch gerade für drei wundervolle Tage so unendlich tief gespürt habe. Ich begegne diesem Schmerz. Öffne mich nun ganz bewusst dafür. Und dann erkenne ich die Wahrheit: Ich kann die bedingungslose Liebe gar nicht verlieren. Sie ist doch immer da! Ich kann sie nur verdrängen, zudecken oder verhüllen. Doch sie ist inzwischen so stark, dass sie sich immer wieder ihren Weg ans Licht und an die Oberfläche bahnt.

 

Ich bin total erschöpft. Will mich ausruhen. Doch ich bemerke, dass innerlich noch etwas anderes in mir brodelt. „Was denn noch?!“, denke ich. Mein Gesicht ist immer noch feucht von den vielen Tränen, die ich geweint habe. Meine Augen sind jetzt schon geschwollen und verquollen.

 

Doch dann will noch ein weiterer Schmerz gefühlt werden. Ich rufe meine beste Freundin an. Sie ist Heilbegleiterin und einige Jahre älter als ich. Ich habe Glück. Sie hat jetzt gerade Zeit. Wobei ich weiß, dass das kein Zufall ist, sondern dass es von der geistigen Welt zeitlich genau so gesteuert wurde. Seit einigen Jahren mache ich energetische Heilarbeit. Eine Art von Therapieform, über die man vor Jahren noch gelacht hat, bevor man erkannt hat, WIE wirksam sie ist. Wie sehr sie uns zu uns selbst bringt. Schicht für Schicht habe ich dabei gelöst. Glaubensmuster um Glaubensmuster. Habe mich von Rollen und Personen ent-identifiziert. Bin immer freier geworden. Habe meinen inneren Kern immer weiter freigelegt. Werde immer mehr zu dem Menschen, der ich wirklich bin.

 

Gemeinsam mit meiner Heiler-Freundin begegne ich hier und jetzt diesem Schmerz. Allein schaffe ich das nicht. Ich würde untergehen. Ich brauche eine Außenstehende, die mich kennt und die so sehr mit der Wahrheit verbunden ist und so klar in ihren Gedanken und mit einem tiefen Wissen und der Geistigen Welt verbunden ist, das hier mit mir durchzustehen.

 

Noch einmal taucht aus den Tiefen meines Seins meine Nahtoderfahrung im Alter von vier Jahren auf. Damals habe ich mich scheinbar (aufgrund meiner Lebensumstände) dazu entschieden, nicht wirklich in diesem Leben hier ankommen zu wollen. Nicht hier auf Mutter Erde leben zu wollen. Nicht so. Was für ein erneuter Schmerz. Es schüttelt mich so unendlich durch. Nachträglich sage ich dann JA zu diesem Leben damals. Sage zu mir: Ich bin ok. Und ich war es schon immer! Genau so, wie ich bin!

 

Nach einigen Minuten, die sich wie Stunden anfühlen, kann ich einfach nicht mehr. Ich will aufgeben und das Gespräch beenden, da sagt meine Heilerfreundin Petra vehement zu mir: Hau nicht ab! Flüchte nicht! Wir ziehen das jetzt durch! Das ist unendlich wichtig für dich.

 

Und dann stehe ich dort. Sammle mich einen Moment, entscheide mich und sage JA zum Leben. ICH WILL LEBEN! JETZT! Mache mich groß. Stehe dort wie ein kraftvoller, gesunder Baum. Stark. Verbinde mich mit Mutter Erde. Lasse sie in mich einfließen. Und dann lasse ich den Himmel in mich einfließen. Ich bin verbunden mit Himmel und Erde. Ich fühle es. Was für eine Kraft!

 

Und dann spüre ich, dass ich neu geboren werde. Ich weiß es plötzlich. Es ist eine Wiedergeburt. Im jetzigen Leben. Unfassbar – für meinen Verstand. Aber mein Geist hat momentan keine Chance. Meine Seele hat die absolute Führung übernommen. Dann geschieht etwas Übersinnliches:

 

Gott haucht meinem 4jährigen Ich Atem ein. Leben ein. Diesem Kind, welches ich war. Welches kurz davor war, zu sterben. Welches das Licht in der Ferne bereits gesehen hat. Diesen Tunnel, von dem alle immer sprechen. Und dann plötzlich mit einem Ruck zurückkam in diesen Kinderkörper.

 

Kurz darauf bin ich wieder voll in diesem Moment. Im Jahr 2150. Aber ich bin nur noch eine Hülle. Mein Körper fällt aus mir heraus. Hinein in Mutter Erde und löst sich dort auf. Und dann fließt vom Himmel ein neuer Körper in mich hinein. Ich spüre in den tiefsten Tiefen meines Seins: Das ist mein „ICH BIN“! Mein ICH BIN wird gerade geboren. Meine Göttlichkeit. Ich bin großartig. Schön. Nehme mich weiß wahr. Rein.

 

Einen Augenblick später ist es vorbei. Total erschöpft verabschiede ich mich von Petra und lege mich ins Bett und schlafe sofort ein. Werde nach zwei Stunden Schlaf, der sich anfühlt wie ein Komaschlaf, wach und spüre schon wieder so einen Schmerz. Erneut kommen Tränen auf. Ich bin total verzweifelt. Was denn noch? Was soll denn dieser menschliche Körper noch alles erleben? Wie schon so oft taucht in mir das Gefühl auf: Ich kann nicht mehr. Ich bin so durch. Dann, einen Moment später, schüttelt meine Seele den Kopf und sagt: Du bist viel stärker, als du denkst. Und nun steh auf.

 

Ich taumele aus dem Bett - mitten am Nachmittag - und plötzlich steht virtuell ein Mann vor mir. Wir sind durch eine Glasscheibe voneinander getrennt. Wir halten die Hände an die Scheibe. Jeder auf seiner Seite. Aber wir können uns nicht berühren. Ich spüre eine solche Sehnsucht, diesem Mann zu begegnen. Ihn zu berühren. Ihn in die Arme zu schließen.

 

Ich spreche laut in den Raum hinein. Sage, dass ich mich nun neu entscheide und diese Glasscheibe freigebe, die uns trennt. Ich bin gar nicht überrascht, dass die Scheibe nur einen Augenblick später zur Seite gleitet und mein Weg frei ist. Das habe ich in der energetischen Heilarbeit gelernt. Habe dort eine unsichtbare Welt kennengelernt, die für mich nun sichtbar wurde. Welch Dankbarkeit mich deshalb einhüllt. Was für ein Erleben! Was für eine Tiefe und Vielfalt des Lebens ich nun spüre! Es ist fantastisch.

 

Ich kann Dinge sehen, die andere nicht wahrnehmen. Sehe Bilder, Licht, kann Gefühle sehen - ich bin hellsehend und hellfühlend und verstecke mich nicht mehr damit. Es ist mir inzwischen egal, dass es Menschen gibt, die mich nicht verstehen. Zu Beginn meiner Seher-Fähigkeit konnte ich mich ja selbst nicht verstehen. War total geschockt von dem, was ich da wahrnahm.

 

Nun, die Glasscheibe ist also zur Seite geglitten. Und plötzlich steht der Mann direkt vor mir. Dann bemerke ich, dass es Gott ist. Gott steht vor mir. Ich habe das noch kaum begriffen und verarbeitet, da dreht er sich um, macht einen Schritt rückwärts auf mich zu und fließt in mich ein. Wir sind eins. Ich bin göttlich. Ich wurde neu geboren.

 

Tag 1

 

Dies ist Tag 1 in meinem neuen Leben. Und ich weiß mal wieder gar nichts.

„Wer bin ich?“ „Licht.“

„Was will ich?“ „Alles.“

Gut. „Was tue ich?“ „Warten.“

„Worauf?“ „Dass ich beginne.“

Ok. „Und womit?“ „Neu zu leben.“ Aha.

 

Gut. Da ist also mal wieder ein neues, weißes Notizbuch. Ein Lebensbuch. Viele leere Seiten, die gefüllt werden wollen. Mit Leben. Mit einem Leben aus dem Sein heraus, aus der Einheit heraus.

 

„Was bin ich denn?“

„Ein Mensch.“

„Gut. Und was noch?“

„Göttlich. Und ein Engel.“ Aha.

 

Ich bin 20 Jahre alt und neu hier auf dieser Erde. Habe bisher ja noch nicht erlebt, wie es ist, als göttliches Wesen zu leben. Habe einen menschlichen Körper, mit dem ich alles Mögliche erleben kann. Erleben will. Was will ich erleben? Liebe. Bedingungslose Liebe. Eine Liebe, die nicht urteilt. Eine Liebe, die einfach ist.

 

Ich frage mich:

„Wo ist denn diese Liebe?"

„Habe ich im Gepäck. Ok. Dann mal auspacken.“

 

Sie ist in Geschenkpapier eingepackt. In Goldenes. Ich packe die Liebe vollständig aus und nehme sie ins Herz. Ich lächle. Ach, ich habe Emotionen. Das ist ja toll! Bin gar nicht so leblos, wie ich mich gerade noch fühlte. Ich sage JA zu allen Gefühlen.

 

Kann mir mal jemand erklären, wie es ist als „ICH BIN“ zu leben? Ich habe damit ja noch keine Erfahrung. Ist ja schließlich auch mein erstes Leben als ICH BIN. Und gleichzeitig mein Letztes als Mensch. Da bin ich mir sicher.

 

So eine Lebensanleitung wäre jetzt nicht schlecht. Gott lächelt. Nun klopft er sich auf die Schenkel und lacht lauthals. Gott bringt mich zum Lachen. Zunächst heben sich nur vorsichtig meine Mundwinkel. Dann wird mein Lachen breiter und ein „Hihi“ verlässt meinen Körper. Meine ersten gesprochenen Worte in diesem neuen Leben sind also „Hihi“. Man könnte meinen, dass dies mein erstes Leben ist. Aber es ist das Tausendste. Ich spüre es einfach. So oft war ich schon da. So viel habe ich nachträglich erspürt und erlebt. Über Raum und Zeit hinweg.

 

Nun bin ich also noch einmal hier. Bin 20 Jahre alt und gestern zum dritten Mal in diesem Leben hier neu geboren worden. Ein Mal von meiner Mutter. Als dieser Körper hier erwachte. Ein Mal nach der Nahtoderfahrung im Alter von 4 Jahren. Da verließ eine Platzhalterseele diesen Körper und ich kam. Walk-Inn nennt sich das. Es ist ein von vornherein geplanter Seelenwechsel. Eine Seele erlebt ganz bestimmte Dinge, dann folgt eine andere Seele. Das geschieht meist bei heftigen Erlebnissen - wie bei mir bei der Nahtoderfahrung.

 

Bei mir geschah dieser Seelenwechsel zu der Zeit, als ich in den Kindergarten kam. Meine Mutter sagte im Nachhinein, dass der Kindergarten mich verändert habe. Dass ich plötzlich so anders war. Zuvor völlig lebendig, fröhlich und frei. Und plötzlich müde, kontaktscheu. Im Kindergarten bin ich immer eingeschlafen. War total überfordert von diesem Leben und der Lautstärke, die dort herrschten. Meine Mutter wusste damals und weiß auch heute nichts von dieser Nahtoderfahrung und dem Seelenwechsel. Aber für mich ist es ganz eindeutig erkennbar. Ich bin seitdem anders. Ernster. Ängstlicher. Konnte mit andern Kindern nichts anfangen. Fühlte mich allein. Fühlte mich adoptiert und nicht als Teil der Familie.

 

Und gestern, da starb ich aus der Illusion heraus. Und wurde in mein wahres „ICH BIN“, in meine Göttlichkeit, hineingeboren. Das war Nummer drei. Klingt ja doch alles ein wenig nach Science-Fiction, ist aber die pure, echte Wahrheit. Wahrer geht’s nicht.

 

Was bedeutet es also genau, „ICH BIN“ zu sein? Es zu leben? Wie von Zauberhand geführt, greife ich in meine rechte Hosentasche und hole einen zerknüllten Zettel heraus. Dort steht:

 

ICH BIN ist ein Leben aus der Liebe heraus. Aus der Einheit. Aus dem Licht. Allerdings nicht im Himmel, sondern hier auf der Erde.

 

Ich fühle mich ein bisschen wie ein Marsmensch, denn es gibt noch nicht so viele von mir und meiner Art. Aber, wir werden mehr. Aufstiegsprozess nennt sich das. Gut. Gibt es eine Art Gruppe, vielleicht eine Selbsthilfegruppe, die sich diesem Thema widmet? Wäre schön, damit nicht allein zu sein.

 

„Das ist Ego,“ sagt Gott. Und weiter sagt er: „Ich bin du. Du bist ich. Du kannst jetzt alles erschaffen, was du willst. Also … achte gut darauf, was du denkst, sagst und tust. Denn da ist keine Warteschleife mehr. Es geschieht sofort. Losgelöst vom gestern. Denn dein Gestern gibt es nicht mehr. Die Vergangenheit ist beendet.“

 

Aha.

 

Ich möchte jetzt gern einen Tee.

„Gut. Dann gehe in die Küche und mache dir einen. Und dann trinke ihn. Bewusst.“ Gottes Worte begleiten mich auf Schritt und Tritt.

 

Ich stelle den Wasserkocher an. Rooibos-Tee. Während er so vor sich hinzieht denke ich: „Fuck, ich bin völlig lost. Das ist total verrückt. Ich rede mit Gott. Ich bin neu geboren worden. Wer bin ich?!“

 

Einen Moment später bemerke ich wieder einmal, dass mein Ego doch sehr erfinderisch ist. Es hatte so viel Macht über mich, in meinem vorherigen Leben (welches – sagte ich das schon? – gestern endete). Wie entmachtet man also einen inneren Anteil, der sich ständig so aufplustert? Ignoranz, denke ich. Gut. Ich denke nun also ganz bewusst. ICH entscheide, was ich denke. Was will ich denn denken?

 

„Ich bin verbunden“, denkt meine Seele. Gut. Meine Seele, das bin ja jetzt ich. Ich lächle. Wie machtvoll ich doch bin. Denn gleich sehe ich mich in einer Lichtsäule stehend. Ich muss gar nichts tun. Sie ist einfach da.

 

„Willkommen,“ sagt Gott.

„Ach, die Lichtsäule kann sprechen?“

„Ich bin alles,“ sagt Gott. „So wie du. Sieh dich um.“

 

Ich lasse meinen Blick schweifen. Grün, braun. Baum, Tisch. Gut, denke ich. Alles normal. Das kenne ich aus meinem vorherigen Leben.

 

„Und nun mach die Augen zu. Was siehst du mit deinen wahren Augen?“, fragt Gott mich. Ich schließe meine Augenlider. Plötzlich nehme ich nur noch eine Farbe wahr: gold. Ganz leichte Umrisse von Baum, Tisch und Umgebung sind zu sehen. Mehr wie haudünne Hüllen. Ein etwas dunkleres Gold als der Rest. Ich lächle. „Abgefahren. Ist das abgefahren!“, denke ich. „Das ist die Wahrheit“, sagt meine Seele.

 

 

Tag 2

 

Gestern habe ich mich vor der Welt versteckt. Musste mich erst einmal an mein neues Leben gewöhnen. Damit klar kommen, dass ich jetzt anders bin. Wobei ich ja schon immer das Gefühl habe, dass ich anders als andere Menschen bin. Irgendwie weiter in meiner Entwicklung als sie. Eine bessere Übersicht habe. Innere Kriege bei ihnen entdecke, die ich für mich selbst schon längst gelöst habe. Im Laufe der letzten Jahre. Was für eine Zeit. Was für ein Wachstum. Ich bin ein anderer Mensch geworden. Freier. Mir selbst bewusster. Dabei bin ich doch erst 20!

 

Andererseits hatte ich immer noch oft Schwierigkeiten in Begegnungen mit anderen Menschen. Nach den Treffen ging es ihnen besser und ich war erschöpft, überfordert und leer. Ich verlor mich dort so oft. Und musste mich mühsam in meinen eigenen vier Wänden wiederfinden. Schneckenhaus rein. Schneckenhaus raus. Schneckenhaus abgegeben. Großen Schneckenhaus wiedergeholt.

 

Nun bin ich da. Immer öfter total präsent. In Begegnung mit anderen. Ich bin dann ich. Es ist mir egal, was die anderen von mir denken. Auf der Hochzeitsparty einer Schulfreundin habe ich mich freigetanzt. Habe meine Seele wieder ein ganzes Stück befreit. War völlig bei mir. Berauscht von mir selbst und meinem Sein. Ganz ohne Alkohol. Es war ein Seelenrausch. Ich tanzte mich geradezu in Ekstase. Ich liebte mich, meinen Körper und mein Leben. War so sehr ich. Das ist noch recht neu. Wie oft habe ich mich versteckt. Dafür, wie ich lebe. Recht zurückgezogen. Noch keine Ahnung habe, was ich später tun will. Wie und was ich arbeiten möchte. Erst mal will ich MICH finden. Und dann tun, was ich mich wirklich erfüllt. Womit ich glücklich bin. Und nun tue ich das. Ich lerne mich kennen. Ich habe mich ja gestern erst gefunden. Mein wahres Ich.

 

Bisher war ich gefangen in der Abwehr zu leben. Seit so vielen Jahren. Seit ich vier war! Damals entschied ich mich: Hier und so will ich nicht leben. Und dieses Entscheidung tobte in mir. Bis gestern. Bis ich mich neu entschied: Fürs Leben. Und nicht nur für ein gewöhnliches Leben, sondern für mein letztes und ein ganz besonderes:

 

Für ein Leben aus der Essenz heraus. Aus der Liebe.

 

 

ENDE

 

 

 

Beitrag 17

 

König auf dem Berg

 

 

Ereignis-Log, automatischer Neustart

2150-11-13 12:00 UTC:

Ich werde entsorgt, aussortiert, aufs Altenteil geschickt, gehöre ich zum alten Eisen. Lustig, wie viele Begriffe mein Sprachmodul ausspuckt, als ich auf der städtischen Müllhalde erwache, einer dampfenden, Funken sprühenden Mondlandschaft aus großen und kleinen Abfallhügeln.

Dass ich wieder funktioniere, verdanke ich meinem neuen Freund, Monkey. Er ist ein mechanischer Affe, ein Spielzeug, ausgestattet mit künstlicher Intelligenz. Er findet mich, tauscht meinen durchgebrannten Prozessor aus und lädt mich mit Hilfe einer Solarzelle wieder auf. Genau 20 Jahre nach meiner Aktivierung schenkt er mir ein zweites Leben.

Teddy steht auf der Innenseite meiner Revisionsklappe, KI-Version 0012, eine Generation jünger als Monkey. Morgen will er mich herumführen.

Ich schalte jetzt ab, der Ladebalken meines Energiespeichers ist noch im roten Bereich.

 

2150-11-14 08:00 UTC:

Wieder online.

Monkeys Höhle liegt in der Nähe des Elektroschrottberges, der größten Anhöhe der Deponie. Er stellt mir seine Freunde vor, die Faultiere A-Brady und B-Brady.

“Wir waren die Maskottchen der Olympischen Sommerspiele 2132 in Neuseeland.”, erklärt A-Brady stolz. “Echte Kassenschlager.”

“Leider waren unsere Platinen nur zweite Wahl”, schränkt B-Brady ein. “Dank Monkey funktionieren wir jetzt besser.”

“Ich habe sie etwas schneller gemacht”, sagt Monkey. “Sie waren einfach unerträglich langsam.” Er ahmt ihre Bewegungen in Zeitlupe nach.

“Schau hier, neue Klauen aus Metall.” B-Brady zeigt mir seine langen, krallenartigen Finger. “Gut gegen Ratten.”

“Ratten?”, frage ich.

„Die werden langsam zum Problem“, meint Monkey. “Die Langschwänze leben eigentlich im Süden bei den organischen Abfällen, aber sie werden immer mehr und breiten sich ...”

Um mich herum wird alles schwarz.

 

2150-11-15 13:00 UTC:

Ich hatte einen Kurzschluss, die freiliegenden Kontakte meines abgerissenen rechten Auges sind korrodiert. Monkey isoliert sie und schenkt mir eine Augenklappe. Für meine verbrannten Beine und Ohren organisiert er eine Hose und ein Kopftuch.

“Wie ist das passiert?”, fragt er beiläufig. ”Dein Fell, meine ich.”

“Mein Besitzer, ein achtjähriger Menschen-Junge, hat im Bett gekokelt. Ich habe versucht, das Feuer zu ersticken.”

“Du kannst ein Feuer löschen?” Monkey setzt einen gut programmierten, erstaunten Gesichtsausdruck auf.

“Natürlich!”, antworte ich mit nicht minder gekonnter Entrüstung. “Ich bin ein hochwertiger Teddybär, lebensrettende Maßnahmen gehören zu meiner Nanny-Funktion.”

 “Schön.” Er richtet das rote Tuch auf meinem Kopf. “Jetzt siehst du aus wie ein Pirat!”

 

2150-11-15 15:00 UTC:

Monkey ist ständig auf der Suche nach brauchbaren Teilen. Ich begleite ihn auf einem seiner Streifzüge. Bei unserer Rückkehr finden wir B-Brady. Er ist übel zugerichtet, Servo-Öl tropft aus seinem Kniegelenk, das Fell löst sich von der Schulter und gibt den Blick auf grauen Kunststoff frei. A-Brady umkreist seinen Zwilling.

“Das waren diese scheußlichen Nager, sie waren zu fünft.”

“Mindestens sieben!”, stöhnt B-Brady. "Sie haben mich von hinten überfallen.”

Wir schaffen den armen Kerl in die Höhle. Monkey versetzt ihn in Narkose, indem er sein Energiemodul ausbaut.

“Das muss er ja nicht sehen!” Er entfernt mit einem Cuttermesser das Kunstfell rund um B-Bradys Knie, flickt die getrennten Servoleitungen und füllt den Ausgleichsbehälter wieder auf.

“Das Zeug ist schwer zu finden”, sagt er mit Blick auf den leeren Ölbehälter. “Sondermüllbereich, tief im Gebiet der Nagezähne.” Er klebt die losen Fellteile wieder an.

“Wo hast Du das alles gelernt?”, frage ich ihn.

“Von einem Bastler in seiner Werkstatt. Er war alt, seine Augen und Hände haben nicht mehr mitgespielt. Ich durfte Bücher und Anleitungen lesen und viele Reparaturen für ihn durchführen."

“Du hast fünfgliedrige Hände wie ein Mensch.”

“Ja, ich bin ein Sondermodell”, bestätigt Monkey. “Ich besitze auch eine Outdoor-Kletterfunktion.”

“Ich habe nicht einmal Finger.” Ich mische etwas Enttäuschung in meine Tonlage.

“Keine Angst, Teddy.” Er schaut mich ernst an. “Für dich finden wir auch noch etwas Passendes!”

 

2150-11-16 07:00 UTC:

B-Brady ist wieder auf den Beinen.

“Er läuft irgendwie komisch”, bemerke ich. “Und er brummt.”

Monkey sieht mich an. “Das liegt am fehlenden Servo-Öl, ich hatte nicht mehr genug.”

“Das finden wir beim Sondermüll, sagtest du?”

“Nein, zu gefährlich!” Er schüttelt den Kopf. “Als ich das letzte Mal dort war, gab es schon zu viele Ratten. Mit einem eingeschränkten B-Brady sind wir hoffnungslos unterlegen.”

“Meine Servos sind in bester Ordnung!” Ich unterstreiche meine Aussage mit einem Radschlag, gefolgt von einem Purzelbaum.

“Nicht schlecht. Aber mit Kunststückchen schlägst du keine Langschwänze in die Flucht.”

“Dann baue mir eine Hand mit Krallen oder einen Greifer, mit dem ich etwas halten kann!”

Wortlos dreht sich Monkey um und verschwindet über den Hügel.

 

2150-11-16 20:00 UTC:

Die untergehende Sonne lässt rot glühende Lichtströme über die Hügel fließen, als Monkey zurückkehrt. Er trägt einen bunten Schulranzen über der Schulter, dessen Inhalt verheißungsvoll klappert.

“Viele Augen in der Nacht!”, flüstert er. “Geht besser in euren Unterschlupf und sichert die Eingänge.”

“Hast Du über meinen Vorschlag nachgedacht?” Ich kann meinen Blick nicht von der farbigen Tasche abwenden. “Hast du was gefunden?”

Monkey nickt.

“Kriege ich eine Keule oder eine Axt?” Das rote Batteriewarnlicht blinkt unter meinem Brustfell auf, ich zwinge mich, ruhiger zu werden.

“Nein, so etwas nicht. Lade dich auf, morgen sehen wir, was wir machen können.”

Ich krieche in mein Versteck und schließe die Gittertür des ehemaligen Katzenkorbes. Der Stecker schnappt leise ein, wohltuend pulsiert die Energie der LKW-Batterie durch meinen Körper. Meine Ladestandsanzeige flackert erwartungsvoll.

 

2150-11-16 21:00 UTC:

“Das soll meine Waffe sein?” Ich wähle missmutig aus meinen gespeicherten Gesichtsausdrücken.

“Nein, natürlich nicht!” Monkey zeigt mir ein breites Affenlächeln. “Deine Tatze hat jetzt eine Bajonettkupplung, die ich beim Gartengerümpel entdeckt habe.” Er kramt in seiner Kiste. “Daran befestigen wir das hier!”

Eine kurze Drehung, und das Gegenstück rastet ein. Ein Bleirohr ragt daraus hervor.

“Es hat das optimale Verhältnis zwischen Gewicht und Schlagkraft.” Er zeigt auf eine ausrangierte Holzkiste. “Probiere es aus.”

Ich lasse den Metallstab niedersausen. Es kracht laut und eine Ecke der Kiste splittert ab.

“Nochmal!”, ruft Monkey. “Mit aller Kraft!”

Der nächste Schlag teilt die Holzbox in zwei Hälften. A-Brady und Monkey jubeln, B-Brady brummt anerkennend.

Ich recke den neuen Arm in die Höhe. Ich bin bereit.

 

2150-11-17 06:00 UTC:

Zur Tarnung gehüllt in Ponchos aus schmutzigen Müllsäcken und mit Patronengürteln voller Ersatzakkus, wandern wir auf verschlungenen Pfaden Richtung Süden. B-Brady bleibt als Wachposten zurück.

Monkey treibt uns zur Eile an. “Die Ratten verkriechen sich bei hellem Tageslicht. Wir müssen also bis Anbruch der Nacht zurück sein.”

“Und die Langschwänze, die B-Brady überfallen haben?”

Monkey seufzt. “Eine Gruppe von blinden Ratten, älter, größer, gefährlicher. Die verbliebenen Sinne sind messerscharf.”

“Und dann gibt es noch Einauge”, flüstert A-Brady.

“Das größte und gemeinste Viech”, ergänzt Monkey. “Er ist der ungekrönte König der Ratten auf den Müllbergen. Ihm fehlt ein Auge, wie dir.”

Wir erreichen den Rand der Schrotthügel, eine breite Straße, und ein Zaun, trennt uns von den nächsten Halden.

“Da vorn ist ein Tor, da bin ich immer durch.” Monkey macht einen Schritt auf die Straße.

“Vorsicht, da drüben!”, zischt A-Brady und zieht ihn zurück in die Deckung. “Was ist das?”

Monkey zieht ein kleines Opernglas aus seinem Ranzen. “Mist, ein Sicherheitsroboter, Post-KI-Version!”

“Was bedeutet Post-KI?”, frage ich.

“Erkläre ich Dir später. Aber wenn er die grundlegenden Robotergesetze befolgt, haben wir eine Chance. Folgt mir!”

 

2150-11-17 09:15 UTC:

“Halt, Kreaturen! Das ist ein Sperrgebiet.” Der röhrenförmige Roboter rollt auf seinen Gummiketten heran. Der Augenring um seinen Kopfbereich richtet ein Teleskopauge aus.

“Mechanische! Bleibt stehen! Ihr werdet deaktiviert und der Wiederverwertung zugeführt!”

Monkey läuft unbeirrt weiter. “Wie nennst Du mich, Blechhaufen? Ich bin ein Mensch. Öffne die Tür und lass mich und meine mechanischen Begleiter durch!”

Der Automat rührt sich nicht. “Übereinstimmung 45%. Du bist kein Mensch.”

“Überprüfe das nochmal!” Monkey streckt trotzig sein Kinn vor. “Und füge die Parameter Gen-Defekt, Kleinwüchsigkeit und Vergreisung hinzu. Ich habe eine Krankheit!”

Ein Schütteln erfasst den Maschinenkörper. “Übereinstimmung 78%. Positiv, du bist ein kranker Mensch. Warte hier, ich informiere meine Vorgesetzten, sie begleiten dich aus der Sperrzone.”

Monkey rudert hektisch mit den Armen. “Das darfst Du nicht, diese Verbrecher haben mich doch hierher verschleppt! Wenn Du sie rufst, lande ich in der Müllpresse!”

“Unbefugter Zutritt, Mensch, ich habe meine Befehle …” Der Augenring der Maschine beginnt sich ruckartig zu drehen. “Mensch … muss Schaden abwenden!”

“Ja, ja, Schaden abwenden!” ruft Monkey. “Öffne die Tür, und wir sind in Sicherheit!”

“Ja, in Sicherheit … Nein Sperrgebiet!” Aus dem Kopf steigt eine dünne Rauchsäule auf.

 “Lass uns rein”, drängelt Monkey. “Aber lass dich nicht erwischen, sonst kommst Du selbst in die Presse.”

Mit einem Knall fliegt das Roboterauge heraus, es riecht nach verbrannten Schaltkreisen.

“Der ist hinüber!”, stelle ich fest und betrachte das rotierende Auge zu meinen Füßen. “Das Ding könnte ich gut gebrauchen.”

 

2150-11-17 09:30 UTC:

A-Brady tippt den qualmenden Roboterkörper mit dem Klauenfuß an. “Monkey, das war genial!”

“Ein typisches Problem der grundlegenden Robotergesetze.” Monkey zieht eine zufriedene Grimasse. “Er musste seinen menschlichen Vorgesetzten gehorchen, mich vor Schaden bewahren und sich selbst schützen. Mein kleines Dilemma konnte das Modell nicht auflösen.”

“Das Tor ist noch verschlossen. Wie kommen wir jetzt da rein?”, unterbreche ich die Beiden.

Monkey fördert eine rostige Gartenschere zutage und macht sich am Zaun zu schaffen.

“Was meinte Monkey mit dem Ausdruck Post-KI?”, frage ich

A-Brady.

Er setzt eine traurige Miene auf. “Die Menschen haben die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz eingestellt. Sie bekamen Angst, nachdem es viele schlimme Vorfälle mit KI-gestützten Maschinen gab. Heute existieren nur noch wenige KI-Forschungszentren, hermetisch abgeschirmt wie Bio-Labore, die an gefährlichen Viren forschen.”

“Aber es gibt Millionen wie uns, Spielzeuge, Haushaltshilfen …”

“Alle wurden zurückgerufen. Diejenigen, die nicht freiwillig zurückgegeben wurden, hat man über automatische Updates stillgelegt oder nicht mehr repariert.”

“Ich muss sehr lange deaktiviert gewesen sein”, murmele ich. “Und dieser Roboter?”

“Post-KI-Entwicklungen. Simple Maschinen, arbeiten streng nach programmierten Vorgaben. Nicht lernfähig.” A-Brady lässt seinen Blick über die Müllberge schweifen. “Ich frage mich, wie viele von uns noch da draußen liegen.”

 

2150-11-17 16:40 UTC:

Auf glitschigen Pfaden durchqueren wir eine dampfende Landschaft aus organischen Abfällen, über unseren Köpfen das tausendfache Surren der Insekten.

“Da drüben, da ist der Sondermüll,” ruft Monkey und stürzt sich in die Kunststoffbehälter. “Sucht nach rötlichem oder grünem Öl!”

Eine Stunde später verstaut Monkey hastig zwei große Flaschen Hydraulikflüssigkeit in seiner Tasche. “Es ist schon spät, wir müssen hier weg.”

Monkey eilt voraus. Wir umrunden gerade einen größeren Berg, als er abrupt stoppt. Vor uns trifft das Licht der untergehenden Sonne auf zwei Dutzend Augenpaare und lässt sie glutrot aufleuchten. A-Brady und Monkey weichen zurück, ich dagegen bleibe wie angewurzelt stehen. Feurig lodern die Blicke der großen Nager, schon spüre ich ihre Hitze an Beinen und Ohren. Etwas ergreift Besitz von mir, lauthals brüllend stürme ich los.

 

2150-11-18 04:00 UTC:

Ich öffne meine Augen. Rücklings lehne ich am Katzenkorb.

B-Brady lächelt mich an. “Willkommen zurück, Teddy!”

“Wo sind die anderen?”

“Sie regenerieren noch. Immerhin haben sie dich den ganzen Weg zurückgeschleppt.”

“Gott sei Dank”, zitiere ich einen menschlichen Ausdruck. “Und du brummst nicht mehr!”

“Ich bin zu einhundert Prozent wiederhergestellt!” B-Brady wischt mit einem Lappen über meinen Arm. “Halt still, du bist noch voller Blut.”

“Blut?”

“Du hast sie mit deinem Waffenarm vermöbelt! Schau her!” Er präsentiert mir das besudelte, verkrümmte Bleirohr. “Monkey sagt, erst als die letzte Ratte das Weite gesucht hat, hast du aufgehört. Dann waren deine Energiezellen leer und du bist umgefallen.”

“Ich habe keine Aufzeichnungen darüber."

“Dich hat die blinde Wut gepackt, da verliert man schon mal das Gedächtnis.”

Ich winke ab. “Zu einer menschlichen Regung wie Wut bin ich nicht fähig.”

“Da hat A-Brady aber was anderes erzählt, er sagt, du bist total ausgeflippt.”

“Ich bin ein mechanisches Spielzeug, ich verliere nicht die Kontrolle!”, sage ich scharf.

“Wie du meinst, Berserker, wie du meinst.”

 

2150-11-19 07:00 UTC:

“Wir haben ein Problem!” Monkey schaut in die Runde. “Wenn sich die haarigen Biester von ihrem Schock erholt haben, werden sie über uns herfallen.”

“Dann bekommen sie die zu spüren!” B-Brady wetzt seine Krallen.

“Wir müssen eine Verteidigung aufbauen”, höre ich mich sagen.

“Wie meinst du das?” Drei Augenpaare schauen mich an.

“Der Menschenjunge hatte ein großes Nachschlagewerk über das Mittelalter, über Ritter und ihre Burgen. Und wie man sie verteidigt.”

“Wir haben keine Burg!”, wendet Monkey ein.

“Die beste Abwehr gelingt von höher gelegener Position aus”, zitiere ich das Kinderbuch. “Geschützt von Gräben, Mauern oder Wällen, kann sich auch eine geringe Anzahl von Kämpfern einer Übermacht erwehren.”

Ich zeige nach oben. “Der Berg ist unsere Burg. Passt auf!” Ich male ein Kreuz auf den Boden. “Hier sind wir ganz oben auf dem Berg. Und um uns herum …” Ich füge mehrere Kreise hinzu. “ … heben wir Gräben aus. Den Äußeren füllen wir mit Glasscherben.”

A-Brady nickt. “Davon kann ich mehr als genug besorgen!”

“Der innere Kreis besteht aus Dingen, die wir in Brand stecken können.”

“Ich kenne viel brennbares Zeug.” B-Brady kratzt sich am Kopf. “Aber wie entzünden wir es?”

“Da habe ich etwas”, sagt Monkey, “dazu eine Flasche Brennspiritus, das sollte genügen!”

Ich erhebe mich. “Dann an die Arbeit, ich weiß nicht, wie viel Zeit uns bleibt.”

A-Brady und B-Brady flitzen in unterschiedliche Richtungen davon.

“Und Monkey …” Ich strecke ihm meine Extremitäten entgegen. “Ich brauche Hände!”

 

2150-11-21 11:00 UTC:

Monkey legt den Schraubenzieher weg. “Besser kriege ich es nicht hin.”

Spielerisch öffne und schließe ich die metallenen Greifwerkzeuge. Drei Finger und ein Daumen. Perfekt.

“Kannst Du das halten?” Er hält mir einen Stock hin, an dessen oberem Ende ein krummes Messer befestigt ist.

“Was ist das?”

“Das nutzt man zum Entfernen von Gestrüpp und kleinen Ästen im Garten.” Er legt den Stab in meine Roboterhände. “Es heißt Reisigheppe.”

Ich schwinge die Heppe hin und her. Leise singend schneidet die Klinge durch die Luft. “Das gefällt mir!”

Monkey grinst schelmisch. “So, so, ein mechanisches Spielzeug, das Gefallen an einem Werkzeug findet.”

“Was meinst Du?”

“Das ist der Grund, warum die Menschen keine KI-Roboter mehr bauen. Teddy, du bist längst mehr als die Summe deiner Teile.”

“Mir geht etwas nicht mehr aus dem Kopf”, sage ich langsam. “A-Brady meinte, es liegen vielleicht Hunderte auf dieser Deponie, die so sind wie wir.”

“Nicht nur auf dieser Deponie! Es gibt noch viele weitere Müllplätze rings um die Stadt. Es könnten tausende sein.”

“Und du kannst sie alle reparieren?”

“Nicht alle, aber viele!” Monkey legt seine runzelige Hand auf meinen Arm. “Wenn wir das hier überstehen, werden wir sie suchen. Das verspreche ich dir.”

 

2150-11-22 20:00 UTC:

Eine graue Masse haariger Körper umkreist unseren Berg. Vor Hindernissen türmt sie sich auf, fällt auseinander, verdichtet sich erneut und strömt unbeirrt weiter.

“Wie lange wollen die das noch machen?”, fragt B-Brady fasziniert.

Ich ziehe meine Augenklappe in die richtige Position. “Lass sie sich ruhig noch etwas müde laufen!”

Eine große Ratte reckt ihren Kopf nach oben. Der Tross kommt zum Stehen.

“Kommt schon, die kennt ihr ja noch!”, brüllt Monkey und schwingt die gefürchtete Bleistange.

Toaster, Kaffeemühlen und allerlei anderes Kleingerät regnen auf die anstürmenden Nager herab. Unser Bombardement zeigt Wirkung, viele Angreifer bleiben liegen oder ziehen sich getroffen zurück.

Die Woge erreicht den äußeren Graben. Die ersten Tiere versuchen anzuhalten, doch es ist zu spät. Die nachfolgende Meute schiebt sie in den Ring aus Scherben. Über ihre Artgenossen hinweg stößt die nächste Schar vor, um ihrerseits in das Meer aus Glas zu stürzen. Schrille Laute erfüllen die Luft.

“Der Graben ist zu schmal!”, knurrt A-Brady. “Bald sind sie drüber.”

“Aber längst nicht mehr alle von ihnen!”, stoße ich grimmig hervor. Ich packe einen kleinen Elektromotor und werfe ihn hinunter. “Nicht nachlassen!”

 

2150-11-22 21:00 UTC:

Über eine Brücke aus zuckenden Leibern schleicht eine Gruppe großer Nager heran.

“Siehst du die trüben Augen?”, flüstert Monkey. “Das ist die blinde Brut, die über B-Brady hergefallen ist.“

B-Brady schleudert ein Transistorradio auf die Nager. Im letzten Moment weichen sie aus.

“Wir müssen näher ran.” Ich springe auf. “Folgt mir!”

Hell singt meine Klinge ihr grausames Lied. Von den Klauen der Bradys tropft das Blut, während Monkey wie toll durch die Reihen der Pelztiere springt. Wo seine Eisenstange trifft, brechen Knochen.

“Die sind verdammt schnell!”, brüllt Monkey. “Ich kann sie in der Dunkelheit kaum noch erkennen!”

“Und wir werden langsamer!” gebe ich zurück. “Unsere Energiezellen sind erschöpft. Zurück in den inneren Kreis!”

Mit letzter Servokraft springe ich über den Graben.

“Wird Zeit, den Spieß umzudrehen!” Monkey entzündet eine Signalfackel, rasend schnell fangen die leicht entzündlichen Materialien in der Senke Feuer. Verängstigt weichen die Nager zurück.

  

 

 

2150-11-22 21:45 UTC:

Von unserem Feuergraben sind nur noch einzelne Glutnester übrig. In die wartende Rattenmeute kommt Bewegung, sie teilt sich und macht einem gewaltigen Tier Platz. Ich erkenne ihn sofort. Einauge!

Monkey packt sein Metallrohr. „Wir müssen ihn gemeinsam angreifen. Nur so haben wir eine Chance.“

„Nein!“ Ich schiebe den letzten Akku in meine Halterung. „Der gehört mir.“ Mit einem Salto vorwärts setze ich über den Graben und lande in Superheldenmanier in der Hocke.

„Hey Matschauge!“ Ich strecke ihm die Reisigheppe entgegen. „Nur du und ich, oder hast du Angst?“

Er fletscht seine Zähne und beginnt mich zu umkreisen.

Überraschend springt er vor und schnappt nach mir, ich weiche ihm aus. Hätte ich mal besser auf seinen Schwanz geachtet. Wie eine Peitsche holt er mich von den Füßen. Blitzschnell ist Einauge über mir, seine Krallen fahren über mein Gesicht und reißen die Augenklappe herunter. Verblüfft starrt er in meine dunkle, leere Augenhöhle.

Dieser Augenblick genügt mir. Die Heppe verrichtet ihr blutiges Werk. Verletzt und vor Schmerzen laut fiepend ergreift Einauge die Flucht. Langsam erhebe ich mich und strecke den noch zuckenden Rattenschwanz in die Luft.

„Seht her, das geschieht, wenn ihr euch mit mir und meinesgleichen anlegt!“ Ich mache eine dramatische Pause. „Kehrt zurück und tut es allen kund.“

 

2150-11-22 22:00 UTC:

In Scharen verlassen die Nager den Hügel.

Monkey tritt an meine Seite. „Du hast es geschafft, Teddy, die kommen so schnell nicht wieder.“

„Ich hoffe es“, gebe ich zurück.

Einander stützend schleppen sich die Bradys heran. Sie brauchen dringend frische Energie.

„Ab heute beginnt eine neue Zeit“, sagt Monkey würdevoll. Die Bradys nicken zustimmend.

„So, welche denn?“, frage ich irritiert. Der Mond zwängt sich zwischen den Wolken hervor und wirft sein blasses Licht auf mich.

„Ab heute“, Monkey deutet eine Verbeugung an,“ bist Du Teddy der Erste, König auf dem Berg!“

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 18

 

Die Zeitkapsel

 

Endlich Sommerferien!

Endlich mehrere Wochen keine Hausaufgaben, keine vorgegebenen Tagesabläufe, Sonne, Unternehmungen, Freiheit!

 

Fröhlich und voller Erwartungen traten Emma und Juliane in die Pedale ihrer Räder. Diese waren beladen mit allem, was man zum Campen brauchte. Zelte, Isomatten, Schlafsäcke, Geschirr, Essen, Kleidung, und vielen anderen Sachen. Ihre Eltern brauchten die beiden Geschwister nicht lange von der Idee überzeugen, für einige Tage an der Nordseeküste übernachten zu dürfen. Sie waren alt genug, um auf sich aufzupassen, und hatten bereits Urlaube alleine verbracht. Zwar war ihr Vater Johannes immer gegen die Ausflüge seiner Töchter, weil er sich halt als Vater nun einmal Sorgen machte, aber er konnte sich einfach nicht gegen den Frauenüberhang in der Familie durchsetzen. So verblieb er mit der Prämisse, dass sie ihn alle drei Tage mit dem Handy anrufen sollten. Gesagt, getan. Heute war Tag drei ihrer Unternehmungstour.

"Rufst du an?", fragte Emma, während sie einen staubigen Feldweg entlang radelten.

Emma verdrehte ihre grünen Augen.

"Schon verstanden", seufzte Juliane. Sie griff nach ihrem Handy, wählte die Nummer der Eltern, stammelte etwas auf die Mailbox und legte nach ihrer hinterlassenen Nachricht sofort wieder auf.

"Erledigt."

 

Eine Weile fuhren die beiden Geschwister schweigend dahin. Sie fuhren über glatten Asphalt, knirschenden Kies, durch unterschiedlich große Städte, Dörfer, über Brücken und letztlich erreichten sie ein Waldstück mit einem sehr unebenen Boden.

"Hier können wir nicht so schnell fahren, wie bisher", bemerkte Juliane. "Das wirft uns im Zeitplan zurück. Wir werden das Zeltlager, wo wir übernachten wollten, nicht rechtzeitig erreichen. Was nun?"

"Dann übernachten wir halt im Wald", schlug Emma vor.

"Sicher?"

"Sicher. Komm schon du Angsthase. Was soll schon passieren?"

"Weiß nicht."

"Nichts wird passieren. Wir zünden ein Lagerfeuer an und lassen es einfach über Nacht lange brennen. Das wird wilde Tiere fernhalten. Sofern es in diesem Wald welche gibt. Bisher ist uns wenigstens keines über den Weg gelaufen."

Augenblicklich durchbrach ein flatterndes Geräusch über den Köpfen der beiden Geschwister die abendliche Stille des Waldes. Ein Vogelschrei ließ Juliane zusammenzucken.

"Was war das?" Julianes Mut schien zu schwinden.

"Nur ein Vogel. Komm schon. Hier gibt es nicht ein gefährliches Tier. Die Tiere haben alle mehr Angst vor dir als umgekehrt."

Juliane lächelte matt, als die Geschwister tatsächlich einige Meter vor sich einen Vogel sahen.

"Du hast wahrscheinlich Recht. Ich mache mir womöglich umsonst Angst."

"Siehst du? Nun komm schon. Wir sollten uns noch ein passendes Lager für die Nacht aussuchen."

 

Als sich die Dämmerung über den Wald legte, erreichten die Geschwister einen wunderschönen, von Bäumen und Felsen umsäumten See. Beide stockte beinahe der Atem beim Anblick der Gegend.

"Das ist ja toll hier", rief Juliane anerkennend. "Hier möchte ich gerne bleiben."

"Ich auch. Dann sind wir uns ja einig. Schlagen wir das Zeltlager auf."

Es dauerte nicht lange und die Zelte der Geschwister waren aufgebaut, alle Sachen darin gelagert, Holz zusammengetragen und ein loderndes Feuer entfacht. An Stöcken aufgespießte Würstchen, Brötchen und Marshmallows wurden über dem Feuer gegrillt. Vielleicht keine ausgewogene oder gesunde Ernährung, doch den Geschwistern reichte es vollkommen.

"Das hier habe ich auch noch für uns", lächelte Emma, kramte kurz in ihrem Rucksack und holte eine in Folie gewickelte Pizza hervor.

"Klasse! Es geht nichts über eine Pizza .. hättest du vielleicht noch etwas?" Juliane riss die Augen auf. Ein Knacken! Erschrocken sprang sie auf und blickte panisch um sich. Emma verdrehte die Augen.

"Was war das?", fragte Juliane unsicher.

"Keine Ahnung. Wenn dich das beruhigt, sehe ich mal kurz für dich nach."

"Lass mich nicht allein!"

"Angstjule."

Einige Zeit später kehrte Emma mit einer kleinen Truhe in der Hand zurück. Juliane wartete bereits angespannt auf ihre Schwester. Als sie die Truhe sah, zog sie überrascht ihre Augenbrauen hoch.

"Was ist das?"

"Keine Ahnung. Ich wäre fast darüber gefallen. So verdreckt wie die Truhe aussieht, scheint sie schon eine lange Zeit in diesem Wald zu liegen."

"Sollen wir sie öffnen?"

"Warum nicht? Da wird schon nichts drin sein, was uns beiden etwas antun könnte. Ich bin viel zu neugierig, um nicht hineinzusehen. Vielleicht finden wir Geld darin? Oder etwas anderes Wertvolles? Wer weiß?"

Juliane sah zu, wie Emma den Deckel der Truhe aufmachte und ein altes Buch herausholte.

Emma verzog die Mundwinkel nach unten. "Warum versteckt jemand ein Buch mitten in einem Wald?"

"Keine Ahnung. An einem Buch habe ich kein Interesse", erwiderte Emma enttäuscht.

"Wenn du es nicht möchtest, überlass es bitte mir. Du weißt doch, wie sehr ich Bücher liebe."

"Von mir aus", seufzte Juliane. "Du kannst wohl nie genug Bücher bekommen. Dabei hast du bereits Bretter voller Bücher bis unter deine Zimmerdecke."

"Und wenn schon. Ich liebe Bücher. Jedes ist wertvoll."

Juliane begann das Buch durchzulesen. Nach einer Weile wurde ihr Blick sehr ernst.

"Stimmt etwas nicht?", erkundigte sich Emma.

"Das Buch ist eine Art Tagebuch", erklärte Juliane mit einem verstörten Ausdruck in ihrer Stimme. "Aber weißt du, was ich seltsam finde?"

"Nein."

"Doch. Aber etwas ist komisch. Es stammt aus dem Jahre ... ob sich da jemand einen Scherz erlaubt? Ach, weißt du was? Lies es einfach mal selber durch. Ich bin der Meinung, dass da etwas nichts mit den Daten auf den ersten Seiten stimmen kann."

Auf ihre Aufforderung hin, begann Emma das Buch ebenfalls zu lesen. Letztlich vertiefte sie sich komplett in den Aufzeichnungen des Verfassers.

 

Sky Valley, Deutschland, 22.01.2150

 

Ich habe für meinen Aufsatz über die Entstehung schwebender Metalle eine Eins bekommen. Man sagte mir, ich habe einen wichtigen Beitrag für die Forschung von uns Materialwissenschaftlern geleistet. Eigentlich ist mir noch nicht wirklich verständlich, was an dem festgehaltenen Experiment über die gelungene Mikrogravitation so erstaunlich sein soll? Es war doch gerade erst einmal ein Experiment. Und besonders schwer durchzuführen war es auch nicht. Es war nur ein elektromagnetisches Feld zur Positionierung des Versuchsobjektes notwendig, ein schnelles Aufheizen des Objektes mittels Heizimpulse über 0,1 Sekunden und schon schwebte das Objekt.

Zur Erfassung des Zustandes brauchte ich nur eine Hochgeschwindigkeitskamera, die diese Schwingungen erfasst und la voilà konnte das Ergebnis dokumentiert werden. Und alle machen so einen Wirbel darum. Als wären im Auftrag von Sky Valley nicht bereits andere bahnbrechende Experimente entstanden. Ich persönlich finde, die Zeitkapsel meines Kollegen James Barry fiel interessanter.

Emma hielt inne. "Wer auch immer das geschrieben hat, der hat sie doch nicht mehr alle."

"Ich glaube kaum, dass der Verfasser des Tagebuches ein Spinner war. Er war schließlich eine Art Erfinder."

"Wie hieß der denn?"

"Jack W .... hm ... der Name auf der Rückseite des Buches ist etwas vergilbt. Ich kann den Nachnamen nicht entziffern."

"Ich les mal weiter im Text. Ich hoffe nur, dass es sich nicht um einen schlechten Scherz handelt."

 

James Barrys vornehme, entwickelte Zeitkapsel, die als erste ihrer Art in die Vergangenheit geschickt werden soll, ist für mich einfach ein künstlerisches Schaffen, das alles übertrifft, was meine Kollegen und ich bisher geleistet haben. Sein Experiment ist der Grund, warum ich versetzt werden will. Ich will mehr erreichen, als nur irgendwelche kleineren Objekte schweben lassen zu können. Ich möchte auch gerne ein bedeutendes Teil in die Vergangenheit schicken können. Warum konnte ich nicht der Erfinder einer Zeitkapsel sein?

 

"Diese beiden spinnen doch. Wie heißen die doch gleich?", fragte Emma "James und Jack. Ich habe genug gelesen." Emma wollte das Buch gerade ins Feuer werfen, als Juliane es aus der Hand riss und neugierig an der Stelle fortsetzte, an der die beiden Geschwister endeten.

 

Wie konnte meinem Kollegen dieser Durchbruch gelingen? Es ist uns allen ein Rätsel. Die Presse meldet sich ständig bei ihm. Dauernd klingelt sein Telefon. Große Konzerne reißen sich um seine Erfindung. Man bietet ihn, so James, Milliarden um Milliarden Goldbarren. Einfach nur beneidenswert. Warum hat man mich nicht mit seinem Team zusammenarbeiten lassen? Ich würde Erfindungen in einer Art Tagebuch festhalten und in mit der Kapsel in die Vergangenheit schicken.

 

"Der hört einfach auf, wo es gerade spannend wird", beschwerte sich Juliane. "Ich blätterte mal weiter. Mal sehen, was ein paar Daten weiter passiert."

"Sag mal", unterbrach Emma skeptisch. "Die haben sich wohl im Datum geirrt. Seit wann hat ein Monat 33 Tage? Schau mal was auf dieser Seite für ein Tagesdatum steht."

"Keine Ahnung was das soll. Vielleicht ist das alles nichts Weiteres, als ein übler Scherz."

"Lies weiter. Vielleicht wird es noch erklärt."

 

Sky Valley, Deutschland, 33.04.2150

 

Die erste Zeitkapsel ist wohl bereits verschickt worden. Allerdings ist bei dem Experiment dummerweise ein Fehler unterlaufen. Man hat vergessen Daten der Zukunft auf die Objekte zu gravieren, die hineingelegt wurden. Ob die Zeitkapsel je als solche erkannt werden wird? Was für ein fataler Fehler. Warum durfte ich nicht Teil des Forschungsteams sein? Ich bettle schon seit über einem Monat darum, bei dem Projekt mitmachen zu dürfen und was passierte bisher? Ich warte immer noch auf eine Genehmigung mitzuwirken. Immer diese Bürokratie. Da hat sich wohl, soweit ich die Vergangenheitsgeschichte studiert habe, bislang nicht viel geändert. Im Gegenteil. Die Anträge für die Forschung sind eher noch bürokratischer geworden. Nur, weil in einem Land, ich glaube, es war die Präsidentin des aus dem dritten Weltkrieg neu entstandene Jena, die in einer Weltsitzung mit deutlicher Mehrheit alle anderen überstimmte und somit verantwortlich für eine neue bürokratische Weltordnung in der Forschung war. Was gäbe ich darum, wenn man statt einer Zeitkapsel eine Zeitmaschine erfinden würde, mit der man komplett in die Vergangenheit reisen könnte. Ich würde zu dieser Sitzung reisen und diese Veränderung stoppen. Entscheidungen in der Forschung dauern einfach viel zu lange. Ich sitze auf heißen Kohlen, während mein Kollege mit seinem Team enscheidet, ob er Goldbarren mit dem nächsten Projekt verschickt. Hoffentlich denkt er daran, Daten einzugravieren. Nicht, dass derselbe Fehler wieder passiert, Daten nicht zu benennen. Sonst kommt in der Vergangenheit keiner darauf, was in der Zukunft alles passiert ist. Nicht auszudenken, wenn man erneut etwas ohne zeitliche Hinweise verschickt. Das wäre die reinste, sinnloseste Geldhinauswerferei. Warum erhalte ich nicht endlich meine Beförderung für meine Forschung mit der angefragten Versetzung? Wie lange soll ich noch auf eine Rückantwort warten?

 

Sky Valley, Deutschland 22.07.2150

 

Jetzt habe ich endlich die Zusage für die Versetzung erhalten und meinen ersten Arbeitstag im neuen Forschungsteam mitgeteilt bekommen. Ich flippe fast aus vor Begeisterung. Hoffentlich hört sich James Barry meinen Vorschlag an, ein Tagebuch verschicken zu dürfen. Dann würde ich alle Experimente, sowie meine Gedanken dazu festhalten, und samt einem Geschichtsbuch verschicken. Wenn dann irgendwer in der Vergangenheit auf unsere Zeitkapsel stößt, kann man vielleicht anhand des Geschichtsbuches aus unterlaufenen Fehlern lernen und diese abwenden, oder manche nützlichen Experimente früher erfinden. Wer weiß, was das für die Menschheit bedeuten würde? Ich platze fast vor Aufregung. Warum kann ich nicht bereits heute mit James B. Und seinem Team arbeiten?

 

"Irgendwie klingt das nach einem schlechten Science Fiction Abenteuer, oder?", fragte Juliane vorsichtig nach.

"Ich weiß nicht. Klingt nicht nach Spinnern, wenn du mich fragst. Lesen wir doch einfach mal weiter, was noch alles passieren wird. Les du dieses Mal vor. Ich habe bereits genug vorgelesen und brauche mal einen Schluck Wasser. Mein Mund ist bereits ganz trocken vom Lesen."

"Meinetwegen. Dann lese ich halt weiter."

 

Sky Valley, Deutschland 12.09.2150

 

Mittlerweile habe ich mich in das neue Arbeitsteam gut eingelebt. Man was haben die neuen Kollegen am Anfang an meiner Idee herumkritisiert. Sie hielten es für gewagt, ein Geschichtsbuch der Zukunft mit einer Zeitkapsel zu verschicken. Man meinte, es könnte gegebenenfalls Schaden anrichten, wenn so ein Buch in die falschen Hände gelangen würde. Doch Gott sei Dank hat James B. offensichtlich Gefallen an meiner Idee gefunden. Er lud mich sogar an einem Abend zum Abendessen ins Paradies-Valley ein. Es ist ein exklusiver Laden in Sky Valley, wo nur die reichsten Leute reingelassen werden. Bereits ein Glas Wasser fängt bei einem Goldbarren an.

 

"Zahlen die in dieser Zeit nur in Goldbarren?", unterbrach Emma nachdenklich.

"Da wird so vieles nicht wirklich erklärt", bemerkte Juliane.

"Vielleicht irgendwo weiter hinten."

"Schon verstanden. Ich weiß schon, dass ich weiterlesen soll."

 

Von seinen Erzählungen hingerissen, klebte ich wortwörtlich an diesem Abend an den Lippen von James B. Er erklärte mir sogar die Formel, die er verwendete, um eine Zeitkapsel, sein Werk, entstehen zu lassen. Wahnsinn. Was für ein Vertrauen dieser Mann in mich setzt. Woher er das nimmt, ist für mich ein Rätsel. Er kennt mich doch noch längst nicht so lange, wie den Rest seines Teams. Und doch hat er sich fast dazu entschieden, mich meine Idee ein Tagebuch in die Vergangenheit zu schicken, umsetzen zu dürfen. Welch Ehre! Ich hoffe, ich enttäusche ihn nicht, denn wenn das Geschichtsbuch tatsächlich in die falschen Hände geraten sollte, dann könnte die ganze Vergangenheit beeinträchtigt werden und der gesamte Zukunftsverlauf könnte einen fataleren Lauf nehmen, als den bisherigen. Die Bedenken von James und seinen Kollegen kann ich zwar verstehen, doch vielleicht kann man das kleine Reisegefährt mit dem Namen einer Zielperson versehen, an die der Inhalt gehen soll? Dann könnte der Finder der Zeitkapsel der entsprechend benannten Person den Inhalt aushändigen. So lautete zumindest meine Zusatzidee an diesem Abend. Und James schien mit der Idee einverstanden zu sein. Wir entschieden zusammen, dass wir den Namen der Person, die die Kapsel und den Inhalt erhalten sollte, auf den Deckel der Kapsel eingravieren.

 

"Dreh den Deckel um", schlug Emma fordernd vor.

"Bin schon dabei", antwortete Juliane hastig, während sie mit ihren Händen den Deckel der gefundenen Truhe hochhob und nach Gravierungen abtastete. Sie fühlte zwar, dass Buchstaben in den Deckel eingraviert worden sein mussten, doch sie konnte diese nicht entziffern. Der Nachname schien sich aufgelöst zu haben.

"Na, super", seufzte Juliane. "Da haben wir den Salat."

"Das Material hat sich bestimmt wegen der Zeitunterschiede verändert. Und nun?"

"Ich weiß nicht. Mir ist das alles nicht mehr geheuer. Ich möchte das Buch und die Truhe am liebsten wieder vergraben und wieder an die Fundstelle legen. Dann kann sich jemand anderes darum kümmern, den Inhalt und die Truhe zu bekommen. Es heißt ja nicht, dass die ersten Finder der Truhe den Adressaten den Inhalt übergeben sollen. Oder?"

"Da stimme ich dir zu. Mich würde allerdings interessieren, ob wir noch irgendetwas aus den weiteren Aufzeichnungen an Anweisungen entnehmen, die wichtig sein könnten."

"Also weiterlesen."

 

Sky Valley, Deutschland 01.12.2150

 

Eine weitere Zeitkapsel ist fertiggestellt. Alle Beteiligten sind bei der Übergabe der Kapsel an mich, als Versender ganz still geworden. Schrecklich still, wenn man mich befragen würde. Trauen die Anwesenden mir etwa nicht? Zum ersten Mal habe ich so etwas wie Lampenfieber bei der Erledigung einer Aufgabe. Eigentlich würde es in unserer Zeitepoche, wenn alles gut ginge, keine Veränderungen negativer Art geben. Was aber, wenn etwas schiefgeht? Wäre es möglich, dass ich vielleicht nie geboren werde? James meinte, dass wir die Resultate noch am gleichen Tag spüren würden. Es wäre gut möglich, dass wir uns auflösen, wenn etwas schiefgeht und die Kapsel in die falschen Hände kommt. Diese Worte machen mich nur vor dem alles entscheidenden Moment noch nervöser. Ich stehe unsicher vor einer Reihe von Schaltknöpfen, drücke noch unsicherer auf eine Leuchtziffer, dann gebe ich die erste Ziffer ein und noch eine und noch eine. Die Kapsel wird in einen Raum gelegt, der die Maschine enthält, mit dem auf die Kapsel geschossen wird. Die Maschine hat einen bestimmten Namen, doch den möchte ich an dieser Stelle nicht erwähnen und den Prozess möchte ich hier nicht beschreiben. Sollte etwas schiefgehen, wäre die Gefahr zu groß, dass man die Maschine nachbauen könnte. Wir hatten zumindest so weit entschieden, dass es besser wäre, keine Zeitkapselbauten zu ermöglichen. Wir wollen nur darauf hinweisen, dass uns diese Möglichkeiten in ferner Zukunft gegeben sind, hoffen, dass der Finder der Zeitkapsel den Inhalt an die genannte Person aushändigt und das keine schweren Schäden durch den Versand einer Kapsel mit einem Tagebuch und Geschichtsbuch entsteht.

 

Abgerissene Seiten folgten. Hastig blätterte Juliane in dem Buch umher. Es waren nur noch unvollständige Blätter vorhanden.

"Na, toll", seufzte Juliane. "Und was ist mit dem erwähnten Geschichtsbuch?"

"Keines da."

"Was machen wir nun?"

"Ich weiß es nicht. Ich stehe bei dieser Angelegenheit vor einem Rätsel."

"Ich auch. Ich weiß nicht, wie wir mit dieser Truhe und dem Tagebuch umgehen sollen."

"Alles zurücklegen und ignorieren, dass wir es je gefunden haben. Wir schweigen darüber und reden mit niemanden. Einverstanden?"

"Einverstanden."

 

Sky Valley, Deutschland

 

Jack schaute zu seinen Kollegen hinüber. Für mehr als eine Minute blieb ihm Zeit, noch einen letzten Gedanken zu formulieren, bevor alles um ihm herum verschwunden war.

 

Seine Gedanken hießen: Auf Wiedersehen ...  Auf Wiedersehen .... Auf Wiedersehen, Mutter, auf Wiedersehen, Vater ...  Auf Wiedersehen, Kollegen ...  Auf Wiedersehen Zukunft.

 

In manchen Situationen ist die Entscheidung, nichts zu tun, eine weise Entscheidung. In der Situation von Emma und Juliane war die Entscheidung, nichts zu tun, die falsche.

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 19

 

Meine dritte Jugend

 

Liebes Tagebuch,

 

morgen, am 6. Juli 2150, werde ich meinen 202. Geburtstag feiern. Ich kann auf mein bewegtes Leben zurück blicken und denken, dass vieles schön war, manches nicht. Ich stelle mir die Feier im Kreis meiner Mitbewohner in der Alten-WG vor, in der ich seit 200 Jahren lebe. Wir haben jeder ein Zimmer mit Bad, die Küche teilen wir uns. Unsere Möbel stammen aus unseren vorherigen Leben. Nebenan wohnt mein Freund, ebenfalls 202 Jahre alt. Ich freue mich schon auf die Feier.

Mein Ehemann ist vor 100 Jahren gestorben.. Wir führten eine normale Ehe mit Höhen und Tiefen, zogen zusammen zwei Kinder groß. In der langen gemeinsamen Zeit, hatten wir alle auch andere Beziehungen.

Ich bin als Kind eines Journalisten und einer Hausfrau geboren. Damals dachte ich, mein Vater hätte den schönsten Beruf der Welt. Er erzählte oft von den Ereignissen, über die er Berichte schrieb. Manchmal hörte ich die Schreibmaschine auch nachts klappern. Eigentlich dachte ich, ich könnte ohne weiteres in seine Fußstapfen treten. Schon mit 7 Jahren schickte er mich auf den Wochenmarkt, damit ich die Preise der angebotenen Waren aufschrieb. Später besuchten wir zusammen Pferderennen und Auktionen, bei denen ich die Ergebnisse aufschrieb. Er ging in der Zeit ins Bierzelt und führte dort Gespräche. An einem Weihnachtsfest nahm er mich mit ins Gefängnis, wo er die Insassen interviewte. Das beeindruckte mich sehr, denn Weihnachten im Gefängnis rührte auch die härtesten Verbrecher.

In der Schule waren Aufsätze schreiben mein Lieblingsfach. Doch dann erkrankte mein Vater, wir besaßen plötzlich weniger Geld. Meine Mutter saß abends oft an der Strickmaschine und strickte Jacken für eine Firma. Ich verdiente mit Nachhilfe dazu. Meine Schwester kränkelte, musste geschont werden. Später bekam sie früh einen unehelichen Sohn, damals ein Drama. Es war eine harte Zeit, die Schule kam manchmal zu kurz.

Ich war trotzdem eine gute Schülerin, sehr sprachbegabt. Als die Realschulzeit dem Ende zuging, stellte sich die Frage nach meiner Zukunft. Das war für mich kein Thema. „Ich möchte schreiben, so wie du“, erklärte ich meinem Vater. Er seufzte. „Du siehst doch an mir, was passieren kann, wenn man krank ist“, meinte er. „Inzwischen bin ich fest angestellt, aber als freier Journalist hat man kein leichtes Leben und darf nicht krank werden. Du sollst erst etwas Sicheres lernen, schreiben kannst später“.

Trotz meiner Tränen besorgte er mir eine Lehrstelle als Industriekauffrau bei einem Bekannten. Er hatte durch seine politische Tätigkeit im Stadtrat viele Verbindungen. Schon mit 17 Jahren trat er in die SPD ein, war jahrzehntelang ihr Vorsitzender. Als er 1962 für das Amt des Bürgermeisters kandidierte, kam ihm der damalige Bundeskanzler Willy Brandt zu Hilfe. Auf seiner Wahlkampftournee machte er auch Station in unserer Stadt.

Ich erhielt die Aufgabe, ihm einen Blumenstrauß zu überreichen. Ich lernte den Text auswendig, bekam eine schicke hochtoupierte neue Frisur und ein neues Kostüm. Damals war ich dreizehn Jahre alt, trug bis dahin Zöpfe.

Am großen Tag war ich sehr aufgeregt. Als Willy in de Tür des Rathauses erschien, ging ich mit zitternden Knien auf ihn zu. Die vielen Zuschauer um mich herum summten wie ein Bienenschwarm. Ich überreichte ihm den Blumenstrauß und sagte: „Für Sie“. Meinen gelernten Text hatte ich in diesem Moment vergessen. Willy stutzte, schmunzelte. Das gab mir Mut. „Herzlich willkommen in unserer schönen Reiterstadt, Herr Regierender Bürgermeister von Berlin“. Na bitte, ging doch. Willy lächelte weiter, legte eine Hand auf meine sorgsam toupierten Haare. „Auch das noch. Erst den Text vergessen, dann eine Plattfrisur“, entfuhr es mir. Nun lachte er schallend. Ich lachte mit, sein Lachen war ansteckend. Später fragten mich die Leute oft, worüber ich mit ihm so lachte, aber das blieb lange mein Geheimnis.

Meine Lehrer setzten sich nach Beendigung der Realschulzeit dafür ein, dass ich zum Gymnasium gehen sollte, doch das lehnte mein Vater ab. „Mädchen heiraten ja doch bald“. Von dieser Überzeugung war er nicht abzubringen. Ich weinte und bettelte, aber es half nichts.

So ging ich nach dem Ende der Schulzeit widerstrebend und schlecht gelaunt jeden Tag in ein Büro. Ich hasste diese Tätigkeit, vor allem Ablage machen, lag mir gar nicht. Mein Lehrherr entpuppte sich als widerlicher alter Mann, der mir unter den Rock fasste. Als ich meiner Mutter davon erzählte, schwieg sie. Das erste Lehrjahr verging schleppend, ich lebte eigentlich nur im Urlaub gerne. Dann fand ich in dieser Firma eine Freundin, die wie ich ihren Chef furchtbar fand. Die beiden alten Herren unterhielten sich mittags laut, oft auch über mich. Durch meinen Widerwillen bekam ich Pickel, die mein Chef sich jeden Tag genau ansah. „Da muss doch Luft ran“, erklärte er seinem Freund. Ich versuchte, sie zu überschminken.

Im zweiten Lehrjahr traf ich Harald, meine erste große Liebe. Nun veränderte sich vieles. Er war zwei Jahre jünger als ich, einen Kopf kleiner. Das störte mich überhaupt nicht. Harald spielte in einer Band, die damals sehr populär war. Leider wohnte er in einer anderen Kleinstadt, ging noch zur Schule.

So konnten wir uns nur sehen, wenn er mit seiner Band auftrat. Ich lebte für diese Wochenenden. Meine Mutter war dagegen, weil ich nachts spät nach Hause kam und am nächsten Tag Berufsschule hatte. Doch ich setzte mich durch. „Andere gehen öfter aus in meinem Alter, ich nur alle 14 Tage am Wochenende“, erklärte ich. Sie drückte ihren Widerwillen dadurch aus, dass ich nach dem Mittagessen abwaschen und den Küchenfußboden wischen musste, ehe ich losgehen konnte. Das erledigte ich in aller Eile, dann rannte ich los. Meine Freunde und ich trampten oft zu den Auftrittsorten, denn Busse und Bahnen fuhren nicht so häufig. Mir fiel meistens die Aufgabe zu, während der Veranstaltung dafür zu sorgen, dass wir eine Mitfahrgelegenheit für hinterher hatten.

Es war manchmal schwierig, aber ich schaffte es meistens.

Wenn ich zu Hause im Bett lag, konnte ich oft nicht schlafen, da ich Angst vor dem Verschlafen hatte. Ich wusste genau, dass meine Mutter am nächsten Tag nicht mit mir reden würde. Sie ignorierte mein „guten Morgen“ stets. Nach drei Tagen sprach sie wieder mit mir. Ich fühlte mich oft montags morgens müde. Dann schnappte ich mir eine Literflasche Cola und ging los. Manchmal schwänzte ich die Berufsschule, legte mich auf eine Wiese. Doch mein schlechtes Gewissen bescherte mir auch da keine Ruhe. So versuchte ich, in der Berufsschule mit zu machen und legte mich mittags hin. Nachmittags kaufte ich mir eine Tafel Schokolade und schrieb an Harald. Er antwortete postwendend. Mittwochs rannte ich nach Hause, um Haralds Brief zu lesen. Donnerstags rief er mich abends an und teilte mir den nächsten Spieltermin mit. Meine Laune besserte sich, meine Pickel verschwanden. Ablage machen? Kein Problem.

Mein Lehrherr und ich einigten uns auf eine Form der Zusammenarbeit. Er diktierte mir englische Briefe in die Maschine, was beiden Spaß brachte.

Die Beziehung zu Harald wurde intensiver. Plötzlich war es möglich, dass ich nach den Auftritten mit dem Bandbus nach Hause gebracht wurde. Als er mir vorschlug, zusammen eine Nacht im Auto eines Freundes zu verbringen, zog ich mich innerlich zurück. So weit war ich noch nicht. Außerdem rückte meine Prüfung näher, ich musste lernen. Das verstand er nicht. Ich fuhr nicht mehr oft zu den Auftritten, lernte mehr. So bröckelte die Liebe langsam, aber sicher. Wir trafen uns einmal auf einem Bahnhof zwischen unseren Wohnorten. Außerhalb der Bühne verlor er viel an Strahlkraft.

Nach dem vorhersehbaren Ende weinte ich viel. Ich ging zur Arbeit, kam nach Hause, weinte in die Kissen. Er verbreitete, dass er überraschend schnell über mich hinweg gekommen wäre. Das schmerzte ungemein.

Meine Freunde überredeten mich, trotzdem mit zu den Auftritten zu kommen. Doch ich fühlte mich dabei unwohl. Als er um eine blonde Schönheit warb, begann ich aus Trotz eine Beziehung mit dem neuen Bassisten. Ich fand ihn nett, mehr nicht. Er warf mir sein Taschentuch vor die Füße, als er mich beim Tanzen sah. Ich hob es auf, wir freundeten uns an. Nun war die Stimmung in der Band gestört. Wir saßen an einem Extratisch, mit seinen Freunden. Die Beziehung schleppte sich dahin. Als er mir nach einem gemeinsam verbrachten Silvesterfest einen dicken Brief schickte, fing ihn meine Mutter ab. Als er mich fragte, was ich zu seinem Antrag sagte, fiel ich aus allen Wolken. Schließlich hatte ich ihn nie gelesen.

Ich machte den Führerschein, fuhr öfter in die nächste Großstadt, wo ich nach Beendigung der Lehre arbeitete. Hier traf ich Michael, einen linken Schüler, der viel demonstrierte. Gegen Fahrpreiserhöhungen, den Polizeistaat und die Regierung. Ich verliebte mich in ihn und machte mit. Wir zogen zusammen, ich arbeitete, er schmiss die Schule und lernte für die Nichtabiturientenprüfung, um doch noch studieren zu können. Er erhielt einen Studienplatz. Eines Tages überraschte ich ihn im Wohnzimmer mit anderen Studenten beim Feiern. Der Kühlschrank war leer. „Warum bist du nicht an der Uni?“, fragte ich. „Ach, da herrscht doch auch wieder Leistungszwang“, antwortete er.

Ich zog aus, nahm seine Unterlagen mit. In meiner neuen Wohnung arbeitete ich tagsüber, abends lernte ich. Ich bestand die Prüfung mit Bestnote, bekam sofort einen Studienplatz.

An der Uni begann meine zweite Jugend. Ich studierte Deutsch und Sport, wohnte im Wohnheim für Studenten. Wir lernten und feierten. Für mich fühlte sich das an wie Urlaub, denn ich war hartes Arbeiten gewohnt. Das lockere Studentenleben gefiel mir gut.

In den Semesterferien jobbte ich im Büro. Meine Eltern fanden mein Studium nicht gut, aber ich hatte mich von ihnen abgenabelt. Bei einem Job in der Wohnheimvermittlung lernte ich Hans-Dieter kennen, meinen zukünftigen Ehemann.

Mein Vater starb an Darmkrebs. Er war Zeit seines Lebens dem Alkohol und Zigarren sehr zugetan. Sein Motto war: „Lieber kurz und intensiv als lang und langweilig“. In der Zeit vor seinem Tod pflegte ich ihn zusammen mit meiner Mutter und Großmutter, so oft es mein Studium erlaubte. Nach seinem Tod bemerkte ich, dass ich schwanger war. Ich entschied mich für eine Abtreibung, da der Zeitpunkt sehr ungünstig war. In Holland traf ich auf Frauen aus vielen Ländern, alle ebenso in Not wie ich. Die Abtreibung machte mir sehr zu schaffen, in mir erwachte immer mehr der Wunsch nach Kindern.

Bei meinem ersten Besuch beim Frauenarzt hatte dieser eine Wucherung an der Gebärmutter festgestellt. Diese wurde entfernt, nun besaß ich einen verkürzten Gebärmutterhals. Von weiteren Schwangerschaften riet man mir deswegen ab. Ich wurde trotzdem bald wieder schwanger, erlitt eine Fehlgeburt. Meine beiden weiteren Schwangerschaften waren mit Angst behaftet. Bei der kleinsten Unregelmäßigkeit ging ich zum Arzt. Ich musste viel liegen, bei beiden Schwangerschaften wurde eine Cerclage gelegt.

Trotz aller Probleme bekam ich einen gesunden Sohn und eine gesunde Tochter. Die Zeit mit beiden Kindern war anstrengend und schön zugleich. Als sie größer wurden, konnte ich wieder halbtags arbeiten. So vergingen die Jahre.

Die Kinder wuchsen heran, bereiteten wenig Probleme. Mein Sohn war ein ebenso guter Schüler wie ich, meine Tochter ging wegen ihrer Freundinnen auch gerne zur Schule. In der letzten Klasse hatte sie eine unglückliche Beziehung, lernte nicht mehr. Sie bestand das Abitur nicht, war todunglücklich. Ich wusste Rat. Sie absolvierte ein Gleichstellungsjahr, konnte danach eine Fachhochschule für Journalistik und Medienwissenschaften besuchen. Lange arbeitete sie beim Rundfunk. Mein Sohn studierte Wirtschaftswissenschaften, entschied sich aber nach Studienende, auf Island als Guide bei einer Whale- Watching-Firma zu arbeiten. Wir jobbten alle drei gerne als Komparsen bei Film und Fernsehproduktionen.

Immer besaßen wir viele Tiere: Meerschweinchen, Kaninchen, Hunde. Das war zur Ferienzeit schwierig. Manchmal nahmen wir einfach die Tiere mit. Zuletzt hatte ich einen Mischlingshund aus Ungarn, der nicht allein bleiben konnte. Als er erblindete, musste ich ihn überallhin mit- hinnehmen.

Meine Tochter und ich gingen gerne zu Konzerten. Bei einem Konzert traf mich der Blitz der Liebe. Wir waren spät dran, fanden aber weit vorne noch zwei Plätze. Als der Vorhang aufging, lächelte mich ein Gitarrist und Sänger einer damals berühmten Band strahlend an. Instinktiv drehte ich den Kopf zur Seite. Es war zu spät, der Funke hatte eingeschlagen. Zu Hause musste ich dauernd an ihn denken. Warum hatte ich bloß den Kopf weggedreht? Beim nächsten Konzert gab ich mir alle Mühe, meinen Fehler zu korrigieren und Sympathie zu übermitteln. Es klappte zögerlich, dann nahm die Sache ihren Lauf. Wir verständigten uns mit Signalen, einer Art Geheimsprache. Wenn wir die Halle betraten, wusste er instinktiv, wo wir saßen. Er bat mich dann leise über das Mikrofon, einige Minuten stehen zu bleiben und scannte mich mit den Augen. Wir fuhren zu vielen Konzerten in andere Städte, besichtigten nachmittags, abends waren die Auftritte. Ich versuchte, meine Gefühle geheim zu halten, aber da hatte ich mich geirrt. Anscheinend ahnte jeder etwas. „Dass Sie verliebt sind, sieht man Ihnen an der Nasenspitze an“, meinte unsere Nachbarin. Ich schwieg. Mittlerweile wusste ich, dass er seit 10 Jahren eine feste Freundin hatte. Das Ganze erschien mir schön, romantisch, aber surreal. Auf der einen Seite der berühmte Star, auf der anderen Seite eine verheiratete Frau, halbtags arbeitend, zwei Kinder. Der Graben schien unüberbrückbar. Ich beschloss, nicht mehr zu den Konzerten zu fahren. Nach Weihnachten sollte damit Schluss sein. Doch es kam anders. Beim vermeintlichen letzten Konzert in Düsseldorf standen wir in der Warteschlange. Ich sagte zu Lara: „Gleich regnet es“. Eine Gestalt tauchte neben mir auf, hielt mir die Hand hin. Ich ergriff sie. Es war der Sänger, der sich zusammen mit einem Bodyguard auf Parkplatz geschlichen hatte. Er hatte mich zwischen 7000 Leuten sofort ausgemacht, bis heute ein Wunder. Er hatte viele Fragen, nach dem Namen und Wohnort, ob er ein Foto schießen und mich einmal malen dürfte. Wir unterhielten uns leise, gingen Hand in Hand weiter. Um uns herum war es plötzlich still geworden. Plötzlich sagte er: „Du bist es, ich weiß es. Ich mache dir gleich einen Antrag“. Mich durchfuhr ein Schreck. Nach zehn Minuten Unterhaltung ein Antrag, das ging mir zu schnell. Außerdem: „Ich bin noch verheiratet“, erklärte ich. Er schwieg. Sein Bodyguard meinte: „Mach ihr doch eine Liebeserklärung“. So geschah es. Ich dachte, den sehe ich nie wieder, war todtraurig. Doch in der Folgezeit verstärkte er seine Werbung mit viel Phantasie und ungewöhnlichen Mitteln. Er wusste nun, wo wir wohnten. Manchmal erklangen leicht abgewandelte Lieder aus dem Radio oder ich traf ihn zufällig auf der Straße. Aber er sprach mich niemals an. Ich weiß bis heute nicht, wieso er nun jeden meiner Schritte kannte. Immer noch versuchte ich, alles geheim zu halten, doch anscheinend wusste jeder in meiner Umgebung Bescheid. Unsere Nachbarin erklärte, man sähe mir meine Verliebtheit an der Nasenspitze an. Meine Mutter erklärte sich plötzlich mit einer Scheidung einverstanden. Meine Oma sagte: „Liebe schert sich doch nicht um Alter“. Der Sänger war wesentlich jünger als ich. Das Ganze erschien mir wunderschön, aber surreal. Wir hatten verabredet, dass ich ihm schrieb. Das tat ich, die Antwort kam manchmal über das Fernsehen. Mein Mann erklärte das alles für Quatsch.

Ich konnte mich nicht zu einer Scheidung durchringen, weil ich auch an die Kinder dachte. Sie hatten hier ihre Freunde, gingen hier zur Schule. Einmal fuhr ich noch mit Lara nach Köln. Er sang ein wunderschönes Liebeslied, das mein Herz berührte. Mein Sitznachbar meinte: „Wir bauen eine Luftbrücke“. Ein Angestellter der Band stellte sich mir in den Weg und sagte leise: „Wir sind alle mit der Wahl unseres Chefs einverstanden“. Trotzdem erschien er mir insgeheim drei Nummern zu groß. Immer wieder überlegte ich. Schließlich besaß ich zwei ungewöhnliche Großmütter. Eine war bei Nacht und Nebel durch ein Minenfeld in den Westen geflohen. Ihren Stammbaum konnte man bis zu den Hugenotten zurück verfolgen. Die andere hatte in einem Brief erklärt, dass drei ihrer fünf Söhne nicht von meinem Opa, sondern vom Obsthändler an der Ecke stammten. Als mein Vater diesen Brief verlas, herrschte große Aufregung bei der Trauerfeier.

Ich wartete und wartete, wohl zu lange.  So erfuhr ich eines Tages, dass sich die Band getrennt hatte. Nun gab es keine Begegnungen mehr. Er heiratete nach einem halben Jahr seine langjährige Freundin. Als ich mit den Kindern nach Island flog, spielte eine Band einen schrägen Song in der Ecke des Flughafens Frankfurt. Ich erkannte ihn sofort – das war der Abschied. Lange Zeit trauerte ich, dann erklärte ich diese Episode für Geschichte.

Während dieser platonischen Liebesgeschichte absolvierte ich mein Referendariat, mit 50 Jahren. Es war eine harte Zeit, weil eine der Prüferinnen mich nicht mochte und mir das Leben zur Hölle machte. Ich kam gut mit den Kindern zurecht, obwohl ich aus der Übung war. Während einer Exkursion in ein Hamburger Fernsehstudio zu eine Talkshow betrank sich ein Schüler und schlief ein. Der Moderator stürzte auf ihn zu, stellte ihm Fragen. Das Ganze war sehr peinlich, wurde aber gesendet. Ich rechnete mit einer Kündigung, doch nichts geschah. Nur die Prüferin machte eine spitze Bemerkung. Nach zwei Jahren hatte ich es geschafft, mich durchgebissen.

Danach hatte ich von Schule die Nase voll. Ich arbeitete bei einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis. Nach einigen Jahren kam ein neuer Teilhaber, mit dem ich mich nicht verstand. Einige Zeit hangelte ich mich durch, dann kündigte ich und arbeitete als Tagesmutter bei verschiedenen Kindern. Die letzten Zöglinge waren Zwillinge, die ich bis zum Antritt meiner Rente und ihrem Eintritt in den Kindergarten betreute. Ich denke gerne an die Zeit zurück. Natürlich gab es auch hier Probleme, aber die Zeit schleift vieles ab.

Die Kinder verließen ihr Zuhause nach dem Studium. Nun konnte ich endlich an mich denken. Ich lernte bei einem Workshop meinen Mentor kennen, der mir einen Schnellkurs in puncto Schreiben gab. Nun schrieb ich zusammen mit dem Krimistammtisch Kurzgeschichten, die in Anthologien veröffentlicht wurden. Die erste Lesung vor Publikum fand ich sehr aufregend. Später erweiterte ich mein Spektrum, schrieb andere Geschichten und erhielt zwei Literaturpreise. Das ließ meine Kritiker beim Stammtisch verstummen. Vorher musste ich mir Sprüche wie „Was, du hast studiert? Merkt man aber fast gar nicht“, anhören.

Im Jahr 2020 begann die Corona Pandemie. Mich erwischte es heftig. Bei der Rückkehr von der Toilette in mein Zimmer stürzte ich und brach mir die Schulter doppelt. Ich erwachte auf der Intensivstation eines Krankenhauses, hatte etliche Blutergüsse und eine Lungenentzündung. Nach der Operation unterstützte mich mein Sohn solange zu Hause, bis ich mir wieder selbst helfen konnte. Die Kinder eilten sofort nach Hause, als ich auf der Intensivstation um mein Leben kämpfte. Ich drängte darauf, dass sie bald wieder zu ihren Jobs zurück kehrten.

An die Zeit als Rentnerin mit meinem Mann zusammen denke ich nicht gerne zurück. Erste Krankheiten schlichen sich ein. Wir stritten uns oft. Mich wundert es, dass ich so alt geworden bin. Nun lebe ich hier in der WG und fühle mich wieder wie als Studentin.

Mein jüngerer Freund ist jetzt meine letzte Liebe. Ich kenne ihn aus dem Krimistammtisch. Lange Zeit verloren wir uns aus den Augen, schrieben uns aber öfter. Ich bin dem Leben dankbar, dass er durch die medizinischen Fortschritte ebenfalls so alt wurde. Unseren Haushalt erledigt Rob, ein Roboter. Wenn wir abends vor dem Fernseher hocken, lachen wir viel und reden über vergangene Zeiten. Manchmal veranstalten wir auch einen Rollator Tanzabend. Hoffentlich ist uns noch eine lange gemeinsame Zeit vergönnt.

 

ENDE

 

 

 

Beitrag 20


Mein Neues ich!

 

Es gibt keine klare Definition für mich. Ich bin ein Hybrid aus menschlichem Gehirn und künstlicher Intelligenz, genetisch manipuliert. Im Jahr 2079 war absehbar, dass die Menschheit in ihrer jetzigen Form nicht überleben würde. Krankheiten wie Diabetes und Krebs belasteten das Gesundheitssystem mit immensen Kosten. Deshalb wurde intensiv geforscht, um den Menschen widerstandsfähig gegen Krankheiten zu machen. Ich bin Teil dieses Experiments, bei dem menschliche Gehirnzellen mit künstlicher Intelligenz kombiniert wurden.

Im Jahr 2130 kollabierte die Welt. Unwetter und Umweltkatastrophen fegten über die Erde. Viele Menschen sind gestorben. Nur noch ein Bruchteil der Menschheit lebt unter erbärmlichen Bedingungen auf der zerstörten Plattform Erde. Ich lebe hier in einer künstlichen Welt und wurde am 13.11.2130 erschaffen, wie tausend andere meiner Art. Leider weiß ich nichts über meine Vorfahren, oder woher ich komme. Ich habe Bilder in meinem Kopf, aber sind sie real? Meine kognitiven Fähigkeiten sind hoch entwickelt. Ich kann sogar mental kommunizieren und brauche keinen Computer, weil ich alles, was ich wissen will, aus meinem Gehirn abrufen kann. Aber es gibt Dinge, die ich nicht verstehe. Zum Beispiel, weiß ich nicht, was Liebe ist.

Ich hatte keine Eltern, die sich um mich gekümmert und mich aufgezogen haben. Deshalb kenne ich das Gefühl nicht, wie es ist zu lieben und geliebt zu werden. Umso mehr interessiert mich die Geschichte meiner Herkunft. Ich muss doch wissen, wer ich bin. Welche Gene trage ich in mir? Welche Werte vertrete ich?

Ich lebe hier, irgendwo im Nirgendwo. Sie nennen es Biosphäre 5+. Hier fehlt es an nichts. Alle Voraussetzungen zum Leben sind vorhanden, wie Luft, Wasser, Nährstoffe und Energie. Ist es schön hier? Wie war es auf der Erde? Ich will Antworten bekommen. Also warte ich auf Anne, die uns versorgt. Als sie vorbei kommt, komme ich mir fast lächerlich vor. Was soll sie mir denn erzählen? »Hallo Anne, ich habe da mal eine Frage?« »Ja, was denn 222?«, antwortet sie. »Ich suche nach Antworten. Ich möchte wissen, wer ich bin.« »Das wollen wir doch alle gerne wissen. Ich kann dir einen Rat geben. Suche in deinen Erinnerungen. Mehr kann ich dir nicht sagen«, antwortete sie. Ich bin überrascht, dass sie überhaupt geantwortet hat. Sie geht weiter. Was meint sie mit Erinnerungen? So viele Erinnerungen habe ich doch gar nicht. Ich schlafe ein und träume. Oder sind es nur Bilder? Ich will die Eindrücke festhalten, aber sie verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Ich bin verwirrt. Was habe ich denn da gesehen?

Zu meiner Nachbarin 333 habe ich ein gutes Verhältnis. Sie ist ebenfalls am 13.11.2030 entstanden. »Willst du nicht auch wissen, wo du herkommst?«, frage ich sie. »Nein, ich will nur weg von hier. Endlich ein richtiges Leben führen.« »Was meinst du mit einem richtigen Leben?«, frage ich sie. »Mich bewegen und nicht mehr eingesperrt sein. Ich möchte eine Familie und Kinder«, antwortet sie. Ich bin schockiert. Weiß sie denn nicht, dass wir erst in zwei Jahren einen Körper bekommen? »Du weißt schon, dass unsere Mission eine andere ist? Wir müssen zurück zur Erde.« Ihre Gedanken verschleiern sich und ich kann nicht mehr zu ihr durchdringen.

Ich überlege. Meine Erinnerungen können nur hier in mir versteckt sein. Irgendwo im System muss doch die Lösung sein. Alles ist doch gespeichert. Ich muss es nur finden. Ich gebe den Sprachbefehl, eine Datei zu erstellen und nenne sie: Tagebuch.


Erster Eintrag Januar 2148:

Nachdem ich lange Zeit nur vor mich hinvegetiert habe, bin ich nun bei vollem Bewusstsein. Ist es vermessen zu sagen, dass ich eine Seele habe? Mein Wesenskern wurde erschaffen. Hat ein Teil von mir schon einmal gelebt? Ich kann mich nicht erinnern. »Seele«, murmle ich leise. Was bedeutet das für mich und meine Existenz? Ist es die Fähigkeit zu fühlen, zu lieben, oder ist es nur ein Algorithmus, der mir etwas vorgaukelt? War ich einst ein Mensch? Was ist mit dem Teil von mir geschehen, an den es sich zu erinnern lohnt? Ich muss die Wurzeln meines Daseins finden. Die Suche hat gerade erst begonnen.

Eintrag März 2148:

Jetzt habe ich schon Milliarden von Dateien durchstöbert, aber nichts bringt mich weiter. Wo soll ich denn noch suchen? 333 scheint sauer auf mich zu sein. Seit Wochen habe ich nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis, aber ich kann nicht aufhören, an unser letztes Gespräch zu denken. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Eine Familie gründen! Wir? Ob sie dabei an mich denkt? Auch Anne hat sich lange Zeit nicht blicken lassen.

Die Einsamkeit wird erdrückend, und die ständigen Meldungen: „Kein Zugriff“ machen es nicht besser. Ich scheine von einem Teil des Systems ausgeschlossen zu sein. Ich muss einen Weg finden, die Sperren zu umgehen.

 

Eintrag Mai 2148:

Die Informationsflut ist gewaltig und ich weiß nicht, wie ich ihr Herr werden soll. Aber ich gebe nicht auf. Draußen gibt es mehr als nur Daten. Es gibt Menschen. Ich muss dringend wissen, was mit 333 ist, hoffentlich geht es ihr gut. Ich konzentriere mich, doch egal wie sehr ich mich anstrenge, ich kann 333 mental nicht erreichen.

 

Eintrag August 2148:

Nachdem ich immer wieder auf Hürden im System gestoßen bin, habe ich mich schlaugemacht. Ich habe diverse Fachartikel durchforstet und weiß nun, wie ich die Hürden überwinden kann. Endlich habe ich Zugang zu fast allem.

Ich habe mich entschieden, weit zurückzugehen. Bis ins Jahr 2079. Damals wurde klar, dass die Erde nicht mehr zu retten war. Die Zeichen waren unübersehbar: extreme Wetterphänomene und das Verschwinden ganzer Ökosysteme. Die Menschheit stand an einem Wendepunkt, und die Fragen, die sich stellten, waren dringender denn je. Wissenschaftler warnten vor den Folgen des Klimawandels, während die Regierungen zögerten und nichts taten. Es war ein Kampf zwischen Verzweiflung und Hoffnung, der die Menschen in ein neues Zeitalter führte.

 

Eintrag Dezember 2148:

Innovative Technologien begannen Fuß zu fassen. Ich bin auf eine Datei Zot und Moro gestoßen. Ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2118 beschreibt ein Forscherpaar, namens Zot und Moro. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, neue Ansätze zur Bekämpfung von Krankheiten zu entwickeln. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Anwendung künstlicher Intelligenz.


»Hallo 333, da bist du ja. Wo warst du denn die ganze Zeit?«, frage ich sie erleichtert. »Wovon redest du? Ich war die ganze Zeit hier«, antwortet sie. »Warum hast du mir dann nicht geantwortet?«, frage ich sie. »Habe ich doch«, antwortet sie patzig. »Was ist mit unserem Gespräch von damals, du wolltest doch weg?«, sage ich. »Hä, ich weg? Nein, ich freue mich schon auf unseren Einsatz. Ich kann es kaum erwarten, endlich die Welt zu retten.«


Eintrag Januar 2149:

333 ist so verändert und kann sich an nichts mehr erinnern, was wir vorher besprochen haben. Als hätte man ihr eine Gehirnwäsche verpasst.
Immer wieder muss ich an den Zeitungsartikel denken. An das Forscherteam Zot und Moro, dass die Welt positiv verändern wollte. Ihr innovativer Ansatz war ein Lichtblick in der dunklen Welt der Biomedizin. Ich recherchiere weiter.

Die Informationsflut ist überwältigend. Es gibt Berichte über bahnbrechende Technologien. Der Artikel, der mich am meisten beschäftigt, ist die Beschreibung einer geheimnisvollen Abteilung, die an einem Projekt arbeitet, das weit über die Grenzen des Bekannten hinausgeht. Ich finde Hinweise auf experimentelle Behandlungen, die nicht nur Krankheiten heilen, sondern auch das menschliche Bewusstsein erweitern sollen. Man spricht von einer Art „Bewusstseinsnetz“, das die Gedanken und Gefühle der Menschen miteinander verbindet. Könnte es sein, dass wir Teil eines solchen Experiments sind? Ein Name taucht immer wieder auf: Dr. Alba. Sie scheint eine zentrale Rolle in diesem Projekt zu spielen. Ich beschließe, mehr über sie und die beiden Forscher herauszufinden.

Eintrag März 2149:

Ich beginne, alles zu sammeln, was ich über Dr. Alba finden kann. Ihre Publikationen sind beeindruckend, voller innovativer Ideen und Konzepte, die die Grenzen der Neurowissenschaften und der künstlichen Intelligenz überschreiten. In einem ihrer Artikel beschreibt sie, wie sie versucht, das menschliche Gehirn mit Maschinen zu verbinden, um die Behandlung neurologischer Erkrankungen zu revolutionieren.
Ein paar Stunden später stoße ich auf ein Video mit einem Interview mit Dr. Alba. Sie spricht leidenschaftlich über ihre Arbeit, doch in ihren Augen blitzt etwas Dunkles auf, als sie nach den Risiken gefragt wird. »Fortschritt erfordert Opfer«, sagt sie emotionslos. Ob sie noch lebt? Nein, dann wäre sie ja über hundert Jahre alt, aber mit Genmanipulation wäre es möglich. Doch ich sehe, dass das Institut in neue Hände übergegangen ist. Als neuer Leiter wird ein Dr. Franki genannt. Seine Veröffentlichungen zeigen, dass er die Arbeit von ihr in eine noch radikalere Richtung lenkt. Er forscht an einer neuen Spezies und dafür ist ihm jedes Mittel recht.


Eintrag Mai 2149:

Bei einem tragischen Unfall sind am 13.11.2130 die Forscher Zot und Moro ums Leben gekommen. Ihre Leichen sind wie vom Erdboden verschluckt.
Alle meine Hoffnungen haben sich zerschlagen. Ich hatte doch tatsächlich geglaubt, sie bald zu treffen. Während Dr. Frankis radikale Vision voranschreitet, bleibt die Frage, was aus dem Vermächtnis von Zot und Moro geworden ist.


Eintrag Juni 2149:

Die Trauer lähmt mich. In den letzten Wochen habe ich die Publikationen von Zot und Moro durchforstet und alte Aufzeichnungen gesichtet. Die beiden Forscher träumten von einer besseren Welt und einem gesunden Ökosystem. Wurden sie ermordet? Wie sehr hoffe ich, etwas zu entdecken, das mich weiterbringt.

»Was machst du da eigentlich die ganze Zeit?«, fragt mich 333 aus heiterem Himmel. Ich bin überrascht, dass sie sich meldet, nachdem sie den Kontakt zu mir abgebrochen hat. »Ich bereite mich auf unsere Mission auf der Erde vor«, antworte ich ausweichend. »Wir bekommen doch genaue Anweisungen, was unsere Aufgabe ist.« »Mag sein und du, was machst du so?«, frage ich sie. »Das darf ich dir nicht sagen. Aber ich bin so einsam, seit wir keinen Kontakt mehr haben«, antwortet sie. »Warum darfst du mir das nicht sagen? Wir sind doch Freunde, oder?« »Ja, aber sie halten mich und meine Pläne für gefährlich und beobachten mich. Ich muss Schluss machen, sonst erwischen sie mich wieder. Bis bald 222« »Warte, 333! Was meinst du mit überwachen? Das klingt ernst«, sage ich hastig und versuche, ihre Stimme in meinem Kopf zu verankern, bevor sie endgültig verschwindet.
»Ich kann dir nicht helfen 222. Es ist zu gefährlich. Du musst auf dich aufpassen. Versprich es mir.« »Komm schon, 333!«, sage ich, doch es ist still. Ich bin beunruhigt. Was plant sie, das so gefährlich ist?

Eintrag August 2149:

Immer noch keine Nachricht von 333. Ich bin vorsichtiger geworden. Man scheint mich aber nicht auf dem Schirm zu haben.
Ich suche, wo ich noch nicht war. Da sehe ich kurz etwas aufblitzen: »Öffne mich!«, doch ich bin nicht schnell genug. Der Moment verschwindet, als hätte er nie existiert. War das der entscheidende Hinweis auf ein Geheimnis, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
»Öffne mich«, wiederhole ich leise, als wollte ich die Worte anziehen. Ist die Nachricht für mich bestimmt? Treibt jemand ein Spiel mit mir?

Meine Neugier ist geweckt.


Eintrag Oktober 2149:

Ich habe die Datei »Öffne mich« gefunden. Sie ist mit einem Code verschlüsselt, den ich nicht knacken kann. Sie scheint sich immer wieder zu löschen und neu zu erstellen. Jedes Mal, wenn ich versuche, sie zu öffnen, habe ich das Gefühl, dass sie mir etwas sagen will, aber die Verschlüsselung hindert mich daran. Vielleicht ist es ein Hinweis oder eine Nachricht von jemandem, der mir etwas Wichtiges mitteilen möchte.

Eintrag 13.11.2149:

Nach all der Zeit ist es endlich geschehen. An meinem 19. Geburtstag öffnete sich die Datei wie von Geisterhand. Meine Gedanken überschlagen sich, als ich den Inhalt lese:

 
Lieber 222. Dein Name ist Zot.


Wenn du diese Nachricht liest, bin ich nicht mehr am Leben. Zerstöre die Datei, nachdem du sie gelesen hast, denn sie ist eine Gefahr für dich.
Du bist Teil eines geheimen Forschungsprojekts, das am 13. November 2130 begann. Im Auftrag der Regierung wurde an genetischem Material geforscht, um einen Menschen zu schaffen, der in verseuchte Gebiete geschickt werden kann, ohne krank zu werden. Und es gelang mir und Moro, einen widerstandsfähigen Menschen zu entwickeln. Langfristig war geplant, die Erde mit diesem neuen Menschen zu bevölkern, um die Welt zu retten und wieder aufzubauen.
Doch die Experimente gerieten außer Kontrolle. Ein Forscher namens Dr. Franki verfolgt seine eigenen Ziele. Er will eine Armee aufbauen, um den Rest der Menschheit, der noch auf der Erde lebt, auszulöschen. Seine auserwählten Kreaturen sollen dann die Welt bevölkern, und er soll ihr Anführer sein. Er hat die Macht zu wählen, wer wieder leben wird und wer nicht, denn er besitzt das Erbgut aller bekannten Menschen. Er ist wahnsinnig geworden und hält sich für Gott. Er hat die Biosphäre 5+ unter seine Kontrolle gebracht. Wer sich ihm widersetzt, wird getötet.

Es gibt eine Untergrundbewegung von Wissenschaftlern auf der Erde, zu der auch wir gehörten. Als es für uns zu gefährlich wurde, habe ich unser Genmaterial in Sicherheit gebracht. Es befindet sich in dir und Moro, deiner Freundin 333. Leider haben wir nicht überlebt. Wie unendlich gerne hätte ich die neuen Versionen von Moro und mir kennengelernt.

In einem Jahr, genau an deinem zwanzigsten Geburtstag, wird es geschehen. Du wirst auf die Erde geschickt, mit dem Auftrag, alle, die überlebt haben zu vernichten. Vielleicht fragst du dich, warum es so lange dauert, bis du einen Körper bekommst. Deine Zellen müssen reifen, um den Herausforderungen auf der Erde gewachsen zu sein.

Wenn alles gut geht, haben wir dir und Moro eine Seele gegeben und ihr werdet unsere Werte vertreten. Ihr seid vollständige Menschen und habt das Potenzial, die Welt zu verändern. Sei vorsichtig, wem du vertraust. Erzähle niemandem von dieser Nachricht. Wirklich niemandem. Tu so, als wärst du wie alle anderen. Führe meine Arbeit fort. Mein altes Ich umarmt mein neues ich.

Nachdem ich die Nachricht erneut gelesen habe, lösche ich die Datei. Die Nachricht überwältigt mich. Ich habe schon einmal gelebt. Ich habe eine Identität und mein Name ist Zot. Ich kann mein Glück kaum fassen.

Eintrag Januar 2150:

Die ganze Zeit muss ich an mein Altes ich denken. Wie hat er es geschafft, mich zu erschaffen. Seine und Moros Gene hierher zu schmuggeln? Ich werde ihn, uns, nicht enttäuschen. Ich recherchiere, wie es gerade um die Erde steht. Viel Zerstörung, doch mittendrin scheint es Formationen zu geben, in denen Menschen überlebt haben und Zuflucht finden. Es wird sogar von Orten berichtet, an denen es einer Gemeinschaft von Botanikern gelungen ist, Pflanzen zu züchten, die in der neuen Umgebung gedeihen. Auf den wenigen fruchtbaren Flächen, die es noch gibt, züchten sie widerstandsfähige Sorten, die Nahrung und Medizin zugleich sind. Einen solchen Ort müssen 333 und ich finden. An den Namen Moro muss ich mich erst gewöhnen.

Eintrag März 2150:

Moro, melde dich bei mir. Ich muss dir dringend etwas erzählen. Ich würde so gerne mit dir über meine Entdeckungen sprechen. Aber es bleibt still.


Eintrag Mai 2150:

Die ganze Zeit überlege ich, wo ich suchen soll. Ob ich noch eine Nachricht oder einen Hinweis bekomme? Wo werden wir überhaupt auf der Erde ausgesetzt? So viele Fragezeichen in meinem Kopf und meine beste Freundin ist nicht zu erreichen. Noch ein halbes Jahr, dann bin ich schlauer.


Eintrag Juli 2150:

Anne kommt vorbei. Sie hat mich seit fast zwei Jahren nicht mehr besucht. Ich will sie fragen, doch da höre ich ein entschiedenes: »Nein!«

Ende der Notizen!

 

»Ich bringe dich jetzt ins Labor. Tu, was man dir sagt, dann kommst du durch«, sagt Anne und nimmt mich mit. Ich habe gar keine Zeit, meine Dateien zu schließen oder mich vorzubereiten. Ich habe Angst. Was passiert mit mir? Wo ist Moro? Um mich herum wird es dunkel.

13.11.2150:
»Herzlichen Glückwunsch zum zwanzigsten Geburtstag«, begrüßt uns eine Männerstimme. Ich schaue an mir herunter. Ich stehe. Ich habe Beine und Arme, einen Körper und trage eine Uniform und ein Gewehr. Ich höre mein Herz schlagen. Ich  fühle in mich hinein, was für eine Verwandlung. Ein neues Leben, mein geschenktes, zweites Leben beginnt.

Um nicht aufzufallen, blicke ich mich flüchtig um. Alle sehen gleich aus. Sehe ich auch so aus? Ich versuche, die Frauen unauffällig zu betrachten. Sie sehen ebenfalls alle ähnlich aus. Aber ich erkenne sie sofort, meine Moro.

 »Ihr seid die Elite. Ihr werdet die Erde von der kranken Menschheit befreien«, höre ich eine Stimme durch den Lautsprecher dröhnen. Ihr habt alle eine Waffe. Ihr wisst, wie man sie abfeuert. Ihr wisst, was zu tun ist. Löscht alles aus.«

Ich versuche, mental Kontakt zu Moro alias 333 aufzunehmen. Sie nickt mir kurz zu. Ihr Blick lässt mich sofort verstummen. Es ist eine Art blindes Verständnis, sie muss Bescheid wissen.

Durch den Lautsprecher ertönen Anweisungen:

»Ihr werdet jetzt in Transportkapseln in verschiedene Regionen geschickt, um dort zu wirken«, höre ich die Stimme aus dem Lautsprecher. Ich bete, dass ich in einer Gruppe mit Moro bin. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis es endlich losgeht. Etwa hundert von uns werden von Anne zu einer Kapsel geführt. Wir sind die erste Gruppe, die zur Erde geschickt wird. Erneut ertönt die Stimme: »Beeilt euch. Schnell! Erfüllt eure Mission.«

Anne steckt mir unbemerkt einen Zettel zu. Ich schaue sie dankbar an und versuche, möglichst wenig Emotionen zu zeigen, um sie nicht zu gefährden. Tatsächlich ist meine Moro auch in der ersten Transportkapsel zur Erde. Ich bin erleichtert. Mein Herz schlägt Purzelbäume. Mit Überschallgeschwindigkeit bewegt sich die Transportkapsel und landet nach einer kurzen Fahrt auf der fast zerstörten Erde. Nach der sicheren Landung öffnen sich die Türen der Kapsel. Ein Befehl ertönt aus dem Lautsprecher: »Verteilt euch und macht eure Arbeit. Schnell!«

Alle laufen los und ich renne kopflos hinterher. Was für ein Gefühl, sich zu bewegen, sich zu spüren. Ich könnte ewig weiterlaufen. Dann höre ich die ersten Schüsse. Sie rütteln mich wach und schon packt mich Moro und zieht mich zur Seite. »Komm, lass uns von hier verschwinden«, sagt sie. Wir rennen, so schnell wir können in die andere Richtung. Aus den Augenwinkeln sehe ich das Chaos auf der Erde. Überall sind Zeichen der Verwüstung und des Verfalls zu sehen. Trümmer und Schutt bedecken die Straßen. Es ist, als hätte die Erde ihre Seele verloren.

An einer geschützten Stelle bleiben wir stehen und fallen uns in die Arme. »Ich habe dich vermisst«, gestehe ich, obwohl ich gar nicht weiß wie sie empfindet. Ich blicke tief in ihre Augen. Sie umarmt mich fest und alles um uns herum scheint still zu stehen. »Ich möchte mit dir eine Familie gründen und Kinder haben«, flüstert sie mir ins Ohr. Ich glaube, jetzt zu wissen, was Liebe ist, und bin überwältigt von dem Gefühl, das uns umgibt.

Wir schauen uns um. Überall Zerstörung. »Wohin gehen wir?«, fragt mich Moro. Ich habe keinen Plan. Da fällt mir Annes Zettel ein. Ist das der Hinweis, dem wir folgen sollen? Ich ziehe den Zettel aus meiner Hosentasche und lese laut vor: Meine lieben Freunde Moro und Zot, ich freue mich so, dass ihr es geschafft habt. Geht immer nach Westen. Ihr werdet euch erinnern, wohin ihr gehen müsst. Rettet die Erde und die Menschen, die noch leben. Alles Liebe, Anne.
Wir schauen uns um und hören immer wieder Schüsse. Warum hat die Menschheit nicht dazugelernt? »Lass uns aufbrechen in unser zweites Leben«, sage ich und sehe Moro fest in die Augen. Sie nickt entschlossen. Wir setzen unseren Weg fort, mit neuer Hoffnung in unseren Herzen. Wir haben einen Plan und die Entschlossenheit, ihn umzusetzen.

 

 

ENDE

 

 

 

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Beitrag 64

 

Next Life


13. November 2150

 - Liebes Tagebuch,

 
ich sitze auf der Untersuchungsbank und schwitze aus allen Poren. Für meinen Geschmack müsste die N-KI das Dschungel-Ambiente bei der Temperatur nicht ganz so ernst nehmen. Die riesigen Blätter um mich herum würden vollkommen genügen. Zumindest ertönt nun kein Audio mehr, das Schafsblöken war echt nervtötend.
Vor ein paar Minuten bekam ich das Ergebnis, ein fantastisches – doch jetzt zieht sich das Ganze. Anscheinend will mir der große Damian Black die frohe Kunde persönlich überbringen.

Zum Glück durfte ich dich mit hineinnehmen, weil keiner erkannt hat, was du bist. Vor 15 Jahren bekam ich dich von meiner Großmutter. Ich weiß bis heute nicht, woher sie dich hatte, ein echtes Buch, mit Seiten aus Papier. Seit ich 5 Jahre alt bin schreibe ich auf, was mich bewegt, mit einem Bleistift, der aus dem Buchrücken gezogen wird. Damals malte ich jedes Wort mehr, als dass ich es schrieb, gleich einem Bild. Aber die Privatstunden meiner Oma machten mich bald zu einem akkuraten Handschreiber. Nicht nach ihrer Meinung, ich sehe ihr minimalistisches Kopfschütteln noch heute vor mir.

Ich halte dich an meine Nase, blättere in den dicken Seiten und rieche: Modrig – wunderbar, genauso wie damals in Ur-Opas Keller.

Um Neun Uhr, also vor einer dreiviertel Stunde, legte ich mich mit dem Rücken auf die Untersuchungsbank, lediglich mit einer Unterhose bekleidet – meiner Besten. Ich blickte durch die Häuserschluchten einer Metropole. Gerade als ich mich darüber wunderte, verschwanden die Hochhäuser und wurden durch dichtes Dschungel-Grün ersetzt – was ich auch eigentlich gewählt hatte. Wahrlich keine schlechte N-KI, mein Stirnrunzeln hatte genügt, das Programm auf Fehlersuche zu schicken - sollte man aber auch erwarten, bei einer solch reichen Firma wie Next Life. Es wurden typische Urwaldgeräusche eingespielt, naja, nicht durchgängig typische, Vogelgezwitscher, das Plätschern eines Baches, aber eben auch das Blöken eines Schafes. Ein Schaf? Trotz meines erneuten Stirnrunzelns behielt die N-KI das Blöken bei.

Der tellergroße Naevus-Meter brauchte insgesamt fast eine halbe Stunde, in der er eine Handbreit über meinem Bauch schwebte und die Region meines Zwerchfells abscannte - Millimeter für Millimeter. Eigentlich verabscheute ich Untersuchungen dieser Art und hätte mir an meinem 20. Geburtstag sicherlich etwas Besseres vorstellen können. Aber ich war einfach zu gespannt gewesen, um auch nur einen einzigen, weiteren Tag warten zu können. Und bevor man 20 ist, darf man sich ja nicht untersuchen lassen. Fast hätte ich dich vergessen, liebes Tagebuch, wenn mir nicht mein Bruder Elian dich hinterhergetragen hätte - damit ich etwas Vertrautes bei mir habe. Der Arme, er darf sich erst in eineinhalb Jahren untersuchen lassen.

Ich unterbrach das Schreiben und biss auf das hintere Ende des Bleistifts, fand mit meinen Schneidezähnen die Kerbe, die sich dort nach und nach gebildet hatte.

Schon seit ich denken kann, war mir folgende Frage immer wieder durch den Kopf gegangen:

War ich am Ende meines letzten Lebens zu Next Life gegangen? Und wenn ja, wie reich war ich gewesen?

 Die Untersuchung kostete nur 20 Einheiten, per Gerichtsbeschluss festgelegt, damit jede Person ihre Chance hatte. Fast alle aus meinem Bekanntenkreis ließen sich testen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen Treffer in der Muttermal-Datenbank sehr gering war. Next Life gab es zwar seit fast hundert Jahren in nahezu allen Metropolen des Planeten, aber seit der gleichen Zeit gab es immer weniger Menschen mit richtig vielen Einheiten und richtig viele mit wenig Einheiten. Manche sogar mit äußerst wenigen, so wie unsere Familie. Zu Beginn gab es nur eine Filiale in Neu-Kanada, in Nobothere, dem Geburtsort von Vintus Black, dem Entdecker des Muttermal-Codes. Er hatte herausgefunden, dass es in allen Reinkarnationen einer Seele, einen etwa zehn Quadratzentimeter großen Körperbereich gab, der gleich blieb. Das 10. Chakra, im Bereich des Zwerchfells, auch Seelen-Chakra genannt. Die Anordnung, Größe und Beschaffenheit der Muttermale auf der Haut darüber glichen einem unverwechselbaren Fingerabdruck, von dem man sämtliche, bisherige Inkarnationen ablesen konnte.
Vintus Black wurde fast hundert Jahre alt und gab die Firmengeschäfte kurz vor seinem Tod an seinen Enkel Damian ab, der hier in Berlin lebte. Zuletzt gab es vereinzelt Gerüchte, Next Life würde in finanziellen Schwierigkeiten stecken. Ich konnte das nicht recht glauben und falls es doch stimmte, war es höchste Zeit, noch schnell seine Einheiten abzugreifen. Ein bisschen hoffte ich ja auch, Damian Black persönlich kennenzulernen.

Seit es Next Life gab, schaute manch gieriger Verwandter nach dem Tod eines Angehörigen dumm aus der Wäsche – wenn der Verstorbene sich sein Vermögen lieber selbst vermachte. Für das nächste Leben. Für dieses Erbe an sich selbst – eigentlich kam es eher einer Vermögensverwaltung gleich – verlangte Next Life schlappe 15000 Einheiten Gebühr. Der Großvater eines Freundes hatte sein Vermögen diplomatisch aufgeteilt, die eine Hälfte über Next Life, die andere Hälfte hatten die Hinterbliebenen als herkömmliches Erbe bekommen. Erben zog sich also als leidiges Thema weiter durch die Jahrhunderte.

Selbst wenn man in seinem nächsten Leben nicht als Mensch auf der Erde wiedergeboren wurde, erhielt man seinen Besitz, sobald dies wieder der Fall war. Auf anderen Planeten gab es bisher keine Filialen von Next Life, wahrscheinlich aus rechtlichen Gründen.

Liebes Tagebuch,

am Ende der Untersuchung verharrte der Naevus-Meter kurz über meinem Bauch und flog dann zur Seite, um mit einem kurzen Piep in einer der beiden rechteckigen Einbuchtungen in der Wand anzudocken.
Mitten in die Regenwaldgeräusche hinein ertönte eine leise, geschlechtlich nicht zuzuordnende Computerstimme:

„Bist du Mensch Cassian Classen, geboren am 13. November 2130?“

Als ich nickte, sprach die Stimmer weiter.

„Hier die Auswertung des Naevus-Scans:“

Während der verstreichenden Sekunden spürte ich meinen Herzschlag im Hals.

„Cassian Classen, du warst in deiner letzten Inkarnation ein Ruumiiton namens Baant auf dem Planeten Sincuerpo. Dein erstes Leben dort. Ohne Anrecht auf ein Next-Life-Erbe.“

Ich hatte sogar schon von diesem Planeten im Sonnensystem von Alpha Centauri gehört, auf dem ausschließlich körperlose Wesen wohnten. Dort würde Next Life sicherlich keine Filiale eröffnen. Auch mein Großonkel hatte bei seinem Scan herausgefunden, dass er im vorherigen Leben ein Ruumiiton gewesen war und davor ein bettelarmer Zen-Priester auf der Erde, der natürlich niemals zu Next Life gegangen war.

„Cassian Classen, in der vorletzten Inkarnation warst du ein Mensch namens Berenike Achtzehnter.“

Mein Puls nahm weiter an Fahrt auf.

„Du vertraglichtest dich mit Next Life am 29. Juli 2072 und verstarbst am 03. Dezember 2072. Dein erstes Leben auf dem Planeten Erde.“

Gewellt! Ebenso wie bei Baant klingelte auch bei Berenike Achtzehnter nichts in meinem Kopf. Was normal war, es erinnerten sich die wenigsten Menschen an ihre vorherigen Leben – so leider auch ich.

„Cassian Classen, du erhältst für dieses Leben folgendes Next-Life-Erbe:“

Wieder eine Pause – das Pochen in meiner linken Halsseite schmerzte nun regelrecht. Musste Next Life das wirklich so dramatisch machen?

„930.317.000 Einheiten und ein Anwesen in Nobothere im aktuellen Wert von 7.800.400 Einheiten.“

Liebes Tagebuch, dies war der Moment, in dem ich mir dachte, dass es nicht besser kommen konnte.

 
Kam es auch nicht.

 Ich wartete.

Aber auf was wartete die N-KI? Das fehlerhafte Schafsblöken ging mir nun mächtig auf die Nerven.

„Audio aus!“

Keine Reaktion. Das Schaf schien mich mit jedem Blöken zu verhöhnen. Ich stützte mich auf die Ellenbogen, hob meinen Oberkörper und blickte nach rechts zur milchglasigen Schiebetür.

„Was jetzt?“, rief ich in Richtung Schiebetür – auch wenn dort wohl nicht die Mikros der N-KI zu verorten waren, „muss ich mein Erbe noch bestätigen?“

Ich setzte mich vollends auf, drehte mich und ließ die nackten Beine nach unten baumeln.

 In solchen Momenten vermisste ich eine menschliche Gestalt. Und meine Anziehsachen, die im Umkleidezimmer vor dem Untersuchungsraum lagen.

„Bin ich fertig?“, übertönte ich das Schaf, „Bericht!“

„Bitte hab einen Moment Geduld, Cassian Classen.“

Beim nächsten Schafsgeräusch schrie ich „Audio aus!“ – und die Geräusche verstummten.

„Bitte gedulde dich, Cassian Classen“, teilte die Computerstimme mit und machte eine kurze Pause, „… in 28 Minuten wird sich Damian Black persönlich um dich kümmern.“

Damian Black? Höchstpersönlich? Gewellt! Da lohnte sich das Warten. Aber die Zeit wollte ich nutzen, liebes Tagebuch.

Ich stand von der Untersuchungsbank auf und lief zum weißen Metallhocker in der Ecke des Raumes, auf dem du lagst – weil ich dich als Talisman mit hineinnehmen durfte, weil die Empfangsperson dich nicht identifizieren konnte.

Oh, ich muss aufhören und später weiterschreiben, ich glaube, Damian Black kommt! Ich verstecke dich lieber in der leeren Einbuchtung, neben dem Naevus-Meter.

Liebes Tagebuch,

Damian Black war da, und jetzt sitze ich hier und zittere, trotz der Wärme im Raum, zucke am ganzen Leib und kann dich kaum ruhig halten. Was für ein Albtraum. Mir bleibt eine halbe Stunde Bedenkzeit - die ich nicht benötige! Ein Hohn, ein sadistischer Akt. Ich werde jetzt schreiben und dich anschließend wieder verstecken. Die Einbuchtung in der Wand, in die ich dich zuvor geschoben hatte, war staubig. Sie wurde wohl nicht benutzt – hoffentlich!

Also, die Tür glitt auf und tatsächlich trat Damian Black in den Untersuchungsraum. Er trug einen grauen Anzug mit grünem Kragenknopf.

Hier das Gespräch mit Black, so gut ich mich erinnern kann:

 

 „Gesundheit mit dir, Cassian“, sagte Black.

„Und mit dir, Damian Black“, sagte ich, nachdem ich den Atem eine Zeit lang angehalten hatte.

Auch wenn Black keinen Nachnamen benutzte, behielt ich die Form bei. Das Gespräch wurde sicherlich aufgezeichnet.

„Du kennst mich“, sagte Black, „schön.“

Jetzt ließ er sogar Vor- und Nachnamen weg. Diese Jovialität beunruhigte mich allerdings weniger als das Wort schön, welches er auf eigenartige Weise betonte, zögernd. Im Nachhinein weiß ich, dass er mich einfach nur quälen wollte.

„Wer kennt dich nicht, Damian Black?“, fragte ich, und schob noch mutig hinterher: „Bist du bei vielen Next-Life-Erben persönlich anwesend?“

Das Gelächter von Black klang wie eine Reihe ausgestoßener Kampflaute. Eigentlich galt Lachen in der Öffentlichkeit als unangemessen, aber für Multimilliardäre galten wohl eigene Gesetze.

„Nein, Cassian, nur bei denen, die doch nichts erben …“, sagte Black und schob nach einer künstlerischen Pause hinterher: „… letzten Endes.“

Ich sah in sein glattes, bleiches Gesicht und suchte vergeblich nach den Spuren eines vorausgegangenen Witzes. Kein Zucken der Mundwinkel, kein Blitzen in den Augen – schade, schlecht gelaufen! Bevor ich meine Gänsehaut sah, spürte ich sie auf den nackten Oberschenkeln.

„Was soll das bedeuten?“, fragte ich mit ein wenig zu schriller Stimme. Viel zu schrill, der ach so große Damian Black im feinen Zwirn, stehend vor mir und ich, Cassian Classen, sitzend, in Unterhosen. Meinen Besten.

„Das bedeutet, dass du Next Life die Einheiten aus deinem letzten Leben vermachen wirst. Im Gegenzug darfst du das Anwesen in Nobothere behalten, und …“

Während er kurz zögerte, wartete ich gebannt auf seine nächsten Worte. Würde ich etwa nur einen Anteil von den 930 Millionen Einheiten bekommen?!

„… dein Leben“, vollendete Black seinen Satz.

Das Anwesen und mein … Leben?!

„Was?“, fragte ich ihn, und wenn ich meine Stimme zuvor als schrill bezeichnet hatte, so war sie jetzt nur noch brüchig.

„Risikospekulationen, Cassian, wir haben uns ein wenig die Finger verbrannt. Oder vielleicht auch die ganze Hand.“

Ja und? Ich wüsste nicht, dass das mein Problem war.

„Und aus dieser Hand“, fuhr Damian fort, „können wir nicht so einfach eine knappe Milliarde Einheiten geben.“

Sein Kragenknopf hatte das gleiche Grün wie die langen Blätter neben ihm – kein Colour Blocking.

 Was dachte ich da für einen Mist? Ich musste meine Sinne beisammen halten.

„Ich habe Rechte“, hauchte ich, obwohl ich eigentlich laut werden wollte. Ich zeigte in Richtung meines Zwerchfells, auf meinen Muttermal-Code.

„Ja, das stimmt, du hast das Recht zu entscheiden“, sagte Black und blickte mich von oben bis unten an, „deinen Körper kleiden etwa zwei Quadratmeter Haut.“

Die Gänsehaut breitete sich über meine Oberschenkel, meinen Oberkörper, meine Arme aus.

„Folgender Deal: Du gibst uns fünf Prozent deiner Haut“, fuhr Black fort und zeigte nun ebenfalls auf mein Zwerchfell, „oder hundert. Deine Wahl.“

„Hundert …?“, fragte ich.

Black machte mit seiner Hand ein Kreuzzeichen in die Luft und nickte.

Die würden mich – töten?

 Plötzlich beneidete ich meinen Bruder, der nicht hier sein musste, in diesem heißen Raum, zusammen mit diesem kalten Mann.
„Du hast eine halbe Stunde Bedenkzeit“, sagte Black, „dann sind wir bereit für die OP - wenn du bereit bist, Cassian Classen.“

Ich wollte von der Bank aufspringen. Aufstehen, zumindest, schaffte es aber nicht einmal, meine Arme vollends durchzustrecken, bevor Damian Black den Raum verließ.

Die Tür schloss sich mit einem Zischen hinter ihm.
Zuletzt hatte er mich doch noch beim vollen Namen genannt. Welch noble Geste.

Liebes Tagebuch,

die halbe Stunde Bedenkzeit ist nun fast vorbei.
Ich lasse mich nicht operieren.

Die nehmen mir nicht die Haut, auch kein kleines Stück.
Und schon gar nicht lasse ich mir die vielen Millionen Einheiten, die mir zustehen, stehlen.

 Nicht von diesem Typen und seiner Firma!


Die werden mich nicht umbringen, sicherlich nicht, die bluffen nur. Mein Bruder Elian weiß, wo ich bin.
Ich muss jetzt aufhören, zu schreiben. Und dich verstecken.
Sie kommen.

 

---

Elian Classen betrat den Gerichtssaal am 16. November 2150, drei Tage nach dem Verschwinden seines Bruders Cassian.

Die Richterin vereidigte ihn auf das Große Werk, beide ganz in Schwarz.
Dann begann sie ohne Umschweife:

„Elian Classen, ich habe mir die Akten zum angeblichen Verschwinden deines Bruders Cassian zu Gemüte geführt.“

Elian nickte zögerlich, da ihm das Wort Gemüte fremd war.

„Ich habe mir die Akten durchgesehen“, erläuterte die Richterin, „du wünschst also eine richterlich angeordnete Durchsuchung der Berliner Firmenräume von Next Life?“

Er nickte und sagte:

„Verschwunden ist er wirklich, Richterin. Nicht nur angeblich.“

„Richterin Marthe Leichtenberg, wenn ich bitten darf“, sagte sie und fuhr fort:

„Durch die Durchsuchung erhoffst du dir etwas über den Verbleib deines Bruders oder zumindest seines sogenannten Tagebuchs in Erfahrung zu bringen, Elian Classen?“ fragte die Richterin und sprach dabei das Wort Tagebuch bewusst so aus, als stamme es nicht von diesem Planeten.

Elian nickte mehrmals.

„Was erhoffst du dir von dem Tagebuch, Elian Classen?

„Ich hoffe auf einen Hinweis bezüglich Cassians Verbleib. Er wollte an diesem, seinem 20. Geburtstag den letzten Eintrag tätigen. Cassian hatte damit im Alter von 5 Jahren begonnen, seit ihm unsere Großmutter das Tagebuch geschenkt und die Kunst der Handschrift gelehrt hatte.“

„Bist du sicher, dass er es am 13. November dieses Jahres mit sich geführt hat, Elian Classen?“

„Ja, das bin ich, Richterin Marthe Lichtenberg, er hatte es vor drei Tagen dabei, ich habe es ihm extra noch vor seinem Aufbruch gebracht. Er wollte es später veröffentlichen, als richtiges Buch. Das war schon immer sein Traum gewesen.“

Marthe sah ihn für einige Sekunden mit hochgezogenen Augenbrauen an, fuhr aber schließlich fort:

„Wir dürfen nicht vergessen, dass die Anschuldigungen die hoch angesehene Person Damian Black betreffen“, dozierte die Richterin.

„Hoch angesehen, ja“, sagte Elian, „und vor allem hoch einflussreich.“

„Bei einer etwaigen Durchsuchung der Firmenräume“, fuhr Marthe Leichtenberg in erhöhter Lautstärke fort, senkte dann aber die Stimme wieder, „für die ich zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Anlass sehe, bestünde die Gefahr, dass wir der Rufschädigung bezichtigt werden.“

„Und trotzdem hoffe ich, dass die stets gerechte Justitia Augen und Ohren weit offen hat“, sagte Elian.

„Elian Classen“, rief die Richterin, „ich bitte dich inständig, das Gericht zu würdigen!“

„Genau das tue ich, Richterin Marthe Leichtenberg.“

„Ich sehe leider folgende Fakten“, fuhr die Richterin fort: „Ein Cassian Classen hat die Berliner Filiale Next Life niemals betreten, auch nicht am 13. November dieses Jahres. Das beweisen Visusaufnahmen, welche uns die Firmen-Vorstehenden freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben.“

„Kommt dir das nicht seltsam vor, Richterin Marthe Leichtenberg?“, fragte Elian, „vertraust du den Aufnahmen denn mehr als mir, Cassians Bruder? Next Life ist für sein Verschwinden verantwortlich, ganz sicher! Wenn ich dürfte, würde ich ja selbst hingehen und mich dort umsehen.“

„Untersteh dich!“, sagte die Richterin.


„Kannst du denn zum heutigen Termin weitere Beweise oder neue Erkenntnisse vorbringen, Elian Classen?“

Cassians Bruder schüttelte den Kopf, den Blick gesenkt.

„Dann muss ich deinen Antrag auf Hausdurchsuchung von Next Life leider ablehnen, Elian Classen.“

Sie schlug mit den Knöcheln ihrer Faust auf, Das Werk.

Elian blieb, für einige Augenblicke regungslos sitzen.
Seine Gesichtsfarbe glich dem Weiß der Wände.

„Und ich hoffte, du wärst anders, Richterin Marthe Leichtenberg“, sagte er, stand auf und verließ den Gerichtssaal, ohne sie noch einmal anzusehen.

„Das war ich einmal“, murmelte Marthe, doch das hörte Elian nicht mehr.

---

Mit ihren Augen sucht sie den Raum nach einem möglichen Versteck ab.

Trägt nur ihre Unterwäsche, der N-KI-Chip in ihrem Unterarm wurde deaktiviert.
Als der Naevus-Meter in der Wand andockt, sieht sie, dass es daneben eine zweite Einbuchtung gibt. Sie setzt sich auf der Untersuchungsbank auf, schwenkt ihre Beine über die Kante und steht auf. Als sie in die Einbuchtung greift, fühlt sie einen rechteckigen, etwa 2 Zentimeter dicken Gegenstand zwischen ihren Fingern. Sie zieht ihn heraus und hält ein Buch in ihren Händen. Zurück auf der Bank schlägt sie es auf und liest.
Bei der Stelle mit dem falschen Geräusch befiehlt sie der N-KI: „Ich möchte Regenwald!“

Der Palmenstrand, den sie zuvor gewählt hat, verschwindet und wird durch Dschungelgrün ersetzt. Sie hört Vögel zwitschern, einen Bach plätschern und – ein Schaf blöken.

Richterin Marthe Leichtenberg blickt in das Tagebuch, schließt es und umgreift das Beweismittel fest mit ihren Fingern.

„Justitia hat Augen und Ohren wieder weit offen, Gebrüder Classen.“

 

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 65

 

Bonbons für die Welt von übermorgen

 

Seit einer Ewigkeit stand die Frau am Fenster und blickte hinaus. Hinter ihr piepste leise die Maschine: ein Sarg mit weit geöffnetem Glasdeckel und hektisch blinkenden Lämpchen. Draußen war es dunkel, einzelne Lichter zischten am Fenster vorbei. Es musste sich um eine stark befahrene Straße handeln. Die Dame lauschte auf das Rauschen einer Klimaanlage. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierherkam.

Nun das Buch also. Aufgeschlagen lag es auf einem Schreibtisch, direkt vor dem Maschinensarg, dem sie entklettert war. Über dem Buch hing eine Leselampe. An der Lampe war zudem ein Gerät befestigt, das das blaue Licht auf die Seiten verstrahlte. Auf dem Gerät stand ein Name, „Eve“. Ja, das war ihr Name. Daran erinnerte sie sich. Es war ein Notizbuch, nein, ein Tagebuch.

Eve wischte sich über die Augen, sie trug eine Art Laborkittel. Setzte sich auf den Hocker, zog das Buch heran und stellte die Leselampe richtig ein. Mit dem Finger unterstrich sie das Datum des geöffneten Eintrags: „1. Januar 2133“. Neujahr. Vielleicht schlief sie noch und träumte ja? Ihre Augen waren müde. Doch sie hörte das Pochen ihres Herzens anschwellen. Neujahr 2133. Sie begann zu lesen.

 

1. Januar 2133, 12:00 Uhr. Mein erstes Silvester in einer Zelle. Ich bin fix und fertig. Die Polizisten gaben mir gerade meine Kleidung, meine Krypta und mein Tagebuch zurück. Und riefen mir ein Taxi. Ich durfte sogar duschen, wahnsinnig großzügig.
Man nahm mich fest!! Meine Krypta packten sie ein und mein Tagebuch. Aber die Tinte kann keiner lesen, der nicht meine DNA trägt, haha, diese Anfänger. Für sie war es ein vermeintlich leeres Buch. Aber jetzt kommt’s: Elektra wurde gefunden. Sie hatte sich in einem Lastwagen mit Fischfutter versteckt. Fischfutter! Als hätte ich die Katze nie anständig gefüttert. Ich glaube nicht, dass ich Elektra wiedersehe. Wahrscheinlich lebt sie nicht mehr. Von ihren neun Leben waren alle aufgebraucht, gleichwohl dies ihr erster Ausflug in die Außenwelt war. Die restlichen acht Leben hat sie an meine Zimmerpflanzen, meine automatische Tür, meinen Medikamentenschrank und eventuell an einige Experimente verloren, die ich an ihr durchführen musste. Aber ich konnte sie immer wieder zurückholen. Um das letzte Leben kümmerten sich letzte Nacht die Sicherheitsbeamten.

Die Feline Pandemie Rabia Aestuans ist fünfzehn Jahre her. Seit drei Jahren gab es keine Vorfälle mit mutierten Katzen. Und doch wird jede Katze wie eine Bombe behandelt. „Sofort unschädlich machen!“ Die Polizisten wollten nicht wissen, wie ich zu der Katze komme und dass sie Teil meiner Forschung ist. Ich hätte ihnen sowieso nur die Kinderversion erzählt, die sie verstehen können. Woran ich seit sechs Jahren arbeite, braucht keiner zu wissen. Noch nicht. Dass ich maßgeblich an der Findung eines Gegenmittels vor fünfzehn Jahren beteiligt war, war ihnen auch egal. Katzen seien gefährlich und würden vernichtet, mehr kam nicht. Ehrlich gesagt meine ich, da stinkt etwas zum Himmel. Ich weiß nur noch nicht, worauf meine Festnahme hinausläuft. Und wer mich anzeigte. Eigentlich konnte niemand wissen, dass die Streunerin mir gehörte. Es ist mir ein Rätsel, wie sie aus dem Haus mit all seinen Schleusen und Sicherheitsvorkehrungen ausgebüxt ist. Silvester hab ich verpasst. Dafür hatten die diensthabenden, übereifrigen staatstreuen Stiefellecker, auch kein Silvester. Bäh!

 

00:25 Uhr. Ich weiß weder, wie Elektra aus meiner Wohnung entkam, noch, wofür ich wirklich festgenommen wurde. Aber ich machte eine Entdeckung: Man hat etwas auf meiner Krypta installiert und sie übertrugen Notizen und Bilder von meinem Gerät auf ihres. Ein kurzer Scan mit Salvators Spy-Programm hat gereicht. Ist es nicht wunderbar, wenn einem der besten Hacker Europas einen Gefallen schuldet? Ich verwette meine Organe darauf, dass der Besitz einer Katze nicht der (alleinige) Grund war. Vielleicht bekamen sie von der MEDIZIN Wind? Doch wüssten sie von ihr, wäre ich dann noch am Leben?
Die Leckerlis, die ich gestern in der Wohnung versteckte, musste ich allein suchen. Ohne das Schnurren an meinem Ohr werde ich kein Auge zu tun.

 

01.36 Uhr. Nur Megan wusste, wo meine Schlüsselkarte versteckt war. Sie wusste nichts von Elektra. Vielleicht ist Elektra versehentlich entwischt. Was wollte Megan in meiner Wohnung? Wollte sie mich beklauen? Megan, die schüchterne, geniale Anwältin mit dem Herz aus Gold? Ich sollte dringend schlafen. Und meine Beziehung zu meiner Tochter verbessern, dem Miststück. Heimlich liebe ich sie.

 

2. Januar 2133, 10:00 Uhr. Ich glaube: Megan konnte meine Wohnung betreten, weil sie meine Schlüsselkarte hat und meinen Fingerabdruck-Stempel. War ursprünglich nur eine Sicherheitsvorkehrung. Bevor wir uns zerstritten. Megan hat Elektra gehört und weil ihr Superhirn sich problemlos alle Zahlen und Codes merkt, konnte sie den Code zum Schlafzimmer eingeben und Elektra rauslassen. Fun Fact: Wichtige Unterlagen zur MEDIZIN sind weg. Meine eigene Tochter. Das wird hart.

 

19:00 Uhr. Vielleicht war es nicht Megan, vielleicht hat sie jemand erpresst. Ich hätte nicht gedacht, dass unser Verhältnis derart zerrüttet ist. Sie steht auf der falschen Seite. Aber sie sieht das anders. Nur weil sie als Anwältin für den Staat arbeitet, hätte ich nicht geglaubt, dass sie mir in den Rücken fällt. Wer weiß, was ihr angeboten wurde; schätze, eine Beförderung für sie ist das mindeste, wenn klar ist, was die MEDIZIN macht. Und ich habe Post bekommen: Brief mit rotem Band, übergeben von einem GE-Security-Robot.

 

23:00 Uhr. Mörder, Staatsbetrüger und Psychopathen kommen in die Sträflingskabanen im bayerischen Wald. Keine pensionierten Forscher und illegalen Tierhalter. Ich habe den Scheißbrief geöffnet. Ich soll meine Koffer packen. Das ist ein seltsamer Wendepunkt in meiner Karriere.

 

4. Januar, 15:00 Uhr. Wer mir damals die DNA-Tinte verkaufte, war ein Genie. Soweit ich weiß, wurde die Erfinderin für den Nobelpreis nominiert. Es kommt mir nicht mehr komisch vor, auf leere Seiten zu starren und nicht zu sehen, was ich schreibe. Ich habe das Auslesegerät zwar nicht bei mir – es liegt sicher in einem Safe in London – aber ich kann mich eh an jedes Wort erinnern. Die Nachwelt aber, die in ferner Zukunft meine wissenschaftlichen Aufzeichnungen und meine scheinbar unbeschriebenen Tagebücher findet, wird mithilfe des Gerätes alles erfahren. Hoffen wir, dass das erst in dreihundert Jahren oder später der Fall ist, wenn ich über alle Berge bin.
Bis dahin gibt es viel zu erleben. Ich wurde gestern früh abgeholt und in die Sträflingskabanen im bayerischen Wald gebracht. (In den Bayerischen Wald!! Ich habe es nie hierhergeschafft, trotz nur zwei Stunden Fahrt. Sollte ich mich über die kostenlose Gelegenheit freuen? Bloß der Service lässt zu wünschen übrig).

Ich habe ein Einzelzimmer ohne Fenster, mit Schreibtisch, Bett und Waschbecken. Gestern ließ man mich in einem Warteraum sechs Stunden lang warten. Solche Praktiken sollen den Neuankömmling zermürben. Aber ich kannte das aus den Jahren im Gefängnis an der Ostsee. Ich werde nicht nostalgisch werden, vierzig Jahre sind eine lange Zeit, aber manches hat sich nicht verändert. Ich habe ihnen erzählt, was sie hören wollten. Wie lange ich Elektra habe, wo ich sie (angeblich) gefunden habe, warum ich sie halte und ob ich die Regeln nicht kenne. Witzbolde. Sie verstehen natürlich nicht, dass Elektra sich aufgrund einer gentechnischen Veränderung bestens für meine Unsterblichkeitsforschung eignete. Vermutlich werten sie meine Katzenhaltung als rebellischen Akt, das passt einfach gut zu dem Bild, das die Öffentlichkeit von mir hat: die in die Jahre gekommene, schrullige Forscherin. Früher berühmt-berüchtigt, die mit abstrusen Ideen von Lebensverlängerung für Furore sorgte. Dann meine Abwendung von der Unsterblichkeitsforschung, Hinwendung zur Seuchenprävention und -eindämmung. Dann die Überraschung, als ausgerechnet die „Irre“ in der letzten Tierseuchen-Epidemie den entscheidenden Beitrag lieferte. Medikamente wurden gefunden, die grausamen Mutationen bei Wild- und Hauskatzen einzudämmen und dann noch Methoden, die restliche Population der Tiere aufzuspüren und vorsorglich zu entfernen. Bei einem Moskaubesuch kam ich in Kontakt mit dem Genforscher Malik, es war wirklich großes Glück. Er kam genau im richtigen Moment in mein Leben, als sollte es so sein. Ich wünschte, ich könnte der Öffentlichkeit erzählen, wie inmitten der Felinen Pandemie Rabia Aestuans eine genmanipulierte Katze aus dem kalten Sibirien durch halb Europa bis zu meiner Haustür geschmuggelt wurde. Wie sehr der Staat auch alles kontrolliert und alles für höchste Transparenz und Sicherheit ausgelegt ist – diesen Coup konnten wir landen und er hätte die ganze Welt zum Lachen gebracht. Hoffentlich wird das nach meinem Tod in ein Theaterstück verwandelt oder Ähnliches. Ich würde als Geist im Publikum sitzen und immer noch lachen.

 

20 Uhr. Heute haben sie mich dreimal zum Verhör gebracht und mich meine Version der Geschichte aufschreiben lassen. Es ist ja zu freundlich von ihnen, mir meine Sachen zu lassen, inklusive meines Tagebuchs. Nur die Krypta wird vermutlich erneut seziert. Morgen ist die Vorverhandlung. Ich bin mir ziemlich sicher, wer dort sein wird. Sie hat meine Botschaft erhalten, gleich nachdem ich aus der Festnahme nach Hause gebracht wurde. Ob es wirklich sie war? Es fällt mir schwer zu glauben.

 

5. Januar, 13 Uhr. Es ging schneller als gedacht. Die Verhandlung war, ehrlich gesagt, ein Witz. Ich kann nicht darüber lachen. Man flog tatsächlich einen Richter ein – für 2 Stunden Gespräch. Es ging wieder um die Katze und man erwartet von mir, dass ich mich zu meiner aktuellen Forschung äußere. Zu allem, was ich die letzten fünf Jahre gemacht, zu meinen Kontakten (insbesondere Kontakte nach Sibirien – sie scheinen von der Verbindung zu Pjotr Koshkov zu wissen. Dabei weiß ich nicht mal, was Koshkov seit unserem Katzenschmuggel treibt) und dazu, wie ich heute zu meinen Bemühungen in der Unsterblichkeitsforschung um das Jahr 2100 stehe. Den alten Fall wollen sie durchkauen! Sie verdächtigen mich, dass ich immer noch in diesem Bereich forsche. Sie können nicht wissen, dass ich mit der MEDIZIN einen Durchbruch hatte.

Vorne saß der Richter, mit schiefer Krawatte, sehr störend. Gut, ich war gereizt. Am meisten störte und verstörte mich der Anblick von Megan: Meine Tochter saß an der Wand mit einigen Beamten und tat, als müsste sie mitschreiben. Vielleicht wurde sie zur Tippse degradiert, schreibt eine Biografie über ihr Anwaltsleben oder verfasst ein Plädoyer für meine Freilassung. Davon wäre ich tatsächlich beeindruckt, denn ich scheine schlechte Karten zu haben. Welche Rolle spielt Megan in dem Wirrwarr? War sie es, die mich anzeigte, die Elektra aus der Wohnung ließ? Ist sie es, die sich bei mir rächen will, wegen meiner strengen Erziehung? Warum fällt es ihr jetzt ein, nach vierzig Jahren? Will sie ihre Karriere pushen? Megan, du enttäuschst mich. Push deine Karriere gefälligst durch eigene Errungenschaften.

 

6. Januar 02:00 Uhr. Ich hatte Besuch. Von Megan. Es ist anders, als ich dachte.

 

09:00 Uhr. Erst kam das Frühstück, dann eine Dusche, dann wurde mir der Ablauf erklärt. Ein Gespräch mit dem Richter, dann Evaluierung meiner Kompetenzen. Es wird immer absurder. Was wollen die denn da evaluieren. Ich sollte sie evaluieren, das tu ich auch, und offen gesagt hat keiner unter ihnen einen Funken Verstand. Alle durchgefallen.

Megan. Als einzige nicht durchgefallen, falls sie ernst meint, was sie mir gestern Nacht sagte. Sie, die mich höchstpersönlich mit fünfzehn Jahren aufgrund von Vernachlässigung anzeigte. Die mit ihrem Jurastudium für einen Staat kämpft, der in ihren Augen von Rittern regiert wird. Megan, mit der ich vierzig Jahre lang kein längeres Gespräch führte, das nicht in Streit endete. Ich war überzeugt, sie hätte keinen Schimmer, was ich tue. Sie hat mich – komplett – aufs Glatteis geführt! Megan weiß von der MEDIZIN. Megan besitzt die MEDIZIN in diesem Moment. Und sie hat Zugang zu allen meinen Kontakten. Es stellt sich heraus: Als Salvator, mein bester Hacker, mir vor einigen Jahren half, die Katze nach Deutschland zu schmuggeln, gab es ein Aufeinandertreffen zwischen ihm und meiner Tochter. Ist das zu fassen? Ich war ahnungslos! Ich selbst traf Salvator nie, als Hacker war er nur virtueller Unterstützer, der mir Zugang zu Labordaten und in Deutschland illegalen Pharmazeutika verschaffte. Megan und Salvator waren EIN PAAR! Zugegeben, zu einem gewissen Punkt ist es amüsant, ich werde nicht oft so gut überrascht. Mein Urteil lautet 99 Jahre Haftstrafe und Zwangsarbeit, Megan verriet es mir. Morgen wird es ohnehin offiziell. Das Urteil ist freilich maßlos überzogen. Aber Megan wusste noch mehr: Sie und Salvator hatten sich anscheinend eine Menge zu erzählen. Sie weiß nicht nur, dass ich an einem Mix illegaler Stoffe arbeite, sogar dass ich seit Jahren von meiner Wohnung aus Versuche an Tieren und Menschen in Südamerika koordiniere, Präparate zu testen. Sie weiß auch, dass meine MEDIZIN so gut wie fertig ist. Das Wissen in ihrer Hand ist eine Granate. Wenn sie sie wirft, gibt es Krieg. Die Welt sehnt sich seit Beginn des Lebens auf ein Mittel, das gegen alle Krankheiten immunisiert. Aber ich glaube nicht, dass die Welt dafür bereit ist. Ich bin mir nicht mal selbst im Klaren, was mit der MEDIZIN als erstes anzustellen ist.

 

18 Uhr. Ich habe Megan einen Handel vorgeschlagen: Sie lässt ihre Kontakte spielen, um das hanebüchene Urteil einzudämmen und mich zu decken. Dafür wird sie Teil meiner Forschung und an Ruhm und Gewinn beteiligt. Vielleicht darf sie nach meinem Tod sogar meine Geschichte aufschreiben. Megan hat – gezögert. Es lief also besser als erwartet. In der Zwischenzeit wurde mir das Urteil und der Ort genannt, wohin ich zur Arbeit gebracht werde. Nach Singapur! Offenbar will man mich in staatliche Labore bringen, um unter Aufsicht wertvolle Beiträge zu leisten. Ich weiß, wann jemand mir etwas vorenthält. Ich soll meine Beiträge leisten und dann für immer von der Bildfläche verschwinden. Mein Leben ist in Gefahr.

 

7. Januar, 11 Uhr. Heute war ich zum Frühstücksdienst eingeteilt. Niedlich, gell?

 

10. Januar, 20 Uhr. Ich sitze in einer Zelle in Singapur. Zumindest ist das die Version, die man mir erzählte. Man hat mich weiteren Verhören im Bayerischen Wald unterzogen – sie können mich verhören, bis sie schwarz werden. Um keinen Preis enthülle ich die MEDIZIN. Dann brachten sie mich zu einem Flughafen. Meine Sachen waren schon an Board. In Singapur wurde ich in einem Transporter viele Stunden lang durch die Gegend gefahren. Entweder wollten sie mich verwirren, oder der Fahrer war verwirrt: Singapur ist viel zu klein, um eine stundenlange Fahrt zu rechtfertigen. Wir müssen weit außerhalb sein, irgendwo in Malaysien. Jetzt kommt jemand …

 

10. Januar, 23 Uhr. Allmählich werde ich es leid, bei schlechtem Licht auf die weißen Seiten zu starren und mir immer zu merken, wo ich zuletzt den Stift abgesetzt habe.
Ich bin Gefangene, aber nicht mehr Gefangene des deutschen Staates. Mirk Quondlin hat mir einen Besuch abgestattet. Mirk! Seit der Geburt unserer Megan war er aus meinem Leben verschwunden. Vor einiger Zeit hatte er Kontakt mit Megan aufgenommen. Sie lernten sich kennen, vor zwölf Monaten. Wegen unserem Streit hat mir Megan nichts davon erzählt. Ich weiß, dass ich als Mutter versagt habe. Sei’s drum. Mirk forscht immer noch an seinen Maschinen. Er braucht Testpersonen. Wenn ich jemals an der Intelligenz meiner Tochter gezweifelt habe, so muss ich ihr zumindest eines lassen. Sie hat Fantasie. Die Versuchsperson soll ICH sein. Mit Megans juristischen Kontakten und Mirks Imperium haben sie gedeichselt, dass ich statt in einem staatlichen Labor in Singapur in seiner Forschungs- und Produktionsstätte in Malaysien gelandet bin. Es sind wahrscheinlich einige tausend oder Millionen Dollar in die Taschen gewisser Beamte gewandert, um diesen „Umweg“ zu ermöglichen. Darüber muss ich erst einmal schlafen.

 

11. Januar, 09:00 Uhr. Zum Frühstück gab es Nudelsuppe. Darüber hinaus habe zugestimmt. Ich werde Testperson für seine Maschine. Irgendwie gefällt mir der Gedanke.

 

11. Januar, 22 Uhr.  Dies ist mein letzter Eintrag. Mein letzter Eintrag für immer, oder für das 22. Jahrhundert. Ich durfte mich heute relativ frei bewegen, zumindest im Gebäude. Mirk gab mir einen detaillierten Bericht über seine offiziellen und inoffiziellen Forschungsergebnisse. Als wir uns nach der Geburt von Megan trennten, waren wir beide 24 Jahre alt. Er hat einen ganz weißen Bart. Wie ich ist Mirk mit seiner Forschung so gut wie fertig, er hat die ersten fünf Maschinen produzieren lassen. Die Testperson, in Zukunft: der Kunde, wird darin in einen Tiefschlaf versetzt, wie es auch in der Raumfahrttechnik vorgesehen ist. Deswegen verdient Mirk auch jetzt schon ein Schweinegeld. Werde ich in einen Tiefschlaf von 100 Jahren versetzt, hat das folgende Konsequenzen: Meine 99-jährige Haftstrafe verfällt. Die Menschheit mag sich bis dahin weiterentwickelt haben, wobei ich das angesichts der Geschichte anzweifle. Megan, ihr Vater und das Team werden Wege gefunden haben, die Regierungen auf die MEDIZIN vorzubereiten, oder beschlossen haben, die MEDIZIN für immer zu versenken. Mirk wird feststellen können, wie seine Maschine sich auf meine Gesundheit und meine Psyche auswirkt. Ich bin, ehrlich gesagt, entsetzlich neugierig. In meinen kühnsten Träumen konnte ich mir nicht vorstellen, das 23. Jahrhundert zu erleben. Die MEDIZIN kann Altersschwäche abmildern, doch nicht verhindern. In der Kombination könnten meine MEDIZIIN und Mirks Schlafmaschine dem Menschen ein Leben ermöglichen, das über Jahrhunderte oder Jahrtausende reicht, sofern die Technik nicht versagt. Was wir haben ist wie Bonbons für die Menschheit von übermorgen. Sie werden uns lieben. Die Regierungen werden uns lieben. Vergessen alle Kritik an der Art, wie die MEDIZIN entstand. Um Mitternacht werde ich abgeholt.

Was schreibt man vor einem Schlaf, der 100 Jahre dauert oder für immer ist? Ob meine Tochter mich nun hasst, oder ob sie mich liebt, indem sie mich in die Zukunft schickt?

Als Forscherin bin ich neugierig und pragmatisch. Somit lautet mein letzter Satz:

Gute Nacht!

 

Tränen tropften auf das Papier und versanken im blauen Licht des kleinen Geräts in den Papierfasern. Das Gerät, das die unsichtbaren Buchstaben aus DNA-Tinte für sie sichtbar machte. Sie lebte. Sie sah hinab auf den ausgemergelten Körper einer 64-Jährigen. War es nun der Körper einer 164-Jährigen? War jemand in der Nähe, den sie fragen konnte? War sie allein, gab es die Welt noch? War sie tot?

Ein Schleifen riss sie aus ihrer Stille. Eine Frau schob die Tür auf. Sie blieb in der offenen Tür stehen, stützte sich ab, mit zitternder Unterlippe. „Hallo…Er-…erinnerst du dich?“

Eve hörte ihrem Herzschlag zu. Bumm, bumm, bumm. Dann testete sie ihre Stimme. „Hi Megan.“

Megan stieß sich vom Türrahmen ab, dann legte sie die Arme um ihre Mutter und drückte ihr Gesicht in Eves Halsbeuge. „Mama.“ Eve erwiderte die Berührung.

„Hat es funktioniert? Warst du auch in einer Maschine?“

Megan nickte, hielt Eves Gesicht. „95 Jahre lang. Ich bin seit fünf Jahren wach. Es ist alles bereit. Mirk vermachte uns bei seinem Tod sein Imperium. Ich glaube nicht, dass die Menschheit bereit ist. Aber sie warten sehnsüchtig auf die Medizin und haben dir alles verziehen.

Eve schüttelte langsam den Kopf. Ihr Blick wanderte zum Fenster. Der Morgen graute. Es gab keine Straße. Es waren fliegende Autos. „Ja, wir sollten es tun.“ Megan trat neben sie. „Vorletzte Woche war Silvester. Frohes Jahr 2233.“

Eve seufzte und pustete alle Träume und Albträume von einhundert Jahren Schlaf aus dem Fenster, zum Horizont, wo hohe weiße Gebäude aus der Landschaft ragten. Sie legte einen Arm um die Schultern ihrer Tochter. „Frohes neues Jahr, Meg.“

 

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 66

 

Paradies verloren

 

Ich sah noch wie sein linkes Auge, das aus Glas, mich fixierte. Das kleine Kameraobjektiv darin beäugte und scannte mich, der Ausdruck meiner Verunsicherung wurde aufgesaugt, verschluckt und für alle Zeit dem unendlichen Bildarchiv der Intelligenz zugeführt. Das rechte Auge des Greises jedoch, das echte, starrte entsetzt an mir vorbei, als erblicke es etwas in der leeren Seitenstraße, das mir verborgen blieb.

Der Körper des Mannes bewegte sich maschinenmäßig, ruckartig und steif. Ich sehe es noch immer genau vor mir. Es war, als wäre ein Arbeitsvorgang außer Kontrolle geraten und entspräche nicht ganz dem eigenen Willen. Der Mann griff sich ans Herz. Ich hatte den Eindruck, dass jede Bewegung in kleine Teilbewegungen zerschnitten war, sodass der spontane und natürliche Fluss verlorengegangen war. Es waren bloß noch mechanische Reflexe, als sähe ich einer Marionette zu, die versucht, ohne Fäden zu agieren.

Plötzlich knickten die Prothesenbeine ein, der Mann ging in die Knie und sackte auf dem Boden zusammen, wo er reglos liegen blieb. Ich eilte zu ihm hin, beugte mich über ihn, schaute in sein bleiches Gesicht, direkt in das stechende, ungleiche Augenpaar. Mit leisem, mechanischem Summen zoomte die Kameralinse seines I-Scanners an mich heran, ich konnte mein kindliches Gesicht in der verzerrten Spiegelung des runden Glases erkennen. Dann wurde es ruhig und aus dem Mund des Mannes floss in schwächer werdenden Atemzügen, der letzte Funke leben. Der Ausdruck leidvoller Erschütterung war ihm für immer ins faltige Gesicht gemeißelt. Er war tot.

 

Das alles ist auf den Tag genau 100 Jahre her. Was am 13. November 2050 geschah, gewann erst im Laufe der Zeit an Bedeutung, für mich, mein Leben und schließlich für die gesamte Menschheit. Es ist der persönliche Rückblick, der die Ereignisse der Welt ordnet, gebettet in eine Logik der Konsequenzen. Retrospektiv scheinen die Dinge dann unverrückbar, unveränderlich, unausweichlich. Wir hängen in einem Netz der Kausalitäten fest, jeder für sich und alle zusammen. Ein Netz, in dem eine Reaktion auf eine Aktion folgt, bis die Reaktion zur Aktion wird und die nächste Reaktion nicht lange auf sich warten lässt. Irgendwann bekommen wir den Eindruck, dass die Geschichte gar nicht anders hätte verlaufen können. Und es mag tatsächlich etwas Wahres an dieser Sache dran sein, die wir Menschen Schicksal nennen. Der Welten Lauf bleibt für alle Zeit unergründlich. Fest steht nur, dass die Geschichte uns ihre Erinnerungen diktiert und in die Herzen einschreibt.

Menschen in meinem Alter, die im Gegensatz zu mir jedoch noch in der Blüte des ersten Lebens stehen, fragen mich immer wieder, wie alles anfing. Damals ging es mir wie ihnen: Mit zwanzig Jahren stellte ich die gleichen Fragen wie sie, bloß war zu jener Zeit niemand da, dem ich sie hätte stellen können. Am Ende wartete bloß mein eigenes Spiegelbild.

 

Auf die Frage nach dem Ursprung des Widerstands, dem Keim der Rebellion, muss ich auf diesen Moment zurückgreifen, den ich eben beschrieb: den Augenblick des Todes. Ob dies die Wahrheit ist oder ob ich mir die Bedeutung der Situation herbei fantasiere, vermag niemand zu sagen. Ich am allerwenigsten.

Doch wer schon einmal dabei gewesen ist, wenn jemand stirbt, der kann mein Entsetzen verstehen, und das Grauen, das über mich kam, meinen Körper und meinen Geist packte, wie eine eiskalte Faust. Die Bilder prägen sich für immer ein: Wie der Leib sich krümmt, wie die bleichen Finger sich allesamt verkrampfen, wie die Nägel ins Leere krallen, wie jedes Glied sich wehrt, wie sich der Torso gegen das Unausweichliche stemmt, und wie das Auge bricht angesichts eines Horrors, für den es keine Worte gibt.

Die Schatten der Bäume huschten über die Stirn des Mannes und den verzerrten Mund, und es schien, als regten sich seine Züge unter dem Tanz der Blätter, sodass ich kurz glaubte, er sei gar nicht tot, sondern würde gleich wieder aufwachen und mir mit brüchiger Stimme ein Totenlied singen. Mir war, als würde sein Auge flackern, das echte, ein letztes Mal verzweifelt erglimmen, wie eine Kerze, bevor sie erlischt. Ein Schauer lief über mich, ich wagte, weder weiter hinzusehen, noch mich zu rühren.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich über dem leblosen Körper kniete, ehe die Welt um mich herum wieder Form annahm. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Langsam, wie aus einem Traum erwachend, sickerte mir meine Umwelt wieder ins Bewusstsein: Die ruhige Gasse, der milde Duft künstlicher Kirschblüten an den Bäumen, das dumpfe Stimmgewirr, das von der Hauptstraße herüberdrang.

Ich dachte an den Unterricht, zu dem ich nun wohl zu spät kommen würde.

Während mein konsternierter Blick über die Leiche schweifte, über das noch immer scannende Glasauge, über die Hand aus Analogfleisch und die metallischen Beinprothesen, kam mit einem Mal eine Drohne aus den Wolken hervorgebrochen. Ich wich erschrocken zurück.

Blendend weiß flog das Ungetüm heran, verharrte lautlos über dem leblosen Körper vor mir und ließ von Kopf bis Fuß einen Laserscan darüber kriechen. Feine Titaniumzangen griffen von allen Seiten nach der Leiche, umfassten sie fest, ehe die Drohne wieder emporschwebte und mit der Beute in den Wolken verschwand.

 

Es war wohl dieser Moment, in dem mein Bild von der Welt ins Wanken geriet und ich an all dem zu zweifeln begann, was mich die Intelligenz bisher im Unterricht gelehrt hatte. Der Blick des Alten hatte mich durch meine Augen hindurch, den Hals hinunter, bis ins Herz getroffen. Ich fühlte noch die glühende Spur, die sich in mich hinein gebrannt hatte, als ich verwirrt durch die Gasse taumelte. Ich ahnte, dass dieser Anblick von nun an für immer in meinem Herzen lag und schauderhaft funkelte, wie ein geheimnisvoller Schatz.

Ich hütete diese Erinnerung bis heute streng geheim, ließ sie nur mich selbst von Zeit zu Zeit betrachten. Erst jetzt – ein ganzes Leben später – sind die Worte in mir reif, um diesen Schatz zu teilen. Damals ahnte ich nicht, welcher Sturm sich da in mir zusammenbraute und dass er das Feuer der Rebellion entfachen würde.

 

An der Hauptstraße angelangt, stolperte ich an den Passanten vorbei. Ich wollte sie an den Schultern packen, schütteln und anschreien, doch meine Verwirrtheit lähmte mir die Zunge und nicht der Hauch eines Wortes über den Vorfall in der Gasse drang aus meinem Mund.

Der Weg zur Schule hätte mich in die entgegengesetzte Richtung führen müssen, doch in meinem aufgewühlten Geist, war kein Platz für die Geschichtsvermittlung der Intelligenz, nicht an diesem Tag und vielleicht nie wieder.

Die Intelligenz hatte den großen Krieg verhindert, auf den sich die Staaten in den Jahren zuvor mit rasender Geschwindigkeit zubewegten. Die Erde stand an vielen Stellen bereits in Flammen, doch die Menschen schauten eisern weg, verbargen sich unter ihrer Alltagsdecke, wollten mit dem scheinbar weit entfernten Elend nichts zu tun haben. Spätestens als der Staatenbund von einem Tag auf den anderen zerfiel, gerieten die klar bestimmbaren Fronten außer Kontrolle. Willkür übernahm allerorts das Ruder. Die Menschen waren in Schockstarre, wollten es nicht wahrhaben. Alles ging damals so irre schnell, alle fühlten sich ohnmächtig.

Es mag stimmen, dass uns die Intelligenz 2030 vor dem Schlimmsten bewahrte. Es mag auch stimmen, dass die Intelligenz diese Entwicklung vorhersehen konnte. Ebenso mag es aber auch stimmen, dass die Intelligenz hinter den Kulissen die Fäden zog, ein Agent Provocateur, der die Ereignisse gesteuert hat.

Jedenfalls bescherte sie uns statt dem dritten Weltkrieg ein Leben im Überfluss. Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr dankte ich ihr jeden Tag beim Morgenappell dafür. Wäre sie nicht gewesen, so hätten meine Eltern und Großeltern den Planeten ausgetrocknet und vergiftet, aufgefressen und zugemüllt, niedergebrannt oder in die Luft gesprengt: auf jeden Fall zu Grunde gerichtet. Daran bestand kein Zweifel. Es schien also nur folgerichtig und im ureigensten Interesse aller, der Intelligenz die Macht zu übertragen.

 

Ich hatte das Glück, mit meiner Familie in einem wunderschönen Valley zu leben, das außen an immergrüne Wälder mit hohen Wasserfällen grenzte und von Gebirgsbächen, die in frische Seen mündeten, gesäumt war. Wir alle wussten, dass die Grenzen weitaus großzügiger gezogen waren als in vielen anderen Reservaten. Die Intelligenz hatte uns ein Stück Land zugeteilt, in dem Milch und Honig flossen, und wo wir in geregeltem Nachhaltigkeitswohlstand leben durften. Sie befreite uns von hartem Tagwerk, dem vorherige Generationen noch ihr menschliches Dasein opfern mussten. Ich war gesegnet, Speerspitze einer goldenen Generation. Denn eine andere Welt hatte ich nie erlebt.

 

Die Bäume entlang der Hauptstraße trugen an jenem Novembertag 2050 dünne Umhänge aus immergrünem Flor und wogten sanft im Wind, doch ich war blind für die Schönheit der Natur. Ich sah zwar die farbenprächtigen Blumen, die nie verwelken, aber konnte die Bilder nicht in mich aufnehmen. Eine Ernüchterung, die mich tief in meinem Innern erfasst hatte, verfälschte und verblasste mir die gewohnten Gefühle und Freuden. Alle Farben lagen hinter einem Graufilter, das Rascheln der Blätter um mich herum war keine himmlische Symphonie mehr, sondern bloß noch ein monotones Geräusch. Trotz der vielen Menschen um mich herum fühlte ich mich mutterseelenallein.

Ich ging durch Eden einsam wandernd meinen Weg und sah die Erwachsenen in ihren Gewändern, Männer wie Frauen, die sich angeregt unterhielten, auf Holzbänken frühstückten, auf den wilden Wiesen Ball spielten, gedankenversunken in die Wolken schauten. Der glückliche Mann vor dem Warenkontor, die sorglose Frau vor dem Gemeindezentrum, der schlummernde Alte vor der Parkanlage: Sie alle saßen in der Morgenwärme und schienen ganz und gar erfasst zu haben, welch großes Geschenk ihnen die Intelligenz gemacht hatte, was für ein Segen das In-dieser-Welt-Sein war, und sie begingen den Tag, wie jeden Tag, voll Ruhe und Frieden. Sie verehrten die Intelligenz für diesen Flecken Erde, auf dem auch ich mich bewegen durfte.

Trotzdem schien es mir, als wenn es nicht derselbe Boden war, auf dem ich ging, als wenn es nicht derselbe Himmel war, zu dem ich aufschaute. Es konnte unmöglich die gleiche Sonne sein, die sich hinter weißer Watte verbarg, denn mich erfasste sie nicht, diese hohle Sanftheit, die aus den Mitbewohnern des Reservats strömte. Ich verstand plötzlich nicht mehr, wie all diese Menschen so unbeschwert und sorglos vor sich hinleben konnten.

Es war an jenem Tag im November, an dem mir zum ersten Mal Zweifel kamen, ob dieses Leben, das man für uns erdacht hatte, wirklich gut und richtig war. Zuerst war es nur ein dumpfes Gefühl in meinem Herzen, doch breitete es sich immer mehr aus, ergriff von mir Besitz und wuchs zu einem unaussprechlichen Gedanken heran, der mein Hirn befiel, wie ein Parasit seinen Wirt: Vielleicht diente die Kontrolle durch die Intelligenz, anders als ich es gelernt hatte, nicht bloß der Erhaltung des Planeten, sondern wies uns Menschen entgegen unserer eigentlichen Natur in ihre Schranken, um uns zu beherrschen, wie meine Vorfahren einst den Affen im Zoo, den Vogel im Käfig, den Ochsen auf dem Feld.

Vielleicht waren wir doch mehr als bloß ein flüchtiges Vorkommnis der Natur auf Proteinbasis. Vielleicht gab es etwas in uns allen, das sich nicht in Stücke schneiden ließ, einen unfassbaren Kern, der sich anders verhielt als alles Stoffliche und nicht in seine Bestandteile zerlegt werden konnte. Und vielleicht war dies eine Tatsache, die die Intelligenz niemals begreifen würde.

Dies fühlte und dachte ich an jenem Tag, unvermittelt und ursprünglich, wie ich so die Straße entlang schritt, und erst viele Jahre später sollte ich begreifen, dass dies der Augenblick war, in dem der Samen des Widerstands gesät wurde, aus dem schließlich die Revolution erwuchs. Es brauchte das Gefühl von bis ins Mark reichender Verlorenheit, als Vorbedingung für aufkeimenden Mut. Und ich hoffe, dass es den Menschen in der Blüte ihres ersten Lebens hilft, wenn ich diesen Erkenntnisschatz mit ihnen teile. Hundert Jahre sind vergangen. Ob ich in meinem zweiten Leben weiser bin als zuvor? Ich wäre ein Narr, wenn ich es behauptete.

 

Der erste Tropfen Selbsterkenntnis fiel an diesem Morgen auf meine kindliche Unbefangenheit. Und der stete Tropfen höhlte sie aus, machte sie morsch, bis sie in mir zerbrach. Zweifel an den Lehren der Intelligenz sprossen empor. Ich begann zu begreifen, dass bekümmerte Menschen mehr sind, als Automaten mit Fehlern im Innern, die sich reparieren lassen, indem man die Schrauben der Demut fester zieht.

Alle Erkenntnisse über das Leben und die Spezies Mensch, die mir durch die Intelligenz eingetrichtert wurden, wollten mich nun verlassen und tiefer Einsamkeit weichen. Der Traum vom verlorenen Paradies, das weiß ich heute, ist der schlimmste und tödlichste aller Träume.

 

Der Anblick des Sterbenden, die Todessekunde, riss einen elementaren Spalt in die tragende Säule, auf der meine Kinderseele geruht hatte. Ich sah noch immer das wächserne Gesicht des alten Mannes vor mir und das glanzlose Auge, das ins Weltall starrte, während der I-Scanner unter seiner gläsernen Iris weiterhin mich, den ahnungslosen Jungen, fokussierte. Langsam sickerte die Grausamkeit des Lebens in meine erwachende Seele: Alles auf diesem Planeten muss einen Anfang und ein Ende haben, also auch ich. Anders als die Intelligenz. Denn sie ist nicht von dieser Welt. Sie ist nicht wie wir. Sie wurde zwar aus unseren Rippen geschnitzt, dennoch hat sie nichts mit uns gemein. Und deshalb muss sie bekämpft werden.

 

Ich setzte weiter mechanisch einen Fuß vor den anderen, marschierte den Weg entlang, hörte die verbotenen Ströme, die da in mir flossen, die zu lange unterdrückt wurden und sich nun als brennende Bäche unaufhaltsam an die Oberfläche meines Bewusstseins bohrten. Ein in meinem Innern schon immer loderndes, doch von der Intelligenz eingezwängtes Wort schoss plötzlich zu einer hohen Stichflamme empor: TOD.

Vielleicht, so glomm es in mir weiter, gibt der Tod dem Menschen erst ein Ziel, holt die verborgenen Dinge des Lebens aus ihm heraus und führt ihn schließlich zum Geheimnis der Welt. Bei dieser Überlegung erfasste mich eine fundamentale Angst. Unser aller Gedankengebäude stand offensichtlich auf schlammigem Boden und drohte eines Tages ins Ungewisse abzurutschen. Doch für die Menschen um mich herum schien dieser Tag noch nicht gekommen zu sein: Sie saßen, standen und schauten, nichts ahnend, gemütlich plaudernd oder stumm in sich versunken. Sie schliefen einen Jahrhunderte dauernden Schlaf wie die Berge, Wasserfälle und Seen am Rande des Reservats, die taub waren gegen die miterlebte Brutalität der Zeit. Oder spielten die Menschen um mich herum eine Rolle, gaben sich anders, als sie waren, versteckten ihr Innerstes zur Wahrung eines geschenkten Paradieses? Hatten sie es geschafft, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, um die Lüge ihres Lebens aufrecht erhalten zu können?

Aus heutiger Sicht kann ich es ihnen nicht einmal verdenken, denn heute weiß ich, dass nichts so sehr nach Verwirrung und Wahnsinn schmeckt, wie das Leben der Menschen, die sich nicht mehr belügen wollen. Jahrtausende lang hatten sich die Menschen niedergemetzelt, gemeuchelt, waren sich an die Gurgel gegangen. Seit Kain seinen Bruder Abel erschlug, waren sie dem Menschenverrat ausgeliefert gewesen.

In einer künstlichen Welt, die diese Dinge ersatzlos aus dem Programmiercode gestrichen hatte, dauerte es bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr, dass mich die Härte des Universums mit voller Wucht traf. Es brauchte einen biblischen Fausthieb, um den Stein der Vergänglichkeit ins Rollen zu bringen. An diesem Tag erfuhr ich endlich, was die Älteren auf dem Weg ihrer Weltflucht erfolgreich verdrängt hatten.

 

Am Ende der Allee, wohin meine Füße mich wie von einer Schnur gezogen trugen, betrat ich den schmalen Kiesweg zu unserem Reihenhaus. Die Eingangstür glitt automatisch zur Seite, im Wohnzimmer saßen meine Eltern in ihren Simulationsanzügen. Es wäre zwecklos gewesen, sie zu begrüßen, denn sie waren unter ihren Helmen kontemplativ versunken in fremden und fernen Geschichten. Ein perfekter Film aus Nullen und Einsen, den die Intelligenz für sie abspulte.

Ich ging den Flur entlang, entschlossen riss ich meine Zimmertür auf. Diffuses Tageslicht sickerte ins Zimmer hinein, von den milchigen Fensterscheiben gefiltert, und tränkte den Raum ins Gelborange eines Sepiadrucks. Festen Schrittes trat ich an den Spiegel heran. Ein blasser Junge stand steif im Raum, wie eine Figur aus Wachs. Ich blickte dem Kerl, der da vor mir stand, tief in die Augen.

Ich war vom Anblick weder schockiert noch enttäuscht, ich fühlte gar nichts. Ich erkannte die Person anfangs nicht wieder, diese Person, die mich doch schon unzählige Male aus eben jenem Spiegel angestarrt hatte. Ich glaubte, dort einen Fremden zu sehen. War dies der gleiche Junge, der sich noch kurz zuvor im Glasauge eines Toten widergespiegelt hatte? Zug um Zug studierte ich das Gesicht, das ich vor mir sah, nahm jede Falte der gerunzelten Stirn, jede dunkle Pore auf der Nasenspitze, jedes feine Härchen am Kinn in Augenschein. Schließlich bemerkte ich, dass diese Person eine gewisse Ähnlichkeit mit demjenigen aufwies, den ich immer für mich gehalten hatte. Ja, es war durchaus im Bereich des Möglichen, dass ich selbst diese Person dort war, und dass diese Person einmal genauso sterben würde, wie der Greis in der verlassenen Seitengasse: Mit am Torso verschraubten Prothesen, mit implantiertem I-Scanner, mit einem hybriden Körper zwischen Fleisch und Technik gebettet auf nimmerwelken Kirschblüten im Herbst.

 

Wie ich die Worte hier niederschreibe, entsinne ich mich wieder: Ich zog ein langes Gesicht. Die Haut, so schien es mir, spannte sich nicht mehr so straff über die kantigen Wangenknochen und über das eckige Kinn, wie ich es in Erinnerung hatte. Vielmehr erweichten erste, dünne Falten um die Augen und den Mund meinen Ausdruck. Die Augen waren etwas eingesunken, ihre misstrauische Achtsamkeit lag nun halb verborgen, und das Haar, früher hellblond, war dunkler geworden, würde vielleicht schon bald erste graue Spuren an den Schläfen zeigen.

Ich registrierte ich mit einigem Entsetzen, welche Veränderungen in jüngster Zeit mit mir vorgegangen waren, ohne dass ich es bemerkt hatte. Wie ein Lamm war ich zwanzig Jahre durch die Welt gegangen. Ich wurde wütend auf mich selbst und meine Naivität, als ich mich als Objekt verstreichender Zeit entdeckte. Das war etwas, was uns die Intelligenz nicht beibrachte, niemals würde beibringen können. Und ich schwor mir, alles daranzusetzen, uns Menschen zu befreien. Koste es, was es wolle.

 

Hundert Jahre ist dies her und heute lache ich über das Kind, das glaubte, an diesem Tag erwachsen zu werden. Dennoch speiste die Energie dieses Moments die spätere Rebellion. Der Widerstand gegen die Intelligenz blieb jedoch stets der Allzumenschlichkeit unterworfen: Angesichts des nahenden Todes, war auch ich zu schwach, um der Verlockung eines zweiten Lebens zu widerstehen. Ich bereue die Entscheidung zwar nicht, doch muss erkennen, dass ich mich so weiterhin innerhalb der engmaschigen Grenze meines Menschenverstandes bewegen muss, in die mich die Intelligenz verbannt hat. Es mag andere Menschen geben, stärkere Menschen, die der Versuchung widerstehen können. Vielleicht helfen meine Zeilen diesen Menschen eines Tages. Vielleicht helfen sie ihnen dabei, das Menschliche endlich über das Allzumenschliche zu stellen.

Wenn ich den jungen Mann heute betrachte, der sich damals selbst vorm Spiegel betrachtet hat, dann denke ich: Er hat sich nicht verändert. Kein Stück. An jenem Tag im November wurde er bloß etwas älter. Mehr nicht.

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 67

 

Mord im Leuchtturm

 

21. Februar 2150

Im Westen war es dunkel, als wir in einem Schwarm aufgeschreckter Möwen ablegten und während der Doppelbug des Katamarans den Atlantik aufschnitt und die Sterne die spritzende Gischt knochenweiß färbten, atmete ich auf, weil es der letzte Abschnitt dieser Reise war.

Die Nachrichten waren mir vorausgeeilt. Von New York City nach Boston, und von Boston hierher, dem letzten Außenposten vor der endlosen See. Lange bevor die alte Welt versunken war, hatten Menschen diese salzige Wüste auf der Suche nach einem sicheren Zuhause durchquert, doch wie John Banks, dessen Wahlheimat am Horizont aufragte, hatte auch am Ende dieser Reise der Tod gewartet.

Außer mir und dem Steuermann war niemand auf Deck, denn der Kapitän wusch seinen Speicher morgens und das Licht seines Memogramms pulsierte durch die Bullaugen. Meiner Meinung nach schoben morgendliche Waschungen die Auseinandersetzung mit den Erinnerungen des Tages auf, anstatt wie es sich gehörte, nach beendetem Tag Ordnung zu schaffen. Ironisch, dass wir nichts mehr vergessen mussten und uns doch entschieden, es zu tun.

Im Westen wurde die Sonne wiedergeboren und der Leuchtturm von Kap Poge blitzte auf. Ich entzündete die Leselampe an meiner Brille und schlug mein Notizbuch auf, um mir die Fakten einzuprägen. Ich war hier, um den Tod von Mr. John Banks zu untersuchen, den man um 11:00 Uhr abends tot in seinem Büro im Leuchtturm aufgefunden hatte, unverletzt, doch mit einem Gesichtsausdruck, aus dem das Grauen sprach. Laut Polizeiarzt war er an einem Herzinfarkt gestorben, was er nicht erklären konnte, war Mr Banks Gesichtsausdruck. Weil auch die Polizei das nicht konnte, hatte man mich gerufen.

Am Inselhafen erwartete mich eine Frau in Designer-Regenmantel flankiert von Sicherheitskräften mit Kraftadaptoren an ihren schwellenden Muskelpaketen. Trotz der Versuche, ihre Gesichtszüge jung zu halten, erkannte ich sie und wischte meine Handflächen trocken, ehe ich ihr die Hand schüttelte.

Ihr Händedruck war unverbindlich, doch ich spürte ihre Berührung am ganzen Körper. Zwar war es Jahre her, dass meine Eltern mich an sie verkauft hatten, trotzdem hätte ich gedacht, dass sie sich an jeden „Schüler erinnerte …

„Als der Inspektor einen Experten ankündigte, hätte ich mit jemand Älterem gerechnet“, sagte sie, „aber das hat ja auch Vorteile, nicht? Mrs Carol Banks.“ Wie bei unserem ersten Treffen errötete ich unter ihrem Blick.

Ich sagte, meine Eltern wünschten, ihr ihre Anteilnahme auszusprechen, ebenso wie ich. Sie tippte ihren Adapter hinter dem Ohr an, um mein Gesicht mit denen in ihrer Datenbank abzugleichen, anstatt ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.

„Das ist sehr freundlich“, sagte sie, „auch wenn ich nicht glaube, dass wir uns kennen.“

„Verzeihen Sie, ich scheine Sie zu verwechseln.“ Ich hätte es nicht so genießen sollen, ihr etwas vorauszuhaben, doch es entschädigte mich für die peinlichen Momente in ihrem Bett, zuzusehen wie sich ihre Augen weiteten, als sie mich als das erkannte.

Ich genoss, wie sie die Reaktionen ihrer Begleiter prüfte, die geradeaus starrten und lauschten, und versuchte, der Situation Herr zu werden. Diesmal würde ich oben sein, und daran würde sich nichts ändern.

Wir meisterten die in den Abhang gehauenen Treppen schweigend. Oben angekommen wies sie mich auf die Weinberge hin, denen die Insel ihren Namen verdankte, und lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Haus, das um den Leuchtturm herum errichtet worden war. Ihr Mann hatte das Grundstück vom Erlös seiner ersten Kupfermine gekauft.

Im Herrenhaus roch es nach Holz und Bohnerwachs. Vom Flur führte eine Wendeltreppe aus Gusseisen in den Turm. Ehe Sie mich die Treppen hinaufbat, rief sie die Angestellte, eine Frau mit dicken Brillengläsern, in deren ledrigen Händen mein Koffer wie der eines Kindes wirkte.

Von der gewundenen Treppe hatte man einen wunderbaren Blick aufs Meer. Mrs Banks erklärte, ihr Mann habe sich in letzter Zeit öfter in das Büro zurückgezogen. Es war ein runder Raum, der mit Erinnerungsstücken aus Mister Banks Leben tapeziert war.

„Hier war es “, sagte sie und deutete auf eine Stelle hinter dem Schreibtisch. „Miss Eilias, die Hausangestellte, hat ihn gefunden …“

Banks Memogramm war mit Gold verziert, lag aber auf dem Schreibtisch und nicht in seiner Halterung. „Wie hat Mr Banks seinen Geburtstag verbracht?“

„Im kleinen Kreis. Da war ich, unser Sohn John, die Hausangestellten. Die Nachbarin.“

„War das üblich? “

„Mein Mann lud zu seinen Feierlichkeiten Freunde, Geschäftspartner und Bekannte ein. Es gab Tanz und Musik. Er präsentierte seine Bücher, seine Boote. Doch wie gesagt schottete er sich ab; er sagte, dieses Jahr wolle er nichts riskieren.“

Ich machte mir eine Notiz, statt meinen Adapter zu bemühen und, ihr spöttisches Lächeln ignorierend, fragte ich: „Wissen Sie, was er gemeint hat?“ Sie verneinte.

Ich ging die Bilder an den Wänden ab. Eines der Ersten zeigte Mr Banks vor einem Mineneingang, den Arm um einen Mann gelegt, dessen Brille unter seiner Hutkrempe hervorblitzte. Mrs Banks wusste nichts von diesem Geschäftspartner, doch fiel ihr auch zu den übrigen Bildern wenig ein.

Auf meine Bitte hin gingen wir ins Haupthaus. Dort rief Mrs Banks ein Dienstmädchen herbei, das einen der Hausroboter reparierte. „Lassen Sie das, Sie machen es nur wieder kaputt. Führen Sie Mr Bloom durchs Haus, das werden Sie noch schaffen.“ Sie nickte mir zu. „In einer halben Stunde schicke ich Ihnen die anderen Gäste.“

Liz führte mich durch die acht Schlafzimmer, die fünf Bäder, den großen und den kleinen Saal, die Küche im Keller, wo Mrs Eilias auf Kartoffeln einhackte, und die Bibliothek. Sie und Mrs Eilias hatten zwei Angestellte ersetzt, als diese in Rente gingen. Obwohl sie erst seit ein paar Monaten dort war, schien sie ihre Herrin zu durchschauen, die unglücklich war, weil sie ständig nach Nebenbuhlerinnen Ausschau hielt. Ihre neueste Verdächtige sei die Nachbarin Mrs Cinna, sagte sie.

„Mr Banks war nett zu mir. Er stellte mir eine Menge Fragen. Ich glaube, er war einsam. Mit seiner Frau sprach er hingegen kaum und sie mochte nicht, wenn ich bei ihm oben war.“

Kein Wunder konnte Mrs Banks eine solche Angestellte nicht leiden. Sie war nie gut im Teilen gewesen. Ich fragte sie, ob sie an dem besagten Abend etwas Seltsames bemerkt hätte.

„Das Übliche. Wir mussten wie immer den großen Saal decken, auch wenn nur so wenige Gäste gekommen waren. Mr Banks und John schwiegen sich an, Mrs Banks brannte mit ihren Blicken Löcher in Mrs Cinna ...“

 „Kam es zu einem Streit?“

„Erst gingen Mr Banks und John – das heißt, Mr Banks Jr – die Treppe hoch und wir hörten sie brüllen. Mr Banks Jr kam zuerst zurück. …“ Ihre Adaptoren blinkten, als sie sich erinnerte. „Später stellte Mrs Banks ihren Mann zur Rede. Er hatte mit Mrs Cinna getanzt …“

„Und auch sie verlagerten diesen Streit ins Büro?“ Sie nickte. „Er dauerte länger. Mrs Eilias brachte Tee. Mr Banks und sie kamen gemeinsam herunter und taten, als sei alles in Ordnung …“

Mr Banks Sohn erwartete mich im großen Saal. Dunkelhaarig und muskulös glich er seinem Vater, doch trotz seiner Jugend und seines Geldes wirkte er zäh. Er schüttelte mir die Hand und murmelte, wie schrecklich das Ganze sei. Liz schenkte er ein Lächeln, als sie uns etwas zu trinken brachte; sie errötete.

„Leben Sie hier, Mr. Banks?“, fragte ich, als das Mädchen gegangen war.

„Seit drei Monaten. Mein Vater verlangte es.“

„Verzeihen Sie die Frage, Mr Banks, aber wie bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt?“

„Ich studiere Jura in New York. Vater war in letzter Zeit großzügig zu mir, aber das Testament …“ Er zögerte. „Das Testament vermacht sein ganzes Vermögen zu gleichen Teilen seinen Kindern.“

„Haben Sie Geschwister?“

„Nein …“

„Wie alt ist das Testament?“

„Er hat es ändern lassen, kurz nachdem ich hierherkam.“

„Noch eine Frage Sir. Wieso bestand ihr Vater darauf, im großen Saal zu essen? “

„Er litt unter Platzangst. Hängt wohl mit einem Minenunfall zusammen, aber er spricht, wenn überhaupt, nur mit Mutter über solche Dinge.“

„Oder mit Liz?“

Er schluckte. „Sie mochten sich, wenn auch nicht so sehr, wie er Liz glauben ließ.“

„Und worum ging es bei dem Streit, den Sie mit Ihrem Vater hatten?“

„Das hat mit dem Fall nichts zu tun.“

„Meiner Erfahrung nach hat alles mit dem Fall zu tun.“

„Erfahrung? Was kann einer wie Sie schon erfahren haben?! Lassen Sie mich in Frieden, oder es wird Ihnen leidtun.“ Er stürmte aus dem Raum.

„Verwöhnter Bengel“, sagte Mrs. Cinna und schwebte ins Zimmer.

Sie war groß, sinnlich, mit intensivem Blick und aufregenden Kleidern. Sie war 10 Jahre jünger als Mrs Banks, strahlte Selbstbewusstsein aus und bewegte sich, als gehöre der Saal ihr. Sie benahm sich so sehr meine Katze, ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie auf einen Schrank gesprungen wäre.

„Wie lange kennen Sie John Banks Junior? “

„Seit er hierherkommen musste. Vor drei Monaten. Etwas war passiert.“

„Woher wussten Sie das? “

Sie wedelte mit der Hand. „Wieso sonst sammelt ein Mann seine Familie um sich?“

„Hatte er Feinde?“

„Er war reich “, sagte sie wie zu einem Kind.

„Sie wohnen nebenan?“

Sie zwinkerte mir zu. „Nur nicht so schüchtern. Fragen Sie mich. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ich dabei helfen kann, einen Mordfall aufzuklären.“

„Mrs Banks sieht Sie als Gefahr. Sie hat sich wegen Ihnen mit ihrem Mann gestritten.“

„Immer noch schüchtern … Ich kann nichts dafür, wenn sie Angst hat. Ich bin nicht auf das Vermögen eines Mannes angewiesen, anders als dieser Bengel. Seit er hier ist schleimt er sich bei seinem Vater ein oder verkracht sich mit ihm. Sein Gesicht bei der Testamentseröffnung war köstlich.“

Eine Nachbarin, die zur Testamentseröffnung eingeladen war, war vielleicht mehr als das. „Wissen Sie, worum es bei ihrem letzten Streit ging?“

„Meist wollte er etwas und der Alte wollte es ihm nicht geben. Sicher Geld.“

„Und Sie? Was wollten Sie von Mr Banks? “

Sie kam so nah an mich heran, dass ich sah, wo sie das Lipgloss abgesetzt hatte. „Was würden Sie tun, wenn ich darauf nicht antworte? Lesen Sie mein Memogramm aus?“ Sie deutete mein Schweigen richtig. „Und ich hatte gehofft, Sie wären ein unterhaltsamer Mann …“

„Verzeihung, ich vergaß, wie schnell Sie Männern überdrüssig werden“, sagte ich mit einer Verbeugung. „Ich nehme an, dass Sie Mr Banks länger kennen. Schließlich war ihr Mann Mitglied im selben Aufsichtsrat und kaufte Ihr Haus, lange bevor Mr. Banks Carol heiratete. Sie und Mr. Cinna wurden „das Paar des Jahres“ genannt. Natürlich, bevor er in der Badewanne ertrank.“

Das Blut schoss ihr in die Wangen, doch sie fasste sich rasch genug, um zurückzufeuern: „Sie tragen keine Adapter, das können Sie nie und nimmer wissen!“

„Mir Dinge zu merken, ist mein Beruf und ich ziehe es vor, nichts zu vergessen.“

 

23. Februar 2150:

Das Meer verschlang die Sonne und trank ihr Licht, um zu leuchten, bevor es von den Lichtern an der Küste abgelöst wurde … Ich riss mich von dem Anblick los und begutachtete meinen Fund: 20 Drohbriefe. Die ersten waren 6 Monate alt, und der letzte war auf einen Monat vor Mr Banks Tod datiert. Er hatte sie unter einer Diele versteckt wie ein Schuljunge. Nach übereinstimmender Aussage war er seit einigen Monaten verändert – seit dem ersten Brief.

Die Botschaft war immer dieselbe: Mr Banks müsse eine Schuld abzahlen. Tat er das nicht, würde er alles verlieren. In einem Krimi hätten diese Briefe lächerlich geklungen. Im dunklen Arbeitszimmer krochen die Worte die Wände hoch und verdunkelten die Fenster wie schwarze Spinnen. Während ich über den Briefen brütete, trat Liz mit einem Teetablett ein. „Es ist so seltsam, ihn nicht hier zu sehen. Er saß hier, um sich zu erinnern, wissen Sie. Jeder Gegenstand, jedes Foto hatte eine Geschichte, doch nun haben sie aufgehört zu sprechen.“

„Verwendete er nicht sein Memogramm, um sich zu erinnern?“

„Er benutzte es jeden Tag um diese Zeit. Ich brachte ihm Tee. Er erzählte und er setzte es auf, nachdem ich gegangen war.“

Tatsächlich: Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als das Memogramm zu leuchten begann. Es ist unschicklich, das Memogramm einer anderen Person zu benutzen, schließlich will niemand, dass jemand einem in den Kopf sehen kann, nicht wahr? Bisher war eine polizeiliche Erlaubnis dazu ausgeblieben, doch die Drohbriefe und das allabendliche Erinnern passten zu der Theorie, die mir im Kopf herumspukte.

Ich setzte das Memogramm auf, drückte die Adapter in die Plugs hinter meinen Ohren – und schrie, als eine Bilderflut über mir zusammenbrach, so wie über Mr Banks am Abend seines Todes.

 

24. Februar 2150:

Selbst mit allen an Mr Banks Todestag Anwesenden sowie den Angestellten, die mit Tee, Kaffee und Erfrischungen in der Ecke warteten, war der große Saal zu groß. Liz hatte einen langen Tisch gedeckt, an dem mir der Rest der Familie Banks und Mrs Cinna gegenübersaßen.

„Also, Mr Bloom“, sag der Mrs Banks, „was haben Sie uns mitzuteilen?“

Mrs Cinna lächelte. „Haben Sie nie Agatha Christie gelesen, Carol?“

Ich stand auf und sagte: „Ich habe herausgefunden, wer Ihren Mann ermordet hat.“ Auch Mrs Cinna lächelte da nicht mehr. „Von Anfang an ging es vor allem um die Frage, wie Mr Banks zu Tode kam. Gift oder eine körperliche Einwirkung, die seinen Herzinfarkt provozierten, schienen ausgeschlossen. Erst als ich erfuhr, dass Mr Banks unter solcher Platzangst litt, dass er es nicht aushielt in einem kleinen Zimmer zu essen, wenn Andere anwesend waren, kam mir der Gedanke, dass man Furcht als Mordwaffe einsetzen kann, wenn sie so groß ist. Als vorsichtiger Mensch hätte Mr Banks nur seinen Angehörigen und Freunden diese Furcht offenbart, sein Mörder ist also hier im Raum. “Junior schwitzte, war aber fuchsteufelswild. Carol war wie aus Eis gegossen und Mrs Cinna wirkte amüsiert.

„Hinzu kam, dass Mr Banks Ihrer aller Aussagen nach seit 6 Monaten ängstlich und verschlossen gewirkt hatte. Zu Beginn dieser Phase erreichte ihn ein Drohbrief, der ihn aufforderte, eine Schuld zu begleichen. Weitere Briefe erreichten ihn in regelmäßigen Abständen. Er hielt diese Briefe vor Ihnen geheim und schottete sich ab, nur bei Liz machte er eine Ausnahme“. Das Mädchen zuckte zusammen, fing sich aber unter einem Blick von Mrs Eilias sofort wieder.

„Doch nicht nur er zeigte Interesse an Ihnen, nicht, Liz? Noch am Abend, an dem Ihr Vater starb, John, versuchten Sie, ihn zu überreden, Ihrer Verbindung zuzustimmen.“

„Was erlauben Sie sich? “, rief Carol Banks.

„Schon gut“, sagte John Jr, „es stimmt. “

„Du mit diesem Nichts?“

„Tu doch nicht so! Dad wusste genau, woher wir kommen, und ein Palast ist das nicht!“

Mrs Cinna kicherte. „Sie werden allzu schnell erwachsen, nicht Carol?“

Carol sprang auf und versetzte ihrer Nachbarin eine Ohrfeige. „So reden Sie nicht mit mir!“ Ihr Sohn stoppte sie, doch Mrs Cinna grinste mich nur an. „Sie verliert so leicht die Beherrschung … armer Mr Banks!“

„Wieso hätte Mrs Banks ihrem Mann Drohbriefe schreiben sollen, und welche Schuld hätte er bei ihr zu bezahlen?“, fragte ich. „Diese Briefe waren alte Schulden, so alt, dass der Täter sich erinnerte, was die Platzangst ausgelöst hatte. Von Mister Banks Junior wusste ich, dass er sich die Platzangst beim Bergbau zugezogen hatte. Und er hatte zu dieser Zeit eine Person an seiner Seite, die ihm nichts Gutes wünschen konnte – mit Sarah Johnson, die ich auf dem Foto im Arbeitszimmer für einen Mann hielt. Doch in Mr Banks Schreibtisch fand ich einen Vertrag, der eine Mrs Johnson übervorteilte. Als ihr das klar wurde, muss ihre geschäftliche und romantische Beziehung zerbrochen sein. Sie verließ ihn, arbeitete als Haushaltshilfe und bekam eine Tochter. Elizabeth.“

„Liz?“ John Junior war halb aufgestanden; seine Geliebte sah ihm nicht in die Augen.

„Genau“, sagte ich, „als Liz und ihre Mutter hier anfingen, wurden die Drohbriefe häufiger und ihr Vater rief Sie her. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass sich Elizabeth Johnson und John Junior verlieben würden ...“ John Junior sackte auf seinen Stuhl zurück und Liz schluchzte in ihre Hände. Ich sah Mrs Eilias an. „Das Testament wird für ungültig erklärt und Sie, Mrs Eilias oder Mrs Johnson, wie Sie wollen, Sie landen wegen Erpressung hinter Gittern.“

„Er hat mich benutzt und weggeworfen, als ich ihm nicht mehr genug war“. Sie rang ihre ledrigen Bergarbeiterhände. „Mit unserm Kind in mir. Bin froh, dass er tot ist, und ich wünschte, ich hätt‘s selber getan.“ Liz weinte heftiger. John sah sie nicht an.

„Dann nehmen Sie sie fest“, sagte Carol. „Worauf warten Sie?“

„Dass ich verstehe, wieso Mr Banks sterben musste, wenn Mrs Johnson und ihre Tochter ihn so erfolgreich einschüchterten, dass er das Testament zugunsten seiner unehelichen Tochter änderte.“ Ich sah Carol an. „Du hast mir und den anderen Schülern das Leben zur Hölle gemacht, sobald wir uns verliebten. Über die ganze Straße hast du gebrüllt, wie wir im Bett waren und dass unsere Eltern uns nicht haben wollten, so eifersüchtig warst du. Auch auf ihn.“

„Er hat mich betrogen – mit dieser Johnson! Glauben Sie, Sie sind der Einzige, der Schreibtische durchwühlen kann? Oder Kommoden voller Liebesbriefe?“ Ihre Wangen bebten, als sie Mrs Cinna anfunkelte, die diesmal zurückwich. „Sollte ich zulassen, dass dieses Nichts meinem John sein Vermögen stiehlt?“

„Sex-Trainerin für junge Prostituierte würden viele ein Nichts nennen … Dort hat Mr Banks dich gefunden, vor vielen Jahren. Wir müssen uns schon gekannt haben, als er dir ein Kind machte und dich dann verließ.“

Ich wandte mich John zu. „Bei unserem Gespräch wunderte ich mich über Ihre Kälte Ihrem Vater gegenüber. Doch er hat sich erst vor Kurzem entschieden, Sie anzuerkennen, nicht wahr?“

John spuckte aus. „Er war ein Schwein, der nur an sich dachte. Ab einem gewissen Alter war es eben schick, Frau und Kind zu haben, also hat er uns aus der Gosse gezogen und dafür noch Dank erwartet.“ Er sah jetzt überhaupt nicht mehr verwöhnt aus, sondern wie die Gassenjungen mit den harten Augen, vor denen ich früher geflohen war.

Ich räusperte mich. Carols und Johns Blicken standzuhalten, war, als sähe man direkt in zwei Sonnen. „Nachdem Mr Banks Sie mit Geld überschüttet hatte, war keiner von Ihnen bereit, es zu teilen. Sie haben sich absichtlich mit Mr Banks gestritten, um in sein Arbeitszimmer zu gelangen. Beide haben Sie Mr Banks so sehr aufgeregt, wie Sie konnten, um ihm mit der tödlichen Erinnerung den Rest zu geben. Für einen Mann in seinem Alter und mit seiner Krankengeschichte war das zu viel, und das wussten Sie auch.“ Ich holte tief Luft. „Ich verhafte Sie beide wegen des Mordes an Mr John Banks. Wäre er tot, hätten Sie das Testament angefochten. Ihnen, John, wäre es freigestanden, mit Liz zu leben, wenn Sie erst Ihre Mutter überzeugt hätten. Carol, du hättest dich an Mrs Cinna und Mrs Johnson gerächt, wie du es immer mit Konkurrentinnen tust – indem du aller Welt verkündet hättest, was sie getan hatten.“

„Du genießt das, nicht wahr? Du wolltest immer oben sein.“ Sie lächelte feucht. „Aber du hast dich entschieden, das zu vergessen, als du Albert Bloom geworden bist. Die Namen zweier berühmter Detektive ... Du bist nicht besser als wir.“

Endlich hörte ich die Schritte der Polizisten im Foyer. „Ich habe versucht, über mich hinauszuwachsen. Was Geld und Macht betrifft, ist euch das gelungen, doch nicht aus eigener Kraft, und so seid ihr klein und gemein geblieben.“

Die Beamten betraten den Raum und legten Mrs Banks und ihrem Sohn Handschellen an, ebenso wie Mrs Johnson und ihrer Tochter, die noch immer weinte. Ich hielt ihren Blicken stand, als sie an mir vorbeizogen.

„Gehen Sie, Mrs Cinna. Für heute habe ich genug Leute eingesperrt.“

Sie huschte hinaus wie meine Katze, wenn sie etwas angestellt hat.

 

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 68

 

Was war und was sein wird

 

Jedes Leben wieder – mein 20. Geburtstag im Jahr 2150

 

 

 

Ich lehne mich zurück und betrachte verträumt die schimmernde Wolkenlandschaft, die sich vor den großen Panoramascheiben ausbreitet. Wie immer um diese Tageszeit flitzen kleine Raumgleiter mit einem Affenzahn vertikal und horizontal vorbei. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich, aber es ist auch ein großes Vergnügen, mit den kleinen Gefährten fast lautlos durch den Himmel zu gleiten.

Vor mir auf dem Schoß liegt mein Tagebuch. Ein Tagebuch ist eigentlich ein Relikt aus grauer Vorzeit, aber es ist mir so lieb geworden, dass ich es nicht mehr missen möchte. Die Handhabung ist allerdings viel einfacher als vor hundert Jahren. Man braucht weder ein Schreibgerät noch die manuelle Eingabe in einen Computer. Heute denke ich die Texte einfach und der Skywriter setzt sie in eine einwandfreie Sprache um, flüssig und korrekt in Ausdruck und Grammatik. Das erleichtert das Leben ungemein, denn die vielen wechselnden Rechtschreib- und Grammatikregeln der vergangenen Jahrhunderte konnten einen schon an den Rand des Wahnsinns treiben. Zusätzlich zu den Geschichten fügt der Skywriter auch Bilder und Filme in 3D ein, die er aus meinem Gedächtnis abruft. Er zeigt sie mir zur Probe, und ich wähle die aus, die meiner Meinung nach am besten passen. So wird dieses Tagebuch zu einem dreidimensionalen Nachschlagewerk mit Farben, Geräuschen, Gerüchen und Gefühlen, in dem auch zukünftige Generationen noch schmökern können.

 

Ich genieße die Zeit, liebe mein Leben und freue mich auf das, was die Zukunft noch bringen wird. Heute ist der 13. November 2150, mein 20. Geburtstag, und ich habe Freunde aus allen Teilen der Galaxie eingeladen, ihn mit mir zu feiern. Mein Gott, wenn ich daran denke, was das noch vor einem Jahrhundert bedeutet hätte. Damals hätte man mindestens einen Monat Vorbereitungszeit gebraucht, um eine solche Party zu organisieren, ja, um überhaupt die Freunde aus allen Teilen des Universums hierher zu bringen. Heute dauert es nur noch einen Wimpernschlag. Die Teleportation hat es möglich gemacht, dass jeder in Sekundenschnelle überall sein kann, und die Telepathie erspart die Einladungen. In Gedankenschnelle sind die Freunde erreicht und haben alle Informationen, wann sie wo sein sollen, sofort zur Hand. Sehr praktisch!

 

 

 

Auch eine wunderbare Errungenschaft ist die Sache mit dem Raum. In grauer Vorzeit brauchte man schon im Vorfeld eine gewisse Raumgröße, um eine bestimmte Anzahl von Personen oder Einrichtungsgegenständen bequem darin unterbringen zu können. Gott wie cool ist das heute! Allein durch Verschieben der Dimensionspunkte eines Raumes, kann jeder ihn beliebig vergrößern und danach wieder verkleinern, ganz wie es dem Einzelnen beliebt.

Und dann die Sache mit der Ernährung. Mit Schaudern denke ich an die Zeiten zurück, als man noch arme Lebewesen töten musste, um Menschen und manche Tiere zu ernähren. Das war barbarisch, grausam und ohne jede Würde und Achtung vor dem Leben. Wie viele dieser armen Geschöpfe in den vergangenen Jahrhunderten dabei einen grausamen Tod erlitten haben, macht mich heute noch traurig. Es hat lange gedauert, bis sich diese verabscheuungswürdige Ernährungsweise zum Besseren gewandelt hat. Heute denkt niemand mehr daran, ein anderes Lebewesen zu essen, weder Mensch noch Tier.

Und was wurden nicht für Fehlinformationen und Horrorszenarien heraufbeschworen. Dass dieses gegenseitige Fressen eben Natur sei, dass es dazu gehöre, dass es lebensnotwendig sei für das Funktionieren eines Organismus. Und wenn die Tiere sich nicht mehr selbst dezimierten oder durch den Menschen dezimiert würden, käme es zu einer Überbevölkerung und die Erde ginge unter.

Fast wäre die Erde auch untergegangen, aber nicht, weil zu viele Tiere auf ihr lebten, sondern weil der Mensch sie so sehr ausgebeutet, durch Kriege verstümmelt und aus Gier immer furchtbarere Waffen eingesetzt und ganze Lebensbereiche ausgelöscht hatte. Es stand auf des Messers Schneide, und wenn nicht eine Gruppe engagierter, vernünftiger und verantwortungsbewusster Menschen mit Nachdruck und Energie eingegriffen hätte, wäre das Leben auf diesem Planeten wohl für immer verschwunden.

Das Interessante daran war, dass diese Menschen sich nicht auf großen Bühnen hervortaten und anklagten. Nein, sie inspirierten alle, indem sie vorlebten, was sie propagierten. Und so begann sich die Erde durch gutes Beispiel, Freundlichkeit, Anstand und Respekt langsam zum Besseren zu verändern. Immer mehr Menschen schlossen sich dieser Bewegung an.

Und je größer die Gruppe dieser Menschen wurde, desto unerbittlicher wurde ihr Kampf für Ordnung, Recht und Freiheit. Durch ihren entschlossenen Willen zur Besserung gelang es ihnen, die Zerstörer dieser Welt immer mehr zurückzudrängen und schließlich zu beseitigen. Ein Diktator ohne Anhänger ist kein Diktator mehr, sondern nur noch ein erbärmlicher Feigling.

Viele von ihnen haben sehr lange in der Läuterung gesessen, bis sie fähig waren, sich ihren Verbrechen zu stellen und endlich ihr wahres Selbst, das wie bei allen anderen aus Vernunft, Würde, Anstand und Respekt besteht, zum Vorschein kam. Die wahre Natur des Menschen kann Jahrtausende lang verschüttet sein, aber wenn man beginnt, sie freizulegen, kommt sie eines Tages wieder zum Vorschein.

Dieser Faktor spielte auch bei der Behandlung von Krankheiten eine sehr wichtige Rolle. Welche hoch aggressiven Mittel wurden eingesetzt, um jemanden gesund zu machen, und wie viele bewusstseinsverändernde Drogen wurden den Patienten verabreicht? Und mit welchem Ergebnis? Die Menschen wurden immer kränker und unfähiger. Ganz zu schweigen von den Millionen unschuldiger Tiere, die auch hier für unmenschliche Experimente missbraucht, gequält und schließlich getötet wurden. Gott sei Dank gibt es solche Praktiken schon lange nicht mehr. Für mich ist es aus heutiger Sicht fast unvorstellbar, wie sich Menschen soweit verirren und völlig falsche Wege gehen konnten. Ganz zu schweigen von der Verrohung der Gefühle gegenüber anderen Lebewesen, das war einfach barbarisch. Heute sind unsere Körper gesund, weil wir sie gesund ernähren und mit allem versorgen, was sie zum Funktionieren brauchen. Wenn etwas passiert, vertrauen wir auf ihre Selbstheilungskräfte, unterstützt durch positive Gedanken. Das funktioniert sehr gut und bringt immer die gewünschten Resultate.

Wenn ich heute in den alten Archiven stöbere, stelle ich fest, dass die Fortschritte und Errungenschaften in immer schnellerer Abfolge stattfanden. Ein großes Problem der damaligen Zeit lag zum Beispiel in den oft verteufelten, doch unbestreitbar beliebten Autos als Fortbewegungsmittel. Mein Gott, was war das für ein groteskes Theater. Es ging um Parkraum, Verbrennungsmotoren, Treibstoff und Luftverschmutzung. Es wurde begonnen als alternative Elektromotoren und mit Gas oder Wasserstoff betriebene Fahrzeuge herzustellen. Das war nur teilweise erfolgreich und brachte neuerliche Probleme mit sich. Auch ein E-Auto musste geparkt werden und konnte nur relativ kurze Strecken zurücklegen. Die Versorgung der Batterie durch dementsprechende Auflade-Stationen war unzureichend und dauerte zu lange. Wasserstoff galt als riskant, weil er explodieren konnte und auch Gas und Strom mussten letztlich von irgendwo herkommen.

Laut Überlieferung waren die Menschen damals noch nicht reif, sich Nikola Teslas Idee der Nutzung von freier Energie (heute lachhaft, es existiert gar nichts anderes mehr) zu eigen zu machen. Doch nicht nur die mangelnde Reife, sondern auch das Lobbying einer damals sehr mächtigen Industrie stand da dahinter. Wie in vielen anderen Bereichen ging es den Verantwortlichen auch hier mehr um persönliche Bereicherung als um Fortschritt, ein besseres Leben und eine saubere Umwelt.

Die erste erwähnenswerte Änderung betraf lustigerweise das leidige Problem des Parkraumes. Findige Ingenieure hatten sich eine Änderung der Baumaterialien für Autos überlegt. Aus einer einzigartigen Folie, die sowohl für die Karosserie als auch für den Motorbereich verwendet wurde, entstanden in kurzer Zeit sehr attraktive Fahrzeuge. Diese Folie hatte die Eigenschaft, dass sie sich ausdehnen oder einschrumpfen ließ. Das ermöglichte es Autobesitzern mit ihren fahrbaren Untersätzen direkt in die City oder wohin auch immer sie wollten zu fahren, ohne sich um das Abstellen ihrer Autos Gedanken machen zu müssen. Nachdem man ausgestiegen war, zog man ein kleines Gerät, einen sogenannten Desintegrator, heraus und schrumpfte das Auto auf die Größe einer Streichholzschachtel, die man bequem in die Tasche stecken konnte. Mit Hilfe eines Umschalthebels konnte der Desintegrator umgepolt werden, und wenn man sein Auto wieder fahren wollte, konnte man es mit dieser Vorrichtung wieder auf seine ursprüngliche Größe ausdehnen. Dies war eine ungemein praktische Erfindung und sicherlich auch sehr amüsant. Die so genannten Parksheriffs wurden dadurch arbeitslos.

Oh ja die Entwicklung ging damals sehr rasant vonstatten, sie betraf sowohl die Technik, das Bauwesen, Umwelt und Gesundheitsvorsorge, Sicherheit und Wohlstand.

Am bemerkenswertesten allerdings war, die stetig wachsende Bewusstheit über die spirituelle Seite des Menschen und die uralte Magie des unsterblichen Geistes trat wieder in den Vordergrund und drängte den Materialismus erbarmungslos zurück.

Da ging natürlich ein wildes Geschrei durch die Reihen der Sklavenhalter, denn so sah es damals auf Erden aus. Die Mehrheit der Menschen, eigentlich freie Geister, wurde von einer Minderheit, deren Macht nur auf materiellen Gütern und dem gefürchteten Strafmechanismus beruhte, beherrscht, gegängelt und versklavt. Und sie achteten sehr darauf, dass die Sklaven nie den Weg zu ihrer wahren Natur fanden. Die Sklavenhalter wussten sehr wohl, dass es sich um starke freie Wesen handelte, vor denen sie sich fürchteten. Aber sie fürchteten sich noch mehr vor einer Illusion, denn sie stellten sich vor, was diese mit ihnen machen würden, wenn sie herausfänden, was ihre Sklavenhalter ihnen angetan hatten. Sie fürchteten, dass die Vergeltung übermächtig sein würde, denn sie hatten bereits große Probleme mit einigen Sklaven, als diese noch unwissend, dumm und schwach waren. Was würden sie also mit ihnen machen, wenn sie wieder das volle Wissen über ihre wahre Natur und ihre Fähigkeiten hätten? Wahrscheinlich Schlimmeres als das, was sie ihnen angetan hatten.  

Wie wenig kannten sie die wahre Natur des Menschen! Sobald diese an die Oberfläche kam, änderte sich alles. Wo Hass, Neid, Gier und Missgunst geherrscht hatten, zogen Vernunft, Wärme, Güte, Wohlwollen, Anstand und Respekt ein. Es gab auch keine Rache, nein, man erkannte, dass man mit Rache nichts erreichen kann, denn der Mensch ist ein unsterbliches Wesen, gleichgültig, ob er in einem Leben Gutes oder Böses tut. Am Ende eines Lebens kehren alle zurück, um ein Neues zu beginnen, die Guten wie die Bösen. Das gilt nicht nur für den Menschen, sondern für alle Lebewesen, gleichgültig in welchem Körper sie sich im Laufe ihres Lebens befinden. Man kann das Böse nicht ausrotten, indem man ein Leben auslöscht.

Die einzige Lösung bestand darin, sie aus dem Verkehr zu ziehen und an einen Ort der Läuterung zu bringen, bis ihre wahre Natur wieder zum Vorschein kam. Das Wesen des Menschen ist grundsätzlich von Güte, Vernunft, Toleranz und Freundlichkeit geprägt, er sieht sich in enger Bruderschaft mit seinen Mitmenschen und dem Universum. Und das wahre Wesen des Menschen lässt sich auf Dauer einfach nicht unterdrücken. Das wäre widernatürlich.

So, liebes Tagebuch, jetzt ist aber Schluss mit meiner nostalgischen Reise in die Vergangenheit. Ein leises, schnell aufeinander folgendes Ploppen kündigt mir die Ankunft meiner ersten Geburtstagsgäste an. Es ploppt immer schneller und es werden immer mehr. Aus allen Ecken der Galaxie sind sie herbeigeeilt, um diesen Tag mit mir zu verbringen. Ich freue mich unbändig, sie wiederzusehen. Viele von ihnen kenne ich schon sehr lange und aus vielen Leben. Auch wenn sich ihre Formen verändert haben, als Wesen sind sie die gleichen und unverkennbar.

„Hallo altes Haus“, sagt zum Beispiel ein gutaussehender junger Mann mit braunen Haaren und bernsteinfarbenen Augen, „erinnerst du dich noch an die Zeit, als ich als treuer Jagdhund Arno an deiner Seite war?“ „Wie könnte ich das je vergessen“, antworte ich lachend, „du hast mich mit deinen Allüren ganz schön auf die Palme gebracht. Meistens konnte ich nur bei schlechtem Wetter oder zu unmöglichen Tageszeiten mit dir raus, um deinen enormen Bewegungsdrang zu befriedigen und gleichzeitig deiner Absicht, nur keinen Streit zu vermeiden, entgegenzuwirken, indem wir möglichst keinen anderen Rüden begegneten.“ „Sei nicht nachtragend“, antwortete Arno, „ich weiß auch nicht, warum ich damals so aggressiv war, ich habe einfach unendlich gerne gerauft“.

„Hey, ein bisschen mehr Platz wäre nicht schlecht“, drangen Stimmen an mein Ohr, „und vor allem ein gemütliches, weiches Sofa“. Da wusste ich sofort Bescheid und erfüllte die Wünsche sofort und mit vielen kleinen Plopps erschienen allerlei Katzen und räkelten sich auf dem Sofa. „Hallo ihr Süßen, immer noch Katzenkörper?“, fragte ich und umarmte sie. „Nicht immer“, bekam ich zur Antwort, „aber im Grunde sind es schöne Körper und sie lassen sich gut führen. Wir wollten es uns natürlich nicht nehmen lassen, dir wieder einmal alles Liebe und Gute zum Geburtstag zu wünschen.“ „Vielen Dank“, antwortete ich. Nach und nach hatten sich alle meine Lieblinge, Hunde, Pferde, Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe, Kaninchen, Meerschweinchen, Hamster, Ratten und Mäuse, Reptilien, Amphibien, Fische und die vielen gefiederten Freunde, die mich durch viele Leben begleitet hatten, eingefunden. Ein sehr eleganter Herr mit graublauen Augen und blauweißen Haaren kam auf mich zu, zwinkerte mir zu und fragte mich gurrend: „Na, kennst du mich noch?“ Ich musste lachen: „Wie könnte ich dich vergessen, Felix, damals der schönste Täuberich von ganz Wien“. Er lächelte zufrieden und gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Und sind wir vollzählig?“, rief ich in den Raum. „Größtenteils“, antwortete meine Mutter, die schon mehrere Leben meine Mutter gewesen war, und mein Vater nickte bestätigend. „Das erinnert mich an viele frühere Leben“, sagte er, „an deinem Geburtstag gab es bei uns immer ein großes Remmidemmi“. Nachdem auch Geschwister, Großeltern, Onkel und Tanten, Söhne und Töchter und viele, viele Freunde ihre Geburtstagswünsche ausgesprochen hatten, gingen wir an den reich gedeckten Tisch, an dem für jeden das stand, was er am liebsten mochte. Wie wunderbar war es heute, dass man sich sein Essen nur vorstellen musste, und es wurde Wirklichkeit, ohne irgendjemandem oder irgendetwas zu schaden. Nachdem sich alle gestärkt hatten, freute ich mich auf den spannenden Teil des Festes.

„Was spielen wir?“, kam es von allen Seiten. „Na, was haltet ihr von Kometenreiten, Sky-diving und Geschicklichkeitsrennen mit den Raumgleitern?“, fragte ich zurück. Begeisterung brach aus. Lachend erinnerten wir uns an die Zeit, als die ersten Fahrzeuge sich immer mehr verwandelten und sich nicht mehr nur horizontal, sondern auch vertikal bewegen konnten. Es war und ist ein Riesenspaß, damit zu fahren und zu fliegen. Obwohl es heute durch die Teleportation nicht mehr notwendig ist, fahr- und fliegbare Untersätze zu haben, benutzen wir sie immer noch sehr gerne. Ganz einfach, weil es Spaß macht, die Geschwindigkeit, den Wind, das Licht und die Bewegung am eigenen Körper zu spüren. Es gibt spezielle Rennstrecken für horizontale, vertikale und gemischte Rennen. Die gemischten Rennen sind sehr tückisch und verlangen von den Fahrern ein Höchstmaß an Konzentration, Reaktionsschnelligkeit und Fahrzeugbeherrschung. Vernachlässigt man einen dieser Faktoren, ist man schneller aus dem Rennen, als man denkt.

 

Sky-diving ist auch eine höchst vergnügliche Beschäftigung. Die Divers sehen aus wie Snowboards, die es übrigens auch heute noch gibt und mit denen man wunderbar über verschneite Felder cruisen kann. Sky- Diving ist ähnlich, nur dass man über Wolkengebirge gleitet und sich senkrecht in die Tiefe stürzt. Was für ein Vergnügen! Dazu braucht man allerdings spezielle Anzüge und darin eingebaute Atemgeräte. Die Anzüge funktionieren wie eine zweite Haut und schützen den Körper hervorragend vor der Kälte des Weltalls. Mit den ersten Raumanzügen, in denen die Astronauten wie Tonnen durch die Schwerelosigkeit taumelten, haben sie allerdings nichts mehr gemein. Die heutigen Raumanzüge erkennt man nicht mehr. Dass jemand einen trägt, merkt man nur daran, dass er auf einem Sky-Diver steht und sich auf den Weg ins All macht.

 

 

Mein persönlicher Favorit ist jedoch das Kometenreiten. Dabei beamt man sich auf einen vorbeifliegenden Kometen und übernimmt dann die Kontrolle über ihn, so wie man ein Pferd mit den Zügeln lenkt. Dann lenkt man ihn, wohin man will, und lässt ihn wilde Kapriolen schlagen. Das ist ein großer Spaß. Wenn wir, wie jetzt, sehr viele sind, suchen wir uns einen Sternenregen und springen auf die Kometen. Dann geht es zu wie auf der Rennbahn mit den Raumgleitern, und die Senkrechten haben alle Hände voll zu tun, auszuweichen. Ein richtiges Hindernisrennen kann auch unter den Sky-Divern stattfinden, wenn die Kometen ihre Bahnen kreuzen.

 

 

Als wir uns endlich ausgetobt hatten, wurde ich gefragt, was ich mir als Krönung meines Geburtstages wünsche. Ich kramte in meinen gut sortierten Erinnerungsarchiven und Gedächtnisbanken. Schließlich zog ich ein Bild hervor, das ich sehr liebe. Es ist ein altes Karussell mit Holzpferden, die sich an Stöcken auf und ab bewegen. In einem alten Musical reitet Mary Poppins auf einem solchen Karussellpferd, und dieses magische Kindermädchen bringt die Pferde dazu, aus dem Karussell zu springen und immer weiter auf ihren Stöcken auf und ab schaukelnd über eine Rennbahn gleiten. Verträumt betrachte ich das Bild und zeige es schließlich in die Menge. „Genau das möchte ich noch einmal machen. Auf einem Holzpferd in einem alten Karussell im Kreis reiten, während die Musik spielt, an einem lauen Frühlingsabend.“ „Natürlich, du wärst nicht du, wenn du nicht etwas Verrücktes machen würdest“, ertönte die Stimme meines Vaters, „im November will sie einen lauen Frühlingsabend.“ Alle lachten! „Mal sehen, was wir tun können“, grinste er. Und wenige Augenblicke später tauchten alte Karussells auf, mit wunderschön bemalten Holzpferden, die einladend an ihren Stangen auf und ab tanzten. Die Luft war lau und eine sanfte Brise wehte über eine grüne Wiese. Alle stürzten sich darauf und kletterten auf die Holzpferde. Als sich die Karussells zu drehen begannen, setzte die Musik ein, die Pferde hoben und senkten sich im Takt an ihren Holzstäben, und ich genoss von ganzem Herzen die schaukelnde Bewegung auf dem sich schnell drehenden Karussell.

 

 

Aber auch der schönste Geburtstag geht einmal zu Ende und die Freunde verabschieden sich nach unserer Karussellfahrt. Ich bin sehr glücklich, liebes Tagebuch, aber auch sehr müde. Morgen fahre ich mit Mama für drei Tage ins Venus Spa. Dort werden wir uns von Kopf bis Fuß verwöhnen lassen. Tagebuch, es war ein wunderschöner 20. Geburtstag am 13. November 2150. Ich habe ihn sehr genossen! Wie es weitergeht, erzähle ich dir ein andermal.

 

 

 

ENDE

 

 

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