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Früher war Alles anders – wirklich?
14. November 2150
Eigentlich fühlt es sich gar nicht so anders an 20 Jahre alt zu sein. Kein großer Unterschied zu meinen letzten Tagen als 19-jähriger. Aber genau genommen habe ich das auch gar nicht erwartet, obwohl alle mich gestern danach gefragt haben wie *ES* sich den anfühlt am Freitag, dem 13. ten, einem wahren Glückstag, einen so wichtigen Geburtstag zu feiern.
Es war ein wirklich tolles Fest am gestrigen Abend. Die ganze Familie war versammelt, alle meine Freunde und auch einige andere Mitglieder unserer Sippe sind vorbeigekommen. Wir haben ein großes Feuer angezündet vor unserer Versammlungshalle, den Göttern gedankt und danach einfach das Leben und meine Eltern hochleben lassen dafür, dass sie mir meines geschenkt haben. Außerdem war es auch ein ganz besonderes Erlebnis für mich dieses Fest mit meinen Großeltern und meinem Urgroßvater zu begehen. Das ist keine Selbstverständlichkeit und ich weiß dieses Privileg sehr zu schätzen. Vor allem wenn man bedenkt, was sie alles miterleben mussten, in diesem verheerenden Krieg vor der Jahrhundertwende.
Als die Feier sich dann später in die Halle verlegt hatte, habe ich mich zu meinem *Urli* gesetzt und wir haben darüber gesprochen, wie er seinen zwanzigsten Geburtstag erlebt hat. Ob er seinen Geburtstag inmitten der Kriegswirren denn überhaupt feiern konnte. Mein Urgroßvater war zu diesem Zeitpunkt an einer der Fronten des Krieges, der die ganze Welt in Beschlag genommen hat. Dem Krieg der alles, wirklich alles verändert hat. Seine Feier war damals im Kreis seiner Kameraden und es war auch nicht wirklich Zeit und Gelegenheit, um diesen Tag gebührend zu zelebrieren.
Aber eines hat Urli auch ganz klar gesagt, auch wenn er diesen Geburtstag nicht so genießen konnte, wie er es gern getan hätte, so ist er doch sehr stolz darauf, wofür er gekämpft hat. Ohne diesen Kampf, diesen Widerstand wären wir nicht da, wo wir jetzt sind.
Wir haben hin und wieder über die Zeiten damals gesprochen, ich habe in unserer Gemeinschaftsschule auch etwas darüber gelernt, doch so wirklich in die Tiefe gegangen sind wir dabei nicht.
Ich kenne bestimmte Eckdaten und auch den vermeintlichen Auslöser, zumindest den, den man uns offiziell als Grund nennt. Aber was hatte es wirklich für Gründe, dass die damalige Weltordnung komplett über den Haufen geworfen werden musste und Menschen dafür bereit waren in den Krieg zu ziehen?
Irgendwie habe ich das Gefühl, ich muss mehr darüber erfahren und wer könnte mir einen besseren Einblick in die Vorkommnisse der damaligen Zeit geben als einer, der dabei war? Noch am Abend der Geburtstagsfeier habe ich mich mit *Urli* zu einem Treffen verabredet. Ein Treffen für das er sich hoffentlich viel Zeit nimmt, denn ich glaube, es gibt da viel zu besprechen und zu erzählen. Freue mich schon auf morgen und den Nachmittag mit ihm.
16. November 2150
Spät ist es geworden gestern. Eigentlich war es ja schon heute. Bin erst weit nach Mitternacht zurückgekommen. Es hat dann auch noch einige Zeit gedauert, bis ich einschlafen konnte. Aber es war einfach zu interessant und aufregend. *Urli* hatte so viel zum Erzählen und ich habe so viel nicht gewusst. Ich muss das jetzt alles einfach auch niederschreiben, um es für mich verarbeiten zu können. Kann es einfach kaum glauben, was in den vergangenen, mehr als 100 Jahren alles passiert ist. Was sich alles verändert hat und wie es zu diesen Veränderungen gekommen ist und wie wenig ich darüber weiß. Aber ich denke, dass dieses Aufschreiben auch etwas sein kann, das ich meinen Kindern und deren Kindern weitergeben kann. Es ist Teil unserer Geschichte und soll auf jeden Fall auch an meine Nachfahren weitergegeben werden. Damit sie von Anfang an einen besseren Einblick haben als ich – darüber, woher wir kommen und wer wir sind.
Bin also Sonntag Nachmittag bei *Urli* aufgetaucht und es war wie immer ein herzlicher Empfang. In seiner Hütte am Rande unserer Siedlung hat er es sich so gemütlich eingerichtet. Es überkommt mich jedes Mal ein Gefühl von Wärme und Wohl behagen, wenn ich sein zu Hause betrete. Wir setzen uns an seinen Kamin, der er schon vorgeheizt hat, ein bisschen was zum Naschen (gut das er genau weiß, was meine Lieblingskekse sind) hat er auch für uns vorbereitet und dann startet er auch schon mit den Geschichten von damals.
Vieles hat er selbst nur von seinen Eltern beziehungsweise Großeltern erfahren. Erst später, als die Welt eigentlich schon mitten im Umbruch war kann er dann von seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen erzählen. Am Beginn unseres Nachmittags zeigt er mir eine alte, vergilbte Landkarte. Eine Landkarte, die ich so noch nie gesehen habe, und er fragt mich: „Was glaubst du, was das ist?“ Im ersten Moment sehe ich unsere Erde, so wie ich sie schon tausend Mal gesehen habe. Bei genauerer Betrachtung aber sehe ich, dass die Länder alle unterschiedlichen Farben haben und auch von dicken, schwarzen Linien umrandet sind. Urli meinte nur, ja du siehst schon richtig. Es ist unsere Mutter Erde, aber damals vor mehr als 100 Jahren gab es noch ganz viele unterschiedliche Länder. Diese Länder, die man damals auch Staaten nannte, hatten alle ihre eigenen Grenzen, ihre eigenen Gesetze und Regeln. Man versuchte, immer wieder diese Länder auch zu vereinen, aber das geschah meist unter dem Missmut der Menschen, die in den Ländern lebten und war oft auch im Vorfeld schon zum Scheitern verurteilt und ganz selten von Erfolg gekrönt.
Die Länder wurden von Regierungen geführt, die zwar mehr oder weniger vom Volk gewählt wurden, aber ganz selten wirklich auf deren Bedürfnisse, Wünsche und Forderungen eingingen. Im Vordergrund standen sehr oft das eigene Wohl und Vorankommen und danach erst das Allgemeinwohl. Am stärksten zeigten sich die Unterschiede aber dann, wenn es irgendwo in einem oder mehreren Ländern eine Krise gab.
So war es dann zu Beginn der 2020er Jahre. Es brach weltweit eine flächendeckende Pandemie aus und man glaubte, dass man dieser nur Herr werden konnte, wenn man allen Menschen sehr strenge Maßnahmen auferlegt bis hin zu einer Impfung – das ging in manchen Ländern so weit, dass die Regierungen darüber nachdachten Zwangsimpfungen einzuführen. Oder man wollte Leuten, die sich nicht dazu zwingen lassen wollten Einschränkungen auferlegen. Urli sagte, dass er diese Geschichten auch nur von seinen Großeltern kannte, aber sie sagten immer, dass dies der Anfang allen Übels gewesen ist. Denn es begann eine Entwicklung, die die Menschen nicht mehr verband, sondern sie viel mehr in zwei Gruppen spaltete und diese Spaltung sollte nie wieder ganz heilen.
Nachdem dann diese Krankheit zu dem wurde, was sie immer gewesen ist und man ihr viel von ihrem Schrecken nahm, passierte in Europa etwas, das so nicht vorstellbar war.
Europa – davon hatte ich im Unterricht einmal was gehört. Es war im Länderkunde-Unterricht, aber so genau hatte ich mich damit nie befasst. Vielleicht hätte ich das wohl mal besser tun sollen. Denn eigentlich leben wir hier auf dem Boden, der früher zu diesem Europa gehört hat. Schon eine komische Vorstellung.
Für mich ist das Alles generell sehr schwer vorstellbar. Regierungen die einem Vorschriften machen und sogar zu etwas zwingen können und wenn man es nicht macht, dann kann man dafür bestraft werden. Natürlich gibt es bei uns auch Regeln, an die sich jeder halten soll. Aber welche Regeln das sind wird in unserer Sippe bestimmt beziehungsweise liegt es im wahrsten Sinne des Wortes in der Natur der Sache, und nicht an jemandem oder Personen, die hunderte oder tausende Kilometer weit entfernt sind von uns und von unseren tagtäglichen Problemen nicht viel oder nichts wissen oder verstehen. Auch wir kennen Bestrafungen, aber jemanden ein zu sperren oder mit dem Tod zu bestrafen ist für uns nicht vorstellbar. Das hat es damals wirklich alles gegeben. Mir läuft beim Schreiben meiner Zeilen noch immer ein Schauer über den Rücken. Wenn bei uns jemand ein Unrecht an jemand anderen oder einem Tier begeht, dann wird der Gemeinschaftsrat zusammengerufen und es wird danach ein angemessenes Urteil, in Abstimmung mit der Sippe und unter Einbeziehung aller möglichen Beweise, festgelegt. Jede Tat wird von uns einzeln betrachtet und bewertet.
Jedenfalls kam es in diesem Europa dann zu einem Krieg. Kriege hat es immer wieder gegeben. Aber hier sagt Urgroßvater auch, dass es zu der damaligen Zeit einfach unvorstellbar war das sowas innerhalb dieses Kontinents Europa (es gab noch fünf weitere solcher Kontinente) passieren konnte. Die Folgen waren weltweit zu spüren und die Wirtschaft hier auf unserem Boden wurde fast komplett zerstört. Ich schaue meinen Urli fragend an. Ja die Wirtschaft. Damals wurde ein Handel betrieben über Ländergrenzen hinweg und man hat nicht, so wie wir es heute tun, Waren getauscht. Nein damals wurde Ware in ein anderes Land transportiert und dafür musste dann bezahlt werden. „Bezahlt?“, fragte ich ihn.
Es gab damals etwas, das wertvoller war als alle Waren oder Stoffe. Geld.
Dieses Geld war meist der Schlüssel zu Macht und Reichtum und wurde von vielen dazu missbraucht diese Dinge im Übermaß zu erlangen.
Die Spaltung, die mein Urgroßvater im Gespräch vorher schon erwähnte, war auch hier ganz deutlich zu sehen. Auf der Welt gab es wenige die sehr, sehr viel von diesem Zahlungsmittel besessen haben und sehr, sehr viele hatten nur ganz wenig oder auch gar nichts davon.
Für viele der Krisen und Kriege die Menschen durchmachen mussten, war sehr oft Geld, und die damit verbundenen Vorteile, die man dafür erwerben konnte, der Auslöser. Im Laufe der Zeit wurde die Situation immer unerträglicher für einen Großteil der Menschen. Man konnte sich das tägliche Leben oft nicht mehr leisten. Diejenigen, die das Geld besaßen, hingegen wurden immer verschwenderischer. Aber Menschen sind gerade in Krisensituationen erfinderisch und es entwickelte sich etwas, das man als den Ursprung unserer Geschichte betrachten kann. Nämlich die Leute die nicht viel Geld besessen haben, ginge zu etwas über, dass in unserer Zeit allen hilft und die Gemeinschaft am Leben hält. Sie fingen an zu tauschen. Eier für Brot, Käse für Fleisch, Tisch für Sessel und so weiter. Das entwickelte sich sogar so weit, dass Arbeitsleistungen wie eine Reparatur gegen eine komplett andere Leistung wie das Aufpassen auf kleinere Kinder getauscht wurden. So wie unser tägliches Leben in der Sippe nun mal organisiert ist. Der Ursprung lag in einer Not von vor über 100 Jahren.
Bei mir werden die Fragen nach dem Wie? Warum? Weshalb? Immer mehr und mein Urgroßvater sieht mir das sehr an diesem Tag auch an. Zum Abschluss meines Besuches meint er dann nur, dass wir dieses Gespräch bald fortsetzen müssen und werden. Für heute meinte er, sei es genug.
Da sitze ich nun vor meinem Blatt und möchte am liebsten sofort alle Antworten auf meine offenen Fragen.
Mir ist fast ein wenig schwindelig bei dem Gedanken an das, was mir Urli da alles erzählt hat. Ich weiß so wenig über unsere Geschichte, all diese neuen Begriffe und die damit verbundenen Fragen. Es braucht wirklich bald ein weiteres Treffen, um noch mehr von früher zu erfahren.
17. November 2150
Heute hatte ich einen wirklich komischen Tag. Wahrscheinlich war einfach die Nacht zu kurz und die Informationen davor zu viel. Konnte mich auf meine Aufgaben, die ich heute zu erledigen hatte nicht wirklich konzentrieren und mein Meister in der Schlosserei hat das gleich gemerkt. Er meinte dann nach Mittag nur, dass wir eigentlich eh nicht viel Arbeit haben heute und das ich gerne nach Hause gehen kann.
Aber mein Weg führte mich natürlich nicht in unsere Hütte, sondern schnurstracks zu meinem Urgroßvater. Er war zu Hause, hatte aber noch Besuch. Er meinte nur kurz, als ich auftauchte, ich könnte mich in seinem Bücherraum umsehen bis er dann für mich Zeit hat.
Das war natürlich eine gute Gelegenheit für mich weiter in Urlis Büchern und Aufzeichnungen zu schmökern. Mich interessierte vor allem auch, was in all den anderen Ländern die es auf der Erde zur damaligen Zeit gegeben hat, so alles passiert ist. Der Krieg, den mein Urgroßvater durchleben musste, wurde ja nicht nur bei uns geführt. Nein, es war ein sogenannter Weltkrieg, der damals ausgebrochen ist. Von diesen Weltkriegen, und das haben wir schon in unserer Schule gelernt, hat es insgesamt drei gegeben. Zwei davon im 20. Jahrhundert und den dritten und bislang letzten gab es eben gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Wenn ich es in der Schule richtig verstanden hatte, so hatte dieser dritte Weltkrieg aber die weitreichendsten Auswirkungen.
Urli kam nach einer guten halben Stunde dann zu mir. Er hat in den Jahrzehnten doch einige Bücher gesammelt und ihnen in seinem Haus ein eigenes Zimmer gewidmet. Ich kenne das sonst eigentlich von keinem anderen Haus in unserer Gemeinschaft. Wenn wir etwas nachlesen wollen, dann gehen wir in unsere große Versammlungshalle. Gleich im großen Eingangsbereich, wo auch alle unsere größeren Besprechungen abgehalten werden, sind an den Wänden tausende von Büchern in Regalen untergebracht und unser Druide ist immer gerne bereit uns bei der Suche nach Antworten zu helfen. Außerhalb gibt es eigentlich kaum Bücher in den Häusern.
Er lächelt mich an und meint nur, dass er die vielen Fragen die ich habe, auf meiner Stirn fast lesen kann.
Ich lasse mich nicht lange bitten und frage ihn, ob er denn auch weiß, was im Rest der Welt zu dieser Zeit so alles passiert ist. Das Lächeln in seinem Gesicht verschwand schlagartig und er wurde sehr ernst. „Du weißt ja inzwischen, welche Probleme es bei uns, auf unserem damaligen Kontinent für Probleme gegeben hat. Diese Probleme gab es aber natürlich auch in anderen Ländern,“ sagte er mit trauriger Stimme und er erzählte mir von Amerika. Auch ein Begriff, den ich schon gehört hatte, aber da es für uns unerreichbar weit entfernt ist, habe ich mich damit auch nie wirklich beschäftigt. Ich weiß, dass uns von diesem Land ein riesiges Meer trennt und dass dort ein Volk lebt, das dem unseren nicht unähnlich ist in seiner Art zu denken. Dort wird auch Mutter Erde und alles Leben verehrt und auch bei ihnen sind die Götter ein wesentlicher Bestandteil des täglichen Alltags. Aber Urli meinte im Gespräch, das speziell zu Beginn dieser weltweiten Krise diese Amerika noch eine wichtigere Rolle eingenommen hat als unser Kontinent. Amerika beziehungsweise deren Regenten, fühlten sich immer als eine Art Weltbeschützer. Es gab keinen Konflikt und keine Krise in die Amerika nicht auf irgendeine Art und Weise verstrickt war.
Ganz schlimm wurde die Situation im Jahr 2015. Dort wurde ein Mann zum Präsidenten, der sich dieses wichtigste Amt noch mehr zum Nutzen machen wollte als alle anderen vor ihm. Er ging in seinem Wahn so weit das er, als er die darauffolgende Wahl nicht gewonnen hatte, seine Anhänger aufstachelte. Dies führte dazu, dass sogar das Kapitol (das war eines der wichtigsten Gebäude in diesem Land – ähnlich unserer Versammlungshalle) von diesen Menschen mit Gewalt und Waffen gestürmt wurde nur, um das Angeloben des neuen Präsidenten zu verhindern.
Eine noch nie dagewesene Spaltung in diesem Land begann. Spaltungen hatte es auf diesem Teil der Erde schon immer gegeben, aber eine solche wie damals haben sie noch nie erlebt und werden sie auch nie wieder erleben. Als er nach einer Auszeit wieder ins Amt des Präsidenten gewählt wurde, begann er Amerika durch eine Mauer von allen anderen Ländern ab zu grenzen und auch innerhalb seines Landes wurde die Spaltung der Menschen immer mehr voran getrieben. Erwähnenswert dabei ist, dass diese neuerliche Wahl keine ehrliche Wahl war. Aber das Ergebnis wurde akzeptiert und so nahm diese tragische Geschichte ihren Lauf und führte dazu, dass im Land ein fürchterlicher Bürgerkrieg begann. Ein Krieg der sich über Jahre, ja Jahrzehnte ziehen sollte und Amerika, so wie es damals bestand, nicht mehr existierte. Es bestand früher aus 50 Bundesstaaten, die unter der Flagge USA vereint waren, erklärte mir Urli. Diese USA gab es nach dem Bürgerkrieg nicht mehr. Jedes Land wurde sich selbst überlassen und am Ende setzten sich jene durch, die dieses Land schon immer bewohnt und dort gelebt hatten.
Aber… Mir schoss etwas durch den Kopf. Das war doch auch hier bei uns so passiert.
Meine Verabschiedung von meinem geliebten Urgroßvater ist eine wirklich kurze und rasche. So vieles von dem kann ich einfach noch immer nicht glauben.
18. November 2150
Ich brauche eine Pause. Eine Pause von den Dingen, die mir Urli bis jetzt erzählt hat, und ich habe fast ein wenig Angst davor, was ich noch alles von ihm erfahren werde in den nächsten Treffen. Aufgeben kann ich diese Reise in die Vergangenheit mit ihm nicht, dazu ist das Geschehene viel zu interessant und wichtig.
Kann es wirklich sein, dass das Alles was ich in den letzten Treffen mit ihm gehört habe, so passiert ist. Für mich klingt das immer noch wie aus einer anderen Welt. Eine Welt in der ich nicht leben hätte wollen.
Wir leben hier in Harmonie in unserer kleinen Gemeinschaft. Im Einklang mit der Natur. Hier bei uns ist alles so schön, so friedlich und noch vor Etwas mehr als 50 Jahren herrschte hier ein totales Chaos. Ein Chaos das sogar soweit geführt hat das Menschen, andere Menschen dafür töteten. Einen Krieg führen mussten, den die wenigsten von ihnen gewollt haben.
Jene, die ihn wollten, da sie glaubten, dadurch noch mächtiger oder reicher zu werden, wurden nach diesem Krieg eines Besseren belehrt. Für sie war es schließlich der Anfang vom Ende.
Für uns Menschen aber was es der Beginn von etwas ganz Besonderem. Eines neuen, sorgenfreieren Lebens. Unzählige Menschen weltweit mussten dafür ihr Leben geben. Es wurden Grenzen aufgebrochen, verschoben und am Ende sogar aufgelöst. Wir kehrten nach diesem furchtbaren Krieg zurück in kleine Gemeinschaften die sich selbst organisiert haben und so in Frieden miteinander leben können.
Ich habe meinen Urgroßvater sehr oft sagen gehört, früher war alles anders. Nach all dem, was ich in unserer Schule gelernt habe, was mir Urli in den letzten Tagen erzählt hat, hat sich dieser Satz für mich mehr als bewahrheitet.
Doch eines hat mir Urli gestern Abend zum Abschluss auch noch gesagt. Unser Leben heute, wie wir es führen, klingt, zu dem, was vor mehr als 100 Jahren als Leben bezeichnet wurde, zwar wie etwas Neues das aus dem Krieg entstanden ist. Aber so neu, meinte er, ist es eigentlich nicht. Wenn wir in der Geschichte noch viel weiter zurückgehen, so ca. 2500 – 3000 Jahre dann hat es so etwas Ähnliches schon einmal gegeben. Egal wo auf der Welt man damals war, das Leben der Menschen war in kleinen Gruppen oder Stämmen organisiert. Man lebte in Sippen so wie wir. In Europa waren es die Kelten, Germanen, Gallier. In anderen Ländern die Indianer, Azteken, Maya und unzählig viele andere mehr die diese Art des Lebens führten. Deshalb trifft dieser Satz meiner Meinung nach auch doppelt zu. Es war früher wirklich alles anders, aber es ist nichts Neues, das wir erleben. Sondern viel mehr eine Rückbesinnung auf alte Werte und Lebensweisen, die uns allen dabei helfen ein friedlicheres Miteinander zu führen.
ENDE
Beitrag 12
Ein Funken Hoffnung in einer düsteren Zeit
Freitag, 13. November 2149
Endlich ist es so weit. Ich bin so unendlich erleichtert, dass ein Friedensvertrag unterschrieben worden ist. Heute ist der Tag endlich gekommen. Ich kann ausnahmsweise mal ruhig ins Bett gehen, ohne Angst haben zu müssen, nicht wieder aufzuwachen. Der Krieg ist endlich Vergangenheit. Natürlich ist alles noch unter Schottern, aber zumindest haben wir überlebt. James liegt friedlich in meinen Armen. Er hatte noch nie Frieden miterleben können, der Krieg brach aus, während ich mit ihm schwanger war. Jetzt aber kann ich meinen Geburtstag in Ruhe feiern, ohne daran denken zu müssen, ob es vielleicht mein Letzter sein wird. Allerdings mache ich mir auch Sorgen. Sosehr ich mich auch freuen will, der Schmerz bleibt. Ich vermisse meine Eltern. Ich vermisse Lilly. Ich vermisse unseren Hund Sky. Ich vermisse mein altes Leben. Zu gerne würde ich einfach in der Zeit reisen, in der die Welt noch heil war. Inder ich jeden Tag mit meinem Auto zur Schule geflogen bin. Nun sitze ich hier, in den Scherben meines Hauses und bete für das Überleben meines Kindes.
Samstag, 14. November 2149
Heute wurden Pakete mit Lebensnotwendigkeiten verteilt. Als ich eine von diesen Drohnen sah, rannte ich sofort los, um sie zu holen. In meinem Paket befanden sich eine Packung Reis, Seife, Handtücher, ein Erste Hilfe Set und etwas Trockennahrung. Ich war unendlich erleichtert und sortierte die neuen Sachen in ein paar Kisten ein. Deswegen konnte ich heute Reis für James und mich kochen. Wenn jetzt der Krieg vorbei ist, sollte ich langsam mit dem Wiederaufbau anfangen. James hat ein Zuhause verdient und ich weigere mich, mein hart verdientes Haus zu verlassen. Vermutlich würden wir auch in einem Lager angenommen werden, aber das will ich unbedingt verhindern. Niemand kann mich jetzt noch hier rausholen! Ich denke, ich werde morgen damit anfangen, den Schott und Staub mit einem Ast oder Palmwedel oder so aus dem Haus zu fegen. Dann werden wir mal schauen, wie es weitergeht. Ich bin zuversichtlicher als zuvor, nun da keine Bomben mehr herumfliegen. James konnte auch besser schlafen, er spürte wahrscheinlich meinen Optimismus und die Veränderung.
Sonntag, 15. November 2149
Ich habe es geschafft, das Haus einigermaßen aufzuräumen und all den Müll aus dem Haus zu bekommen. Auf den Straßen ist die Stimmung sehr heiter und die Leute helfen sich gegenseitig. Ich habe mit einem Mädchen, Lara, geredet als sie mir dabei half das Chaos zu beseitigen. Die Kleine hat ihre Eltern im Krieg verloren, aber half trotzdem anderen Menschen, um sich nicht so einsam zu fühlen. Deshalb habe ich sie kurzerhand bei uns aufgenommen. In unserem nun sauberen Haus, das zwar keine Fenster mehr und ein ziemlich großes Loch in der Decke und an der Wand hat, haben wir es uns gemütlich gemacht, indem wir Decken und Kissen in eine trockene Ecke gelegt haben. Mein Bett ist ja jetzt schon lange kaputt und auch von den meisten anderen Möbeln musste ich mich verabschieden. Übriggeblieben sind ein paar Kisten und ein großer, robuster Holzschrank, in dem ich nun etwas Kleidung, mein Geld und Nahrung aufbehalte. Auch ein Bild konnte ich retten, das mich mit Mom, Mama und Sky zeigte. Der Bilderrahmen hat sofort einen wichtigen Platz an unserem Schlaflager bekommen. Außerdem liegt in der gegenüberliegenden Ecke des Raums, dort wo ein Loch in der Decke ist, meine Kochstelle. Ich koche über einem Lagerfeuer und habe zwei Töpfe, in denen ich meistens eine Suppe aus Sachen die ich im naheliegenden Wald gefunden habe, zaubere. Vor dem Krieg habe ich Suppennudeln und klare Brühe gehamstert und es hat sich gelohnt, schließlich habe ich immer noch ein bisschen übrig. Aber ehrlich gesagt hoffe ich, dass die Supermärkte bald wieder aufmachen, dann könnte ich auch wieder Windeln kaufen. Lara hat mir heute beim Abendessen geholfen, sie hat Pilze aus dem Wald gefunden und wir haben daraus gemeinsam gebratene Pilze mit Reis gemacht. So etwas hatten James und ich schon lange nicht mehr und er hat alles aufgegessen, was Lara ihn gefüttert hat. Ach wie ich die Kleine jetzt schon liebe, ich frage mich, wie lange sie bei uns bleiben wird. Tatsächlich könnte es einiges einfacher machen, nicht mehr nur zu zweit zu sein. Sie könnte auf ihn aufpassen, wenn ich Dinge erledigen muss oder wir könnten uns gut unterhalten, ich habe das Gefühl, dass ich fast verlernt habe, wie das geht. Dafür bekommt sie ein Dach über dem Kopf und warmes Essen. James schreit schon wieder, ich muss los, liebes Tagebuch.
Montag, 16. November 2149
Heute wurde mit Lautsprechern angekündigt, dass alle Infrastrukturen bald wieder aufgebaut werden sollen. Ich bin so unendlich erleichtert nicht mehr lange warten zu müssen. Lara und ich sind zusammen im Kreis gehüpft, als wir die Durchsage gehört haben. James schläft immer besser und auch ich wäre fast entspannt. Nur vermisse ich meine Familie jeden Tag mehr. Ich frage mich, wie es Lilly gehen würde. Wie es wäre, sie aufwachsen zu sehen. Wie es wäre, ihre ersten Worte zu hören und zu erfahren, wie sie später aussehen würde. In letzter Zeit muss ich immer öfter an sie denken. Sie fehlt mir. Vielleicht hätte ich auch etwas für sie tun können. Vielleicht war das alles meine Schuld. Ich hätte es einfach nicht akzeptieren sollen. Ich hätte das Schicksal ändern sollen. Stattdessen saß ich da und habe geweint. Ich kann es auch niemandem vorwerfen. Ganz alleine ich bin daran schuld, dass meine kleine Tochter nun fort ist.
Mittwoch, 18. November 2149
Es tut mir leid, gestern nichts geschrieben zu haben. Ich habe mich dazu entschlossen, nach Lilly zu suchen und war gestern den ganzen Tag unterwegs. Lara habe ich zu Hause gelassen und James kam mit mir. So sehr Lara mich auch angebettelt hat, ihn dazulassen, damit sie sich um ihn kümmern konnte und ich mehr Freiheiten bei meiner Suche habe, hätte ich es nichts übers Herz gebracht, mein zweites Kind in Gefahr zu bringen. Wir beide werden zusammen seine Zwillingsschwester finden, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Der Weg ist ziemlich anstrengend, wenn man ein Kind im Tragetuch an der Brust und einen Rucksack auf dem Rücken trägt. Wir sind zuerst Richtung Norden aufgebrochen, um uns bei einer offiziellen Stelle der Bundeswehr zu erkundigen und sie auf den Fall aufmerksam zu machen. Auf der Route heute sind wir an einer Stadt vorbeigekommen. Ich konnte sie nicht wirklich erkennen, nichts sah aus wie früher. Als ich mich hinter einem Baum versteckte, kam ein muskulöser, groß gewachsener Mann von hinten auf mich zu und schrie mich an, was ich hier tun würde und ob ich eine Spionin sei. Dann aber sah er James und sein Blick wurde weicher. Er lud mich auf einen Tee ein und wir unterhielten uns ziemlich lange. Sein Name ist Marc und er erzählte mir, dass wir in Bonn waren. Ich war so schockiert, als ich das gehört habe. Du weißt, ich war viel in Bonn, aber ich konnte die Stadt beim besten Willen nicht als Bonn identifizieren. Marc nahm uns für eine Nacht auf und versprach mir, nach Lilly Ausschau zu halten. Heute Nacht werden wir ein Dach über dem Kopf haben.
Donnerstag, 19. November 2149
Heute Morgen mussten James und ich uns von Marc verabschieden. Zum Glück hat er uns noch eine Karte gezeigt und uns den Weg beschrieben. Sonst wären wir nicht so weit gekommen. Die Gegend hier ist wie ausgelöscht. So weit das Auge reicht, gibt es absolut nichts. Marc hat erzählt, dass hier früher ein riesiges Solarmodul Feld war. Als der Krieg ausbrach, wurden die Bomben aus den USA hierher gezielt. So wurde ein wichtiger Teil der Infrastruktur zerstört und möglichst wenige Zivilisten verletzt. Zumindest in der Theorie. In der Praxis sah das etwas anders aus. Ab und zu sah ich Knochen oder Stofffetzen und ich mag mich lieber nicht fragen, woher diese kommen. James geht es gut, aber wir müssen heute draußen schlafen und hier sind nicht einmal ein paar Bäume oder ein Gebüsch. Also schlafen wir heute auf dem Boden. Wir haben zwar eine Isomatte dabei, aber es ist immer noch schrecklich kalt und ich fühle mich sehr unwohl, so ganz ohne Schutz. Ich weiß, dass es keine Bombenangriffe mehr geben wird, aber irgendwie kann ich nicht damit aufhören, daran zu denken. Aber ich muss die Augen zumachen, wenn ich morgen weiter suchen will.
Freitag, 20. November 2149
Obwohl James die ganze Nacht seelenruhig geschlafen hat, kann ich nicht dasselbe von mir behaupten. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt eine Sekunde die Augen zugemacht habe. In meinem Kopf haben sich alle möglichen Gedanken gedreht und ich konnte sie einfach nicht wegsperren. Normalerweise verbanne ich diese Gedanken ganz nach hinten in meinem Gehirn, aber dieses Mal konnte ich es nicht. Sie alle waren unterschiedlich, aber einer kam immer wieder: Was, wenn Lilly gar nicht mehr lebt? Natürlich bin ich am Anfang davon ausgegangen, aber ich habe vor einer Woche wieder Hoffnungen gemacht. Jetzt sieht das Ganze etwas anders aus. Aber ich werde nicht aufgeben. Ich werde erst aufhören zu suchen, wenn ich sie gefunden habe. Genau mit diesem Gedanken bin ich dann auch heute Morgen los spaziert. Ich muss James wirklich loben, er macht das ziemlich gut. Auch wenn er nicht mehr laufen üben kann, lässt er sich gut tragen. Wir sind ein gutes Stück gelaufen und haben Lilly bei der Bundeswehr als vermisst gemeldet. Jetzt sucht man nach ihr und mit dieser Hilfe werden wir sie hoffentlich finden. Ich weigere mich, zu glauben, dass sie tot sein könnte.
Samstag, 21. November 2149
Die Nacht im Lager der Bundeswehr war überraschend entspannt ausgegangen. Ein Bett, auch wenn es nur ein billiges Stockbett aus Metall war, war eine sehr willkommene Abwechslung. Auch wenn mir die Beamten empfahlen, bei ihnen zu bleiben oder nach Hause zu gehen, entschied ich mich dazu, weiter selber zu suchen. Sie gaben mir eine Watch, damit sie mich kontaktieren können, falls jemand Lilly findet. Außerdem können sie mich orten, falls ich in Schwierigkeiten gelange, und ich kann einen Notruf absetzen. Also sind wir heute weiter Richtung Westen gewandert. Langsam tun mir meine Beine wirklich weh und ich habe ein paar Blasen. Am Ende tat jeder Schritt weh und wir mussten uns unfreiwillig ein Lager für die Nacht suchen. Zum Glück haben wir etwas Proviant bekommen, sodass wir nicht hungrig schlafen gehen müssen. Es ist schon ziemlich spät und ich habe etwas Angst, weil wir in einem Wald Kampieren müssen und es hier wilde Tiere gibt. Jedenfalls lege ich mich jetzt zu James. Gute Nacht, liebes Tagebuch.
Sonntag, 22. November 2149
Heute ist viel zu viel passiert. Das aller wichtigste: Ich wurde auf der Watch angerufen. Das Hologramm erzählte mir, dass sich jemand gemeldet hat, der ein Baby gefunden hat. Er sendete mir ein Foto und Überraschung, es war nicht Lilly. Danach war ich erstmal enttäuscht . Aber ich hatte nicht viel Zeit, enttäuscht zu bleiben, weil wir uns auf unsicherem Gebiet aufhielten, wie uns auch mitgeteilt wurde. Also mussten wir so schnell wie möglich weg und in der Hektik habe ich den Bunsenbrenner dort gelassen. Ab jetzt gibt es kein warmes Essen mehr für uns beide. Dann bemerkte ich, dass James sich komisch verhielt. Er sah schwach aus und schlief viel, die restliche Zeit schrie er. Als ich mit der Hand an seiner Stirn bemerkte, wie er fast glühte, schob ich Panik. Ich war alleine irgendwo im nirgendwo ohne Bunsenbrenner mit einem kranken Kleinkind. Na toll. Natürlich habe ich keine Kindermedizin mitgenommen. Ich hatte sehr starke Zweifel, ob ich das Richtige tat. Vielleicht gefährde ich ihn durch diese lange Reise auch nur und das am Ende für nichts. Nein, so darf ich nicht denken. Es ist schon zu spät, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Aber ich mache mir schreckliche Sorgen um meinen Kleinen. Fieber war bei ihm noch nie ein Problem gewesen, aber irgendwie fühle ich, dass es dieses Mal anders ist. Heute ist es schon spät und ich habe unsere Lager für die Nacht bereits hergerichtet. Ich sollte morgen die Bundeswehr nach dem nächsten Dorf fragen, indem uns vielleicht jemand helfen könnte.
Montag, 23. November 2149
Der Tag heute war wirklich anstrengend. James konnte nicht schlafen und das Fieber ging nicht weg. Also habe ich ganz in der Früh angerufen und das Hologramm des Mitarbeiters beschrieb mir den Weg zur nächstgelegenen Stadt. Als wir dort ankamen, krampfte James schon und ich hatte Angst um sein Leben. Zum Glück kamen sofort Menschen auf uns zu und brachten uns zu einer älteren Person namens Alex. Alex kannte sich sehr gut mit Heilkräutern und Naturmedizin aus. Vermutlich hätte man Alex vor 100 Jahren als Hexe bezeichnet. Aber James vertrug den selbst gebrauten Saft gut und das Fieber senkte sich zu meiner Erleichterung schnell. Diese Nacht schlafen wir noch hier, aber morgen geht es dann hoffentlich gleich wieder los.
Mittwoch, 25. November 2149
Oh mein Gott, ich habe meine Lilly wieder! Sie ist noch am Leben und liegt direkt in meinen Armen und kuschelt mit James. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, die Zwillinge wieder zusammen zu sehen. Aber jetzt nochmal alles auf Anfang. Der Tag startete nicht vielversprechend. Wir liefen etwas durch die Berge und kamen dann aber in einem Dorf an. Als wir uns langsam im Ort umschauen, fiel mir direkt ein junger Mann auf. Er hatte blondes Haar, karamellfarbene Augen und war bestimmt 1,85 m groß. Er war atemberaubend gutaussehend. Ich konnte nicht anders als ihn anzustarren. Das bemerkte er dann auch irgendwann und ich werde diesen Blick, mit dem er mich ansah, niemals vergessen. Diese anfängliche Überraschung und Verwirrung, die sich schnell in Neugier und Interesse wandelte, hat sich so in mein Gedächtnis eingeprägt. Gott, mein Herz stoppte in diesem Moment. Er ging langsam mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf mich zu. Alles, was ich von mir geben konnte, war ein zitterndes Hi. Er begrüßte mich und stellte sich als Jake vor. Er gab James einen Finger zum Spielen, der ihn sofort ergriff. „Und wer ist der kleine Mann?“, fragte mich Jake. Nachdem ich ihn James vorgestellt hatte, setzten wir uns auf einen Baumstamm und unterhielten uns eine Ewigkeit. Es stellte sich heraus, dass er Katzen liebt und früher Basketball gespielt hat. Er ist nur zwei Jahre älter als ich und - zu meiner großen Freude - Single. Als wir so da saßen, auf dem Baumstamm, der wahrscheinlich erst vor kurzem umgefallen war, in seiner Heimatstadt und seelenruhig redeten, obwohl gerade ein Krieg unsere ganze Welt zerstörte, wurde mir klar, wie einzigartig und bedeutend dieser Moment war. (Außerdem war er hot und ich hatte lange nichts mehr mit einem Typen gehabt, was auch auf den Krieg und die Zwillinge zu führen war.) Als die Sonne unterging, fragte er mich, wo ich heute Nacht bleiben werde. Ich habe ihm natürlich mit offenen Karten gesagt das ich es noch nicht weiß und er bot mir an zu ihm zu gehen. Natürlich nahm ich dieses Angebot dankend an und so führte er mich zu einem Lager, das wie ein Zeltplatz aussah. In der Mitte war ein großes Lagerfeuer und eine Menge Leute hatten sich darum versammelt. Jake erklärte mir, dass die Leute die Dorfbewohner waren, die sich zusammengeschlossen hatten, um zu überleben. Mich hat diese Gemeinschaft sehr berührt, so etwas gab es nur nach dem Krieg, davor hatte ich nie so etwas gesehen. Dann gab es doch wenigstens eine gute Sache. Die Menschen wuchsen wieder zusammen. Wenn ich mir das hier anschaue, kann ich mir nicht mehr vorstellen, wie sich in meiner Schulzeit andauernd Leute gemobbt haben und es zu Kämpfen kam, da man sich nie einig werden konnte. Das, was ich hier gesehen habe, diese Hilfsbereitschaft und dieser Zusammenhalt wäre damals unvorstellbar gewesen. Jake brachte mich zu seinem Zelt und ich schmiss meinen Rucksack in eine Ecke. Wir setzten uns zusammen ans Lagerfeuer und dann geschah es. Jake lief bei einer älteren Dame vorbei und hob ein kleines Kind auf den Arm. Er bedankte sich bei der Frau fürs Aufpassen und setzte sich dann neben mich. Meine Kinnlade klappte herunter und ich bekam Tränen in den Augen. Ich sah das kleine Ding an und fing an zu weinen. Jake war total verwirrt und wollte wissen, ob es mir gut ging. Ich konnte nur nachfragen, wer das kleine Mädchen auf seinem Schoß war. Er erzählte, dass er sie alleine auf einer Entdeckungstour gefunden hat und sie seitdem aufgenommen hat. Ich streckte meine Hand nach ihr aus und schluchzte. Mittlerweile waren alle Blicke auf mir, aber dies war mir egal. Ich hob das Kind hoch und umarmte es mit einem „das ist meine kleine Lilly“ fest. Jake war sichtlich schockiert und auch die anderen fingen an zu tuscheln und ein großes Chaos brach aus. Als ich meine Tochter endlich wieder gefunden hatte, rollte eine Welle an Gefühlen über mich und brach zusammen wie eine Lawine. Mein verschollenes Baby war wieder da. Sie lebt noch. Jake hatte sich gut um sie gekümmert. Ich fiel ihm um den Hals und murmelte tausende Dankesworte. Ich konnte meine Suche endlich abschließen. Ich löste mich von Jake und hob Lilly so hoch, dass ich ihr in die großen Glubschaugen sehen konnte. Sie lachte und streckte ihre kleinen Händchen nach mir aus. Sie erkannte mich wieder. Und ich musste wieder anfangen zu heulen und presste sie ganz eng an mich.
Freitag, 13. November 2150
Hi, Tagebuch. Ich weiß ich habe dich einfach liegen lassen und vergessen, aber heute hab ich dich wiedergefunden. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Jake und ich haben geheiratet und ziehen jetzt die Zwillinge und Lara zusammen auf. Wir sind zusammengezogen und er ist die Liebe meines Lebens. Übrigens gibt es noch etwas zu erzählen. Ich kam auf die Idee, Leute zu motivieren, die vielleicht eine schlechte Zeit haben und mit einem Problem kämpfen. Ich fand, die beste Lösung dafür könnte es sein, dich zu veröffentlichen. So können die Menschen meine Geschichte erfahren und wie ich es trotzdem geschafft habe, ein Happy End zu bekommen. Das wollte ich dir nur noch sagen. Vielen Danke, dass du das alles mit mir durchgestanden hast und du hoffentlich jetzt jungen Leuten zeigst, dass es auch einen Funken Hoffnung in einer düsteren Zeit gibt.
ENDE
Beitrag 14
Jugendratsabschluß
Von der Jury abgelehnt
Beitrag 15
Das TFA-Programm
14.11. 2148
Ich liege in der Bodyklinik. Mama brachte mir gestern Abend noch mein Tagebuch und meinen Lieblingsstift mit dem Plastikherzchen dran. Den Schlüssel dafür trage ich dank der Fa. Safe Secret als Schmuckstück an meinem Hals.
Mama hat bestimmt ein schlechtes Gewissen.
Klar, ich könnte meine Erlebnisse auch in mein Tablett tippen, aber auf Papier zu schreiben, mit meinem Spezialstift, hat so was Sinnliches. Außerdem kann das heute kaum noch jemand. Papier ist auch schweineteuer, aber mein Papa arbeitet auf einer Plattform auf dem Mond, Geld ist also nicht das Problem.
Tja, warum liege ich in der Bodyklinik?
Gestern hatte ich Geburtstag. 18 Jahre alt bin ich geworden. 18! Sollte eigentlich ein ganz besonderer Tag werden, doch für mich war er die größte Enttäuschung meines Lebens. Alle, wirklich alle in meiner Familie wissen doch, was mein größter Wunsch ist!
Seit Wochen rede ich von nichts anderem. Auf allen Geräten im Haus habe ich den Algorithmus so manipuliert, dass jede zweite Werbung die Vorzüge eines persönlichen, digitalen Begleiters zum Thema hat. Einen Robby. Einen gutaussehenden, lustigen, starken, klugen Robby. So was will ich haben!
Und was hab ich bekommen? Einen echten Hund! Was bitte soll ich damit?
Ich habe ihm den Namen What gegeben.
Alle in meiner Klasse haben einen Robby. Und ich habe einen Hund!
Das ist doch peinlich!
Und nun liege ich hier. Und schuld ist What.
Schwanzwedelnd ist er an mir hochgehüpft, hat gequietscht, gebellt und wollte mich ablecken. Dabei stolperte ich nach hinten und fiel direkt über den Saugroboter.
Ich habe eine Platzwunde am Hinterkopf, die geklebt wurde, aber ich kann meine rechte Hand nicht mehr bewegen. Deshalb schreibe ich gerade mit links.
17.11.2148
Meine Hand ist gebrochen. Viel zu kompliziert, um sie genau wie zuvor hinzukriegen. Deshalb werde ich nun eine neue, künstliche Hand bekommen.
Juhu, endlich mal eine gute Nachricht!
Normalerweise bekommt man die ersten Ersatzteile erst, wenn sie altersmäßig abgenutzt sind.
Glück im Unglück. Eine künstliche Hand! Das ist so cool.
18.11.2148
Heute hat mich Mama besucht. Und Egon, mein Bruder. Der ist richtig neidisch auf die neue Hand, die mir übermorgen eingesetzt wird. Aber er hat eine große Freude an What.
Ich hab ihm gesagt, er kann ihn haben. Ich will ihn nicht. Jetzt ist er glückselig.
30.11.2148
Ich habe meine künstliche Hand! Seit 10 Tagen und es fühlt sich großartig an.
Aber stell dir vor, liebes Tagebuch, ich habe auch ein neues, linkes Bein bekommen. Das hatte ich schon 2-mal gebrochen und immer wieder Knieschmerzen. Da haben mich die Ärzte gefragt, ob ich nicht bei einem Programm mitmachen will.
Das Programm heißt Technic-Futur-Art, kurz TFA.
Ich würde in den nächsten zwei Jahren verschiedene Körperteile ersetzt bekommen. Ist das nicht großartig? Das habe ich mir immer gewünscht. Ich habe sofort ja gesagt und weil ich nun 18 bin, darf ich das auch selbst bestimmen.
Es wird mich nichts kosten, denn ich bin dann ein Teil ihrer Studien.
Die neuen Teile haben eine enorme Kraft und Geschmeidigkeit, dass ich am liebsten den ganzen Körper tauschen würde. Wie cool ist das denn?
Ich werde so viele Teile tauschen lassen, wie es nur geht.
1.12.2148
Heute wurde ich entlassen. Mama und Egon haben mich abgeholt. What hat mich von oben bis unten beschnuppert. Er hält Abstand von mir und schaut mich misstrauisch an. Ist mir auch recht so, ich denke, wir werden nicht die besten Freunde.
2.1.2149
Den Jahreswechsel haben wir in Kanada gefeiert, da arbeitet Papa in einem Forschungslabor, wenn er gerade mal nicht auf dem Mond ist.
Er hat sich meine neuen Teile interessiert angeschaut und war fast ein wenig neidisch. Er würde sich auch runderneuern lassen, meinte er, aber er hätte einfach keine Zeit dafür. Der Vorteil für künstliche Körperteile wäre für ihn hier in Kanada die Kälteunempfindlichkeit.
Die Weihnachtsfeier in den unterirdisch eingelassenen Räumen mit Papas Kollegen und Kolleginnen und deren Familien war sehr stimmungsvoll und wir haben lang gefeiert.
Ein Spezial-Heli hat uns dorthin geflogen und ein köstliches Festtagsmenü mitgebracht.
Später gab es Musik und nach dem Dessert haben wir alle getanzt. Leider ging das nicht so gut mit meinem Ersatzknie, braucht sicher noch Zeit.
10.1.2149
Wir sind wieder zuhause. Eine Nachricht auf meinem Tablett war, dass ich in einer Woche mein 2. Bein bekommen würde. Also so fängt das neue Jahr ja gut an!
22.1.2149
Es gab ein Problem. Die Kommunikation zwischen meinem linken Bein und dem Gehirn funktioniert nicht immer. Ich habe es beim Tanzen in Kanada schon gemerkt.
Sie wollen es nochmal öffnen und die Kabel kontrollieren. Dabei bekomme ich gleichzeitig das neue rechte Bein.
Ist sicher besser, auf beiden Seiten dieselbe Art von Bein zu haben.
25.3.2149
Ach, ich habe so tolle Beine. Ich genieße jeden Tag. Hat alles wunderbar geklappt.
4.5.2149
Gestern stand ich gerade was Süßes suchend vor dem Kühlschrank, da bekam ich eine Voice-Nachricht.
Es war Dr. Vague von der Bodyklinik, Abteilung TFA. Den kannte ich bisher noch nicht, aber er wollte mit mir einen Besprechungstermin vereinbaren. Es schien sehr dringend zu sein, der Termin war dann bereits heute.
Ich war ein wenig verwundert. Sein Büro ist in einer völlig anderen Station.
Zwei Stockwerke über der Abteilung, in der Hände, Füße, Arme und Beine gemacht werden.
Ich verspürte den Drang, auf meiner sonstigen Station vorbeizuschauen und ihnen zu zeigen, wie unglaublich toll meine beiden Beine nun funktionieren. Sie haben eine enorme Sprungkraft und selbstverständlich brauche ich keinen Fahrstuhl und laufe die Treppen, auch mit Stöckelschuhen. Das ist kein Problem. Und sie sehen toll aus! Graziös und dennoch muskulös, ganz natürlich. Epilieren ist überflüssig, denn da wächst nichts. Kein einziges Härchen.
Aber ich war knapp dran und so ging ich direkt in den 7. Stock.
Die Empfangsdame begrüßte mich wie einen Ehrengast und brachte mich direkt in Dr. Vagues Zimmer.
Dr. Vague kam gleich zur Sache. Statt einem neuen Körperteil würde ich nun ein neues Organ bekommen. Eine neue Leber.
Da wurde mir doch ein wenig flau im Magen, aber er erklärte mir die vielen Vorzüge und die wenigen Risiken.
Zeit meines Lebens würde ich essen und trinken können, was ich wollte und die künstliche Leber würde niemals verfetten oder ihren Geist aufgeben. Mit einem Sender könnte ich einstellen, was sie, die Leber, zu tun hätte und konnte so sicher sein, dass sich auch mein Gewicht damit regeln könnte, egal was ich essen oder trinken würde.
Ich dachte an meine Speckröllchen und an unsere Schulfeten.
Pah!
Wer braucht da schon einen Robby, der auf einen aufpasst? Mit dem Programm der TFA habe ich das große Los gezogen.
5.7.2149
In meinem Bauch ist nun eine künstliche Leber. Leider wurde bei der OP etwas verletzt und so haben sie mir auch gleich eine Leitung, eine Vene, ausgetauscht. Auch die ist jetzt künstlich. Da meine Beine nicht mehr mit Blut versorgt werden müssen, ist das kein größeres Problem, sagten sie.
Weil ich gerade da war, haben sie mir gleich einen neuen linken Arm gemacht. Nicht nur die Hand. Den ganzen Arm!
Wie immer machten sie viele Aufnahmen und Bodyscans. Mein Körper ist bereits in einigen Dateien, die für Ärzte in der ganzen Welt zugängig sind, abrufbar. Sie lernen an mir.
In der Medizinwelt sei ich bereits ein Star, sagte Dr. Vague und lachte.
Ich mag ihn.
Ich fühle mich wie ein anderer Mensch. Als hätte ich ein neues Leben bekommen.
Bald bekomme ich den kompletten rechten Arm ersetzt. Und, was ich heute erfahren habe, ein künstliches Herz. Bei dem Gedanken ist mir nun doch ein wenig mulmig geworden.
Ein künstliches Herz?
15.9.2149
Den rechten Arm habe ich inzwischen schon, das mit dem Herz kommt erst später.
Allerdings wirbelten in den letzten Wochen sehr viele Gedanken durch meinen Kopf.
Ich finde es toll, viele künstliche Teile zu haben. War ja auch immer mein Wunsch. Aber in letzter Zeit habe ich mir über das Leben und den Tod Gedanken gemacht. Wie würde ich eigentlich sterben, wenn fast alles künstlich ist?
Und was sollte ich mit einem vermutlich sehr langen Leben überhaupt anfangen?
Fortgehen, etwas von der Welt sehen, das ist mein Plan.
Nächste Woche fliege ich mit Papa zum Mond. Er hat gerade Heimaturlaub und nimmt mich mit. Ich darf dort arbeiten, die Transportmaschinen aus- und beladen und nach drei Wochen mit einem diesen Transportern wieder zurückfliegen.
Erst mal weit weg von zuhause.
28.9.2149
Ich bin seit einer Woche auf dem Mond.
Das ist eine völlig neue Welt. Wir leben und arbeiten hier in Containern, die alle miteinander verbunden sind. So ist man nie „draußen“, was ja wegen der fehlenden Atmosphäre und der Schwerelosigkeit auch gar nicht ginge.
Aber „drinnen“ ist alles geregelt. Frag mich nicht wie, aber große Maschinenkomplexe regeln die Lebenserhaltungssysteme.
Hier wurde eine Millionenstadt gebaut, in der Wissenschaftler, Konstrukteure, Sicherheitsleute, und Ärzte arbeiten. Aber auch Köche, Putzdienste, Handwerker und Leute der Warenwirtschaft, zu denen ich gehöre.
Es gibt sehr viele Berufe, die hier oben gebraucht werden und auch ich sollte mir bald mal Gedanken machen, was ich mit meiner Lebenszeit so anstellen will.
Vorerst bin ich in der Ladestation. Frachttransporter von und zur Erde müssen ab- und beladen werden.
In dieser Abteilung arbeiten hauptsächlich Männer. Das Arbeitsklima ist recht rau, aber ich liebe es, kräftig zuzupacken. Und weil ich wegen meinen künstlichen Armen und Beinen nicht zimperlich bin, respektieren mich die meisten jetzt schon als Kollegin.
Mit ihren flapsigen Sprüchen kann ich besser umgehen als mit einem Zickenkrieg unter Frauen.
Ich fühle mich hier wohl.
Sehr wohl!
Das liegt hauptsächlich an Otto.
Otto ist Abteilungsleiter von sieben Ladestationen. An meinem ersten Arbeitstag begrüßte er mich, erklärte die Abläufe und zeigte mir meinen Arbeitsplatz.
An meinem Schrank, in dem meine Arbeitsklamotten lagen, berührte er versehentlich meine Hand und entschuldigte sich.
„Das macht nichts, die ist eh künstlich“, sagte ich.
Mit großen Augen schaute er mich an und fragte, ob er sie mal berühren dürfe.
„Klar“, sagte ich und streckte sie ihm entgegen. Er nahm sie und strich zart über meinen Handrücken. Dann berührte er jeden einzelnen Finger, drückte ein bisschen, zog sanft daran und schüttelte den Kopf.
„Faszinierend“, sagte er.
In dem Moment wünschte ich mir, dass ich etwas spüren könnte, dass ich noch meine echte Hand hätte. Doch ich spürte nichts.
Aber eine Hitze breitete sich auf meinen Wangen aus und ich glaube, ich wurde rot.
Ich zog meine Hand zurück. Ob ich mit ihm heute Abend in einer Bar was trinken gehen würde, weil er gerne mehr darüber wissen wolle, fragte er.
Und ich sagte ja.
Papa war nicht so begeistert, aber er sagte auch nicht nein.
Otto holte mich ab. Erst gingen wir auf den Containerstraßen spazieren und sprachen viel über meine “Ersatzteile“. Dann wollte er wissen, ob man damit auch gut tanzen könne und zog mich in eine Bar, direkt auf die Tanzfläche.
Inzwischen kann ich besser tanzen als an Silvester. Ich habe gelernt, mit meinem neuen Körper umzugehen. Die ersten Musikstücke waren sehr rhythmisch, dann änderte der DJ die Atmosphäre und es wurde gefühlvoll.
Otto legte seinen Arm um meine Hüfte, zog mich an sich und wir wiegten uns zur Musik. Dabei zog mir der Duft seiner Haare in die Nase, wie auch sein Rasierwasser auf seiner Wange.
Wir waren uns so nah, dass er mich hätte, küssen könne. Er tat es aber nicht, was ich sogar irgendwie aufregend fand.
Wir tranken einen Cocktail. Dann führte er mich in einen Raum mit einem großen Fenster.
„Schau mal, da oben am Himmel, das ist die Erde!“
Fasziniert standen wir mit den Gläsern in der Hand an der Scheibe und die Musik aus der Bar drang gedämpft zu uns.
„Auf die Erde“, sagte er und hielt mir sein Glas entgegen.
Ich stieß sein Glas an und wir ließen sie klingen.
„Auf den Mond“, sagte ich mit einem Lächeln.
Fasziniert blickten wir auf die Erde. Mir wurde ganz flau im Magen. War es die Erkenntnis, wie klein und unbedeutend wir für das Universum sind? Oder war es Ottos Nähe? Er fühlte sich für mich alles andere als unbedeutend an.
Erfüllt von dem Anblick gingen wir zurück und tanzten noch eine ganze Weile.
Später brachte er mich zu meinem Wohncontainer und nahm mir das Versprechen ab, am übernächsten Tag mit ihm essen zu gehen.
Papa war noch wach und meckerte ein bisschen, dass ich erst so spät zurückgekommen bin.
Ich legte mich auch gleich in meine Schlafkoje, konnte aber lang nicht einschlafen.
Die ganze Nacht träumte ich von Otto.
5.10.2149
Otto hatte mich abgeholt. Papa war schneller als ich an der Tür, was mir ein bisschen peinlich war.
Er ließ ihn eintreten und stellte ihm sehr viele Fragen. Über seinen Job und wie alt er sei, wo sein Wohncontainer sei. Und wohin er mit mir gehen wollte.
Otto antwortete sehr höflich, bis ich die beiden unterbrach.
„Papa, jetzt lass uns einfach gehen, sei doch nicht so neugierig.“
„Ich werde ja wohl wissen dürfen, mit wem meine Tochter ausgeht.“
Papa öffnete uns die Tür.
„In drei Stunden bringst du sie wieder zurück!“
Otto nickte. Seine Wangen zeigten rote Flecken.
„Natürlich.“
Dann gingen wir los.
„Puh, dein Vater ist ganz schön streng.“
„Ja, aber er ist schon in Ordnung. Macht sich halt Gedanken.“
Ich lächelte ihn an.
„Jetzt aber los“, meinte ich. „Wo geht’s denn hin?“
Otto führte mich in eine Containerstraße, die wie eine Vergnügungsmeile aufgebaut war. Restaurants, Mediathekenhallen und Musikräume reihten sich aneinander. Bunte Lichter erhellten die Straße, elektroakustische Klänge erfüllten die künstlich hergestellte Luft und vor den Türen standen leichtbekleidete, bunt geschminkte Männer und Frauen.
Wir bogen in eine ruhigere Gasse ab und Otto führte mich in einen erstaunlich gemütlichen Container, in dem wir dann aßen.
Es gab aromatisierte Algenküchlein in 100 verschieden wählbaren Variationen, auch für mich etwas völlig Neues.
Kurz überlegte ich noch, ob meine neue Leber und mein Innenleben damit gut zurechtkämen, aber mutig und vertrauensvoll langte ich kräftig zu. Es schmeckte köstlich. Auch die alkoholische Flüssigkeit war lecker. Süß und perlend tanzte sie auf meiner Zunge und bald spürte ich ihre Wirkung.
Nach dem Essen führte mich Otto in eine der Mediathekenhallen. Dort gab es kleine Kojen, in denen man zu zweit sitzen konnte, um sich Clips oder einen Film anzuschauen.
Ehrlich gesagt weiß ich den Namen des Filmes nicht mehr, auch von der Handlung bekam ich wenig mit, denn Otto saß so nah neben mir, dass sich unsere Hände berührten.
Er streichelte meine Hand.
„Du weißt, dass ich das nicht spüren kann?“ fragte ich ihn.
„Ja, und das verwirrt mich. Aber es weckt auch meine Neugier, Stellen zu finden, wo du etwas spürst“, hauchte er mir ins Ohr.
Meine Wangen begannen zu glühen.
Seine Lippen wanderten über meine Wange. Sanft berührten sie meine heiße Haut und fanden den Weg zu meinem Mund.
Als sich unsere Lippen trafen, war es wie eine Explosion. Ich ließ es zu. 2, 3, 4 Sekunden lang, dann drückte ich ihn sanft weg.
Er lachte, nahm meine gefühllose Hand.
„Du bist süß“, sagte er. „Aber jetzt bringe ich dich schnell zu deinem Vater zurück. Mit ihm will ich keinen Ärger haben.“
Wir rannten lachend, händchenhaltend durch die Gassen zurück. Die Lichter, die Menschen, die Hallen flogen an mir vorbei und ich fühlte mich wie berauscht.
10.10.2149
Ach, mich hat es voll erwischt. Ich bin total verliebt. Kann kaum arbeiten.
Ich bin glücklich, aber gleichzeitig traurig, weil ich in drei Tagen wieder zur Erde zurückfliege. Otto geht es genauso.
Ich habe einen Termin bei Dr. Vague und die Ärzte in der Station der TFA warten auch schon auf mich. Ich muss die Termine dringend einhalten.
18.10.2149
Ich bin wieder zuhause, auf der Erde.
Es war schrecklich, die Mondstation zu verlassen, Otto zu verlassen.
Als ich in den Transporter stieg, standen Papa und Otto gemeinsam davor, um mich zu verabschieden. Beide wollen in vier Monaten zur Erde kommen. Vier Monate! Wie soll ich das aushalten?
Den ganzen Flug über habe ich geheult wie ein Wolf in einer Vollmondnacht in Kanada.
Mit roten Augen kam ich auf der Erde an.
Ein Fahrzeug der TFA stand da, um mich abzuholen. Es sei dringend. Wir müssten mit dem „Programm“ weitermachen.
Auf der Station wurde ich von Kopf bis Fuß untersucht. Direkt nach der Landung. Ich war noch nicht einmal zuhause.
In zwei Wochen soll ich das künstliche Herz bekommen. Eine recht übliche Operation, aber die Liste der Fragen in meinem Kopf wird länger.
Ich fragte Dr. Vague, wie das denn sei, mit einem künstlichen Herz und dem Sterben.
Er lachte nur. Ich solle mir doch keine Gedanken über das Sterben machen, ich sei doch so jung. Außerdem sei ich was ganz Besonderes, man hätte sehr viel mit mir vor.
12.10. 2149
Ich war ein paar Tage zuhause und habe meine Mutter, meinem Bruder und What wiedergesehen. What hat zwei kleine Welpen zur Welt gebracht. Und damit mein ganzes Weltbild durcheinander. Geburt, Tod, Liebe und meine berufliche Zukunft … mein Kopfkarussell macht mich ganz benommen.
25.10.2149
Im TFA sagte ich den Ärzten, dass ich mir das mit dem künstlichen Herz erst überlegen müsste und ich den Eingriff vorerst nicht will.
Ein Arzt von TFA schüttelte den Kopf.
„Das läuft jetzt alles so, wie geplant. Ob Sie wollen oder nicht.“
Ich kannte den Arzt nicht, aber er machte mir Angst.
Gegen meinen Willen hielten sie mich auf der Station fest, erklärten mir, dass ich zu allem zugestimmt hätte. Zwei kräftige Männer in weiß kamen auf mich zu, schnappten mich und setzten mir eine Spritze.
Als ich wieder aufwachte, war mir klar: Ich habe nun ein künstliches Herz!
15.11.2149
Als ich wieder zu Kräften kam, wollte ich, dass meine Familie mich besuchen kommt, weil ich heute Geburtstag hab.
Man sagte mir, dass dies nicht möglich sei, aber Dr. Vague in drei Tagen käme, um mit mir über meine Ausbildung zu sprechen.
Ich frage mich, warum? Über meine Ausbildung? Was ginge das Dr. Vague an?
Nun liege ich hier in der Bodyklinik, schaue den ganzen Tag durchs Fenster und warte.
17.11.2149
Ich habe gewartet. Still und noch etwas benommen, lag ich in meinem Bett, als zwei Schwestern reinkamen. Ich stellte mich schlafend und erfuhr unglaubliches.
Die Schwestern flüsterten, während sie mein Bett frisch machten.
Die TFA habe mir damals einen Vertrag vorgelegt, in dem ich unterschrieben hätte, dass sie mir einsetzen dürfen, was sie wollen. Und dass ich eine Art von Ausbildung erhalten würde.
Ich war damals so geblendet von der Aussicht, was Besonderes zu sein, dass ich nie den ganzen Vertrag gelesen habe.
Sie wollen mich als Versuchsperson ins Weltall schicken, zu einem Ort, der 300 Jahre Flugzeit weit entfernt ist.
Als nächste OP sei geplant, mein Gehirn in ein künstliches zu tauschen. Sie hätten so die Macht über mich, aber mein Körper könnte immer noch Kinder gebären. Das war der einzige Grund all der Operationen. Ich wäre halb Mensch, halb Maschine. Eine Gebärmaschine!
Mir war klar, dass ich nun flüchten muss, untertauchen. Und was gäbe es Besseres als den Mond?
Vater und Otto wiederzusehen und die Gesetzeslage auf dem Mond, war die logischste Antwort.
Das wusste natürlich auch die TFA und alles musste sehr schnell gehen, bevor sie mich suchten.
Vater half mir und bereits einen Tag später war ich als blinder Passagier in einer Transportmaschine auf dem Weg zum Mond.
17.11.2150
Was für ein Jahr!
Ich wurde vor zwei Tagen 20 und lebe immer noch auf dem Mond. Egon hat mir eine Bildnachricht gesendet, mit What und seinen Jungen. Meine Güte, What hat ein wunderschönes Leben!
Und ich lebe hier versteckt, im Untergrund. Nur weil ich so dumm war.
Mit Hilfe von Otto habe ich vorgestern mein Tagebuch unter Pseudonym veröffentlicht.
Damit will ich alle Mädchen warnen, nicht auf die TFA reinzufallen. Ich fand es cool, vieles an meinem Körper künstlich zu haben. Die TFA will etwas ganz anderes. Sie braucht Körper, die Kinder gebären, sonst aber nach ihren Wünschen gesteuert werden können.
Ich sende meine Botschaft an jeden Winkel der Erde: Was wollt ihr sein? Mensch oder Maschine?
Lebt! Fühlt! Liebt!
Mensch!
ENDE
Beiträge 69 – 73
Beitrag 69
Ein schicksalhafter Tag
Das Leben im Jahr 2149 ist ganz anders, als wir es uns vorgestellt hatten. Ich schaute nach unten und sah, wie meine Freunde Louis und Elsa in einem Boot auf meinen Baum zufuhren.
Die beiden lebten mit ihren Familien in der Wassersiedlung und besuchten mich regelmäßig.
Ich rief ihnen bittend zu, hochzukommen. Das lehnten sie allerdings ab, weil sie mir unbedingt etwas zeigen wollten und ich mitkommen sollte. Ich stieg in den Fahrstuhl. Unten angekommen öffnete sich die Schiebetür und ich stieg zu den beiden ins Boot. Dieses verfügte über einen Motor mit Biogas und Paddel, die selbst betrieben wurden oder ebenfalls motorisiert waren. Auf meine Begeisterung hin erklärten sie mir, dass sie das Boot mit ihren Eltern zusammengebaut hatten. Diese haben ihnen dann auch erlaubt, es alleine zu fahren. Das war ja super! Ich fragte gleich, ob ich das Boot auch einmal fahren dürfe, aber da bremste mich Elsa ab und vertröstete mich auf den Zeitpunkt, wenn ich meinen Bootsführerschein auch bestanden hätte. Die theoretische Prüfung habe ich gestern zwar bestanden und ich würde erst morgen mit den Fahrstunden anfangen.
Louis erzählte, dass er die Prüfung erst nach dem zweiten Versuch bestanden hatte, weil ihm seine Nervosität in die Quere gekommen war. Ich wollte wissen, wie er seine Aufregung in den Griff bekommen hatte, da ich selbst Lampenfieber nur zu gut kannte. Seine Mutti war die helfende Hand gewesen, die ihm eine Atemtechnik beigebracht hatte, mit Hilfe derer er seinen Puls und die Atmung verlangsamen und sich dadurch besser konzentrieren konnte. Er lachte und gab seiner Schwester einen kleinen Stups, bevor er weiter sprach, Elsa, die Streberin hatte natürlich die theoretisch und praktische Prüfung gleich beim ersten Mal bestanden. Elsa schaute uns beide und gab zu auch aufgeregt gewesen zu sein. Doch da ihre Eltern Fahranfänger unterrichteten und sie fit für die Prüfungen gemacht hatten, war es kein Problem für sie gewesen. Elsa bot an, ihre Eltern zu fragen, ob sie auch mir bei den Vorbereitungen für die praktische Prüfung helfen sollten. Ich nahm das Angebot an. Dann erzählte sie von einer Insel auf die, die beiden einen Ausflug machen wollten. Ich wollte wissen, um welche Insel es sich handelte. Elsa sprach weiter, Louis hat durch sein Teleskop eine geheimnisvolle Insel erfunden. Sie liegt am Ende des dunklen Waldes und vor dem schwarzen Meer. Wir wollen in den kommenden Semesterferien dort mit unserem Boot hinfahren. Das hieß, dass mir noch acht Wochen Zeit für meinen Schein blieben. Ich wusste nicht genau, ob ich es wirklich bis dahin schaffen würde. Aber ich würde es versuchen. Falls nicht fuhr ich so mit. Louis drängelt uns, da wir schon wieder sehr spät dran waren. Der Technikunterricht hatte sicher schon ohne uns begonnen. Elsa gab zu, den Kurs völlig vergessen zu haben. Was ich ihr nicht ganz abnahm, da sie sehr organisiert und pflichtbewusst war. Louis stimmte mir zu und startete mit Hilfe seines Smartphones den Motor. Zwanzig Minuten später kamen sie am Höhleneingang des Technikgebäudes an. Wir stellten uns einzeln vor den Scanner und warteten darauf, dass die Tür aufging. Die Stimme der Tür gab uns Anweisungen, die wie folgt lauteten:
Bitte legen Sie die Finger der rechten Hand auf die Schaltfläche. Danke! Jetzt öffnen sie beide Augen und schauen durch die Brille. Danke! Nun sagen Sie laut und deutlich Ihren Namen in das Mikrofon am Türknauf. Danke! Willkommen Elsa Winter!,danach öffnete sich die Tür und Elsa ging hindurch und wartete auf uns. Nachdem ich ebenfalls durch die Tür gegangen war blickte ich mich staunend um, es faszinierte mich immer noch, wie groß es im Inneren des Berges war. Elsa stimmte mir zu und berichtete, dass die Sicherheitsvorkehrungen nach dem Brand im letzten Monat verstärkt worden waren. Das sah ich auch so und erzählte, dass durch das Feuer viele Mensch, Tiere und auch technische Entwicklungen zu schaden gekommen waren bzw. zerstört wurden.
Wir konnten froh sein, dass niemand getötet wurde und Louis Vater es geschafft hatte, die Notverriegelung aufzuheben. Damit hatte er Schlimmeres verhindert. Louis blickte mich an und berichtete uns dann, das sein Vater Leiter der Sicherheitsabteilung war und es seine Aufgabe ist alles dafür zu tun, dass niemand zu Schaden kommt. Es hatte ziemlich lange gedauert, bis sie herausgefunden haben, warum und wo der Brand ausgebrochen war. Ich wollte wissen, wie das Feuer ausgebrochen war. Doch Louis wusste nichts, da sein Vater nicht darüber sprechen durfte.
Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse und meinte nur genervt, das es typisch für die Erwachsenen sei uns im Unklaren zu lassen, obwohl wir keiner keinen Kinder mehr waren.
Louis und auch Elsa stimmten mir zu. Er zählte, dass nur die obersten Leiter wirklich wussten, was passiert sei und alles dafür getan werde, damit es nicht noch einmal so ein Unglück geben würde. Wir gingen weiter. Der heutige Unterricht fand in einem der Techniklabore statt.
Frau Schlackenstein blickte uns missmutig an, da wir die letzten Zöglinge waren, die zum Unterricht erschienen. Sie konnte es nicht leiden zu warten oder ihren Kurs unpünktlich zu beginnen. Sie verwies uns auf unsere Plätze und stellte klar, dass wir nach der Stunde noch bleiben mussten. Dann begann sie mit dem Thema des heutigen Kurses: Der Hydraulikantrieb,
wie wird er gebaut, welche Gefahren bringt er mit sich und wie repariere ich ihn. Louis flüsterte Elsa zu, dass er das schon alles von seiner Mutti gelernt hatte,als er noch im Kindergarten war.
Unsere Lehrerin ermahnte die beiden zur Ruhe und fragte, was sie zu besprechen hatten? Louis erzählte, dass er schon im Kindergartenalter alles über das Thema von seiner Mutti gelernt hatte. Die Kursleiterin forderte ihn auf, nach vorne zu kommen und uns darüber alles zu erklären, was er gelernt hatte. Louis stand auf und ging zur digitalen Tafel. Er mochte es nicht im Mittelpunkt zu stehen oder vor der Klasse zu sprechen. Etwas holprig begann er die Ausführungen zum Hydraulikantrieb. Frau Schlackenstein schaltete die Bilder zum Antrieb dazu und Louis musste, diese beschriften und alles Nötige erklären. Nach einer halben Stunde durfte er sich wieder an seinen Platz setzen. Er legte seinen Kopf auf sein Tablet und schloss für den Rest des Kurses seine Augen. Als die Stunde zu Ende war, verabschiedeten sich alle von Frau Schlackenstein,
außer Louis, Elsa und mir. Unsere Kursleiterin informierte uns darüber, dass sie mit unseren Eltern sprechen wollte. Sie fand, dass wir zu oft zu spät kamen und den Unterricht nicht ernst nehmen würden. Louis widersprach ihr und sagte, dass wir in dieser Woche nur ein einziges Mal zu spät waren und in der vergangen Woche immer pünktlich zum Kurs erschienen sind.
Frau Schlackenstein wehrte seine Worte mit einer Handbewegung ab und erklärte uns, dass wir die Wochen zuvor mehrmals zu spät waren und auch im Unterricht nicht richtig mit arbeiten würden. Louis antwortete darauf, dass er schon viele der Themen, die besprochen wurden, gelernt hatte und es hasste, sich Wiederholungen anzuhören. Die Lehrerin stimmte ihm zu, doch es träfe nicht auf den Rest der Klasse zu. Sie bot ihm an, als ihr Assistent zu arbeiten und mit ihr gemeinsam die Stunden vorzubereiten. Er überlegte und wollte wissen, ob er Anschauungsmaterial mitbringen konnte und auch Experimente vorbereiten durfte. Frau Schlackenstein nickte und fragte, nimmst du die Stelle an? Louis stimmte mit großer Begeisterung zu. Sie freute sich und bestellte ihn für in einer Stunde in ihr Arbeitszimmer. Er blickte sie überrascht an und wollte wissen, viel Zeit er einplanen sollte. Ihre Antwort darauf war nicht länger als zwei Stunden.
Sie blickte Elsa und mich eindringlich an, dann sagte sie, Ihr zwei solltet Euch auch besser auf den Unterricht vorbereiten und besser mitmachen. Dann könnt Ihr jetzt gehen und wir sehen uns in einer Stunde. Mein Arbeitszimmer ist ganz oben in der Glaskuppel, ich schicke dir den Zugangscode für die Tür per SMS. Präge ihn dir gut ein und lösche ihn danach sofort. Dass du niemandem davon erzählst - versteht sich ja von selbst. Frau Schlackenstein verabschiedete sich von uns und verschwand durch eine Glastür am Ende des Ganges. Wir blickten ihr nach. Elsa zischte Louis an, wieso hast du die Stelle angenommen? Ich dachte, wir wollten heute Nachmittag zusammen an meinem Vortrag arbeiten. Er hob abwehrend die Hände und antwortete, weil das eine große Chance ist meinen Eltern zu beweisen, dass ich auf die Technikakademie gehöre.
Ich komme nach dem Treffen bei dir vorbei. Versprochen! Missmutig stimmte Elsa zu und wollte von ihm wissen, ob er uns zu mir nach Hause fahren würde? Louis nickte und versprach in spätestens zwei Stunden bei Elsa zu sein. Wir verließen das Gebäude und gingen zum Boot.
Nach ein paar Minuten sprang es an und Louis setzte uns bei Elsa zu Hause ab. Dann fuhr er wieder los und rief uns zu, wir sehen uns spätestens in zwei Stunden, versprochen! Ich bot Elsa meine Hilfe bei ihrem Vortrag an. Doch als ich das Thema Technologie zwischen dem zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert entwickelt hatte und welche Erfindungen es in dieser Zeit gab, erfuhr, wusste ich nicht, ob ich ihr wirklich dabei helfen konnte. Aber ich wollte es versuchen.
Elsa bedankte sich bei mir und schlug vor sich in die digitale Bibliothek einzuwählen und dort alle Berichte zu dem Thema zu lesen. Das würde ein sehr langer Tag werden ging es mir durch den Kopf. Wir gingen in Elsas Zimmer und setzen ihre Metabrillen auf. Dann lockten wir uns mit dem Passwort ein und suchten nach Berichten aus den beiden Jahrhunderten. Ich machte mir auf einer Pinnwand Notizen, die wir sich später zusammen ansehen würden. Auch Elsa las alles, was sie zu dem Thema Technologie aus dieser Epoche finden konnte. Als es draußen dunkel wurde, blinkten die Brillen rot auf. Das bedeutete, dass unsere Zeit war abgelaufen. Wir nahmen die Brillen ab und Leonie blickte auf einen Spiegel, der die aktuelle Uhrzeit anzeigte. Sie wunderte sich, dass Louis noch immer nicht da war. Frau Schlackenstein hatte doch gesagt, dass sie ihn nicht länger als zwei Stunden brauchen würde, wiederholte sie. Ich überlegte kurz und stimmte ihr dann zu.
Elsa schlug vor, ihn anzurufen. Doch Louis nahm nicht ab. Sie hinterließ eine Nachricht, Louis,
wo bist du? Bitte ruf mich zurück! Wir machen uns Sorgen. Wir hatten beide ein komisches Gefühl und beschlossen zur Akademie zu fahren. Ich bestellte uns ein Wassertaxi, das nach ein paar Minuten vor uns anhielt. Die Fahrerin fuhr uns, ohne Fragen zustellen zur Akademie.
Als wir dort ankamen, trauten wir unseren Augen nicht. Überall roch es nach Rauch, und Flammen vergruben alles unter sich. Elsa fragte eine Frau, die auf sie zu kam, was passiert war.
Sie erklärte uns, dass es einen lauten Knall gegeben habe und dann überall Feuer und Rauch aufstieg. Wir sollten Hilfe holen, da sich noch Menschen in dem Gebäude befanden. Plötzlich brach sie bewusstlos zusammen. Ich hatte eine abgeschlossene Ausbildung als Notfallsanitäterin und bat Elsa, mir zu helfen. Wir legten die Frau in die stabile Seitenlage. Danach versuchte Elsa unsere Eltern und ein Rettungsteam zu erreichen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis unsere Eltern vor Ort waren und auch die Rettungskräfte kamen aus der Luft, vom Wasser und vom Land. Alle halfen mit, um die Flammen zu löschen. Ich rief den Sanitätern zu, Sie sollten sich um die Frau kümmern. Elsa schlug vor, sich bei Frau Schlackensteins Arbeitszimmer umzusehen. Wir rannten durch den Rauch und hielten unsere Hände vor die Gesichter, bis uns ein Feuerwehrmann zu Hilfe kam.
Er setzte uns eine Maske auf. Wir fragten ihn nach unserer Kursleiterin und nach Louis.
Doch er erzählte uns, dass die Rettungskräfte noch nicht bis zur Glaskuppel vorgedrungen waren. Er bat uns, vorsichtig zu sein, da er davon ausging, dass die Kuppel einsturzgefährdet war.
Wir versprachen kein unnötiges Risiko einzugehen. Bevor wir uns auf den Weg machten, übergab er uns einen Funkchip. Er erklärte uns, dass wir damit Hilfe holen könnten. Wir bedanken uns bei ihm und verschwanden in der Menschenmenge. Sie versuchten, die Flammen zu löschen und die Rettungskräfte kümmerten sich, um die Verletzten, die überall auf dem Boden lagen. Ich hatte noch nie so viel Grauen auf einmal gesehen und ein kalter Schauer erfasste mich. Hoffentlich würden wir Louis und Frau Schlackenstein unverletzt finden. Elsa zog mich am rechten Arm durch die Menge und wir erreichten nach gefühlt einer halben Stunde die Glaskuppel. Auf den ersten Blick waren die Flammen dort noch nicht angekommen. Elsa blickte nach oben und meinte, die zwei Umrisse dort, dass sind sie bestimmt. Ich war ihrer Meinung, doch wie sollten wir dort hinauf gelangen. Elsa erzählte mir von einem Hintereingang, der aber durch einen kleinen Kanal führte. Wir würden schwimmen müssen, um diesen zu erreichen. Ich blickte Elsa aufmunternd an und sagte, ich folge dir und gemeinsam werden wir die zwei da raus holen. Das verspreche ich dir.
Elsa nickte, packte mich am rechten Arm und zog mich mit sich. Nach wenigen Minuten waren wir bei dem Kanal angekommen. Doch ein Tor versperrte uns den Zutritt. Elsa nahm ihre Uhr hervor und tippte wild darauf herum, bis das Gitter aufsprang. Ich war verblüfft und fragte sie, wie sie das gemacht hatte? Elsa meinte, das erkläre ich dir später. Wir müssen uns beeilen, die Flammen können jeden Moment die Glaskuppel erreichen. Elsa sprang kopfüber in den Kanal und paddelte los. Ich zögerte kurz und folgte ihr dann. Kleine Fische, Schlangen und Ratten kamen auf sie zu. Wir hatten Mühe, den Tieren auszuweichen, und mussten immer wieder kurz anhalten, um Luft zu holen oder die Tiere an uns vorbeizulassen. Ich stellte fest, dass ich gar nicht wusste, dass es hier unten jede Menge Schlagen gab. Elsa erklärte mir, die fliehen alle vor dem Rauch und dem Feuer. Nach einer Weile gelangten wir erneut an eine Gittertür, die Elsa öffnete. Wir schwammen und gelangten an eine Eisenleiter. Diese stiegen wir nach oben und kamen durch eine Luke in den vorderen Teil der Glaskuppel. Wir rannten den Gang entlang bis zum Büro. Die Tür war verschlossen und Elsa rief, wie lautete die Kombination? Doch Louis antwortete uns, die Tür ist defekt und wir sollten einen anderen Weg herein finden. Elsa und ich blickten uns an. Dann sahen wir eine Strebe von der Decke hängen. Ich schlug vor, mit dieser die Tür aufzuhebeln. Elsa stimmte einem Versuch zu. Wir steckten die Strebe in den Türrahmen, drückten dagegen und sie brach.
Wir benötigen etwas Stabileres, stellte ich fest. Im Vorraum entdeckte Elsa einen metallischen Schreibtisch. Sie zeigte mit der Hand darauf und meinte zu mir, damit könnte es gehen.
Elsa schlug vor, den Tisch auseinanderzubauen. Sie fragte mich, ob ich mein Allzwecketui dabei hätte. Ich griff in meine Hosentasche und holte es hervor. Die Glaskuppel wurde immer wärmer. Das Feuer hatte uns erreicht. Louis klang verzweifelt, als er uns fragte, ob wir noch da sein. Wir bejahten seine Frage und versprachen uns zu beeilen, die beiden da raus zu holen. Jetzt flehte uns Frau Schlackenstein an, uns zu beeilen, weil die Luft im Zimmer immer dünner wurde. Elsa und ich schrauben das Tischbein ab und drückten es mit aller Kraft zwischen den Rahmen und die Tür. Als diese aufsprang, fielen uns die beiden entgegen. Elsa drängte uns, mit ihr zu kommen, da sie sicher war, das die Kuppel bald einstürzen würde. Wir folgten ihr und kamen nach ein paar Minuten bei der Luke an. Nacheinander kletterten wir die Stufen hinunter und sprangen, ohne nachzudenken, in den Kanal. Frau Schlackenstein schlug die Luke zu und folgte uns. Am Ende des Kanals stiegen wir aus dem Wasser und konnten sehen, wie die Glaskuppel in sich zusammenkrachte. Louis atmete schwer aus und sagte dann, das war Rettung in letzter Minute. Wir fielen uns erleichtert in die Arme. Ich erzählte ihr von der Frau, dem Knall und dem Feuerwehrmann. Elsa berichtete, dass wir die Rettungskräfte und unsere Eltern alarmiert hatten. Plötzlich sahen wir unsere Eltern, die auf uns zu kamen. Wir liefen ihnen auf dem Platz vor der Akademie entgegen und fielen ihnen in die Arme. Für einen Moment das Geschehen um uns herum. Tränen liefen über unsere Wangen.
Louis bat seine Mutti, ihn loszulassen. Ich war froh, dass es uns allen augenscheinlich gut ging. Frau Schlackenstein wollte nun aber endlich wissen, was passiert war. Unsere Eltern hatten keine Ahnung. Sie wussten nur, dass wir uns alle in der Wassersiedlung versammeln sollten. Wir machten uns auf den Weg zur Wassersiedlung, wo alle anderen Mitglieder der jeweiligen Siedlungen vertreten waren. Es gab noch keine Erkenntnisse, wie und warum das Feuer ausgebrochen war.
Als sich der Himmel über uns verdunkelte und eine grau gekleidete Gestalt vor uns auftauchte. Feuerrotleuchtende Flammen umgaben sie. Louis wollte wissen, wer sie ist und was sie hier wollte. Ihre Antwort war: die Göttin des Feuers und des Neubeginns. Ich bin zum Helfen gekommen. Ihr müsst diese Welt verlassen. Euer Planet wird heute untergehen. Doch nicht alle können mit mir kommen. Ihr müsst entscheiden, wer hierbleiben und sterben wird. Alle sprachen wild durcheinander und keiner von ihnen wollte zum Sterben zurückgelassen werden. Ich blickte die Fremde fassungslos an. Wen sollten wir zurück- lassen? Die immer noch leuchtende Gestalt erklärte uns jedoch, dass kein Platz auf ihrem Planeten war, damit alle Mitglieder unserer Gemeinschaften mit kommen konnten. Elsa wollte wissen, ob es noch andere Planeten in der Nähe ihres Planeten gäbe, auf denen jemand wohnen könnte. Diese gab es, aber keinen Sauerstoff.
Louis hatte darauf hin vorgeschlagen, die Luft umzuwandeln. Ein Raunen ging durch die Menschenmenge und unsere Lehrerin hatte Louis recht gegeben und uns erzählt, dass sich ein Verfahren seit ein paar Wochen in der Testphase befindet, welches Gase und andere Stoffe in Sauerstoff umwandeln konnte. Louis‘ Vater wollte darauf hin wissen, wann dieses Verfahren ausgereift sein würde. In einem Jahr konnte mit einem Durchbruch gerechnet werden, erklärte sie. Die Gestalt drängte auf eine Entscheidung. Frau Schlackenstein schlug vor, alle Kinder und Jugendlichen mit der Göttin zu schicken. Die Menschen sollten sich in die Notfallstation begeben. Louis` Vater ließ alle mit Handzeichen darüber abstimmen. Der Vorschlag wurde angenommen.
Es wurde Zeit, sich zu verabschieden und unseren Planeten hinter uns zu lassen. Es kam ein großer, gelblich leuchtender Ball auf die Erde und eine Art Treppe fuhr heraus. Wir folgten ihr.
Frau Schlackenstein und ein Forscherteam gingen mit uns. Sie versprach eine schnelle Lösung.
Danach verschloss sich die Kugel, die Treppe fuhr wieder ein und der fremde Planet verschwand im Himmel. Der Rest ging zur Notfallstation. Doch Louis Vater wusste, dass sie nicht viel Zeit haben würden, um eine Lösung zu finden. Die Station war voll und die Vorräte würden maximal ein halbes Jahr für alle reichen. Niemand hatte damit gerechnet, die Erde zu verlieren. Es vergingen Monate, bis zur erlösenden Nachricht. Das Forscherteam hatte es geschafft, zwei der umliegenden Planeten bewohnbar zu machen. Nach ein paar Wochen waren alle wieder vereint. Ich las aus meinem Tagebuch vor: „Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens! Ich danke allen, die geholfen haben, dies zu ermöglichen. Ich hätte nie gedacht, dass wir es wirklich in so kurzer Zeit schaffen könnten, einen neuen Lebensraum für uns alle zu finden. Natürlich gedenken wir auch denen, die es nicht geschafft haben. Lasst uns nie aufhören gemeinsam einen Weg aus der Dunkelheit zu finden.“
Die Göttin und ich gingen die Stufen der Plattform hinunter. Sie leuchtete in alle Regenbogen-farben und freute sich sehr darüber, dass es gelungen war, einen Großteil der Menschheit zu retten. Als sie vor der Menschenmenge ankamen, stieg sie in die Luft und verkündete: Wir sollten niemals vergessen, was wir gemeinsam erreicht hatten. Sie müsse uns nun verlassen. Sie verschwand in einem Regenbogen.
ENDE
Beitrag 70
Die gedruckte Hand
Liebes Tagebuch, heute war der 13. November 2150!
Genauer gesagt: Freitag der 13.! Ein Tag „an dem man vor Unglück lieber im Bett bleiben sollte“ schwört meine Oma. Doch für mich war es ein Bilderbuchtag, an dem ich einst selbst das Happy End
war. Kaum begann mein Brainchip zu zwitschern, stürmte mein Hund Pluto zu mir ins Zimmer, um mit mir in den Tag zu starten. Es heißt zwar, dass Geräusche des Brainchips nur der Träger selbst
hört, aber ich könnte schwören Pluto wachte ebenfalls davon auf. Ich finde es superpraktisch, dass ich mein Handy durch den Brainchip ersetzen konnte. Schließlich hätte ich jetzt keine Hand frei,
um den zwitschernden Weckton auszuschalten, da Pluto auf mir herumtollte. Dieses herzige Fellknäuel mit seinen treuen braunen Augen zwang mich regelrecht dazu, gut gelaunt in den Tag zu starten.
Doch allzu lange durfte ich mich mit unserem Guten-Morgen-Ritual nicht aufhalten, denn eine Stunde später hatte ich eine wichtige Präsentation, auf die ich mich schon seit Wochen vorbereitete.
Ich kam die letzten Tage mit der Präsentation besser voran als ich dachte, und konnte sie bereits gestern hochladen. Ich muss mich nur noch in Schale werfen, also theoretisch und in den
Hologrammraum gehen. Wenn ich daran denke, dass in der Zeit von meiner Oma die Menschen jeden Tag auf die Uni oder in die Arbeit völlig analog fahren mussten oder sogar eine Stunde pro Richtung
mit dem Auto im Stau standen. Dafür hätte ich ja überhauptkeine Zeit. Nachdem Pluto es endlich geschafft hatte sich von mir zu trennen, sprang ich schnell unter die Dusche, während mir der
Hausroboter schon meinen blauen Holoanzug brachte. Ich hoffe inständig, dass es irgendwann in einem Holoraum auch den Filter „gewaschene Haare“ zum Auswählen gibt. Aber gut, bis dahin muss ich
mich mit der übertragbaren Kleiderauswahl zufriedengeben. Meine kurzen schwarzen Haare standen in alle Richtungen. Ich sah einfach nur katastrophal aus. Ausgerechnet heute! „Ok, relaxed
bleiben!“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Ein bisschen Haargel drüber und das geht schon. So gut die 3D Scanner für die Onlinemeetings sind, aber in Wahrheit würde niemandem meine
fürchterliche Frisur auffallen. „Wie siehst du denn aus?“, schallte es plötzlich hinter mir. KORREKTUR, niemand fällt es auf außer MEINER MUTTER, die in diesem Moment ins Badezimmer kam und
direkt hinter mir stand. Ich sah sie über den Badspiegel an und zog genervt eine Augenbraue hoch. „Ob dein Haargel dieses Chaos richten kann? Hast du dir gestern einen Café programmiert? Möchtest
du auch etwas essen?“, erkundigte sich meine Mutter fürsorglich. Ich nickte und bat sie um ein Müsli mit Milch. Die Cafémaschine mit automatisierten Tassenvorrat war die Beste Investition,
die es gibt! Wie oft habe ich vorm Schlafen gehen per Brainchip übers W-Lan für mich bzw. den nächsten Morgen einen Café programmiert und vergessen ein Häferl drunter zu stellen. Nicht
auszudenken, wenn Pluto dann auch noch durch die Cafélacke in der Küche gelaufen wäre und die Caféflecken im ganzen Haus verteilt hätte. Damit wäre vermutlich sogar der Hausroboter überfordert
gewesen. Naja egal, zurück zu meinem Haarchaos auf dem Kopf. Ein Gel und ein Kamm und wenige Minuten später sah ich wieder wie ein Mensch aus. Die Bartstoppeln ließ ich stehen. Man(n) wollte ja
nicht zu perfekt aussehen. Außerdem lässt mich ein Dreitagebart mit meinen 20 Jahren etwas erwachsener wirken. Schon stieg mir der Cafégeruch in die Nase und ich schlenderte ins Esszimmer zu
meiner Mutter, die mir mein Lieblingsmüsli zubereitet hatte. „Sei nicht nervös, du wirst eine spannende Präsentation halten! Sperr am besten deinen Holoraum ab, damit auch Pluto die Türe nicht
öffnet und dich stört“, versuchte meine Mutter mir gut zuzureden. Da vibrierte mein Brainchip. Ich tippte mit dem kleinen Finger und dem Daumen zweimal schnell aufeinander, um den Anruf
entgegenzunehmen. Mein Vater war dran. Auch er wünschte mir viel Glück für heute. Gleichzeitig entschuldigte er sich, dass er es am Nachmittag zu meiner kleinen Feier nicht persönlich schaffen
würde. Aber er wäre per Hologramm zumindest beim Kuchen essen visuell dabei sein. Wegen ihm war ich zwar schon etwas traurig, dass er nicht physisch dabei sein kann, aber er war heute nicht der
einzige Gast, der anwesend sein wird, obwohl er nicht hier war. Mit demselben Fingertippen beendete ich den Anruf und genoss mein Müsli. Kurz vor 9:00 Uhr ging ich in meinen Holoraum. Eigentlich
sind Holoräume ja schon altmodisch, denn die 3D-Calls funktionieren mit den Plattformen auch schon überall. Aber als diese Technik noch in den Kinderschuhen stand, wollte ich sie unbedingt haben
und da brauchte es damals noch einen Raum ohne Tageslicht damit das Hologramm wirklich scharf war. Für die heutige Präsentation war es jedoch praktisch. Wie Mutter sagte, ich konnte den Raum auch
absperren. Nur noch wenige Minuten bis zur Präsentation. Liebes Tagebuch, ich weiß du konntest es vermutlich nicht mehr hören, aber ich übte zum letzten Mal meinen Einstiegssatz „Geschätzte
Professoren der Universität für Chemie und Microtechnologie, heute darf ich sie auf einen Ausflug mitnehmen. Wir werden die überlastete Stromwelt verlassen und in eine Wasserstoffwelt eintauchen
ohne Baden zu gehen.“ War der Einstieg vielleicht zu gewagt? Zu lässig? Oder zu überheblich? Vielleicht, ja. Aber ich musste sie unbedingt gleich mit dem ersten Satz begeistern! Mit „Schön,
dass sie alle so zahlreich erschienen sind“, würde die Jury bestimmt einschlafen, bevor ich überhaupt noch begonnen hätte. Nein, ich ließ den Einstieg so. Warum? Weil ich davon überzeugt war,
dass uns mein Forschungsergebnis in eine bessere Zukunft bringt. Ich aktivierte den Smartlap und das Holosystem, wählte ein blaues Hemd und eine schwarze Anzugshose als Übertragungsoutfit aus und
wenige Minuten später ging es los. Nachdem ich die Präsentation auch schon gefühlte hundertmal im Kopf durchgegangen bin, beschreibe ich nur noch die Schlusskommentare der Jury: Nachdem im
vorigen Jahrhundert alles auf Strom bzw. Akku umgestellt wurde, Autos, Heizungen, Laptops bzw. Smartlaps etc. wurden die Flächen zur Stromerzeugung langsam knapp. Die größten Leistungsfresser
sind die Hoverhicles. Der Begriff ist stammt von „hovering vehicles“. Früher hießen sie Autos. Der Motor von damals, der die Reifen antrieb, wurde durch Schwebemechanismen ersetzt. Das Problem
des Feinstaubes aufgrund des Gummiabriebs war mehr oder weniger aus der Welt, jedoch stieg der Stromverbrauch drastisch an. Da kam meine Forschungsarbeit ins Spiel. Die Idee des
Wasserstoffantriebes war zwar nicht neu, musste aber grundsätzlich überarbeitet werden. Oder besser ausgedrückt von einem der Professoren „Ihre wissenschaftliche Arbeit könnte den
Herstellungsprozess von Wasserstofftreibstoff revolutionieren. Zumindest Mal auf unserer Universität. Jetzt ist Ihre Kreativität gefragt, diese Ergebnisse der Hoverhicle-Industrie näher zu
bringen“. Bei diesen Worten bin ich innerlich wie ein kleines Kind vor Freude auf und ab gesprungen. Ein riesiges Lob! Die letzten Monate beinahe im Labor zu wohnen, hatte sich offensichtlich
ausgezahlt. Abschließend bedankte ich mich für die Aufmerksamkeit und schaltete den Holoraum wieder ab. Mein Jubelschrei schallte durchs ganze Haus. Schon kam Pluto schwanzwedelnd angelaufen.
Auch meine Mutter fiel mir um den Hals. „Sie waren begeistert“, platze es aus mir heraus. Meine Mutter trällerte, dass sie unglaublich stolz auf mich ist. Dann nahm sie meine rechte Hand, strich
mir über den Kopf und überlegte laut:„Wer hätte gedacht, dass Wissenschaft dein Leben gerettet hat und du nun auch deine Zukunft in der Wissenschaft gefunden hast“. Auch wenn mein Unfall schon
zwei Jahre her ist. Der Schrecken sitzt meiner Mutter noch tief im Gedächtnis. Heute denke mir „Ende gut Alles gut!“. Wobei ich schon zu geben muss, dass es auch viel Glück war. Wer hätte damals
schließlich gedacht, dass ich die Röntgenvermessung meines Körpers wirklich einmal brauchen würde. Obwohl es diese Möglichkeit bereits seit über 10 Jahren gibt, habe nur ich mich aus meiner
Familie zu meinen 18. Geburtstag vollkommen vermessen lassen. Jeder Knochen, jedes Organ jeder Fingernagel ist als Volumenscan auf meinem Personenchip gespeichert. Nur die Adern schaffte die
Auflösung damals noch nicht. „Ab dem heutigen Tag werden sie niemals von Organspendern abhängig sein. Nierendatei aufrufen, drucken, fertig.“, klingen die überschwänglichen Worte des Arztes heute
noch in meiner Erinnerung. Damals fand ich es noch amüsant. Doch heute vor zwei Jahren habe ich meine Volumendaten tatsächlich gebraucht. Sonst gäbe es mich heute nur noch mit einer Hand. „Jetzt
schau nicht so traurig. Es ist doch alles OK. Während deiner Präsentation habe ich Mittagessen gekocht. Die Oma hat auch schon angerufen, dein Lieblingskuchen ist schon im Rohr“, rissen mich die
Worte meiner Mutter aus meinen Gedanken. Zu Feier des Tages gab es gedünsteten Lachs mit Gemüse. Gut, Gemüse klang jetzt nicht so spannend. Aber ich musste für meine persönliche
Körperstatistik noch Gesundheitspunkte sammeln. Schließlich kommt nachher meine Oma mit einem viel zu süßen Kuchen und Sekt mit Alkohol drin. Da verliere ich wieder Punkte. „A Feier ohne an
Kuachen und an Sprudel is doch ka Feier. Gsunde Punkte hin oder her“, schimpft die Oma dann immer. Ich persönlich finde es schon super, was sich in den letzten Jahrzehnten anscheinend im
Gesundheitssystem getan hat. Der Brainchip speichert Plus und Minus-Punkte über deinen Lebensstil. Dazu gehören unter anderem ausreichend Schlaf, Ernährung, Stress und Sport. Je mehr Plus-Punkte
du hast, desto höher wirst du in der Prioritätenliste bei Ärzten und Krankenhäusern gereiht. Gut, bei so einem schlimmen Unfall wie mir vor zwei Jahren wäre das egal gewesen. Aber bei
„vermeidbaren Gesundheitsproblemen“ kann man schon mal 2 Wochen auf einen Termin warten, da man in der Prioritätenliste ganz unten im System eingereiht ist. Die Firma meines Vaters hatte da sogar
noch eines draufgesetzt. Zwei Stunden in der Woche ist Sport in der Arbeitszeit zu machen. Dafür bekommt die Firma staatliche Förderungen. Ein Arbeitsmediziner ist vor Jahren draufgekommen, wie
viel Budget dadurch zusätzlich im Gesundheitswesen eingespart werden konnte. Wäre schön, wenn ich für zwei Stunden Sport in der Woche auch Ausbildungspunkte für mein Studium bekommen würde. Aber
ja, da sind wir leider noch sehr konservativ. Ich merke ich schweife wieder ab. Zurück zum heutigen Tag. Wenige Stunden später läutete es schon an der Türe und meine Oma trällerte mit Kuchen und
Sekt herein. Auch meine Nachbarn, sprich meine besten Freunde, waren auch bald da. PingPing machte es im Esszimmer und per Holoplatte schalteten sich auch zwei meiner Unikollegen und mein Vater
virtuell dazu. Die real anwesenden stießen mit Sekt und den Worten „Auf deinen zweiten Geburtstag! Möge es keinen dritten geben“, an. Kaum genossen wir ein Stück von Omas köstlichen Kuchen,
fingen alle Brainchips vor dem Zucker warnend zu piepsen an. Schallendes Gelächter bricht aus. „Imma des neimodische Zeig. Da vergeht an jo der Appetit“, fluchte meine Oma und das Gelächter ging
weiter. Jaja, kein Fortschritt ohne Wehrmutstropfen. Andererseits stehen die Chancen gut, dass genau durch dieses „neimodische Zeig“ meine Oma so wie die meisten Menschen hundert Jahre oder älter
werden. Nach dem deftigen Kuchen gingen wir spazieren. Natürlich begleitete uns meine Oma. Wir kamen dann zwar nicht mehr zu Wort, aber das sei ihr gegönnt. Wenn wir so durch Wien spazierten,
erzählte sie immer von früher, wie es hier ausgehsehen hat. Ihre Generation hat damals gegen die Versiegelung der Stadt gekämpft. Jaja, diese kleine dickköpfige Frau ging in die Politik. Aber
nicht um heiße Luft zu diskutieren. Nein. Meine Oma war und ist ein absoluter Zahlenfreak. Sie und ihre Aktivistengruppe hatte mit den richtigen Leuten in Wien und ganz Österreich diskutiert und
aufgerechnet, was man an Energiekosten einsparen könnte, wenn man jegliche unnötige Versiegelung durch Grünflächen bzw. Bäume ersetzen würde. Die Euros haben Eindruck gemacht und man begann, nach
und nach überflüssige Asphaltflächen abzubrechen und zu begrünen. Wenn meine Oma mir Fotos von der Kärntnerstraße 2070 zeigte, völlig zugepflastert, konnte ich es fast nicht glauben. Heute
gleicht sie einem Park zwischen alten Häusern. Durch solche Maßnahmen wurde die Temperatur in der Stadt angeblich um 4Grad im Jahresschnitt gesenkt. Ein weiterer Durchbruch waren dann die
Hoverhikel. Es gibt heute pro Richtung nur noch einen asphaltierten Fahrstreifen für die Oldtimer bzw. falls doch das Stromnetz einmal zusammenbricht. Der Asphalt ist zu glatt für die schwebenden
Autos. Durch das Gras haben sie eine optimale Bremswirkung. Auch diese Entwicklung brachte weitere 2 Grad Abkühlung in der Stadt. Die Energiekosten der Klimaanlagen konnten dadurch ebenfalls
verringert werden. Die Stromheizungen im Winter sind da weit günstiger. Genau heute würde ich mir die Erderwärmung von damals fast schon wieder zurückwünschen. Obwohl die Sonne schien, hatte es
nur 8 Grad. Eigentlich für November normal, aber ich habe es lieber etwas wärmer. Tja, kein Vorteil ohne Nachteil! Heldenhaft schilderte meine Oma, wie sie und ihre Generation für uns die Welt
gerettet hatten. Einfach entzückend! Auch Pluto schien von ihren Erzählungen fasziniert und trabte freudig neben uns her! Dadurch wurden wir auch ein bisschen schief angesehen. Schließlich gibt
es mittlerweile überwiegend Roboterhunde. Ja, diese sind auch herzig und kuschelig. Auch die Charakterzüge lassen sich beinahe realistisch programmieren. Jetzt einmal ehrlich: Genau das
unvorhersehbare liebe ich an meinem Hund. Hundehaare und Allergien hin oder her. Wir machen unter einer U-Bahnbrücke kurz Pause. Auch hier ist in den letzten Jahren ein Park entstanden. Warum wir
gerade hier Pause machten? Weil es an diesem Platz einen der wenigen Getränkeautomaten in Wien mit Sekt gab. Zur Freude meiner Oma. Kaum saßen wir, packt sie schon die Pappbecher aus. Ja,
geschmacklich vielleicht nicht das Beste, aber ein bisschen Superoldschool musste auch sein. Ich öffnete die Flasche und griff nach einem der Becher. „Geht das schon mit deiner Hand?“, fragte
einer meiner Nachbarn. „Ja, die Koordination meiner Hand ist beinahe schon perfekt“, erkläre ich selbstsicher. Zugegeben, ich habe mich wirklich konzentrieren müssen. Aber die Nerven sind
tatsächlich schon gut verwachsen und mit ein bisschen Ruhe hatte ich ohne Patzer allen eingeschenkt. Lautlos stießen wir wieder an, bis die Brainchips wieder warnend aufgrund des Alkoholgehalts
zum Piepsen begannen. Hoffentlich gibt es irgendwann ein Update, mit dem man diese Warnungen ausschalten kann. Nachdem mir die Kälte bald in meine rechte Hand kroch, machten wir uns auf den
Rückweg. Pluto tollte neben uns her. Ich vermute, auch er wird heute Nacht gut schlafen. Daheim empfing uns meine Mutter schon mit heißem Tee und einer vegetarischen Lasagne aus
Linsenteigblättern. „Nach Omas Rezept“, schmunzelte sie. Wüsste meine Oma, dass da weder Fleisch, noch echter Käse drinnen ist, würde sie es aus Prinzip nicht essen. Darum verschwiegen wir ihr
diese Information. Ich selbst schmeckte kaum einen Unterschied zwischen Omas Lasagne und der gesunden Variante meiner Mutter. Dennoch blieb es besser unser gut gehütetes Geheimnis. Während dem
Essen schaltete sich auch mein Vater wieder visuell dazu. „Du brauchst di gorned scheinheilig dazuaschoiten. Waratst persönlich do, hätt dei Bua mea vo dir. Oda gibt’s jetzt a scho spüabore
Umormungen per Holo?“, schimpfte meine Oma. Auch wenn alle lachten, hatte meine Oma Recht. Ich weiß mein Vater arbeitet viel und die Möglichkeit der 3D Meetings sparen uns allen viel Fahrzeit.
Wobei die Normalarbeitszeit in den letzten Jahren sogar um 4 Stunden angehoben wurde. Aber gegengerechnet mit den 10 Stunden pro Woche Fahrzeit meiner Großelterngeneration, hat man theoretisch
dennoch 6 Stunden weniger Zeitaufwand für einen Vollzeitjob. Sogar die Polizei ist schon so digital in ihrer Überwachung, dass sie nicht in jedem Dienst in Person anwesend sein muss. Trotz allem
fehlt mir mein Vater. Auch wenn wir uns beinahe jeden Tag zum Frühstück visuell sehen. Meine Mutter nahm ihn auch heuten wieder in Schutz. Die Oma kann schon sehr direkt sein. Das tat der
Stimmung heute jedoch nichts. Nach dem Abendessen verabschiedete sich meine Oma mit den Worten „Die Jugend soi ned mit so ana oiden Schachtl feiern! Owa feierts no ordentli. Du host schließlich
nur zwamoi im Joar Geburtstog. Pass auf auf di Bua“. Ich sah meinen Nachbarn an, wie sehr sie sich konzentrieren mussten, um meine Oma zu verstehen. Auch wenn sie von klein auf akzentfrei Deutsch
sprechen lernten, mit Dialekt können sie noch nicht ganz umgehen. Einfach herzig! Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Wir haben viel gelacht, gegessen und wie von der Oma elegant
befohlen, doch noch das eine oder andere Glas Wein und Sekt getrunken. Irgendwann fiel uns das Warngepiepse der Brainchips nicht mal mehr auf. Gegen Mitternacht wackelten sie dann aus der Türe
und polterten nach Hause. Ich half meiner Mutter, so gut es in meinem beduselten Zustand ging, noch beim Aufräumen. Dementsprechend tollpatschig brachte ich meine Mutter immer wieder zum Lachen
und wir hatten es noch bis 2 Uhr morgens sehr lustig. Ein paar Gläser gingen leider zu Bruch, aber darum kümmerte sich wieder der Hausroboter. „Wilich paktisch do ein Loboter“, lallte ich bereits
dahin. Meine Oma wäre stolz auf mich gewesen. Als wir fertig waren, umarmte mich meine Mutter noch mit den Worten „Alles Gute zu deinem zweiten Geburtstag“. Danach zog mich Pluto die Stiegen
rauf. Zum Glück, denn ich wäre ohne ihn in meinem Zustand vermutlich wieder Stufen hinunter gepoltert. Das Zähneputzen lies ich mir kurzerhand vom Haushaltsroboter machen und danach fiel ich wie
ein menschlicher Stein ins Bett. Dennoch konnte ich nicht gleich einschlafen. Egal wie müde ich war, ich musste noch meine Übungen für die rechte Hand machen. Es rinnt mir auch nach zwei Jahren
kalt über den Rücken, wenn ich an die ersten Versuche meine neue Hand zu bewegen denke. Ich konnte meine Hand nur langsam drehen. Heute bewege ich jeden Finger einzeln und das beinahe schon so
schnell wie von meiner linken Hand. Zum Glück hatte ich bei meinem Unfall so einen Schock, dass ich nichts mehr davon weiß. Jedoch werde ich die ersten Minuten nach dem Aufwachen der Notoperation
wohl niemals vergessen, als mir ein Team von Ärzten mitteilte, was passiert ist. Meine rechte Hand konnte von ihnen nicht gerettet werden. Vorerst! Aufgrund meiner Körpervermessung zum 18.
Geburtstag, konnten meine Knochen nachgedruckt werden. Im Labor gezüchtete Haut, hängen schon seit Jahren wie Stoffbahnen in den Spitälern. Durch das großartige Ärzteteam und viel Training bekam
ich zum einen die zweite Chance zu leben und zum andern wieder meine rechte Hand. Von nun an feiern meine Familie und meine engsten Freunde nicht nur meinen Geburtstag vor 20 Jahren, sondern
meinen zweiten Geburtstag, als ich nach dem Unfall und der Notoperation wieder aufwachte. Wer nichts vom Unfall weiß, denkt bestimmt, dass ich einfach etwas tollpatschig mit der rechten Hand bin.
Ich bin so, ich kann es nicht beschreiben, glücklich, dankbar, demütig? Ich weiß es nicht. Einfach alles zusammen, dass ich nicht nur noch auf der Welt bin, sondern auch wieder als ganz normaler
junger Mensch leben darf! Liebes Tagebuch, ich wünsche mir noch ganz viele weiterer solche Einträge und hoffe, dass dein Speicher niemals voll wird. Gute Nacht!
ENDE
Beitrag 71
Flaschenpost
13. Januar 2150
Weshalb ich heute mit einem Tagebuch beginne? Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich die dahinfliegenden Tage verknüpfen will mit etwas Zeitlosem. Verknüpfen mit den Welten anderer Tagebuchschreiber aus anderen Zeit-und Lebensräumen, Fäden spinnen, von denen niemand weiß, wen sie erreichen und wie sie weitergesponnen werden. Wie damals unsere Vor-, Vorfahren, die abends in ihre Teppiche die Farben des Himmels und des Sandes hineinwoben, während sie mit der Karawane durch die Wüste zogen.
Ich lebe in Windarini, in einem der fünf Weltzentren am Rande einer Steppe. Wie in allen Weltzentren befindet sich auch in unserer Stadt ein Sitz für die Weltpolizei, für das Weltgericht und das Weltparlament. Heute Morgen erklärte uns der Lehrer, dass die Stadt Windarini unweit der Steppe Serengeti gelegen sei, wo vor Jahrmillionen die ersten Hominiden lebten und auszogen, die ganze Welt zu bevölkern. Vielleicht bewog mich die Nähe zu der Wurzel der Menschheit dazu, mit dem Tagebuch zu beginnen. Und wer weiß: In hundert Jahren wird es vielleicht einmal als Zeugnis unserer Zeit gelesen.
16. Januar 2150
Ich studiere Schaulogik. Wenn ich diese Disziplin Menschen erkläre, die im Garten oder auf Plantagen arbeiten, benutze ich das Bild eines Zimmers, in das durch verschiedene Fenster Licht strömt, das in der Mitte zu dem einen Licht wird. Nach dieser Idee ist auch der Campus gebaut: Die wabenförmigen Gebäude, die in ihren Farben dem Palmgarten und der Steppe im Hintergrund angepasst sind, lassen von überall her Licht hereinströmen und in deren Mitte steht ein Springbrunnen. Zu welcher Zeit wir uns in welchem Gebäude einfinden, spielt keine Rolle. Die Lernpläne sind fließend und nicht der Funktionalität, sondern der Ordnung der Stille angepasst. Bei der Begrüßungsrede vor drei Jahren sagte die Leiterin des Campus, wir seien die fleißigen Bienen des Wissens, die den Honig für jene Menschen sammelten, die in gesellschaftliche Pflichten eingebunden kaum Zeit für Kunst, Wissenschaft oder Ethik hätten und deshalb auf unsere Arbeit angewiesen seien.
Aber ich lasse mich zu sehr ablenken von äußeren Strukturen und Begebenheiten, dabei will ich beschreiben, was an in mir geschehen ist diesem 16. Januar …
17. Januar 2150
… aber vielleicht komme ich auch heute nicht dazu, weil etwas äusserst Irritierendes vorgefallen ist. Ich lag mit meinem Freund auf dem Bett, beide auf dem Rücken, nebeneinander. Er studiert Sport und ist ein hervorragender Tennisspieler. Er erzählte mir, wie es sich anfühlt, wenn die Filzkugel auf dich zufliegt, du in Sekundenbruchteilen Geschwindigkeit und Flughöhe ermisst, um ihr den gewünschten Drall und die gewünschte Richtung ins andere Feld zu geben, den Aufprall auf dem Schläger spürst, der sich über den Arm auf den Körper überträgt, in dem sprungbereit die nächste Bewegung lauert, je nach Antwort des Gegners … erzählte so eindringlich, dass ich mit jeder Muskelfaser mitging – als er plötzlich seine Hand auf mein Glied legte.
Ich empfand Lust und Widerwillen zugleich: War das nicht ein Übergriff? Er bemerkte mein Stocken und zog seine Hand zurück. Schweigend lagen wir nebeneinander, versuchten, das Schweigen mit Worten zu überwinden, doch es war zu dicht geworden. In der Sprachlosigkeit tat sich ein Riss auf. Er verabschiedete sich mit den Worten: "Jetzt fühle ich mich schuldig."
24. Januar 2150
Gestern schaute ich mir ein Tennisspiel von ihm an. In der Begegnung danach knarzte es. Was früher selbstverständlich erschien, verstand sich jetzt selbst nicht mehr. Im Bruch entstanden Zwischenräume für Missverständnisse. Brüche heilten am besten, wenn sie ruhig gestellt würden, sagte meine Mutter. Aber ich habe Angst, dass er gar nicht mehr heilt, in Entfremdung mündet.
An der Universität behandelten wir die Bewegungen der tektonischen Platten in den letzten hundertfünfzig Jahren. Kalifornien, Süditalien mit den Äolischen Inseln, Teile Indonesiens sowie Singapur und auch Japan sind von der Landkarte verschwunden, Belgien, Holland und die Malediven im Meer versunken. Den tektonischen Platten überlagert zeigte uns der Professor die Kartografie der Bewusstseinsentwicklung. Die meisten Erdteile befinden sich auf der mystischen Stufe, jedoch besonders auffallend: Europa ist auf der rationalen Ebene in hedonistischer Selbstbespiegelung stecken geblieben. Der Professor meinte, übermässige Produktion sowie übermässiger Konsum hätten zu einer Verengung des Bewusstseins geführt. Interessant war auch die Kartografie der zwischenmenschlichen Wärme, die vor allem über den USA und Europa Flecken kalten Blaus zeigte.
28. Januar 2150
Ich habe zum ersten Mal mein Tagebuch durchgelesen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich den Nachtrag vom 16. Januar beinahe vergessen hätte. In allen Disziplinen an der Universität ist Meditation ein integraler Bestandteil. Ein Professor zeigte uns, dass die Meditation das Lernvermögen und deren Nachhaltigkeit gegenüber herkömmlichen Lernmethoden um über fünfzig Prozent steigerte. Aber jetzt bewege ich mich wieder auf Seitenwegen. In meiner Meditation vom 16. Januar geschah etwas Verwunderliches: In fließendem Atem kam mein Geist zur Ruhe. Die Kraft der Stille überwältigte mich, und das Licht, das mich durchströmte, war von solcher Intensität, dass die Grenzen des Ichs sich auflösten. Nach dieser Meditation wollte ich immer wieder dorthin zurück, aber es funktionierte nicht mehr. Solche Augenblicke können einem nur geschenkt werden.
15. Februar 2150
Mutter meint, mir fehle es an Körperlichkeit. Ich könne auf dem Weg der Meditation meinen Körper nicht einfach wie ein ausgedientes Fahrgestell zurücklassen. Vielmehr gehe es darum, den Körper mit seinen bittersüßen Erfahrungen, mit seinen Schmerzen und Lüsten zu integrieren. Ob ich das Gedicht von Sappho kenne, das sie im 7. Jahrhundert vor Christus geschrieben habe:
Und wieder Eros der mich bittersüß
biegt und beugt, dass ich mich winde
wie eine Schlange, die man nicht fängt
Sie befürchtet wohl, dass ich Eros und damit auch der Sexualität aus dem Weg gehen will, und lädt mich ein, mit ihr das Museum der zerbrochenen Lieben zu besuchen.
18. Februar 2150
Jetzt auch noch mein Vater! Er möchte, dass ich ihm im Garten helfe. Ich müsse doch wissen, woher die Nahrungsmittel kämen, nein, ich müsse es nicht nur wissen, sondern auch erfahren, erschwitzen! Auch er: Komm in deinen Körper, Junge! Als ob sie wüssten, was für mich richtig sei. Ich vermute, es steckt ihre Angst dahinter, die Menschheit könne aussterben. Seit über hundert Jahren gehen die Geburtsraten weltweit zurück, und zwar exponentiell. Es gibt politische Parteien, die Regierungsprogramme zur Belebung der Sexualität fordern. Sie möchten es wohl den Tannen im hohen Norden gleichtun, die kurz vor ihrem Absterben noch viele Zapfen hervorbringen. Wir Menschen sind doch keine Bäume! Mein Meditationslehrer sagt, je mehr der Mensch in seine Innenwelt zu integrieren vermöge, umso weniger Außenwelt sei nötig. Die von außen einwirkenden Kräfte werden innen zu mitwirkenden. Das leuchtet mir ein. Wir sind auf dem Weg der Involution, des Einfaltens, des Innewerdens. Teilhard de Chardin sagte vor über zweihundert Jahren, der Mensch gehe auf Gott zu.
25. Februar 2150
Gestern – nein, es muss vor drei Tagen gewesen sein, denn ich war ja noch krank – kam mein Freund zu mir mit einer Flasche Rotwein. Dichter und Mystiker wie Hafis und Rumi hätten auch gerne Wein getrunken, dann könne er für uns nicht schlecht sein, meinte er. Tatsächlich. Die in den Trauben verdichteten Sonnenauf- und Untergänge setzten sich in uns zur Ruhe. Der Geschmack des Zeitlosen. Der Bruch zwischen uns fühlte sich geheilt an – oder wenigstens unbedeutend. Im Schweigen zwischen uns lag keine Sprachlosigkeit mehr, sondern Weite für frei schwebende Gedanken. Liebe? Wir rauchten Marihuana und schauten in den nachtblauen Himmel. Palmwedel im Wind rührten im Funkeln der Sterne. Plötzlich schien mir, dass aus der Palme Sterne über den ganzen Himmel versprühten. Eine unversiegbare schöpferische Kraft lag in ihr, in den Palmen daneben, in den Wabenhäusern, im Balkongeländer, im Freund neben mir … Da wurde mir schlecht. Ich wankte zur Toilette und erbrach mich. Wollte wieder aufstehen, verlor das Gleichgewicht, fiel hin, versuchte, mich zu fokussieren, doch alles wankte, auch in mir, im Kopf, jeder Gedanke wankte, der Wille wankte, jede Entscheidung versank im Wanken … Wann mein Freund gegangen ist, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass mein Vater stets neben mir sass, wenn ich aus meinem Dämmerzustand kurz erwachte.
12. März 2150
Die Weltpolizei hat in Nordkorea wegen Verletzung demokratischer Rechte interveniert. Es gab Tote. Die nordkoreanische Regierung zieht den Fall vor das Weltgericht, die öffentliche Meinung spaltet sich: Die einen finden, die Intervention sei zu rigoros ausgefallen, vor allem habe sie Menschenrechte verletzt, die sie eigentlich schützen wolle. Die anderen sind der Meinung, die Weltregierung habe schon lange genug mit der nordkoreanischen Regierung diskutiert. Diese würde eine andere Sprache als jene der Gewalt nicht verstehen. Sozialpsychologen vertreten die Ansicht, Nordkorea befände sich auf der mythologischen Stufe und dementsprechend müsse in der Kommunikation der richtige Ton gefunden werden.
Düstere Zeiten. Auch das Weltparlament ist in zwei Lager gespalten. Die einen meinen, der Artikel über das "Recht zu lieben und geliebt zu sein" sollte gestrichen oder an Bedingungen geknüpft werden, die ein bestimmtes Mass an Leistung forderten und das Einhalten gewisser Verhaltensregeln verlangten. Die anderen vertreten die Ansicht, dass Verletzungen dieses Rechts zu nachhaltigen Störungen führen könne.
Düster ist es auch in mir. Meinen Freund habe ich seit jener Nacht nicht mehr gesehen. Ich fühle mich wie am Boden zerschmettert. Finde meine Einzelteile nicht mehr, bringe nichts mehr zusammen. Der Geist fegt wie ein Tornado über mich hinweg. Eine zerstörerische Kraft erwacht in mir. Meditieren, ha! Innerer Friede, ha! Ich verstehe mich ja nicht einmal mit meinen Eltern oder mit meinem Freund!
Düster ist es auch Zuhause. Meine Eltern machen sich Sorgen um mich.
23. März 2150
Ich bin krank. Vater meint, ich solle mich abklären lassen. Ich sitze also in einem Raum von Androiden, die sich gegenseitig auf den aktuellsten Stand medizinischen Wissens bringen. Sie sind die Engel der Rationalität. Ich werde mit Hunderten von Diagnosen belegt, von der Sexualphobie bis zur Phantasmagorie. Aber das Schlussgespräch mit dem Arzt ergibt, dass keine eindeutige Diagnose vorläge und weitere Abklärungen notwendig seien. Auf diese verzichte ich. Mein Meditationslehrer sagt, es gebe nur eine Krankheit, und diese sei, sich getrennt zu fühlen von dem Einen. "Wie finde ich heraus, dass ich von dem Einen getrennt bin, wenn ich es nur von einem kurzen Aufleuchten her kenne?", frage ich ihn. Seine Antwort: "Indem du den eingeschlagenen Weg weitergehst."
25. März 2150
Mutter schlägt mir eine Reise nach Europa vor, zuerst ins Kriegsmuseum in der Ukraine und danach das Museum der zerbrochenen Lieben in Paris. Wer nach dem Göttlichen strebe wie ich, müsse auch wissen, woher er komme. Dass ich existiere, mit Knochen, Fleisch und Geist, habe auch mit meinen Vorfahren zu tun. Was sie gedacht, wofür sie gekämpft, was sie durchlitten hätten, davor gelte es sich zu verneigen.
Sie will mit dem Vaku reisen, einem durch unterirdische, vakuumierte Röhren rasenden Zug, der kaum Energie verbraucht.
12. April 2150
In Europa ist es kalt. Nicht nur das Wetter, sondern auch die Menschen. Obwohl alles auf Effizienz getrimmt ist, sind die Menschen hier äußerst ineffizient, weil sie stets das Gleiche herstellen, in Produkten, Worten und Ideen. Kreativität besteht für sie darin, von anderen Kulturen etwas zu kopieren und in die eigene zu übertragen. Aber nicht nur das drückt auf die Stimmung. Wir vernehmen, dass die reichsten Milliardäre planen, sich auf den Mars zurückzuziehen, da sich die Ressourcen auf der Erde bald erschöpfen.
13. April 2150
Die spärlichen Steppengräser summen leise im Wind. Bombenkrater. Patronenhülsen. Leere, schreiende Leere. Es riecht nach verbrannter Erde. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kriegsmuseums erklärt uns, die Erde sei so verseucht, dass nichts mehr auf ihr wachsen könne. Sie führt uns zu einem ausgebrannten Panzer. „Ihr dürft hineinschauen“, sagte sie. Alle zögern. Ich steige auf den Panzer und krieche durch die Luke hinein. Sehe den Fahrersitz, die Schalthebel – da erwachen sie wieder zum Leben, die ganze Besatzung erwacht zum Leben, ich rieche ihren Schweiß, spüre ihre rasenden Herzen. Sie fahren durch explodierende Bomben, Gewehrsalven, vor ihnen steigt schwarzer Rauch auf – die Hölle. Ich bin noch ganz benommen, als ich zurück zu den andern gehe. Es sei Aufgabe der Kunst, sagt die Museumsmitarbeiterin, geschichtliche Phänomene erfahrbar zu machen und mit den Werten von damals zu verknüpfen.
"Werte?", wehre ich mich, "Entschuldigung, was hat das hier mit Werten zu tun?"
Die meisten Soldaten hätten an den Mythos geglaubt, der ihnen vermittelt worden sei, nämlich dass das andere Volk minderwertig sei und das eigene bedrohe, entgegnet sie. Heldentod für das eigene Vaterland sei einer der höchsten Werte gewesen. Aber auch Schutz der Frauen und Kinder sowie Gerechtigkeit seien ins Feld geführt worden, wobei mit Gerechtigkeit natürlich die eigene Gerechtigkeit gemeint gewesen sei. Wir könnten nun rund hundertdreissig Jahre zurückblicken und das Geschehen von einer Metaebene betrachten. Damals habe der Kampf zwischen Aristokratien und Demokratien gewütet, der dank einer Überraschung eine glückliche Wende genommen habe.
14. April 2150
Ich habe heute an der Hotelrezeption einen Brief erhalten, einen von Hand geschriebenen Brief! Ich konnte es kaum erwarten, ihn zu öffnen. Meine Mutter wollte mit mir noch über den Museumsbesuch sprechen, doch ich zog mich in mein Hotelzimmer zurück. Mein Freund. Er sei einem anderen Mann begegnet. Es sei sehr schön gewesen. Er habe sich … Ich übersprang Zeile um Zeile, bis ich auf das Wort stieß: verliebt. Er hoffe, dass … Er wünsche mir … Ich legte den Brief zur Seite und wagte es kaum, mir zuzugestehen, dass … ich mich erleichtert fühlte.
15. April 2150
Das Erlebnis auf dem Schlachtfeld hallte noch lange in mir nach. Der Resonanzraum, den ich den Soldaten gab, half mir, in sie hineinzugehen. Ich roch das Maschinenfett, die Militärkleider, spürte ihr Herz schlagen, fühlte ihre Angst, ihren Mut, ihren Willen und sah in der Ferne ein schwach schimmerndes Licht: die Überzeugung, das Richtige zu tun.
"Sich in andere Menschen einfühlen ist die Basis des Transpersonalen", sagte meine Mutter.
"Aber wie werde ich die Enge, die Verzweiflung, die alles zerfetzenden Explosionen wieder los?"
"Du kannst das nicht loswerden. Du kannst nur loslassen."
Wir schwiegen lange. Am Horizont sahen wir den Lichtstrahl einer startenden Rakete. Der erste Milliardär, der auf den Mars floh? Oder ein wissenschaftliches Raumschiff, das nach Erkenntnissen forschte, die für die ganze Menschheit wichtig waren?
"Stell dir all die Menschen vor", begann meine Mutter, "die vor uns da waren und ohne die wir nicht da wären: Was sie durchlitten haben! Was sie alles zurücklassen mussten, an geliebten Menschen, an Unerfülltem, Unvollendetem. Glaubst du, das ist verschwunden? Oder wirkt es im Feinstofflichen weiter? Ich weiß es nicht. Ich glaube aber, dass die Liebe die Essenz des Loslassens ist."
Jetzt sitze ich am Tisch meines Hotelzimmers und versuche zu verstehen. Das Transpersonale lässt sich nicht in Worte fassen. Ich kann wohl sagen, es ist die eine Person, die in allen aufscheint. Aber ohne dass es mit eigenen Erfahrungen gefüllt ist, bleibt es eine Worthülse. Worte können als Wegweiser dienen, den Weg aber muss ich selber gehen.
15. April 2150 Mitternacht
Ich kann nicht einschlafen. Ich habe vergessen, etwas Wichtiges nachzutragen. Die überraschende Wende im Kampf zwischen Demokratien und Aristokratien ereignete sich im Jahr 2025, als eine Frau in Moskau rote Nelken verschenkte zum Gedenken an die gefallenen Soldaten. Es folgten ihr eine zweite, dritte Frau, immer mehr Frauen verschenkten rote Nelken, auch in anderen Städten. Noch bevor der damalige Präsident Russlands, Putin, das Subversive der Bewegung erkannte, war seine Macht bereits unterhöhlt. Der Wunsch des Menschen nach Selbstbestimmung, die mit der Verantwortung einhergeht, sich für die Selbstbestimmung anderer einzusetzen, hat sich seinen Weg gebahnt.
17. April 2150
Wir fahren mit dem Vaku, der seit dreissig Jahren überall auf der Welt gratis ist, bis zum Museum der zerbrochenen Lieben, steigen aus und betreten das weiträumige Gelände mit Gärten und Gebäuden, die in geometrisch klaren Formen von Licht durchflutet sind. Gemeinsam schlendern wir durch das Museum, Mutter etwas langsamer, als könnte sie tiefer eintauchen in die Lebenswelten anderer Menschen, die zum Teil mehr als zweihundert Jahre zurücklagen. Wir stoßen auf eine zerbrochene Vase, aus deren Brüche und Öffnung Gräser und Blumen wachsen. Auf eine mächtige Buche, auf der ein eingeritztes Herz in der nachwachsenden Rinde zu versinken droht. Auf eine Fotografie mit einer eingestürzten Brücke, an dessen Geländer knapp über dem Wasserspiegel ein herzförmiges Schloss hängt mit der Aufschrift "E + L for ever".
"Was im Kleinen heilt, wirkt im Großen nach", meint Mutter. Da ich schon lange auf eine ihrer Belehrungen lauere, um mich von ihr trennen zu können, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen. Wir vereinbaren, uns in zwei Stunden in einem Café wieder zu treffen. Alleine werden meine Schritte langsamer. Auch mein Atem. Ich spüre den Wind auf Handrücken und Wangen. Bin ich eine Skizze des Windes? Ich fühle eine Durchlässigkeit zwischen außen und innen als wäre ich ein hauchdünnes Membran, auf dem sich die Zeitläufe wie flüchtige Schatten abzeichnen. Da stehe ich vor einem Gedicht:
Même à respirer la douleur
A envier le sort des pierres
Le soir viendra toujours
Le rêve le sommeil ou l'oubli
Et au petit matin sur la plage
Les cailloux que retourne la mer
Ne font plus tout à fait le même bruit
13. novembre 2024
Ich verstehe jedes Wort, obwohl ich kein Französisch kann. Wobei verstehen der falsche Ausdruck ist. Ich kann die Worte trinken, spüren, riechen, ich kann die Textur der Wolken lesen an jenem 13. November 2024. Ich war damals dabei, ganz bestimmt. Was ich jetzt lebe, ist mein zweites Leben.
22. April 2150
Wieder zurück in Windarini. Noch immer überwältigt vom Erlebnis im Museum. Ich spüre den Schmerz wie damals vor hundertdreissig Jahren. Wer war ich, wer war die Geliebte? Die Steine beneiden, weil der Trennungsschmerz so groß ist. Der Trost, dass der Schmerz sich abträgt im Rauschen der Wellen, dass die Welt eine andere sein wird mit jedem Mal, da sich die Steine in den Wellen drehen. Ich spüre, dass unter dieser Narbe eine große Liebe verborgen liegt.
21. Juni 2150
Ich lasse das Tagebuch ruhen, meditiere. Manchmal tauche ich ein in einen großen Strom des Friedens, der um die Erde fließt.
13. November 2150
Heute sind es genau 126 Jahre her seit jener schmerzhaften Trennung. Ich habe mich entschieden, mein Tagebuch zu veröffentlichen, es als Flaschenpost hinaus auf das Meer möglicher Empfänger zu werfen. Vielleicht bekomme ich eine Antwort, vielleicht ist da jemand, mit dem ich den Schmerz teilen und heilen kann. Und wenn nicht? So oder so, ich will den Weg nach innen weiter gehen.
ENDE
Beitrag 72
Hoffnung oder Zorn?
Liebes Tagebuch
So hat man wohl vor über hundert Jahren angefangen, wenn man seine Gedanken ordnen wollte. Bevor es soziale Medien und andere Möglichkeiten gab, seine Meinung zu teilen. In einer Zeit, als es noch gebundene Bücher gab, in die man hineinschreiben konnte. Aber diese Zeiten liegen lange hinter uns. Mir bleiben nur ein paar Fetzen zusammen gebundenes Papier und zwei Stifte in der Hoffnung, dass sie ausreichen, um meine Gedanken niederzuschreiben. Falls man das Chaos in meinem Kopf jemals gänzlich einfangen könnte.
Vermutlich war der Vorschlag meiner Mutter, dass ich es auf diese Art versuchen sollte, ohnehin eine blöde Idee.
Dein Papier und die Stifte sind mein Geburtstagsgeschenk. Heute werde ich zwanzig Jahre alt. In der alten Welt hätte es vermutlich eine große Party und einen Ausflug mit der Familie bedeutet. Vielleicht auch eine neue Kamera, oder irgendeinen anderen technischen Schnickschnack als Geburtstagsgeschenk. Dazu noch eine riesige Torte und schrille Musik. Aber diese Zeiten sind vorbei (ein Satz, den du von mir vermutlich häufiger hören wirst). Vorbei sind auch die Zeiten, in denen man seine innersten Gefühle und Konflikte online mit der ganzen Welt teilte. Denn es gab weder Internet noch einen „Rest der Welt“. Jetzt gibt es nur noch mich, meine Gedanken und dieses zerrissene Stück Papier in meinen Händen.
Du fragst dich bestimmt, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Wenn ich es so genau wüsste, hätte ich es vielleicht verhindern können. Zumindest hätte ich die Leute warnen können. Nach meinem jetzigen Wissensstand kann ich dir jedenfalls nur so viel sagen: uns traf es völlig unvorbereitet.
In den Jahren vor meinem 15. Geburtstag war die politische Situation auf der ganzen Welt immer ein wenig angespannt gewesen. Die USA und die zweite Sowjetunion hatten sich immer mal wieder angenähert und dann wieder zerstritten. Je nachdem, was ihnen gerade besser in den Kram passte und welche Diktatoren grade regierten. Eigentlich ging es um Kleinigkeiten, wie Heiratspolitik oder diplomatische Fehltritte. Nur gelegentlich stritten sie um größere Dinge wie Exportzölle, Pressefreiheit oder wem welche Insel gehörte. Und diese Dinge waren meistens schneller wieder behoben, als die Nachrichtenagenturen mit ihrer Berichterstattung hinterherkamen.
Die Volksrepublik China hatte währenddessen halb Asien und den ganzen Kontinent Afrika durch fortschrittliche Technologien und “unternehmerfreundliche Arbeitsbedingungen” unter seine Kontrolle gebracht. „Unternehmerfreundlich" bedeutete in diesem Fall, dass Arbeitnehmer weder Rechte noch irgendeinen Schutz hatten und nicht selten Zwangsarbeiter waren. Leider hatte ich das als Teenager nicht wirklich verstanden. Die Propaganda bis zu uns ins Ausland ging so weit, dass ich meine Eltern mehrfach gefragt hatte, warum nicht jeder das chinesische Programm übernahm. Davon waren sie nicht sonderlich begeistert gewesen.
Wir hier in Europa konnten uns vor lauter rechten Sympathisanten und anderen Hardlinern kaum noch retten. Es zählten keine Inhalte mehr, sondern nur noch wer sein Parteiprogramm am lautesten Schreien konnte. Die Leute waren nach all den Jahren des Klimaschutzes dem Thema so überdrüssig geworden, dass sie lieber Faschisten wählten. So kam es, dass riesige Mauern um die Grenzen gezogen wurden, die nichts und niemand hinaus oder hinein ließen. Es fühlte sich an wie auf einer riesigen, abgekapselten Insel. Dumm nur, dass man damit nicht nur politische Flüchtlinge ausgesperrt hatte, sondern auch Akademiker und Facharbeiter, welche die schrumpfende Wirtschaft eigentlich dringend benötigte. Aber einen Fehler eingestehen und die Konsequenzen daraus ziehen? Nein, das wäre ja viel zu einfach gewesen. Es wurde noch ein wenig lauter „Weiter so!“, geschrien und damit waren angeblich alle Probleme gelöst.
Am Ende wusste keiner mehr, wer die erste Bombe geworfen hatte. Jede Nation hätte wegen irgendwas beleidigt sein können. Die Egos dieser Staatsführer waren alle ausgesprochen instabil. Zumindest war das für jeden deutlich, der die Nachrichten genauer verfolgte. Wegen der kleinsten Kritik gingen sie an die Decke, egal ob sie von außerhalb, oder aus ihrer eigenen Bevölkerung kam. Vermutlich war es in einer solchen Welt nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem Krieg kommen würde.
Du siehst also liebes Tagebuch, heute ist nicht einfach nur mein zwanzigster Geburtstag. Ich würde alles dafür geben, dass es so wäre, glaub es mir! Heute ist auch der Jahrestag von dem, was wir inzwischen hinter vorgehaltener Hand den Tag X nennen. Denn es hatte nur einen Tag gedauert. Kannst du dir das vorstellen? Dass es Waffen gab, welche die gesamte Zivilisation an nur einem Tag in Schutt und Asche zu legen vermochten?
Wir hatten gerade am Frühstückstisch gesessen, Hologramm geschaut und mein Vater hatte mir zur Feier des Tages extra einen Schoko-Donat beim Bäcker gekauft, als der Himmel sich mit einem Mal schlagartig gelblich verfärbte. Meine kleine Schwester, Maja, damals war sie acht gewesen, hatte noch gefragt, ob jemand vielleicht die Sonne zu weit aufgedreht hätte. Es sollte das Letzte sein, was sie je fragen würde. Keine bedeutenden, letzten Worte. Nein, einfach nur die unschuldige Frage eines noch unschuldigen Kindes.
Ich werde nie vergessen, wie plötzlich die ersten rabenschwarzen Rauchwolken am Horizont aufstiegen. Und plötzlich war da ein lautes, markerschütterndes Knallen, wie ein zu laut aufgedrehter Actionfilm. Dann hörte oder fühlte ich gar nichts mehr, nur noch ein großes, schwarzes Nichts. Ein Schleier, der sich nicht lüften wollte, egal was ich tat. Vermutlich hat mein Verstand eigenmächtig entschieden, dass Verdrängung besser als eine so schmerzliche Erinnerung ist. Vielleicht tauchen aber auch all diese Erinnerungen wieder auf, wenn ich nur lange genug weiterschreibe. Wenn du mir hilfst, all das Geschehene zu verarbeiten.
Jedenfalls bin ich einige Stunden später ohne Erinnerungen an das, was passiert war und mit Schmerzen am ganzen Körper in einem provisorischen Lazarett wieder aufgewacht. Dort hat man mir erzählt, dass nur meine Mama und ich wie durch ein Wunder überlebt hatten. Damals hatte ich es nicht glauben wollen. Mein Pa, der netteste Mann, den ich kannte und der beste Vater auf der ganzen Welt. Und die süße, kleine Maja. Der Hass der Welt, der zwischen Politikern, Völkern und Ländern, hatte sie in Stücke zerfetzt, wie ein Rudel hungriger Wölfe. Als wären sie Nichts. Als hätten sie nie existiert. Es war nicht einmal etwas von ihnen übrig geblieben, was wir hätten bestatten können. Durch die Wucht der Bomben, die Wucht des Hasses, waren sie zu Staub zerfallen.
So wie ihnen, war es auch unzähligen anderen ergangen. Die Leute aus dem Lazarett, die auch für unsere Rettung verantwortlich gewesen waren, hatten alles durchkämmt, was von der Stadt übrig war. Jeder vermisste jemanden, den er liebte. Am Ende fanden sie außer uns noch hundert weitere Überlebende. Hundert Überlebende in einer ehemaligen Millionenstadt. Jetzt schienen hier nicht einmal mehr Geister leben zu wollen. Es war, als hätten alle Seelen diesen Erdball endgültig verlassen.
Weißt du, liebes Tagebuch, auch wenn ich es nicht sollte, ertappe ich mich jede Nacht vor dem Einschlafen dabei, mich zu fragen, wer die Bomben geschickt hat. Wer konnte so eine Zerstörung wollen? Das war keine Kriegsführung mehr, sondern die strategische Ausrottung einer ganzen Spezies. Und wem war damit geholfen, wenn man sich selbst die eigene Lebensgrundlage entzog? Auch in den Nachrichten hatte es zuvor nicht eine winzige Bemerkung über einen drohenden Krieg gegeben. Nichts hatte auf einen Konflikt hingewiesen, der unser aller Leben für immer verändern würde.
Waren es die US-Amerikaner gewesen, die ohnehin immer schnell beleidigt waren und traditionell bessere militärische Ausrüstung als sogar China hatten? Oder hat Europa selbst den Krieg angefangen, umzingelt und stetig weiter unterdrückt von all den Großmächten? Oder jemand ganz anderes? Es gab so viele Möglichkeiten, dass es schon beinahe erschreckend war.
Ich weiß, dass Schuldzuweisungen an unserer Situation nichts ändern. Sie bringen weder meine Familie zurück, noch zaubern sie auf wundersame Weise unsere leeren, schmerzenden Bäuche voll. Aber ich möchte endlich wissen, wen ich für all das hier verantwortlich machen kann. Wem ich die Schuld an all dem geben kann und auf wen ich wütend sein darf. Die Frage brennt auf meiner Seele wie Alkohol auf einer offenen Wunde. Und ich möchte nicht sterben, ohne zu wissen, wer mir all dieses Leid angetan hat. Grauen, das ich kaum auf Papier zu bringen vermag.
Ja, wir haben überlebt. Du würdest vermutlich sogar sagen, dass wir Glück hatten, wenn du sprechen könntest. Aber ist es Glück, wenn die eigene Lebensweise dem Erdboden gleichgemacht wurde? Es gibt keine Häuser mehr, wie sie in der Zeit gebaut wurden, aus du der vermutlich stammst, nur noch Ruinen. Es gibt keine Felder mehr, die uns mit Lebensmitteln versorgen, sondern nur noch verdorrte Wüste. Es gibt nicht einmal sauberer Wasser so wie früher. Für jeden Schluck müssen wir Wasser erst durch mehrere Erdschichten filtern und dann anschließend abkochen. Und trotzdem waren bereits einige an Margen-Darm erkrankt. Nicht selten frage ich mich, wie wir es bis jetzt geschafft haben, zu überleben.
Es war allerdings tatsächlich Glück, dass sich unter den Überlebenden ein Jäger gefunden hat. Ohne ihn wären wir vermutlich kläglich verhungert. Aus den Fellen seiner Beute haben wir nach und nach Zelte gebaut. Er brachte uns ebenfalls bei, wie man Waffen baut und damit sogar schießt.
Irgendwie war es ironisch, dass nach den ganzen technischen Erfindungen die Menschheit wieder an ihrem Beginn stand. So, wie wir bereits vor tausenden von Jahren schon einmal gelebt hatten.
Liebes Tagebuch, wenn du dich mit Geschichte auskennst, kennst du doch bestimmt Albert Einstein, oder? Er hat vor zweihundert Jahren schon gesagt: „Ich bin mir nicht sicher, mit welcher Waffe der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“ Nur dass “sie” jetzt “wir” sind.
Zum Glück hast du keine Augen, denn diese Welt um mich herum sieht furchtbar trostlos aus. All das Gute ist aus ihr gewichen. Es gibt keine Farben mehr, denn die Bomben haben alles in ein aschgrau verwandelt. Es gibt kein Lachen mehr, denn all die Witze wurden von der Erdkugel gefegt. Es gibt keine Liebe mehr, denn sie hat keinen Platz beim großen Kampf um das Überleben. Diese Umgebung sieht aus wie das Hauptquartier eines ganz besonders furchtbaren Film-Bösewichts. Und ich erwarte jeden Moment, dass er um eine Ecke biegt und sich auch noch die Letzten von uns schnappte.
Maik, der Jäger, von dem ich dir erzählt habe, sagt immer, ich wäre eine hoffnungslose Träumerin. Aber bin ich hoffnungslos, weil ich daran glauben muss, dass alles eines Tages wieder zurückkehrt: die Farben, das Lachen und die Liebe? Bin ich eine Träumerin, weil ich daran glauben muss, dass alles im Leben, ganz egal wie schrecklich es auch ist, einen bestimmten Grund haben muss? Denn dieser Glaube ist das einzige, das mich grade aufrecht hält. Dieser Glaube ist das Einzige, was mich Tag und Nacht weiter machen lässt.
Wenn ich früher, als Kind daran gedacht habe, wie mein Leben mit zwanzig aussehen würde, hätte ich mir eine Studentenwohnung in einer anderen Stadt vorgestellt, vielleicht sogar zusammen mit einem gutaussehenden Freund, der mir jeden Morgen das Frühstück ans Bett bringt. Jetzt teilte ich mir den harten Boden eines Zeltes zusammen mit vier anderen Frauen, die mir ein paar Jahre zuvor noch völlig fremd gewesen sind, und meiner Mutter.
Es ist nicht alles schlecht, musst du wissen, auch wenn es sich gerade vielleicht so anhört. Unter all den Überlebenden habe ich zwei Freundinnen gefunden: Anja und Leah. Sie lieben gute Geschichten genauso sehr wie ich. Aber da fast alle geschriebenen Wörter und Filme ja sowieso in der Feuersbrunst zerstört wurden, erzählen wir uns gegenseitig die Geschichten, an die wir uns noch erinnern. Es ist nicht viel, aber eines der wenigen Sachen, die uns die Bomben nicht nehmen konnten. Wir halten uns an ihnen fest, wie an einem Rettungsring, der uns davor bewahrt, in der Trostlosigkeit zu ertrinken. Was auch immer passiert, die Geschichten leben in uns weiter. So wie meine Geschichte hoffentlich in dir weiterleben wird.
Ohne meine Mama, Anja und Leah würde ich vermutlich verrückt werden. Ich bin für dieses Leben, das wir jetzt führen, einfach nicht gemacht. Jeden Tag wandern wir ein Stück weiter am Rhein entlang, in der Hoffnung irgendwo mehr Tiere zum Jagen und vielleicht ein paar frische Pflanzen zu finden. Nicht einmal Giersch oder Brennnesseln haben wir bisher gesehen und das, obwohl der Tag X schon über fünf Jahre her ist und wir seitdem viele Kilometer hinter uns gebracht haben. Irgendwo muss es etwas geben, sonst würden uns nicht hier und da ein paar Hasen oder Wildschweine über den Weg laufen. Sie mussten eine Futterquelle gefunden haben, die uns zurzeit noch verborgen bleibt.
Mum heitert mich auf. Sie sagt immer, wenn wir erst einmal die Berge erreichen, wird alles besser werden. Dort haben die Bomben bestimmt nicht zugeschlagen. Dort ist die Welt noch in Ordnung, wie im Paradies. Und die Leute glauben ihr! Nicht nur ich, sondern auch all die anderen, denen sie Mut und Trost spendet in ihren dunkelsten Augenblicken.
Als ich ein Kind war, hatte ich mir immer gewünscht, eine Superheldin zur Mutter zu haben. Nicht, weil meine schlecht gewesen wäre, aber als Teenager war eine normale Mutter mir einfach als viel zu langweilig erschienen. Erst jetzt konnte ich sehen, dass sie die ganze Zeit eine größere Heldin gewesen war, als andere es je sein konnten. Eine viel größere Heldin, als ich jemals werde.
Sie trägt Kinder, die so müde sind, dass sie nicht mehr geradeaus laufen können, hilft den alten Krücken für ihre schlechten Beine zu bauen und ermutigt diejenigen, die jeden Mut verloren hatten.
Was würde ich dafür geben, um so zu sein wie sie! Und ich versuche es auch, jeden Tag aufs Neue. Immer wenn ich Alte oder Schwache sehe, versuche ich sie genauso aufmunternd anzulächeln, ihnen genauso unter die Arme zu greifen, genauso Mut zu spenden, auch wenn mir selbst der Mut fehlt. Wie soll man ihn auch finden, in einer Welt, die in Schutt und Asche liegt? In der jeder Tag ein ständiger Kampf ums Überleben ist.
Aber es gibt Tage, so wie heute, da will ich mit niemandem reden. An Tagen wie heute holen mich meine eigenen Dämonen ein. Dann verlässt mich all mein Lebensmut und ich wünsche mir, dass ich neben Papa und Maja gestorben wäre, anstatt hier in dieser Hölle auf Erden zu wandeln.
Ich weiß, ich sollte sowas nicht sagen. Aber wenn mir der Bauch vor lauter Hunger schmerzt und ich in die traurigen Augen meiner Mitmenschen sehe, wird mir das alles zu viel. Wie hatten das wohl die Menschen in längst vergangenen Tagen oder weit entfernten Ländern geschafft, diese Strapazen durchzustehen? Hatten sie sich auf das Gute, oder das Schlechte konzentriert? Auf ihre Hoffnung oder ihren Zorn?
Aber was ist der richtige Weg? Wo finde ich die Antwort? Und wie schaffe ich es, dass diese verdammte graue Umgebung: der graue Himmel, die graue Erde und die grauen Ruinen nicht mehr auf meine Stimmung schlagen? Seit diesem verhängnisvollen Tag habe ich nicht einmal mehr die Sonne gesehen. Es schien, als hätte sie der Erde den Rücken zugewandt. Natürlich musste sie da sein, denn es gab immer noch einen Unterschied zwischen Tagen und Nächten. Aber ein paar freundliche Sonnenstrahlen suchte man hier vergeblich.
Wenn du mir all diese Fragen beantworten könntest, wärst du vermutlich mehr als ein einfaches Notizbuch. Eher eine künstliche Intelligenz in Papierform. Aber das wäre ja Schwachsinn.
Oh man, für dich muss es sich wirklich anhören, als würde ich nur wirres Zeug von mir geben. Aber genauso fühlt sich mein Kopf seit fünf Jahren an. Seit dem Tag X. Warum kann ich mich an nichts erinnern? Sollte ich das nicht, war ich das meinem Vater und meiner Schwester nicht schuldig? Warum kann ich einfach nichts richtig machen?
Aber warte, grade in diesem Moment, in dem ich auf einem Felsen hocke und meine Gedanken mit dir teile, kann ich plötzlich etwas Rötliches am Horizont erkennen. Es verfärbt den ganzen Himmel.
Sind das weitere Bomben? Aber das würde bedeuten, dass es irgendwo noch Lohnendes gäbe, um es zu bombardieren.
Nein, das ist etwas anderes. Friedlich und wunderschön. Man liebes Tagebuch ich bin aber auch dämlich. Es ist der Sonnenaufgang. Der Erste erkennbare seit genau fünf Jahren. Kannst du dir das vorstellen? Ein echter Sonnenaufgang! Und auch wenn mir eigentlich nicht kalt ist, habe ich das Gefühl, meine Glieder würden nach einer Ewigkeit im Eis wieder auftauen. Ein wahrhaft magischer Moment.
Ist das vielleicht ein Zeichen? Nach all den Fragen, die ich dir gestellt habe, ist das vielleicht ein Symbol, dass man die Hoffnung nicht aufgeben darf, egal wie düster die Situation auch erscheint. Denn mit der Sonne kommt mit Sicherheit auch das Leben auf die Erde zurück.
Hier im Camp werden langsam auch die anderen wach, um dieses einmalige Schauspiel mitzuerleben. Sie reißen die Augen auf, schreien auf und fallen sich gegenseitig in die Arme. Und sie alle denken dasselbe wie ich: Wir haben überlebt! Wir haben das Schlimmste überstanden. Von nun an kann es nur noch besser werden.
Um mich herum werden Sachen zusammengepackt, Zelte gefaltet und Lebensmittel auf improvisierten Karren verstaut. Es herrscht ein geschäftiges, aber aufgeregtes Treiben. Meine Mutter steht dabei in der Mitte des Chaos und dirigiert das Ganze wie eine Künstlerin.
Und während ich hier diese Zeilen in dich schreibe, überkommt mich eine Gewissheit: Wir werden unser Paradies in dieser Hölle finden. Und wenn wir es nicht finden, werden wir es uns selbst errichten, Stein für Stein, wenn es sein muss. Die Menschheit hat es schon einmal geschafft, sich weiterzuentwickeln. Warum sollten wir das also nicht auch können?
ENDE
Beitrag 75
Wo bleiben die Kinder?
Nie wieder umziehen! Der Anblick der Umzugskartons, die sich in allen Räumen stapeln, macht Altea mutlos. Wie soll sie das jemals schaffen? Hätte sie eine Zeitmaschine, würde sie sich sofort in die Zukunft beamen lassen. Nicht weit in die Zukunft, nur zwei oder drei Monate. Dann würde sie den Kaffeeautomaten einschalten (den muss sie gleich auspacken), ihre Rosentasse aus dem Küchenschrank holen (in welchem Karton sind die Tassen bloß?), einen Kaffee zubereiten, sich an den aufgeräumten Tisch setzen und durch das saubere Fenster auf die Ahorne schauen, der dann schon dicke Knospen oder frische Blätter haben müssten. Wer weiß, vielleicht würde sie nicht allein am Tisch sein.
Eine Kaffeepause wird sie jetzt trotzdem machen, gerade weil um sie herum das Chaos herrscht. Der Kaffeeautomat ist schnell angeschlossen, einen Becher findet sie auch. Während der Kaffee durchläuft und seinen Duft verbreitet, zieht Altea eine Schublade im Küchenschrank auf und stutzt. Sie hat die Küchenmöbel übernommen, ist sich aber sicher, dass sie bei der Besichtigung der Wohnung alle Schränke untersucht hat. Wo kommt die Kladde plötzlich her? Altea nimmt das dicke Heft in die Hand und klappt es auf. Ihr Blick fällt auf die erste Zeile: 30. Juni 2150. Sie schüttelt den Kopf. Ist es der Anfang einer Erzählung oder eines Romans? Aber wer hat es geschrieben und wie kommt das Heft in den Küchenschrank? Hat es jemand von ihren Helferinnen und Helfern hineingetan und vergessen, wieder herauszunehmen? Sie kann sich nicht vorstellen, wer es sein könnte.
Der Küchentisch ist vollgestellt mit Schüsseln und Töpfen. Altea räumt eine kleine Ecke frei und setzt sich mit dem Kaffeebecher in der Hand an den Tisch. Sie blättert in der Kladde, such nach dem Namen der Verfasserin oder des Verfassers, findet aber nichts. Sie beginnt zu lesen.
30. Juni 2150
Endlich weiß ich, welches Datum heute ist. Ich bin seit drei Tagen hier, konnte mich aber nicht gleich orientieren, obwohl mir ständig jemand oder etwas Hinweise gibt oder mich ermahnt: Du solltest jetzt deinen Vitaminshake nehmen! Es ist Zeit für dein Fitnessprogramm! Als ich duschen wollte, klang die Stimme so streng, dass ich die Dusche sofort wieder verlassen hatte. Heute keine Dusche! Deine Duschtage sind dienstags und samstags! Ich weiß nicht, woher diese Stimme kommt – aus den Wänden? Bis jetzt habe ich keine Lautsprecher oder etwas in der Art entdeckt. Werde ich beobachtet? Eine gruselige Vorstellung.
Ich bin verwirrt. Offensichtlich bin ich in meiner Wohnung, aber alles ist so fremd. Meine zwei Zimmer, Küche, Bad und die Abstellkammer sind einem großen Raum gewichen, die Möbel stehen herum, als hätte sie jemand willkürlich verteilt. Zumindest kam es mir anfangs so vor, doch nach und nach merke ich, dass die Anordnung sehr sinnvoll und zweckmäßig ist. Vier Schränke dienen als Raumteiler. Sie sind nicht sehr groß, meine Sachen würde ich hier niemals unterbringen können. Im Kleiderschrank hängen nur einige Teile aus einem bunt schimmernden, sehr leichten, sich kühl anfühlenden Material. Es sind Ganzkörperanzüge mit Kapuze, sie liegen aber nicht eng an, sondern sind luftig und umhüllen den Körper wie ein Zelt. Ich muss dabei an Tschadors denken. Ich hoffe nicht, dass Frauen (oder alle Menschen?), hier verpflichtet sind, die gleichen Sachen zu tragen. Bis jetzt habe ich noch niemanden richtig gesehen. Früher (meine Güte, ich schreibe schon früher, obwohl es erst drei Tage her ist!), sah ich aus dem Küchenfenster und dem Wohnzimmer auf die stark befahrene Ahornallee, auf der anderen Seite war ein kleiner Garten, dahinter Reihenhäuser. Jetzt stehen auf beiden Seiten hohe begrünte Häuser, auf den Dächern und zwischen den Bauten wachsen Bäume. Eine Straße kann ich nicht erkennen, ich sehe weder Fußgänger noch Autos. Dafür schweben überall kleine fischförmige Flugobjekte, unten flitzen zwischen den Bäumen Minifahrzeuge, die ich nicht einordnen kann. Ich bin noch nicht nach draußen gegangen. Erst muss ich mich in der Wohnung zurechtfinden und versuchen herauszukriegen, warum ich so weit in der Zukunft gelandet bin. Ich wollte doch nur zehn Jahre nach vorne springen, das wäre 2024. Habe ich mich vertippt? Ich muss es gleich nachprüfen. Immerhin, jetzt weiß ich, dass die Welt noch existiert und es meine Stadt noch gibt - wenn sie es denn ist. Da ich schon mal hier gelandet bin, will ich mich natürlich umschauen. Es wird bestimmt spannend. Ganz geheuer ist mir das Ganze aber nicht. Was, wenn ich es nicht schaffe, in meine Zeit zurückzukehren? Was, wenn das Zeitgerät nicht richtig funktioniert? Wo ist es überhaupt?
Die Kaffeetasse ist leer, höchste Zeit weiterzumachen. Widerstrebend legt Altea das Heft zur Seite, steht auf und geht ans Fenster. Sie weiß es natürlich, aber sie will sich vergewissern. Da ist sie, die belebte Straße mit den Ahornbäumen. Altea spürt plötzlich eine Enge in der Brust, das Atmen fällt ihr schwer und obwohl es in der Wohnung kühl ist, spürt sie Schweiß auf ihrem Gesicht. Sie zögert einen Moment, bevor sie sich zwischen den Kartons ins Wohnzimmer durchschlängelt. Die zwei großen Fenster geben den Blick frei auf die Reihenhäuser.
Das kann nicht sein, denkst sie. Ich bin einfach übermüdet, mein Gehirn spielt verrückt. Ich brauche eine längere Pause.
Sie setzt sich wieder an den Tisch, trinkt einen Schluck Kaffee, und da fällt ihr eine Erklärung ein: Die Person, die dieses Tagebuch geschrieben hat, kennt die Wohnung. Altea muss sich erkundigen, wer hier vorher gewohnt hat. Sie hat die Vormieter nicht kennengelernt. Die Wohnung hat eine Weile leer gestanden.
03. Juli 2150
Es ist so anstrengend! Es kostet mich viel Kraft, mich in dieser fremden Umgebung zurechtzufinden, obwohl es anscheinend meine alte Umgebung ist. Ich kann aber fast nichts Vertrautes finden. Vermutlich würde es mir nicht anders gehen, wenn ich mich in ein Dorf im afrikanischen Busch verirrt oder mich einer Nomadengruppe angeschlossen hätte. Dort wäre ich aber Menschen begegnet, die auf mich reagiert hätten, egal, ob freundlich oder feindlich. Also, Menschen gibt es hier, ich sehe sie, aber ich begegne ihnen nicht. Nur die Stimme – ich nenne sie so, weil ihre körperlose Anwesenheit mich nicht dazu anregt, ihr einen Namen zu geben … Es gibt ja schon zu meiner Zeit… Ist es oder war es „meine“ Zeit? Also, da gibt/gab es den vernetzten Haushalt, die digitale Sprachassistentin und was weiß ich sonst noch. Ich habe mich damit nie auseinandergesetzt, ich brauche das nicht. Vielmehr, ich brauchte das nicht. Hier beginne ich, mich mit der Stimme zu unterhalten. Mit wem soll ich sonst reden? Richtige Gespräche sind es nicht. Ich komme mir vor wie ein Kind, ständig muss ich etwas fragen. In der Wohnung komme ich schon gut zurecht. Hier gibt es keine Schalter oder Knöpfe, alles wird per Sprachbefehl gesteuert. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Gedanken gelesen werden, denn wenn ich zum Beispiel Licht haben möchte, brauche ich nur eine Lampe anzuschauen, und sie schaltet sich ein. Das Bett, die Sessel und Stühle sind sehr bequem, die Lebensmittelvorräte scheinen unerschöpflich. Aber nichts ist so, wie ich es kenne. Hier liegen keine Bananen, Äpfel oder Kirschen in einer Schale, ich finde keine Kartoffeln und auch keinen Reis, keine Ölflasche und kein Brot. In einem Schrank sind Schubfächer mit Metallbehältern unterschiedlicher Größen, und die enthalten fertige Mahlzeiten, geschnittenes Obst und Gemüse, auch Leckereien. Sobald ich einen Behälter leergegessen habe, wird er ersetzt. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, aber wenn ich den Schrank nächstes Mal öffne, ist die Lücke geschlossen. Jedes Mal ist etwas anderes in den Behältern. Wie in dem Märchen „Tischlein deck dich“. Ich kann aber nicht essen, was und wann ich möchte. Die Stimme sagt mir, welche Mahlzeit ich wann, einzunehmen habe und erinnert mich in kurzen Abständen daran, falls ich nicht sofort reagiere. Ich komme mir dann vor wie in einer Klinik für Essgestörte. Die leeren Behälter kommen in einen anderen Schrank, wo sie ebenfalls wie von Zauberhand verschwinden. Es ist wie im Schlaraffenland. Ich wundere mich nur, wie schnell es mir über geworden ist. Was würde ich nicht dafür geben, mir das Essen selbst zubereiten zu können. Mir ein Stück Brot vom Laib abschneiden, es mit Butter beschmieren, mit einer Scheibe Käse belegen. Traumhaft!
Ich würde gerne mit ihr tauschen, denkt Altea. Wenigsten für ein paar Tage, bis ich die Kartons ausgepackt habe und die Wohnung einigermaßen eingerichtet ist. Fertige Mahlzeiten, kein Spülen hinterher, kein Aufräumen. Traumhaft!
05. Juli 2150
Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich „Ich will aber nicht!“, schreien möchte, wenn mich die Stimme ermahnt dies oder das zu tun oder mir etwas verbietet. Das Duschen zum Beispiel.
Gestern bin ich zum ersten Mal nach draußen gegangen. Jetzt bin ich seit einer Woche hier und bekomme langsam einen Lagerkoller. Die Stimme hat mich ermahnt, eines der Umhang-Kleidungsstücke anzuziehen. Als ich das Haus verließ, war mir klar, warum: Ich hatte das Gefühl, gegen eine Feuerwand zu laufen. Die Gluthitze nahm mir den Atem. Schnell zog ich die Kapuze über den Kopf, weil ich befürchtete, dass meine Haare Feuer fangen und mein Gehirn gerinnen würde. Es scheint, dass der Umhang mit Kühlung ausgestattet ist, denn wenn ich mich komplett verhüllte, spürte ich die Hitze nicht.
Ich erkannte nichts wieder. Außer mir war niemand zu Fuß unterwegs. Über mir schwirrten die Flugobjekte, immer wieder überholten mich kleine Fahrzeuge mit Fahrradantrieb. Ich merkte, dass die Insassen (ob es Männer oder Frauen waren, konnte ich nicht erkennen, denn alle hatten diese Umhänge), sich irritiert nach mir umsahen. In jedem Fahrzeug war nur ein Mensch. Ein Flugobjekt drehte mehrere Runden über meinem Kopf. Ich drehte mich um und ging so schnell, ich konnte zurück.
Danach hatte ich eine unbändige Lust auf eine Dusche. Doch da kam kein Wassertropfen heraus, nur die Stimme ermahnte mich: Deine Duschtage sind dienstags und samstags! Ich glaube, sie kann doch keine Gedanken lesen, denn innerlich brüllte ich: Du kannst mich mal! Scheiß auf Dienstag und Samstag! Die Stimme hat sich jedenfalls nichts anmerken lassen.
Altea hebt den Blick von dem Heft. Wie kam es nur in die Küchenschublade? Vor dem Einzug hatte sie alle Schränke untersucht, sie waren leer. Es wird aber bestimmt eine Erklärung dafür geben. Sie muss nur herausbekommen, wer ihre Vormieter waren. Vorher will sie aber die Geschichte zu Ende lesen, obwohl sie kein Fan von Science-Fiction ist. Immer noch besser als Umzugskartons ausräumen.
12. Juli 2150
Ich will wieder zurück! Wo ist nur mein Zeitgerät? Ich habe alles mehrmals abgesucht – nichts. Sogar das Futter in meiner Tasche habe ich aufgetrennt, sonst habe ich nichts mitgenommen aus meiner Zeit. Verfluchte Miniaturisierung! In Geschichten und Filmen waren die Zeitmaschinen mindestens so groß wie Waschmaschinen, die konnten nicht verloren gehen. Hat die Stimme sie mir abgenommen? Dummer Gedanke, aber in meiner Isolierhaft (so nenne ich das hier, auch wenn ich jederzeit hinausgehen kann) ist das Denken fast das einzige, das noch mir gehört. Alles andere wird mir abgenommen, ich kann mir nicht einmal den Tagesablauf so einteilen, wie ich möchte. Morgens jagt mich die Stimme aus dem Bett. Wenn ich länger liegen bleiben möchte, wird sie unangenehm laut. Ich muss Gymnastik machen, das Frühstück aus dem Schrank holen, und wenn ich den Behälter nicht sofort ...
Ach, ich mag nicht mehr darüber schreiben, es ist so öde! Es passiert ja nichts. Hier gibt es nicht einmal Bücher. Lesen kann ich nur auf einem elektronischen Reader, das ermüdet mich, ich bin es nicht gewohnt. Außerdem finde ich nur Lesestoff, der bis zum Jahr 2014 erschienen ist. Auch im Fernsehen kann ich nur Filme und Sendungen aus meiner Zeit sehen. Dabei möchte ich doch erfahren, was in dem Jahrhundert danach geschehen ist, wie sich die Welt entwickelt hat, wie die Menschen leben.
Ich auch, denkt Altea. Auf den folgenden Seiten schwelgt die Verfasserin in Erinnerungen. Altea überfliegt sie, bis sie auf weitere Einträge stößt, die sie wieder fesseln.
17. Juli 2150
Draußen scheint die Sonne. Vielmehr, sie brennt. Seit ich hier bin, habe ich noch keine Wolke am Himmel gesehen. Ich kann mich zwar an heiße Sommer erinnern, aber keine einzige Wolke in vier Wochen, das ist schon merkwürdig. Sind neben vielen Arten in den hundert Jahren auch die Wolken ausgestorben?
Mein Handy ist auch weg.
19. Juli 2150
Endlich habe ich einiges erfahren! Es ist aber ein vergiftetes Wissen. Ich habe die Stimme gefragt, warum ich keine aktuellen Medieninformationen bekomme. Ihre Antwort: Weil du keinen Chip hast. Ich fragte weiter, und nach und nach bekam ich heraus, dass allen Menschen ein Chip ins Gehirn eingepflanzt wird, der es ihnen ermöglicht, alles, wofür wir im 21. Jahrhundert noch Schalter, Knöpfe oder Tastaturen brauchen, allein mit den Gedanken zu steuern. Sie haben auch direkten Zugriff auf das gesamte Wissen. Das klingt großartig, doch durch den Chip wird auch das Verhalten der Menschen kontrolliert, und die Entscheidungen werden ihnen abgenommen. Ich musste der Stimme jede Antwort aus der Nase ziehen, auch wenn die Redenwendung in diesem Fall lächerlich klingt. Schließlich fragte ich entnervt, warum sie mir nicht gleich alles erzählt hat. Ihre Antwort: Weil du keinen Chip hast.
Altea schnappt nach Luft. Gut, dass es nur eine fiktive Geschichte ist. Doch es ist zu befürchten, dass sich die Menschheit in diese Richtung entwickelt. Die ersten Versuche gibt es ja schon.
30. Juli 2150
Es ist zum Verzweifeln! Es scheint, dass ohne den verdammten Chip hier kein normales Leben möglich ist. Wobei ich mich frage, was hier „normal“ ist. Weil ich keinen Chip habe, will oder kann mir die Stimme nur begrenzt Informationen geben. Sobald ich nachbohre, heißt es: Dafür brauchst du einen Chip. Zum Beispiel als ich wissen wollte, wie ich Kontakt zu den Menschen bekommen könnte. Ich zwinge mich dazu, jeden Tag rauszugehen, um wenigstens etwas Bewegung zu haben. Vielleicht begegne ich auch mal jemandem. Die Menschen müssen doch auch mal ihre Fahrzeuge verlassen! Jetzt fällt mir auf, dass ich bis jetzt kein Kind gesehen habe. Dürfen die Kinder nicht nach draußen?
25. August 2150
Es ist ein Geduldspiel, aber wenn ich hartnäckig immer wieder frage, klärt sich der Nebel ein kleines Bisschen auf. Vieles ist mir noch völlig unklar, aber inzwischen weiß ich, dass sich die Art, wie Menschen leben, miteinander kommunizieren und Kontakte pflegen, in den letzten 130 Jahren radikal gewandelt hat. Sie leben einzeln und begegnen sich nur per Video. Draußen bewegen sie sich ausschließlich in geschlossenen Fahrzeugen, die in unterirdischen Garagen in ihren Häusern geparkt werden. Diese Entwicklung ist den Pandemien geschuldet, die im 21. Jahrhundert die Welt in immer kürzeren Abständen heimsuchten. Die Erste soll schon 2020 gewesen sein. Das kann ich nicht glauben. Will die Stimme mir Angst machen, damit ich mir nicht mehr wünsche, in meine Zeit zurückzukehren? Welchen Grund sollte es dafür geben?
Wo ist bloß das Zeitgerät?
10. September 2150
Ich gehe nicht mehr nach draußen. Es hat keinen Sinn.
25. September 2150
Die Stimme wird unfreundlicher, ihr Ton schärfer. Sie ermahnt mich nicht mehr, sie befiehlt. Auf meine Fragen antwortet sie kaum noch. Sie will mich dazu bringen, mir einen Chip einpflanzen zu lassen. Ich lasse mich doch nicht freiwillig entmündigen!
11. Oktober 2150
In der Wohnung wird es von Tag zu Tag wärmer, die Lebensmittelrationen werden kleiner. Was hat das zu bedeuten? Das Zeitgerät ist unauffindbar.
20. Oktober 2150
Wenn ich mich beschwere oder etwas frage, höre ich fast nur noch: Dafür brauchst du einen Chip. Hat die Stimme einen Sprung bekommen, wie eine alte Schallplatte?
30. Oktober 2150
Die Stimme spricht kaum noch. Mir ist so heiß! Ich habe Hunger. Soll ich zu dem Chip gezwungen werden? WARUM?
15. November 2150
Es ist vorbei. Ich bin in eine Falle geraten. Ich kann nicht zurück. Die Stimme hat es mir verraten. Ich habe geschrien, dass ich zurück will, und da hat sie plötzlich geredet. Es ist ungeheuerlich! Ich kann und will es nicht glauben. Bestimmt ist es nur ein weiterer Versuch, mich zu zermürben. Angeblich kommen alle Menschen, die jetzt auf der Welt leben, aus der Vergangenheit. Mir zittert die Hand, aber ich muss es loswerden. Durch die Pandemien, Kriege und Klimakatastrophen war die Menschheit am Ende des 21. Jahrhunderts so dezimiert, dass die sozialen Strukturen und die gesellschaftliche Ordnung nicht mehr funktionierten. Gleichzeitig war die Technologie so weit entwickelt, dass Menschen die Zeit überwinden konnten. Man hat angefangen, sie aus der Vergangenheit zu holen. Ausschließlich junge Menschen. Allen wird ein Chip eingepflanzt. Danach vergessen sie ihre Vergangenheit und erfüllen die Aufgaben, die ihnen aufgetragen werden. Das Gehirn wird so manipuliert, dass die psychischen und emotionalen Vorgänge bei allen Menschen gleichgeschaltet sind. Es werden keine Kinder mehr geboren. Wenn ein Mensch stirbt, wird ein Neuer aus der Vergangenheit geholt. So ist es gelungen, die Gefahr der Überbevölkerung zu bannen, denn die Zahl der Menschen bleibt konstant.
Mehr konnte ich nicht aufnehmen. Mir ist schlecht geworden.
20. November 2150
Ich habe keine Kraft mehr.
30. November 2150
Morgen lasse ich mir den Chip einpflanzen.
Ungläubig starrt Altea auf das Datum im Tagebuch. Heute ist doch… Sie greift nach ihrem Handy. Ja, es ist der 30. November. Sie holt tief Luft. Schüttelt den Kopf, als wollte sie die Bilder loswerden, die sich darin festgesetzt haben. Beruhige dich, murmelt sie, es ist doch nur eine Geschichte.
Sie springt auf und beginnt hektisch einen Karton auszupacken. Es hilft. Langsam beruhigt sie sich, arbeitet konzentrierter, verteilt Töpfe, Teller, Tassen und Besteck in den Schränken, faltet den geleerten Karton zusammen und bringt ihn in den Flur. Wo sie den Kleinkram aus dem nächsten Karton verstauen soll, weiß sie noch nicht. Ein Döschen mit Safran fällt ihr aus der Hand und rutscht in eine Ritze zwischen zwei Schränken. Altea versucht es mit dem Staubwedel hervorzuholen. Beim dritten Anlauf klappt es. Das Döschen rollt ihr vor die Füße. Zwischen den Staubflusen entdeckt sie noch etwas. Altea bückt sie und nimmt den schmalen, silberglänzenden Gegenstand in die Hand. Er ist kaum größer als ihr Daumen. Sie dreht ihn hin und her. Was könnte das sein? Plötzlich leuchtet auf dem Minidisplay eine Zahl auf, die Altea im ersten Moment nicht erkennen kann. Erst als sie das Gerät näher ans Gesicht führt, liest sie: 27.06.2150. Ihr Kopf fühlt sich plötzlich heiß und schwer an, sie zittert. Nein, das kann nicht … Hat die Tagebuch-Geschichte eine wahrnehmungsverändernde Wirkung auf sie ausgeübt? Das ist ihr noch nie passiert! Ach, sie ist einfach erschöpft und steht neben sich, das wird es sein. Sie atmet tief ein und aus. Schaut wieder die Zahlen auf dem Display an. Kann man sie verändern? Sie entdeckt eine winzige Tastatur, beginnt zu tippen. Ihre Hand zittert, die Finger sind zu dick, dauernd vertippt sie sich. Endlich hat sie die richtige Zahlenfolge: 30.11.2024. Altea zögert kurz, dann drückt sie auf ENTER. Im nächsten Augenblick ist sie nicht mehr allein in ihrer neuen Küche.
ENDE
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Bei all den erfolgreichen Buchautoren, Filmemachern, Musikern, Künstlern und Unternehmern, sind viele junge Menschen geneigt, ihnen nachzueifern. Sie versuchen, es ihnen gleichzutun und beginnen, das Erschaffene dritter zu kopieren. Das ist der erste Fehlschritt eines Newcomers. Er lässt außer Acht, dass gerade die Erfolgreichen, mit eigener Kreativität zu Werke gingen und deswegen erfolgreich wurden. Deshalb unser Aufruf: Gehe Deinen eigenen Weg, verwirkliche Deine Ideen und erschaffe Deine eigenen Werke.
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