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Beitrag 06

 

AnnA

 

 

13. November 2150, Freitag

 

6:00 Uhr

Dies ist kein Tag wie jeder andere. Jedenfalls sollte er es nicht sein. Heute werde ich 20 Jahre alt. Zum zweiten Mal. Und auch zum letzten Mal. Man bekommt nur einmal die Chance, mit sich selbst ins Reine zu kommen, indem man sein bereits auf Schmierpapier vorgefasstes Leben in seiner schönsten Schreibschrift abpaust.

Und ich warte sehnsüchtig darauf. Wie ich darauf warte, ihn wiederzutreffen. Frank. Ich weiß, dass die Seiten meines Tagebuchs nur noch schwer diesen Namen ertragen. Wenn ich es in meine Hände nehme und mit meinem Daumen über die Seitenränder fahre, offenbart sich mir der Maßstab meiner Besessenheit nur zu deutlich. Aber heute habe ich alles Recht, diesen Namen zu erwähnen. Denn heute ist mein 20. Geburtstag. Und letztes Mal sind wir, Frank und ich, uns an meinem 20. Geburtstag zum allerersten Mal begegnet. Ich hatte mich sofort verliebt. Ich weiß nicht einmal warum. Er war bloß ein süßer Junge. Mein damaliger Freund Luke, der auch gleichzeitig mein jetziger Freund Wayne ist, hatte eigentlich viel besser zu mir gepasst, aber geliebt habe ich Frank. Ein ganzes Leben lang, auch wenn es nicht gehalten hat, auch wenn er mich verlassen, geheiratet und schließlich Kinder bekommen hat, blieb er die große Liebe meines Lebens.

Meine Gedanken sind heute ganz durcheinander, ganz als ob sie durch meinen Kopf schwirren würden, ohne Halt zu finden, ohne dass ich nach ihnen greifen könnte. Sie entfliehen mir stets. Gleiten mir durch die Finger. Lösen sich auf, sobald ich glaube, einen von ihnen gefangen zu haben. Auch meine Schrift ist heute holprig und meine Hand zittert.

Eigentlich wollte ich kein Tagebuch führen, aber meine Therapeutin meinte zu mir, dass mir dies helfen würde, dieses Mal die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ihn dieses Mal nicht zu verlieren.

Auch wenn ich nicht weiß, wie ich ihn lieben kann, wenn ich mich nicht daran erinnern kann, wie er ausgesehen hat. Aber ich erinnere mich an dieses Gefühl. Vielmehr an eine Assoziation. An Licht. An helles Licht, welches nicht blendet, sondern alles erleuchtet. Vielleicht müssen sie uns die Erinnerung an die Gesichter der Personen löschen, die wir gekannt haben. Es ginge um Datenschutz, wird uns gesagt. Aber für mich geht es um eine unvoreingenommene zweite Chance. Frank soll mich nicht wiedererkennen. Wayne hatte mich wiedererkannt. Ist es nicht seltsam, dass Wayne und ich wieder zusammengefunden haben? Und uns dann auch noch wiedererkannt haben?

Vor sieben Monaten haben wir uns wiedergefunden. Und zwei Monate später hatte er mich irgendwann tief in der Nacht geweckt. Ich war schläfrig, aber wach. Ich war es gewohnt, nicht fest zu schlafen, sondern Frank zu lauschen, wie er sich im Bett wälzt. Die Unrast eines introvertierten Jungen. Also wachte ich sofort auf, als Wayne meinen Namen flüsterte.

„Anna“, wiederholte er einige Male. Doch ich tat, als ob ich fest schlafen würde, als ob ich ihn nicht gleich gehört hätte, als ob ich nicht sofort aufgewacht wäre. Auch das hatte ich mir angewöhnt. Frank mochte keine Zeugen seiner Quälgeister.

„Ich muss dich etwas fragen. Es ist wichtig, obwohl es dies nicht sein sollte. Glaubst du, dass all dies schon einmal passiert ist? Du und ich? Es gibt da ein Mädchen in meiner Erinnerung. Ihr Gesicht ist verschwommen. Ich Name war Suzanna. Sie war sehr selbstbewusst und sehr… Wie soll ich sagen? Sie war niemand, der das Leben leicht hinnahm. Kämpferin wäre das falsche Wort. Sie hatte für nichts gekämpft, aber sie ließ auch niemanden etwas durchgehen, was sie für unangebracht hielt. Du bist auch so. Mein Name war Luke gewesen. Ja, mein Name war Luke. Wie war dein Name?“

Ich setzte mich im Bett auf. Ich zitterte am ganzen Körper. Eine Euphorie schien all meine Glieder zu durchströmen. Mein Kopf begann zu dröhnen. Denn nun wusste ich, dass ich die ganze Zeit recht gehabt hatte. Ich hatte die ganze Zeit recht gehabt, dass wir in demselben sozialen Umfeld gelassen werden, in dem wir auch unseren ersten Versuch hatte. Alles andere wäre schließlich auch mehr als bloß unfair. Ich weiß noch, wie ich dasaß und nur daran denken konnte, was dies für mich bedeutete. Es bedeutet, dass ich früher oder später auch Frank wiedersehen würde. Seine Augen, an deren Farbe ich mich nicht erinnern kann, die jedoch nicht wie Sterne funkelten, sondern wie Sonnen brannten.

„Ja, ich war Suzanna“, sagte ich schließlich und lächelte. Wayne lächelte zurück. Und ich war glücklich. Und auch er schien glücklich zu sein.

 

15:00

Noch nie hatte ich solange vor dem Spiegel gestanden, ohne zu wissen, was ich anziehen soll. Für gewöhnlich fällt mir diese Entscheidung leicht. Ich habe einen intuitiv hervorragenden Modegeschmack. Doch heute könnte ich zum allerersten Mal Frank wiederbegegnen. Und Frank war ziemlich oberflächlich, was es die Wahl seiner Freundinnen anging. Er achtete auf alles: Augen, Haare, Figur, Kleidung. Aber charmant war er. Ich weiß noch ganz genau, wie wir uns das erste Mal kennengelernt haben. Auch damals war es mein 20. Geburtstag gewesen. Ich war mit Wayne dort, oder richtiger mit Luke. Und ich war ich, aber nicht ganz. Ich war Suzanna. Auch Frank war nicht allein. Er hatte eine Freundin, an deren Gesicht ich mich nicht erinnere, nicht weil es aus meinem Gedächtnis gelöscht wurde, sondern weil es da nichts zu erinnern gab. Am Ende des Abends schien Frank selbst das Gesicht seiner Freundin längst vergessen zu haben. Schließlich war ich viel schöner. Und Frank konnte einer schönen Frau nun wirklich noch nie widerstehen.

 

15:40

Wayne sagte vorhin etwas dazu, dass mein Kleid sehr schön wäre. Ich frage mich, ob er sich daran erinnert, dass es dieser Tag vor genau 80 Jahren war, an dem ich ihn wegen Frank verlassen habe. Oder spielt unser vorheriges Leben für ihn keine Rolle? Wieso war er dann aber so aufgewühlt, als er mich wiedererkannt hatte? Vielleicht war es bloß der Moment der Wahrheit, der ihn fasziniert hatte. Die Erkenntnis, dass sich alles wiederholt, dass es kein Richtig gibt, sondern nur das Falsch? Er hatte es nie wieder mir gegenüber erwähnt. Oder nicht ganz erwähnt. Manchmal nennt er mich Suzanna. Und dann antworte ich ihm mit Luke, und er scheint in dem Moment glücklich zu sein.

Übrigens ist es mir angenehm, dass ihm mein Kleid gefällt. Wayne hatte schon immer einen hervorragenden Geschmack gehabt und er macht auch keine Komplimente nur des Etikettes wegen. Jedem Wort, das er sagt, kann man Glauben schenken.

 

18:30

Ich musste mich kurz von meiner eigenen Geburtstagsfeier zurückziehen. Ich glaube, Frank gesehen zu haben. Ich kann mir natürlich noch nicht hundertprozentig sicher sein. Aber gleich in dem Moment, in dem ich ihn den Raum betreten sah, war mir, als ob die Sonne aufgehen würde. Dieses Lächeln. Ich glaube, mich an dieses Lächeln erinnern zu können. Ich glaube, mich daran erinnern zu können, diese Lippen geküsst und durch dieses Haar mit meiner Hand gefahren zu haben. Das Gefühl seiner Haut unter meinen Fingern, der Geruch seines Körpers: all das wurde mit einem Mal so präsent.

Ich liebe ihn, auch wenn er nicht an die Liebe glaubt. Dieses Mal muss er glauben, dass ich ihn liebe. Auch wenn er nicht herausfinden soll, wer ich früher war.

Doch er ist allein gekommen. Da ist kein Mädchen an seiner Seite, nur ein paar Freunde. Und er schaut sich stets um, als ob er nach jemanden suchen würde. Es kann sich nur um Frank handeln. Diese bohrenden braunen Augen können nur ihm gehören.

 

18:50

Ich habe ihn angesprochen, ganz wie letztes Mal. Nicht mit denselben Worten. Ich möchte nicht, dass er sich plötzlich daran erinnert, sie bereits gehört zu haben, aber dennoch. Doch er blieb ganz ruhig. Er war sogar freundlich. Er blieb gefasst. Er antwortete mit Gepflogenheiten.

Ich sagte, es wäre mein Geburtstag, worauf er mit einem Lächeln antwortete, und sich schließlich entschuldigte, seine Freunde würden ihn vermissen. Danach habe ich ihn aus den Augen verloren. Was soll ich jetzt bloß machen?

 

19:20

Wayne hatte mich kurz in das benachbarte Zimmer entführt, um mir tête-à-tête mein Geburtstagsgeschenk zu überreichen. Es ist ein Armband. Genauso eins wollte ich haben, ohne zu wissen, dass es existiert. Auf Waynes Geschmack kann man sich wirklich verlassen.

 

20:00

Vor kurzem ist mir dieses Mädchen aufgefallen. Sie schien mir gleich fehl am Platz. Zwar glaubte ich, ihr vorher schon einmal begegnet zu sein, aber dennoch kam es mir verwunderlich vor, dass ich sie auf diese Party eingeladen haben soll.

Also habe ich sie angesprochen. Sie stellte sich mir als Vivienne vor. Sie meinte, wir würden uns nur flüchtig kennen, aber sie hätte sich dennoch gefreut, eine Einladung zu meiner Geburtstagsparty erhalten zu haben. Sie muss eins von den Mädchen sein, die im Büro arbeiten, und denen ich aus reiner Herzensgüte Einladungen ausgesandt habe, ohne zu erwarten, dass sie kommen würden. Doch ich hieß sie auf meiner Feier willkommen und umarmte sie. Was konnte ich sonst tun?

 

20:20

Ich kann nicht aufhören, sie zu beobachten. Sie scheint ganz allein gekommen zu sein. Und unterhalten tut sie sich auch mit niemanden. Wenn sie angesprochen wird, dann lächelt sie. Ich habe noch nie ein solch aufrichtiges Lächeln gesehen. Doch sobald sie etwas gefragt wird, ist mir, als ob sie einer direkten Antwort auszuweichen würde. Und dennoch geht von ihr kein Unbehagen aus. Sie scheint sich wohl zu fühlen, allein in der Mitte des Saales zu stehen. Und ja, ich muss zugeben, sie ist hübsch. Und noch mehr. Sie ist mir nicht ganz unähnlich. Wer mich schön findet, würde auch sie schön finden. Und umgekehrt. Ihre Ausstrahlung ist ganz anders, viel mädchenhafter, doch halten tut sie sich sehr erwachsen. Jedoch trifft dies auf die meisten Menschen zu, die sich dafür entscheiden haben, ihr Leben nochmals zu durchleben. Also ist sie nicht nur irgendjemand, wenn sie diese Chance ergreifen konnte. Jedenfalls scheint sie ganz genau zu wissen, was sie will. Wenn ich doch bloß wüsste, warum sie zu meiner Party gekommen ist.

Übrigens habe ich aufgehört nach Frank, oder nach dem Jungen, den ich für Frank halte, Ausschau zu halten. Es ist dieses Mädchen, dass mich ablenkt, obwohl ich mich auf ihn konzentrieren sollte. Sie ist irrelevant.

 

20:45

Ich habe mich mit Frank unterhalten. Wieder war ich es, die ihn angesprochen hat. Er war einfach mit einem Mal wieder da, stand an eine Säule gelehnt mit einem Glas in der Hand und beobachtete die Gesellschaft. Sein Auftreten war verträumt oder müde, doch das Treiben der Menge schien auf ihn dennoch eine bestimmte Faszination auszuüben.

„Hallo“, sprach ich ihn an.

„Hallo“, antwortete er mir. Er lächelte. Dieses Jungenlächeln. „Genießt du deine Feier?“

„Es könnte schon etwas wilder hier zugehen. Ganz mein Geschmack ist es nicht.“

Er nickte.                                                                 

„Ja, ich stimme dir zu.“

„Ich bin Anna… im Übrigen.“

„Ich heiße Sam.“

„Sehr angenehm.“

„Ganz meinerseits.“

„Du sprichst in Sätzen wie aus einem Buch über Konversationsethik. Sprichst du immer so?“

„Nein. Ich versuche, aus der Situation heraus die beste Antwort zu finden.“

„Du beobachtest den Raum sehr genau. Was fasziniert dich so?“

„Ich suche nach jemanden. Ich bin verabredet, heute jemanden nach zwanzig Jahren wiederzusehen. Wir haben viel Energie darin investiert, herauszufinden, wie und wann wir uns frühestmöglich wiedersehen können. Aber generell betrachte ich Menschen gern. Dies kann sehr unterhaltsam sein.“

„Ist es ein Mädchen?“

„Ja.“

Ich wollte schon rufen, dass ich hier bin. Aber etwas an seiner Art, hielt mich davon zurück. Eine böse Vorahnung stieg in mir. Nicht das Mädchen, nicht die mögliche Konkurrenz fürchtete ich, an Konkurrenz hatte ich mich längst gewöhnt, sondern etwas weit Schlimmeres, und zwar, dass er mich längst wiedererkannt hatte.

„Erzähl mir von ihr“, forderte ich ihn heraus, doch interessieren tat sie mich nicht im Geringsten.

„Das wird dich nur wenig interessieren“, antwortete er, doch wie konnte er dies wissen, außer wenn er tatsächlich längst wusste, wer ich war.

„Was ist, wenn sie nicht hier ist?“

„Das wäre ein schwerer Rückschlag.“

Ich hätte ihm beinahe gesagt, dass er dann ja mit mir vorliebnehmen könnte, aber ich wusste, dass man nicht verzweifelt wirken darf. Man muss den Anschein von Würde wenigstens vorheucheln. Er sah mich während unseres Gesprächs nicht einmal an. Er schaute die ganze Zeit in den Raum hinein.

„Was ist, wenn du sie nicht wiedererkennst? Was ist, wenn du sie nicht wiederfindest?“, ich versuchte nicht herausfordernd, sondern objektiv zu klingen. Er sollte nicht wissen, dass ich genau darauf in diesem Moment hoffte.

„Das ist natürlich alles sehr möglich. Aber ihre Existenz von vornherein ist schon dermaßen surreal, dass ich hoffe, dass wenn sie es geschafft hat, zu existieren, sie es auch schaffen wird, mich erneut zu finden. Nur dieses Mal viel früher, sodass wir viel mehr Zeit haben werden.“

„Ich wusste nicht, dass du eine romantische Ader hast.“

„Ich wusste es selbst nicht. Dem Grunde nach wollte ich immer Romantiker sein, auch wenn ich es für töricht hielt. Es hatte bloß nie einen Auslöser gegeben…“

Und plötzlich sah ich ihn lächeln. Er richtete sich von der Säule auf, stellte sein Glas auf einen der im Raum verteilten kleinen Tische, und seine Augen fingen an, mit gestiegener Intensivität zu brennen. Ich habe nie etwas Schöneres in all den genau hundert Jahren gesehen, die ich nun in den zwei Leben zusammengezählt gelebt habe, als den Ausdruck seiner Augen in diesem Moment. Dass ich seinem Blick nicht gefolgt bin, hatte nur den Grund, dass ich meine Augen nicht von den seinen reißen konnte.

Als er eine Bewegung von mir weg machte, folgte ich ihm ohne nachzudenken. Es war ein natürlicher Reflex meines Körpers, dem seinen zu gehorchen.

„Tut mir leid“, sagte er als es sich von mir abwand, nie wirklich mir zugewandt gewesen zu sein. Und natürlich meinte er es nicht so. Es war eine Floskel für ihn. Doch nichts, nicht einmal mein eigener Verstand, konnte mich davon abhalten, ihm zu folgen.

Er ging auf das Mädchen zu, welches sich mir vorhin als Vivienne vorgestellt hatte.

„Hallo“, sagte er, doch seine Intonation war in nichts mit der zu vergleichen, mit der er dasselbe Wort nur einige Minuten früher zu mir gesagt hatte.

Das Mädchen antwortete zuerst im exakt demselben Ton, doch dann schien es sich gefasst zu haben, und fügte hinzu:

„Kennen wir uns?“

„Nur wenn ich Frank bin.“

Ich hatte recht gehabt, in allem. Oder zumindest in den Fakten. Er war Frank. Wer konnte er sonst sein? Und wer konnte sonst Frank sein, wenn nicht er?

„Dann bin ich Tiffany“, antwortete Vivienne.

„Daran habe ich nicht gezweifelt. Auch wenn du es nicht gewesen wärst, du hättest es sein sollen.“

„Ich glaube, ich sollte beleidigt sein“, antwortete das törichte Mädchen.

Doch meine Gedanken, nach all der Aufregung, nach all den geplatzten Hoffnungen, waren so wirr, dass ich bloß zu begreifen versuchte, wer zum Teufel Tiffany war. Ich hatte nie etwas von einer Tiffany gehört. Franks Ehefrau hieß Claire. Es gab keine… Tiffany. Doch Tiffany. Wie konnte ich Tiffany vergessen? Ich habe sie einfach nie ernst genommen. Irgendeine Frau, der Frank ziemlich spät in seinem Leben begegnet war. Er hatte sich nicht einmal von Claire scheiden lassen, sondern hatte einfach so mit dieser anderen Frau zusammengelebt. Man erzählte, sie hätten eine Scheinhochzeit in Las Vegas gefeiert, aber begegnet war ich ihr nie. Bestimmt hatte ich sie auf Fotos gesehen, aber Fotos sind bloß Gesichter, die in unserem Gedächtnis nicht haften. Sie war über fünfzig Jahre alt gewesen, als sie sich kennengelernt hatten.

Ich sah ihn die Hand nach der ihren ausstrecken:

„Darf ich?“

Und tatsächlich legte sie die ihre in die seine.

„Du bist real. Wir haben es wirklich geschafft.“

„Ja, weil ich dieses Mal ein Ziel hatte. Dieses Mal wusste ich, dass alles nicht umsonst sein würde. Außerdem war ich dieses Mal niemals wirklich ein Teenager gewesen.“

„Teenager sein war noch halb so schlimm. Richtig verrückt war es, als ich ein Kleinkind war. Du hast diesen Babykörper, doch deine Lebenserfahrung und dein Gedankengang entsprechen ihm nicht. Es war verrückt, mit sieben zu wissen, dass ich dich wiedersehen wollte. Mit sieben wollte ich nämlich nichts dergleichen. Ich war ein kleiner Junge. Und ganz bestimmt wollte ich nicht mit irgendwelchen quengelnden Mädchen abhängen. Und gleichzeitig vermisste ich dich. Mit dreizehn habe ich es dann verstanden. Nur nicht die Verzweiflung. Das Leben schien noch alles offen zu halten. Mein vorheriges Leben war hier, um mich zu leiten, ohne hätte ich dieselben Fehler begangen, ohne wären wir jetzt niemals hier, und dennoch… Ich fühle mich nicht wie zwanzig, sondern wie die hundert, die ich bereits bin. Und doch glaube ich, nie einen Tag älter als zwanzig geworden zu sein.“

„Ich bin erst achtundneunzig.“

„Ja, du bist noch ein Baby. Das warst du immer.“

„Aber Frank…“

„Übrigens heiße ich mittlerweile Sam.“

„Ich bin Vivienne.“

„Schöner Name.“

„Ich glaube dir kein Wort.“

„Warum? Vivienne kann man durchaus mit Tiffany gleichsetzten.“

„Du hast dich nicht verändern.“

„Ich bin noch niemanden begegnet, der sich verändert hätte. Man erkennt alle auf den ersten Blick wieder, auch wenn man uns die Gesichter aus dem Gedächtnis löscht. Was soll das bringen? Nicht das Gesicht macht einen Menschen aus.“

„Das sagst du.“

„Warum?“

„Warum hast du dich damals in mich verliebt.“

„Weil du das erste Mädchen warst, dass genau das und genau so vom Leben wollte wie ich, dass die gleiche Einstellung hatte, die gleichen Werte und denselben Geschmack. Du hast mich verstanden, ohne es zu versuchen. Du wolltest mich nicht einmal verstehen, du hast mich einfach so hingenommen und dennoch hast du durch mich hindurchgeschaut.“

„Ich möchte dir ja allzu gern Glauben schenken…“

„Dann tu das.“

„Aber…“

„Aber was?“

„Die Wahrheit ist, dass ich einfach äußerlich in deinem Geschmack bin.“

„Aber es ist falsch zu denken, dass Geschmack sich formen und herausbilden würde. Spiegelt er nicht unsere Persönlichkeit wider? Und ist er somit nicht Teil von ihr. Also etwas, was wir nicht beeinflussen können. Dann existiert er vielleicht nicht umsonst. Vielleicht gefallen mir Frauen nur eines bestimmten Typs, weil sie auf rein biologischer Ebene zu mir passen, oder weil nur eine Frau mir diesem Äußeren die richtige Persönlichkeit für mich haben kann. Denn anzunehmen, dass das Aussehen die Persönlichkeit nicht beeinflussen würde, ist doch sehr naiv. Sag du mir, bin ich dein Typ?“

„Du bist jedermanns Typ.“

„Das bin ich bei weitem nicht. Man muss schon einen sehr ausgefallenen Geschmack zu haben, um mich schön zu finden. Aber wenn auch. Bin ich denn auch dein Typ?“

„Das weißt du. Das habe ich dir erzählt.“

„Lass uns jetzt gehen. Es ist zwanzig Jahre her, seitdem ich dich zum letzten Mal gesehen habe.“

Sie nickte, doch er ließ ihre Hand los und sagte:

„Würdest du kurz vorgehen? Ich komme gleich nach.“

Erneut nickte sie und ging. Frank beobachtete, wie sie sich entfernte, und als sie außer Sicht war, drehte er sich zu mir um.

„Es tut mir leid, Suzanna, dass du das alles mitansehen musstest. Das war nicht meine Absicht. Auch wenn ich die Möglichkeit in Kauf genommen habe. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich dich wirklich geliebt habe. Damals habe ich dich geliebt.“

Und mit diesen Worten ließ er mich stehen.

Doch ich glaubte ihm nicht. Ich wusste es besser. Niemals hatte Frank mich geliebt. Alles, was er je an mir geliebt hatte, war die Tatsache, dass ich seine feste Freundin gewesen war. Damals, als er wirklich zwanzig Jahre alt gewesen war.

 

Als Anna an diesem Abend nach Hause kam, warf sie ihr Tagebuch weg, welches später gefunden und veröffentlicht wurde, und am nächsten Tag stellte sie einen Antrag darauf, ihren Namen in Suzanna zurück zu ändern.

 

ENDE

 

 

Beitrag 07

 

Schattenseite

 

Mein erstes Leben begann am 10.04.2004 um 10.14 Uhr. Es war ein kalter, stark bewölkter Morgen, um genau zu sein der 100. Tag des gregorianischen Kalenders. Ich wurde 58 Jahre alt. Für meinen Todestag wählte ich den 16.06.2062 um 23:03 Uhr, einen warmen Sommerabend aber verzweifelt genug und enttäuscht vom bisherigen Leben.

Das Jahr meiner Geburt war geprägt von vielen globalen Katastrophen. So riss am 26. Dezember 2004 ein Tsunami 227.898 Menschen in den Tod, nachdem zuvor ein Erdbeben der Stärke 9,1 den Indischen Ozean erschütterte.

Ich bin etwas außerhalb der Stuttgarter Innenstadt aufgewachsen. Trotz der stark mit Stickstoffdioxid belasteten Luft war es ein Ort, an dem ich meine Kindheit gerne verbrachte. Meine Eltern hatten einen kleinen Schrebergarten, der nur eine Straße von unserer Wohnung entfernt lag, am angrenzenden Stadtwald. In diesem Garten wuchsen eine wunderschöne alte Linde, zwei Kirschbäume, eine kleine Anzahl an verschiedenen Gemüsesorten sowie verschiedene Kräuter und bunte Blumen. An heißen Sommertagen, aufgrund der Kessellage Stuttgarts noch intensiver, fanden wir zwischen unseren Bäumen und Sträuchern angenehme Erholung. Der Herbst wiederum verwandelte die Blätter unserer Bäume und die des benachbarten Waldes zusammen mit meinen selbstgebastelten fliegenden Papierdrachen in ein buntleuchtendes Farbenmeer. Trotz der negativen Aspekte des Stadtlebens, wie starkem Verkehr, der hohen Feinstaubbelastung und wenig frischer Luft aufgrund der engen Bauweise, blieben meine Eltern und ich immer im Großraum Stuttgart wohnen, da die zentrale Lage schließlich auch ihre Vorteile hatte. Aber der Winter enttäuschte mich immer. Er kam und ging, ohne das versprochene Weiß zu bringen. Stattdessen blieb der Schnee oft aus oder beschränkte sich auf ein paar enttäuschende Zentimeter, die schnell schmolzen und matschige Straßen hinterließen.

Als kleines Kind lauschte ich immer gerne gebannt den Erzählungen meiner Eltern über schneereiche, kalte Winter, aufregende Schlittenfahrten und weiße Weihnachten mit einem Schneemann im Garten. In einer Zeit, in der es nur wenige dicht bebaute Städte und Industrieanlagen mit stark rauchenden, rußigen und chemisch belasteten Emissionen gab, der Flugverkehr im Minutentakt stattfand und Autos lediglich den Privilegierten vorbehalten waren, blieb mir die zauberhafte Atmosphäre eines verschneiten Weihnachtsfestes jedes Jahr verwehrt.

Die Geschichten meiner Eltern über ihre eigene Kindheit und Jugend waren oft geprägt von nostalgischen Erinnerungen an eine vermeintlich bessere Zeit. Doch auch sie hatten die Schattenseiten der Welt erlebt: viele Kriege tobten schon damals, wie der Vietnamkrieg, Iran-Irak-Krieg, Golfkrieg, Jugoslawischer Krieg, nur um ein paar zu nennen und die Anzeichen einer drastischen Veränderung des Klimas wurden immer deutlicher.

Die Eltern meiner Mutter und meines Vaters lernte ich leider nie kennen, da sie bereits vor meiner Geburt oder kurz danach verstarben. Meine Großeltern mütterlicherseits fielen einem tragischen Hausbrand zum Opfer, während mein Großvater väterlicherseits an Tuberkulose erkrankte und bald darauf verstarb. Meine Großmutter väterlicherseits erlag kurz darauf einem Herzinfarkt. Aber meine Eltern erzählten mir immer viel und gerne von meinen Großeltern und oft schauten wir sonntagmittags stundenlang die vielen Fotoalben an, mit den kleinen vergilbten schwarz-weiß Bildern. Dazu gab es immer Kuchen, den meine Mutter am frühen Sonntagvormittag gebacken hatte, sowie eine, manchmal auch zwei Tassen Kakao und viel Sahne. Deshalb liebte ich die Sonntage so sehr.

Als introvertiertes Einzelkind fiel es mir schwer, im Kindergarten und in der Schule Anschluss zu Gleichaltrigen zu finden. Ich konnte mich stundenlang mit mir selbst beschäftigen, während die anderen Kinder miteinander spielten und lachten. Meine Leidenschaft galt den Streifzügen durch die Natur. Ich verbrachte viel Zeit damit, die verschiedenen Bäume, die Blumen, die bunten Schmetterlinge und kleinen Krabbeltiere zu beobachten. Nebenbei lauschte ich dem munteren Konzert der Vögel in den Baumkronen.

Mein Vater, ein Professor der Philosophie, prägte mein Interesse an Geschichte und Politik. Gemeinsam verfolgten wir zusammen jeden Abend die Nachrichten, was mir half, ein tiefes Verständnis für die Welt um mich herum zu entwickeln.

Meine Mutter war Grundschullehrerin für Mathematik und Englisch und legte großen Wert darauf, dass ich zweisprachig aufwuchs. Sie vermittelte mir nicht nur mathematische Fähigkeiten, sondern auch einen tieferen Einblick in die Natur. Schon im Alter von vier Jahren konnte ich viele Pflanzen und Bäume benennen und rezitierte sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch kurze Gedichte. Diese frühe Förderung legte den Grundstein für meine spätere Entwicklung und meiner beruflichen Laufbahn.

Es war daher nicht verwunderlich, dass ich nach meinem Schulabschluss im Juli 2020 drei Monate später eine Ausbildung zur Angestellten im städtischen Umweltamt in Stuttgart begann.

Das Jahr 2020 sowie die darauffolgenden 3 Jahre waren ein sehr schweres Jahr für uns alle auf der ganzen Welt. Die Corona-Pandemie brach über die Menschheit herein, und die Zahl der Todesopfer im Zusammenhang mit COVID-19, der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Krankheit, variierte bis heute je nach Land und Zeitraum. Weltweit hatten Millionen von Menschen ihr Leben an den Folgen von COVID-19 verloren. Wir alle gerieten in Panik und hatten große Angst, uns an diesem Virus anzustecken. Meine Eltern und ich verfolgten gebannt in den sozialen Medien die Fortschritte der Forscherinnen und Forscher weltweit, die verzweifelt an der Entwicklung von Impfstoffen arbeiteten. Nur wenige Monate nach dem ersten Ausbruch der Covid-19-Erkrankung begann die groß angelegte Impfkampagne. Vor den Impfzentren spielten sich Szenen ab, die ich bisher nur aus Endzeit-Filmen kannte. Aber es gab auch Coronaleugner, die die Existenz und die Gefährlichkeit des Virus in Frage stellten und hinter der Pandemie eine Verschwörung seitens der Regierung und anderer Institutionen sahen.

Es war eine große Herausforderung, während der Pandemie die Schulbildung erfolgreich zu beenden und eine Ausbildung zu beginnen, aber ich habe es geschafft. Nach Abschluss meiner Ausbildung im Jahr 2023 entschied ich, ein Studium in Veterinärmedizin zu beginnen, das ich 2027 mit Auszeichnung abschloss. Anschließend erhielt ich eine Stelle an der veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig.

Dort entdeckte ich meine Leidenschaft für den Bereich der Genetik. Daher war es unausweichlich, auch einen Einblick in die Humanmedizin zu erhalten. Ich lernte die genetischen Ursachen von Krankheiten bei Tieren und Menschen zu verstehen und zu erforschen. Durch die Untersuchungen des Erbguts konnte ich zusammen mit meinen Kollegen Krankheiten diagnostizieren und genetische Therapien entwickeln. Ich liebte meine Arbeit und verbrachte bald Tag und Nacht im Forschungszentrum. Ein Privatleben hatte in meiner Welt keinen Platz.

In den Jahren von 2027 bis 2039 nahm ich an zahlreichen Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen teil, da ich stets bestrebt war, mein Wissen zu erweitern. In letzter Zeit hatte ich in einem Forscherteam von acht hochmotivierten wissenschaftlichen Mitarbeitern an einem weit abgelegenen Ort in Norddeutschland mitgearbeitet, das sich leidenschaftlich darauf konzentriert hatte, einen Weg zu finden, Versuchsmäuse lebend einzufrieren und sie wenige Wochen später wieder aufzutauen und zum Leben zu erwecken. Natürlich plagten mich Gewissensbisse der Mäuse und der Forschung selbst gegenüber, aber ich war auch sehr neugierig, denn die Kryokonservierung war ein faszinierendes Verfahren, das die langfristige Lagerung biologischer Zellen, Gewebe oder sogar ganzer Organismen bei extrem niedrigen Temperaturen ermöglichte – typischerweise unter -130 °C. Durch diese drastische Abkühlung konnte die metabolische Aktivität nahezu zum Stillstand gebracht werden, was den Zerfall und die Alterung der Zellen erheblich verlangsamte.

Aus meinen Fachbüchern und der zahlreichen wissenschaftlichen Artikel im Internet wusste ich, dass bereits in den späten 1950er Jahren Wissenschaftler begonnen hatten, an dieser Methode zu forschen. Damals hatte sich ein Wissenschaftler bereit erklärt, sich nach seinem Tod selbst als Proband einfrieren zu lassen. Ich hatte nahezu alle schriftlichen Aufzeichnungen dazu verschlungen und wir diskutierten viel darüber innerhalb des Kollegenkreises.

Leider gelang es in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts nicht, den damals eingefrorenen Wissenschaftler wieder zum Leben zu erwecken. Die Methode war nicht ausreichend bedacht worden. Wäre der aufgetaute Körper im gleichen Zustand wie zum Zeitpunkt des Todes und vor der Kryonierung? Würde das Gehirn funktionieren? Wohl eher unmöglich bei einem eigentlich toten Menschen. Die Vorstellung, einen eingefrorenen Menschen wieder aufzutauen und zum Leben zu erwecken, stellte sich als logistisch und ethisch herausfordernd dar.

Aus diesem Grund war unser Ziel, statt Verstorbene einzufrieren, noch lebende Menschen mit deren vorherigen Zustimmung in einen tiefen Schlaf zu versetzen und dann die Konservierung durch Kälte anzuwenden. Die Menschen sollten in ihren Kammern, die komplett aus Glas bestehen würden, verweilen, bis zu dem von unserem Team vorher gewählten und schriftlich aufgezeichneten Datum der Auftauung.

Die ersten freiwilligen Probanden wurden von uns Anfang 2041 für versuchsweise einem Jahr unter ärztlicher, psychologischer und wissenschaftlicher Leitung und Aufsicht in den Kälteschlaf versetzt, und während sie in ihrer frostigen gläsernen Kammer schlummerten, begannen sich in der Gesellschaft Fragen zu regen. Trotz strengster Geheimhaltung aller Mitarbeitenden in unserem Forschungsteam sickerten Informationsfetzen an die Öffentlichkeit, welche innerhalb kürzester Zeit weltweit großes Interesse ausgelöst hatte und für hitzige Spekulationen und Diskussionen in den sozialen Medien sorgte. Doch nicht nur positive Stimmen waren zu hören; auch kritische Meinungen, insbesondere von Seiten der Kirche, meldeten sich lautstark zu Wort. Die Debatte entbrannte – war dies ein Schritt in eine neue Ära oder ein gefährliches Spiel mit dem Leben?

Doch während wir weiter experimentierten, begannen auch die ethischen Fragen in uns aufzukommen. Was würde passieren, wenn wir es nicht schaffen würden, unsere Testpersonen aufzutauen und wiederzubeleben? Wer sollte dafür sorgen, dass die Probanden in beispielsweise 20, 60 oder 100 Jahren aufgetaut werden würden? Und was geschah mit der Seele? Wäre sie „frei“? Und mit den Erinnerungen? Fragen über Fragen, die uns aber nicht aufhielten, unaufhörlich weiter an dieser übermenschlichen Möglichkeit der Wiedergeburt zu forschen. Wir hatten Blut geleckt und waren wie besessen von unseren Experimenten.

Während die Gesellschaft sich weiter bewegte und veränderte, blieben die Eingefrorenen bis zu einem von uns gesetzten Datum in ihren gläsernen Kammern gefangen.

Diese Dekryonisierungen waren aber nicht ohne Komplikationen. Viele der von uns im Jahr 2042 Erweckten trugen die Last ihrer früheren Existenz mit sich – Erinnerungen an Schmerz, Verlust und unerfüllte Träume. Sie fanden sich in einer Welt wieder, die sich seit dem Jahr der Einfrierung weitergedreht hatte, während sie im Frost gefangen waren. Die Umgebung schien ihnen fremd und doch vertraut.

Einige von ihnen begannen zu glauben, dass ihre Seelen durch den Kälteschlaf gereinigt worden waren – dass sie nun eine zweite Chance hatten, ihre Fehler zu korrigieren und ein neues Leben zu führen. Andere hingegen fühlten sich wie Geister in einer Welt voller Lebender, unfähig, ihren Platz zu finden oder einen Sinn in ihrem neuen Dasein zu erkennen.

Die Freude über unseren ersten Erfolg wurde abrupt von einer dunklen Wolke überschattet, als in unserem Team drei Todesfälle auftraten. Nur ein halbes Jahr zuvor war ein Kollege an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben, und nun wurden zwei weitere Kolleginnen leblos in ihren Wohnungen aufgefunden. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei zu einem möglichen Tötungsdelikt wurden schnell eingestellt. Und wir erhielten auch hier die Nachricht, dass auch diese beiden Kolleginnen sich das Leben genommen hatten, belastet von ethischen und moralischen Gewissensbissen bezüglich unserer Forschung, niedergeschrieben auf Abschiedsbriefen.

Die Todesfälle unserer Kollegen versetzte das gesamte Forschungszentrum in einen Schockzustand. Doch trotz der Trauer und des Schreckens ließen wir uns nicht entmutigen; nach einer Phase der Verarbeitung und Verdrängung setzten wir unsere Experimente fort.

Bei einer Fortbildungsveranstaltung in England zum Thema „Forschung und Wiedergeburt, ein ethischer Widerspruch“, begegnete ich meinem späteren Mann, einem Professor für Genetik. Er war ein sanfter und kluger Mensch, dessen Gesellschaft ich über alles schätzte. Ich verliebte mich unsterblich in ihn, und schon sehr bald darauf heirateten wir voller Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft und planten bald darauf eine eigene Familie zu gründen.

Doch unser Traum zerbrach in einem Augenblick, als mein Mann in einer eisigen Dezembernacht 2043 auf dem Heimweg bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben kam. Auf einer großen Eisplatte auf der Autobahn, bevor der Streudienst ausrücken konnte, prallte er ungebremst gegen die Leitplanke und stürzte einen Abhang hinunter, wo er gegen einen Baum schlug. Er war sofort tot.

Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass ein weiterer Beteiligter in den Unfall verwickelt war. Das Jahr 2043 sollte nicht der einzige Wendepunkt in meinem Leben sein. Im selben Monat verstarb zuerst meine geliebte Mutter an einem Herzinfarkt, gefolgt von meinem Vater im März 2044 an einem Schlaganfall. Die Schicksalsschläge warfen mich emotional völlig aus der Bahn.

Die schicksalhaften Ereignisse schienen sich wie ein unaufhaltsamer Sturm zusammenzubrauen, und ich fühlte, wie die Last meiner Trauer und Verzweiflung sich immer tiefer in meine Seele schnitt. Die ständigen Grübeleien, Ängste und die endlose Trauer nagten an mir. Dennoch versuchte ich mich aufzuraffen, ging wie betäubt zur Arbeit und arbeitete wie besessen wieder Tag und Nacht an der Perfektionierung der Kryonisierungsmethode. Für mich war es ein Akt der puren Verzweiflung. Meine Trauer wich bald der Wut auf das Leben. Die Menschen, die mir am wichtigsten waren, waren alle nicht mehr bei mir.

Und so war ich bereit, alles hinter mir zu lassen. Die Kryonisierung wurde mein letzter Ausweg, ein verzweifelter Versuch, dem unerträglichen Schmerz zu entkommen. Mein Forschungsteam und ich hatten ein Verfahren entwickelt, um nach dem Auftauen die Erinnerungen an das „frühere Leben“ zu löschen. Doch diese Methode war noch nicht ausgereift; wir wussten nicht, ob die Erinnerungslosigkeit dauerhaft sein würde oder nach einigen Wochen zurückkäme. Trotz dieser Ungewissheit war ich bereit, das Risiko einzugehen. Am 16.06.2062 um 23:03 Uhr gab ich mich meinem Schicksal hin und ließ mich von meinem Team einfrieren – ein letzter verzweifelter Schritt aus einem Leben, das für mich unerträglich geworden war. Ich hoffte auf eine Art Neuanfang, auch wenn ich nicht genau wusste, was mich erwarten würde.

 

„Guten Morgen, Sonnenschein“, begrüßte mich eine fröhliche, blechern klingende Stimme. Langsam öffnete ich meine Augen, doch alles war verschwommen. Neben meiner Glaskammer stand jemand. Wo bin ich? Panik stieg in mir auf. Ein kontinuierliches Piepsen drang an mein Ohr und wurde immer schneller. Was war mit mir geschehen? In meinem Kopf wurde es lauter, bis es in ein dröhnendes Rauschen überging, das unerträgliche Schmerzen verursachte. Plötzlich spürte ich etwas Kaltes an meinem rechten Arm, und das Piepsen wurde langsamer und rhythmischer. Ich begann mich zu beruhigen; die Geräusche in meinem Kopf waren nur noch ein leises Rauschen, bis sie schließlich verstummten und ich versuchte, alles um mich herum zu erfassen.

Über mir an der Decke des Raumes, in dem meine Kammer stand, hing ein riesiger Monitor, der eine Reihe bunter Bilder zeigte. Als ich das sah, schien mein Gehirn sich zu erinnern, und ich geriet erneut in Panik. Das Piepsen im Hintergrund wurde immer schneller. Doch ein sanfter Druck an meinem rechten Arm half mir auch diesmal sofort, mich wieder zu beruhigen. „Es tut mir leid, dass Sie sich erinnern“, hörte ich die Stimme neben mir sagen. Langsam drehte ich meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam, und blickte in ein sehr freundliches Gesicht. Ich versuchte, mich aufzurichten, und die Person neben mir half mir dabei sanft mit einem leichten Druck auf meinem Rücken. Jetzt bemerkte ich kleine Sensoren auf der Handfläche meiner Helferin und sah die kleinen Kabel an ihrem Oberkörper. Plötzlich wurde mir klar, dass es sich nicht um einen Menschen handelte, der mir mit leiser und ruhiger Stimme zusprach. Im Hintergrund hörte ich weiterhin das nun wieder rhythmische Piepen; ich war in einem Raum voller Geräte und weiterer Glaskammern mit Menschen darin. Auch die Wände um mich herum waren mit Bildern bedeckt, die auf dem überdimensionalen Monitor angezeigt wurden. Immer mehr Erinnerungen kamen zurück, und ich fühlte Trauer und Verzweiflung aufsteigen; Tränen füllten meine Augen. Warum erinnerte ich mich wieder? Das hätte nicht sein dürfen. Ich saß hier zwischen all den anderen Eingefrorenen, umgeben vom ständigen Piepsen im Hintergrund und menschenähnlichen Kreaturen im Raum, die sich auf Rollen fortbewegten. Verzweifelt wurde mir klar: Dies war mein zweites Leben, das ich mir so sehr gewünscht hatte.

Am Fuß meiner Kammer leuchtete ein Schriftzug mit einem Datum und einer Uhrzeit. „MJH. 2. Leben. Beginn 13.11.2130. Uhrzeit 07:04 Uhr. Vitalwerte weitestgehend stabil“.

 

Am Freitag, den 13.11.2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte mein Tagebuch meines zweiten Lebens. Ich begann mit folgendem Satz: Das, was wir getan hatten, wonach wir suchten, hofften und schließlich fanden, war der größte Fehler der gesamten Erdbevölkerung.

Im Jahr 2062, kurz nach meiner freiwilligen Kryonisierung, erlebte die Gesellschaft einen regelrechten Ansturm auf dieses Verfahren. Jeder, der es sich finanziell leisten konnte, strebte danach, in einer Glaskammer eingefroren zu werden, um zu einem späteren Zeitpunkt einen "Neuanfang" zu wagen. Weltweit wurden Einrichtungen mit Hunderten von Glaskammern im Akkord errichtet, während Wissenschaftler die Möglichkeit witterten, damit großes Geld zu verdienen. Die Kryonisierung entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Wirtschaftszweige der Menschheit, getragen von der Hoffnung auf einen Neuanfang und ein positives Leben ohne Schicksalsschläge. Doch auch dunkle Mächte und autoritäre Regierungen missbrauchten dieses Verfahren, um Kriege für sich zu gewinnen und ihre Gegner auszurotten. Die Gesellschaft erlebte eine tiefgreifende und unumkehrbare Spaltung. Menschen und Nationen, die sich diesem ethisch und moralisch fragwürdigen Verfahren der Kältetechnologie nicht anschließen wollten, kämpften weiterhin gegen die fortwährende Zerstörung der Natur und Umwelt. Viele flohen vor Leid und Tod sowie vor Dürre und Wassermangel. Trotz der Bemühungen der Industriestaaten blieben die gesetzten Klimaziele unerreicht. Zahlreiche Küstenregionen wurden durch den Anstieg des Meeresspiegels überflutet. Aufgrund konstant hoher Temperaturen von über 45 Grad schmolzen die Gletscher, Gewässer trockneten aus, und mittlerweile bestand die Erde zu 40 % aus Wüstenlandschaften. Die Pflanzen- und Tierwelt, wie ich sie einst kannte, existierte nicht mehr.

Ich hatte gemeinsam mit meinem Team durch das Eingreifen in natürliche Prozesse und dem Streben nach Kontrolle über Leben und Tod, die Welt zerstört und es gab keinen Weg mehr zurück.

 

ENDE

 

 

 

Beitrag 08

 

Die Reise zum Blues

 

Ein Albtraum quält mich die ganze Nacht. Ich wälze mich von rechts auf links und zurück.

Ich sitze in der hinteren Reihe des Boeingdreamliners am Toilettenhäuschen. Die Atemmasken baumeln über die Köpfe der Passsagire und eine direkt vor mir. Angstschreie übertönen das Surren des abschmierenden Flugzeugs. War’s das? Der Abschlussflug der schönsten Reise, die ich in meinem kurzen Leben erleben durfte, beendet es?

Ich wache auf. Mein Schlafanzug ist klatschnass. War etwas? Ich dusche. Frisch rasiert ziehe ich meine Lieblingssachen an und gehe runter zur Küche. Kaffeeduft kommt mir auf der Treppe entgegen. Noch eine Stunde Zeit, bis ich abgeholt werde.

„Moin Ben. Gut geschlafen?“, fragt mich Mama Ute.

„Bestens, wie ein Murmeltier. Ist Natalie schon weg?“ Frische Brötchen stehen auf dem Tisch. Mama stellt Marmeladengläser und Butter dazu.

„Ja. Deine große Schwester ist schon in der Uni. Ich soll Dir sagen: viel Glück in Konstanz. Die haben eine neue Pandemie vorausgesagt und wollen die letzten Kühe umbringen. Das war’s dann mit echter Butter aus der Heimat. Kommt eh schon alles aus China, warum nicht auch die Butter. Die Meldung läuft gerade.“ Sie dreht den Nachrichtensender lauter. Die Durchsage ist ernüchternd und bestätigt Mamas Bestürzung. Eine pandemische Rinderseuche grassiert in Europa. Die Hufe zersetzen sich und die Rinder verenden qualvoll.

Der Sprecher sagt: „Um in einem Jahr die Aufzucht mit neuen Rassen wagen zu können, müssen sämtliche Altbestände gekeult werden. Außer China sind Rinderherden nur noch in den Bundesstaaten Missouri und Oklahoma der USA seuchenfrei. Die Bundesregierung prüft mit den Wissenschaftlern der Gebrauchstierzucht, die Maßnahme einer Neuansiedlung von Rindern aus den USA, in Deutschland. Das war aktuell. Es folgt Blues time, auf Wiederhören.“

Blues Musik tönt aus dem Lautsprecher. Mama will den Sender abschalten.

„Lass ruhig Mutti, ist meine Musik.“

„Das ist doch alter Schund von anno dunnemals.“

„Das ist geile Mucke. Mama, das verstehst Du nicht.“ Ute dreht die Lautstärke leiser. Sie frühstücken.

„Ich habe Dir ein paar Brote geschmiert und eine Saftflasche abgefüllt. Wann kommst Du wieder?“, fragt Ute. „Hab´ ich Dir doch gesagt. In vier Wochen, wenn das Projekt abgeschlossen ist. Ich habe das Auswahlverfahren gewonnen und darf daran teilhaben. Nur die Besten kommen da hin.“

„Hättest besser nicht an dem Wettbewerb teilgenommen.“

Der Hausrobot meldet sich: „Guten Morgen Herr Ben. Bitte machen Sie sich abholbereit. Ihr Taxi ist in zehn Minuten vor der Tür.“ Mama legt Brote und Saftflasche in den Rucksack.

Hausrobot rollt vor: „Herr Ben. Der Gleiter steht abfahrbereit vor der Tür. Gute Reise.“

„Ja. Robby, leiser.“

„Mach es gut mein Junge.“ Sie gibt mir einen Kuss. Ich umarme Mama.

„Mach Dir keine Sorgen. Ich muss dann.“ Ich stelle den Schließknopf der Eingangstür auf offen. Die Tür fährt in die Wand und gibt den Blick frei zum Luftgleiter des Orange Taxiservice. Im Schwebegleiter sitzt bereits ein Passagier.

Ich steige dazu.

„Guten Morgen, ich bin Ben.“

„Guten Morgen“, sagt der Mann und vertieft sich in sein Tablett.

Der Robot Flugkapitän schaut zu mir.

„Willkommen an Bord. Verstauen Sie das Gepäck bitte unter dem Sitz vor Ihnen. Die Flugzeit von Beckum NRW, bis Konstanz BW, dauert planmäßig 135 Minuten. Legen Sie bitte den Gurt an. Ich wünsche eine angenehme Reise.“ Das Luft-Taxi steigt auf.

Mein Begleiter wird am Flughafen Stuttgart rausgelassen. 20 Minuten später öffnet der Gleiter die Türen vor der Forschungsanstalt ´Humboldt´.

Ich nehme den Rucksack und gehe zum Tor. Über mir fliegen große schwarze Vögel, die sich bei genauem Hinsehen als Drohnen entpuppen.

Eine KI Stimme spricht zu mir: „Bitte vortreten und in die Linse sehen.“ Mücken stechen mich in dem Augenblick.

„Eintritt genehmigt. Willkommen Ben.“ Das Tor öffnet sich. Eine junge Frau im grauen Overall kommt auf mich zu.

„Ben! Herzlich willkommen im Humboldt. Ich bin Ann. Folge mir bitte, Professor Samuel Schneider erwartet Dich bereits.“ Sie reicht mir ihre zierliche Hand.

„Danke.“ Mit schnellen Schritten führt mich Ann durch drei Schleusen.

„Da ist ja unser glücklicher Gewinner. Ich bin Samuel“, sagt Prof. Schneider, „schön Dich zu sehen. Wie geht es Dir?“

„Danke der Nachfrage Herr Professor. Mir geht es gut.“

„Samuel. Wir duzen uns im Institut. Bevor wir Dich in die Vergangenheit schicken, gehen wir in die Cafeteria. Der Espresso ist exzellent.“

 

Tagebuch

 

05.08.2150. Erster Tag im Forschungszentrum Humboldt bei Konstanz. Ich werde freundlich empfangen, lerne Professor Samuel Schneider, seine Vorliebe für Kaffee und Ann kennen.

Sie sagt: „Wir können mit der Quantenmechanik Zeit unbegrenzt überwinden, aber nur kurze Strecken. Wir wollen Dich vorm Flughafen absetzen. Die Entfernung von Konstanz nach Frankfurt klappt. Haben wir schon gemacht.“

 

06.08.2150. Beim täglichen zehn Uhr Espresso werde ich von Samuel auf Einzelheiten eingewiesen.

„Planmäßige Quantensprung Ortszeit: Frankfurt am Main, Freitag 04.04.2025. Ein Agent hat einen Koffer im Schließfach 33 deponiert. Der Code lautet: 3434. Im Koffer sind Kleidungsstücke, ein Reisepass der Bundesrepublik Deutschland, Flugticket nach Chicago USA, ESTA Genehmigung zur Einreise, Visa Kreditkarte und 500 Dollar Bargeld.“

 

07.08.2150. Vorbereitungen zum Transfer. Ich bin nervös. Meine Daten zur Quantenübertragung wurden komprimiert. Ich soll Samen von einer Rinderaufzuchtstation mitbringen.

„Ist zurzeit ein brenzliches Thema“, sagt Samuel. „Als Belohnung darfst Du ein paar Tage durch die USA tingeln und alte Blues Musik hören. Den Samen transportierst Du in einem Spezialbehälter.“ Ich lerne, das eukaryotische Zellen mit der Quantenmechanik übertragen werden können, Stoffe und Metalle nicht.

 

08.08.2150. Ich muss mich entkleiden und bekomme einen Overall angezogen, der aus tierischen Zellen genäht wurde. Ich geniere mich, weil Ann dabeisteht.

„Damit Du nicht nackt auf dem Flughafen rumläufst.“ Samuel gibt mir den Transportbehälter für den Rindersamen. „Den steckst Du in die Hosentasche. Nicht verlieren.“

Die Zeitreise ins Jahr 2025 beginnt mit einer Beruhigungsspritze. Ich mache mir Gedanken: Wird alles gut gehen, oder hat Mama recht?

Es ist nicht die erste Quantenreise in die Vergangenheit.

„Einer war schon bei den alten Römern“, sagt Ann, „der kam ohne rechte Hand zurück. Aber nicht, weil die Quantenmechanik versagte. Weil er angeblich gestohlen hat, wurde ihm die Hand abgetrennt.“ Ich sitze auf einem Stuhl in einer Art Kapsel. Die Kuppel wird geschlossen.

Samuel leitet die Transformation ein und sagt: „Der Proband sinkt ins Nirwana. Die Instrumente zeigen einen ruhigen Puls. Der Blutdruck ist normal. Alles im grünen Bereich.“

Ich träume von Stränden, Meer und Wolken.

 

04.04.2025. Ich öffne die Augen. Es riecht nach Diesel und es ist kalt.

Ich sitze auf dem Boden des Bürgersteigs vorm Flughafen. Der Wind lässt meine Kleidung flattern. Ich friere.

Ein Passant kommt zu mir.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Ich sehe komisch aus im saftgrünem Overall. Aber es ist alles da. Auch die Kapsel für den Samentransport. Ich stehe auf. Alles ist an seinem Platz. Die Nase ist im Gesicht und ich kann die Zehen bewegen.

„Mir geht es gut. Welchen Tag haben wir heute und welches Jahr?“, frage ich den hilfsbereiten Mann.

„Äh, Freitag den 04.04. Wir schreiben das Jahr 2025. Soll ich nicht doch einen Sanitäter rufen?“

„Nein, ist alles okay. Danke!“ Ein LKW zieht eine Abgaswolke hinter sich her. Ich eile hustend zur Abflughalle. Schließfach 33. Der Koffer ist tatsächlich da. Auf der Toilette ziehe ich die zeitgemäße Jeanshose, Kragenhemd und Jacke über. Im Spiegel finde ich mein neues Outfit gewöhnungsbedürftig. Eine Menschenschlange hat sich vor dem Schalter der United Airlines gebildet. Ich checke ein.

Flugzeit über den Atlantik: neun Stunden und fünf Minuten. Im Flieger treffe ich auf Rudi. Er sitzt zwei Plätze neben mir. Der Platz dazwischen ist leer.

„Da haben wir aber Glück, das der Platz nicht vergeben wurde“, sage ich zu dem Mann am Fensterplatz.

„Der Platz war gebucht für Thomas, einen Mitreisenden. Der hat sich gestern das Bein gebrochen und kann deshalb die Bluesreise, nicht antreten.“

„Oh, das ist schade für ihn. Ich bin Ben. Sie erwähnten Blues?“

„Ich bin Rudi.“ Der Zufall bringt mich mit dem Reiseleiter zusammen, der vorhat, mit seiner Gruppe, eine Bluesreise durch den Mittleren Osten der USA durchzuführen. Wir lernen uns kennen. Ich bekomme das Angebot, den Platz des Verunglückten einzunehmen.

„Das ist super, da brauch ich mich nicht um Unterkunft und Organisation kümmern. Die anfallenden Kosten übernehme ich gerne!“

„Abgemacht. Da wird sich Thomas freuen, einen Teil der Reisekosten erstattet zu bekommen. Ich schicke Dir die Bankdaten, sobald wir gelandet sind.“

Wir landen in Chicago, steigen aus und fliegen weiter nach St. Louis. Rudi stellt mich den Mitreisenden vor. Die nun wieder 20-köpfige Reisegruppe steuert auf fünf Mietwagen verteilt, Hannibal an. Die erste Station der USA Reise.

 

05.04.2025. Der berühmte Schriftsteller Mark Twain lockt uns nach Hannibal. Wir beziehen ein Hotel am Rande des verschlafenen Örtchens. Im Hotelfoyer ist ein Schwimmbad eingerichtet, das uns Reisende mit einer feinen Chlornote begrüßt.

Reiseleiter Rudi sagt: „So Leute, alle haben eine Stunde Zeit, um sich einzurichten. Um 18 Uhr treffen wir uns hier im Foyer und machen den ersten Spaziergang durch Hannibal. Wer Lust hat, kann zwischenzeitlich schwimmen gehen.“

„Wann gibt’s Abendessen“, fragt Karl.

„Es ist ein Tisch im Irisch Pub bestellt, zu 19:00. Da gibt es Musik, die haben aber auch eine kleine Speisekarte. Da gehen wir nach dem Rundgang hin.“

„Gibt es noch Regen, was sollen wir anziehen?“, fragt Moni.

„Gibt keinen Regen, ihr solltet eine leichte Jacke mitnehmen, falls es nachher kühler wird.“

Die Gruppe geht auf die Zimmer.

Um 18 Uhr tapern wir dem Reiseleiter hinterher. Er zeigt zu einem Lokal.

„Wer eigene Wege gehen möchte, dort seht ihr unseren Treffpunkt. Verlaufen kann man sich hier nicht.“ Die Hauptstraße besteht überwiegend aus einigen Imbissbetrieben und Souvenirläden, die mit ihren Auslagen zum Eintreten locken. Kleinere Grüppchen bilden sich. Ich erkunde mit Carola, die Einkaufsmeile. Der Irisch Pub ist gut besucht. Das Essen ist okay, die Stimmung umso besser.

„Blues spielen die aber nicht“, sage ich zu Rudi.

„Blues bekommst Du noch zum Satthören!“, sagt er.

 

06.04.2025. Am nächsten Morgen, von einigen wird noch das letzte Bier verdaut, besuchen wir Mark Twains Wohnhaus. Der ganze Ort ist auf den Schriftsteller ausgelegt. Wir streichen Tom Sawyers berühmten Holzbretterzaun und besuchen das Museum.

„Mark Twain ist nicht sein bürgerlicher Name. Er wurde 1835 als Samuel Langhorne geboren“, sagt der Guide. „Mark Twain ist eine Wasserstandsmeldung. Er war zwei Jahre als Lotse bei der Flussschifffahrt tätig. Dort hat er die Meldung auf den Schiffen selber gerufen und später als Pseudonym übernommen.“ Nachmittags dürfen wir die Mark Twain Höhle besuchen. In der er sich mit seiner Jugendliebe Becky verirrte und auf den gefährlichen Indianer-Joe traf. Wir übernachten in Hannibal.

 

07.04.2025. Nach dem Frühstück fährt der Konvoi 170 km nach St. Louis. Wir fahren in einer Lore den 192 Meter hohen Gateway Arch rauf. Ziemlich eng.

„Ach du meine Güte, passen wir vier da rein?“ Manfred haut sich den Kopf an den Eisenholmen. Die Aussicht entschädigt.

Louis Armstrong bringt den Blues nach St. Louis. Hier kommt der Sound aber nicht an. Rap und Hiphop ist angesagt. Wir fahren weiter. Ziel ist das Amish Village in 300 Km. Unterwegs sehen wir weiße Eichhörnchen.

Abends erreichen wir den amischen Gasthof im Bundesstaat Indiana.

 

08.04.2025. Wir treffen auf Amische. Sie leben auf dem Land und versorgen sich eigenständig. Einkäufe und Fahrten machen sie, wie vor 100 Jahren, mit der Pferdekutsche. Ich fahre in der Kutsche eines Amischen mit. Er spricht deutsch. Wir unterhalten uns. Hier gibt es keinen Blues.

 

09.04.2025. Von Indiana fahren wir Richtung Süden nach Kentucky. Die Whiskeybrennerei Green River, zeigt uns die Produktions-und Lagerstätten. Manche Teilnehmer decken sich mit Whiskey ein. Übernachtung in Owensboro. Ein Tag ohne Blues.

 

10.04.2025. Zwischenstopp bei den Mammoth Caves. Beeindruckend, alt und farbenprächtig. Kein Blues.

 

11.04.2025. Es gibt eine sportliche Auswahl im Programm. Reiten, Wandern, oder Kanu fahren. Thomas hatte sich fürs Wandern angemeldet. Der Himmel weint Bindfäden. Ich wandere zwei Stunden durch nasse Waldwege. Wir verlassen Kentucky und fahren 500 km über Nashville nach Memphis, Tennessee. Im Wagen hören wir Country und Blues.

 

12.04.2025. Blues, Soul und Rock n Roll kommt aus Memphis und lebt hier weiter.

Besuch des Rock ´n Soul Museum.

„Das ist ja cool“, sage ich. Wir betreten das Museum.

Eine kleine Bühne ist am Eingang.

„Wenn wir Glück haben spielen ein paar Musiker“, sagt Rudi. Die Chefin des Gift Shops telefoniert. Zehn Minuten später hören wir Soul und Blues als Livemusik.

„Das war ein gelungener Auftakt“, sagt Rudi.

Wir ziehen weiter zur Beale Street. Die Gruppe verteilt sich auf der Musikmeile. Carola, Inge und ich sind dem Sound einer sonoren Bluesstimme gefolgt und landen im Innenhof eines Gebäudes. Tische stehen unter großen Platanen. Alle Plätze sind besetzt.

„Dort wird gerade ein Tisch frei“, sagt Carola. Wir bestellen je ein Getränk. Neue Artisten wechseln die vorherigen ab.

„Da ist eine schwarze Sängerin dabei“, stellt Inge fest. Nach dem Einspielen legt die Band los. Wir lauschen.

„Wunderbar“, sagt Inge.

Carola schmilzt dahin und bei mir öffnet sich das Herz.

Der nächste Wechsel bahnt sich an. Wir verlassen den Hof und gehen auf der Schattenseite der Straße weiter. 100 Kneipen und Lokale sind auf der Beale Street angesiedelt. Unterschiedliche Musik strömt auf die Straße.

„Das hört sich cool an“, sage ich. Wir bleiben stehen und schauen ins Lokal. Voll. Wir genießen eine Zeit lang den Sound im Stehen und gehen dann zur nächsten Kapelle im nächsten Haus. Carola kauft ein paar Andenken im Gift Shop. Der Abend ist mild in Memphis. Um 18 Uhr wird die Straße abgesperrt und Kontrollposten aufgebaut. „Heute Abend erwarten die einen Ansturm. Das Baseballspiel endet um 21 Uhr. Dann strömen die Leute vom Stadion zur Beale Street.

 

13.04.2025. Wir fahren nach Graceland. Die Schallplattensammlung des Urgroßvaters wurde an mich vererbt. Darunter ist eine Scheibe von Elvis Presley.

„Ich habe sogar eine schwarze Schallplatte von Elvis“, sage ich zu Carola.

„Das ist nichts Besonderes, ich habe fünf oder sechs von ihm“, sagt Carola. Ich vergas, meine Schallplatte ist 125 Jahre älter. Im Jahr 2150 sind Vinyl Schallplatten, eine Rarität.

„Von 1957, bis zu seinem Tod, hat der King of Rock ´n Roll auf Graceland gewohnt“, sagt die Stimme im Kopfhörer. Das Anwesen ist riesig. Wir besichtigen das große Haus und gehen durch den Garten, indem seine Mutter und er selbst ihr Grab haben. Wir bestaunen die Sammlung der Oldtimer und den rosa Cadillac, den Elvis seiner Mutter Gladys geschenkt hat.

„Da steht auf der Wiese ein Jumbo-Jet“, sage ich erstaunt.

Carola sagt: „Dahinter ist noch ein kleiner.“ Wir dürfen in die Flugzeuge reingehen. Nachmittags besuchen wir den Ort, an dem Martin Luther King, am 04. April 1968, erschossen wurde. Das in dem alten Motel eingerichtete Zivil Rights Museum ist beeindruckend. Es zeigt die Geschichte der Sklaven und ihren Kampf für die Freiheit.

 

14.04.2025. Von Memphis aus befahren wir den Mississippi Blues Trail, Highway 61 und stoppen, nach 128 km, auf einer Kreuzung in Clarksdale.

Nach einer Legende, soll auf dieser Kreuzung der King oft Delta Blues, Robert Johnson, dem Teufel seine Seele verkauft haben, um der beste Blues-Musiker der Welt zu werden.

Nächster Stopp ist beim Riverside-Hotel.

Rudi liest von einem Zettel ab: „Dieses Hotel ist seit 1944 im Privatbesitz der afroamerikanischen Familie Ratliff. Damals gehörte das Hotel zu den wenigen, indem Afroamerikaner zugelassen waren. Schwarze Musiker schliefen hier, darunter Sonny Boy William II, Duke Ellington und Ike Turner.“ Wir dürfen das Hotel besichtigen.

Weiter geht´s durch das Mississippidelta, zum Geburtsort von Muddy Waters, eine Farm am Mississippi. Er brachte sich dort das Spielen mit der Mundharmonika selbst bei.

Rudis Zettel taucht auf.

„McKinley Morganfield lebte von 1913 bis 1983 und war einer der einflussreichsten US-amerikanischen Bluesmusiker. Da die Familie am Nebenfluss des Mississippi wohnte, er oft in diesem spielte und dreckig wurde, bekam er von seiner Großmutter den Spitznamen Muddy Waters, was übersetzt heißt: schlammiges Wasser. Viele seiner Hits spielte er auf der elektrischen Gitarre. Seine Hits gelten heute als die Klassiker des Chicago Blues.“

Nächster Halt ist Indianola, beim B.B. King Museum. Wir bekommen im Museum das Leben und die Musik des legendären Musikers präsentiert. Auch er war der Sohn eines Farmpächters in dieser Region und wurde ebenso zu einem der einflussreichsten Blues-Gitarristen und -Sänger aller Zeiten.

 

15.04.2025. Wir fahren durch die Mississippi-Flutebenen, bis nach Vicksburg und besuchen den national Military Park. Kanonen des amerikanischen Bürgerkriegs sind an original Schauplätzen aufgebaut.

Weiterfahrt nach Ferriday, Bundesstaat Louisiana zum Jerry Lee Lewis Museum. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Seine Eltern verkauften ihre Farm um ihm, gegen ihrer religiösen Überzeugung, ein Klavier zu kaufen. Ich kann den spirituellen Geist spüren. Auf seinem Klavier vereinte Jerry Lee Gospel, Boogie-Woogie Rhythm- und Blues. Wir fahren weiter nach Natchez und übernachten dort.

 

16.04.2025. Besuch des Museums der Natchez, das auf einem Platz steht, wo wichtige Zeremonien stattgefunden haben. Die Indianer nannten sich selber Théoloels, ´Menschen der Sonne´.

„So Leute, jetzt dürft ihr Euch im Chunkey Spiel beweisen“, sagt Rudolf.

Er hat einen Länderkampf zwischen den besten der Mitreisenden gegen die Nachfahren der Natchez organisiert. Spätnachmittag führt uns die Reise zur, nach dem französischen Offizier benannten, Universitätsstadt Lafayette.

 

17.04.2025. Ich erlebe die geschichtsträchtige Kultur der französischstämmigen Arkadier, die zu den Cajuns von Louisiana wurden. Abends spielt in der Cajun Musikkneipe eine achtköpfige Band.

„Wir dürfen das Tanzbein schwingen“, sagt Moni. Ich halte mich erst zurück. Dann treibt mich der animierende Cajunsound, auf die Bretter.

 

18.04.2025. Wir sind auf dem Weg nach Avery zum Tabascowerk und nähern uns dem Mississippi-Mündungsdelta. Wir halten bei der Cathedral St. John an und bestaunen die 500 Jahre alte Eiche. Dann starten wir zum Tabasco Werk. Dort sehen wir Lagerräume mit tausenden Fässern und wandern über das Betriebsgelände, Jungle Gardens. In der Kantine gibt´s traditionelles Gumbo oder Po´ Boy. Zum Nachwürzen stehen Tabasco Fläschchen auf den Tischen. Vorsicht scharf.

 

19.04.2025. Die Bootstour in die Wasser-Landschaft, zu Sumpfzypressen, wilden Orchideen, Palmettopalmen und unzähligen Wasservögeln, verzaubert uns. Unzählige Alligatoren jagen im Mündungsdelta. Sie haben keine Scheu und schwimmen zu uns. Gut, dass wir im Boot sitzen.

 

20.04.2025. Heute Wandern wir auf dem Landweg, durch das mit Seen, Sümpfen und Tümpeln gespickte Delta. An den urigen Bäumen hängt Louisiana-Moos in langen Strängen herunter.

„Sieht aus wie grünes Feen-Haar“, sagt Moni.

Wir bewundern die Landschaft und begegnen Alligatoren. Aufpassen ist angesagt. Zum Glück wird keiner angeknabbert. Nachmittags besuchen wir die 800 ha große Laura Plantage. Die Geschichte der Grundbesitzer, mit Generationen eigener Sklaven, wird erzählt. Im Haupthaus mit den Herren-und Damensalons, indem die Herrschaften residierten, können wir sehen. Spürbar wird sie in den Nebengebäuden und Hütten, indem die Sklaven lebten. Wir fahren zum Hotel Villa C. in die Altstadt von New Orleans.

 

21.04.2025. Der bedeutende Hafen der 400.000 Einwohner Stadt ist riesig. Die Altstadt des French Quarter fordert die Aufmerksamkeit. Das historische Viertel verdaut den Blues seit den Anfängen.

Der Blues verzaubert mich, es ist meine Musik. Ich bleibe in der Stadt, lerne Mundharmonika und spiele täglich auf den Straßen von New Orleans, meinen Blues. Ich treffe auf Gitarren Tom und auf Trompeter Sam. Gemeinsam tauchen wir tief in den Blues ein und schweben in musikalischen Sphären.

Die Zeit verrinnt. 20 Jahre vergehen.

 

12.04.2045. Ich wandere zu unserm Platz vorm Lebensmittelladen. Wir sind jetzt zu viert. Eine schwarze Sängerin umschmeichelt mit ihrer himmlischen Stimme, unseren Blues.

Die Musik ändert sich. Guten Blues gibt es nur noch auf der Straße. Die Touris haben sich nicht verändert. Sie machen Fotos und lassen sich Autogramme geben.

Wie sieht New Orleans im Jahr 2150 aus? In welche Richtung hat sich der Sound entwickelt? Ich breche auf.

 

13.04.2045. Nach Samuels Berechnung läuft die Vergangenheit auf der Quantenreise, 130-mal schneller als in Wirklichkeit. Demnach sind zuhause, lediglich acht Wochen vergangen. Ich will zurück nach Konstanz ins Jahr 2150 und hole den Koffer hervor, den ich damals mitbrachte. Ich ziehe den Overall an, auf dem mein zweites Leben stichwortartig steht. Im Jahr 2150 bin ich 20 Jahre. Ob die sehen, dass ich 20 Jahre weg war? Das Röhrchen für den Rindersamen finde ich nicht mehr. Shit happens.

 

14.04.2045. Unser Flieger ist die Boeing 787. Da war doch was. Das Modell ist in die Jahre gekommen.

Ich sitze in der hinteren Reihe des Dreamliners am Toilettenhäuschen und bekomme ein Déjà-vu, als das Flugzeug vibriert.

Der Traum, den ich vor 20 Jahren hatte, wird real.

Das Anschnallzeichen erscheint und eine Durchsage ertönt.

„Bitte schnallen sie sich an. Wir durchfliegen Turbulenzen.“

Der Flieger schmiert ab und fällt ins Bodenlose.

Meine Hände testen die Haltbarkeit der Armlehnen.

„Keine Angst, ist gleich vorbei. Sind nur ein paar Luftlöcher“, sagt die Stewardess. Sie geht durch den Gang und fordert die Schlafenden auf, den Gurt anzulegen. Der Dreamliner landet in Frankfurt des Jahres 2045.

 

05.09.2150 wurde ich von der Quantenmechanik erfasst und ins Jahr 2150 zurückgeführt.

 

*

 

Ann entdeckt mich zuerst auf dem Quantenschirm.

„Da ist er ja wieder.“ Die Quantenmechanik fängt das Signal ein und holt mich in die Jetztzeit.

Ich finde mich in der Quanten-Kuppel im Humboldt Forschungszentrum wieder.

Hier sind acht Wochen vergangen.

Samuel kommt zu mir.

„Die Untersuchungen ergaben, dass Du lieber Ben, deine Reise ordentlich ausgedehnt hast. Statt der anvisierten fünf Tage warst Du schlappe 20 Jahre auf Ritt. Respekt. Ich hoffe, Du warst sittsam und hast keine Nachkommen gezeugt. Denn das könnte einiges durcheinanderwirbeln.“

„Nein, ich war auf Bluesreise. Sonst war da nichts.“ Nach zwei Tagen Aufenthalt im Humboldt werde ich entlassen.

Zuhause begrüßt mich Mama.

„Junge, sowas machst Du nie wieder. Du siehst aus wie Papa mit 40.“

 

Am Morgen des 13. November, 2150 feiere ich Geburtstag. Ich dusche, ziehe frisch rasiert meine Lieblingssachen an und gehe die Treppe runter. Kaffeeduft strömt mir entgegen. Den Overall mit den Aufzeichnungen von meinem zweiten Leben durfte ich behalten.

Ich habe das Tagebuch digital aufbereitet und dem Tageblatt übergeben. Der Verlag hat es heute veröffentlicht, unter dem Titel: „Ein Leben mit dem Blues“.

 

Auf dem Küchentisch steht eine Torte mit brennenden Kerzen drauf.

„Happy Birthday to you, singen Schwester Natalie und Mama Ute.

„Alles Gute zu deinem Geburtstag“, sagt Mama.

„Du musst die auspusten“, sagt Natalie.

Auf der Torte stecken 20 kleine Kerzen.

 

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 09

 

Wer bin ich – und wenn ja, wie viel davon?

 

Ich weiß nicht genau, wann mein zweites Leben begann. Nur, wann es überhandnahm. Ich habe auch keine Ahnung, ob die Wissenschaft je diese Frage beantworten können wird. Mal abgesehen von der, wer das überhaupt noch wissen will. Und ob die Frage nicht viel eher lauten müsste: Was ist das Ich eigentlich? Auch etwas, worüber sich Philosophen, Wissenschaftler und Abermilliarden Menschen Gedanken gemacht haben, seit es unsere Spezies gibt. Ich jedenfalls guckte am Freitag, den 13. November 2150 in den Spiegel – ich weiß das so genau, weil ein Timer an der Wand hinter mir eingeblendet und ich so verblüfft über meinen Anblick war, dass ich mich sah, also tatsächlich mich, dass ich mich mit Blick auf den Timer versuchte, in der Realität wiederzufinden, und eine ganze Weile brauchte, ehe ich die Ziffernfolge im Kopf richtig herum klar hatte. Wäre es nur die Jahreszahl gewesen, die mich irritierte, hätte ich ja noch an einen technischen Defekt denken können. Aber zuallererst hatte mich das Gesicht irritiert, das mich da ansah, während ich gleichzeitig dachte: Ich. Es erinnerte mich nur entfernt an das, was ich zuletzt gesehen hatte. Dieses war deutlich jünger und – ja, fremd. Oder verfremdet? Dennoch meins. Ich musste es sein. Wer sonst?

Genauso gut hätte da stehen können Freitag, 13. November 2024. Das war zumindest das Datum, an dem ich an dem Tag zuletzt bewusst in den Spiegel geguckt hatte. Der im Übrigen anders ausgesehen hatte. Das ganze Bad …

 

Ich hatte – das war mir plötzlich so präsent, als wenn der Moment gerade jetzt oder zumindest ganz kurz davor stattgefunden hätte oder stattfand – mich gründlich rasiert, gründlicher als sonst, weil ich an dem Tag zur Anhörung vor einen Bundestagsausschuss einbestellt worden war. Vielmehr nicht ich, sondern mein Mandant. Udo. Nach vielen, vielen Beratungen und noch viel mehr Schriftverkehr und unzähligen Stangen Kölsch in der „Ständigen Vertretung“ waren wir beim Du angekommen. Immerhin einte uns die Geburtsstadt am Rhein, sogar die Universität in Aachen, aber da hörte es schon auf. Während er sich der Biowissenschaft gewidmet hatte, promoviert, Kinder gezeugt, eine Karriere in der Pharmaindustrie eingeschlagen, schließlich in diversen Vorständen börsennotierter Unternehmen unterwegs gewesen war, hatte ich im dritten Anlauf und nur mithilfe jahrelanger Repetitorien mein Staatsexamen geschafft, eine Reihe gescheiterter Beziehungen und Arbeitsverhältnisse aufzuweisen, bis ich schließlich in der Selbständigkeit gelandet war. Da dümpelte ich mit Pflichtverteidigungen hart am Rand des Existenzminimums. Und trank mir gelegentlich das Leben schön – in der „Ständigen Vertretung“, wo das Bier nicht nur vertraut schmeckte, sondern billiger als anderswo war, dem Gebinde geschuldet. Da hatten wir uns an der Theke kennengelernt. Ich war offensichtlich genau das, was Udo zupasskam. Ich meine, er hätte sich ganz andere Anwälte leisten können. Da war schon etwas, was ihn persönlich angesprochen haben musste. Was ich für Freundschaft hielt. Meine juristische Reputation konnte es nicht sein.

In der Sache ging es um eine Lappalie, rechtlich betrachtet. Eine Wahlprüfungsbeschwerde. Udo hatte im April – also noch vor der Europawahl einen Eilantrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt wegen der Wahlzettel: die Kurzbezeichnung aller Parteien auf den amtlichen Stimmzetteln zur Europawahl wären in derselben Schriftgröße darzustellen wie ihre ausgeschriebene Langbezeichnung. Der Antrag war abgeschmettert worden, eine Untersuchung könnte erst nach der Wahl vor dem entsprechenden Ausschuss erfolgen. Natürlich hätte es am Ergebnis ohnehin nichts geändert, aber es brachte Presse. Jetzt ging es um Aufarbeitung. Im äußersten Glücksfall hätte irgendein Blättchen den Fall unter ferner liefen noch einmal aufgegriffen, geändert hätte es nichts. Eine Wahl wird nicht annulliert wegen Versalien oder Minuskeln auf Wahlzetteln. Udos Partei war aufgrund des langen Namens als einzige nicht mit Fettdruck auf der Liste erschienen, was er als Benachteiligung empfand, schließlich sei die Sichtbarkeit eingeschränkt. Da änderte auch die Position 20 von 34 Parteien nichts.

An dem Freitagmorgen im November jedenfalls hatte ich mir richtig Mühe gegeben, dass ich einen seriösen Eindruck machte, was nicht allzu häufig vorkam. Die Knöpfe des Anzugs ließ ich sicherheitshalber offen, damit er nicht spannte. Im Paul-Löbe-Haus wäre ein Talar, unter dem ich die Tatsache, dass mein Leibesumfang die Konfektionsgröße längst gesprengt hatte, fehl am Platz gewesen, und einen neuen Zwirn konnte ich mir nicht leisten.

Auf dem Weg ging mir vieles durch den Kopf. Darunter immer wieder die Frage, was Udo sich davon versprach. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass es ihm eigentlich um etwas ganz anderes ging, und ich bedauerte die vielen Abende, an denen ich ihm nach langen und intensiven Gesprächen und noch viel mehr Bier irgendetwas unterschrieben hatte, woran ich mich nicht mehr genau erinnerte. Irgendwelche Petitionen – in der Regel ging es um das Gesundheitswesen und Forderungen, Etats zu erhöhen. Das mit dem Organspendeausweis hatte ich im Kopf, klar, den hatte ich schließlich bekommen und führte ihn seitdem im Portemonnaie mit mir. In dem Punkt hatte er mich tatsächlich überzeugt. Ich meine, ich war vergleichsweise jung – ein Vierteljahrhundert jünger als Udo, und irgendwie hatte der Gedanke, dass ich zumindest nach meinem Ableben noch zu irgendetwas nützlich sein könnte, etwas Tröstliches. Na, gut, ob meine Leber noch viel getaugt hätte … Trotzdem. Als Jurist hätte mir nicht egal sein dürfen, was ich da alles unterschrieben hatte, auch wenn ich es nicht so ernst nahm. Das meiste, was Udo bewegte, hielt ich für Spinnerei. Verjüngungsforschung – oh je.

Meine Mutmaßungen über sein Interesse an mir gingen eher in eine andere Richtung. Ich meine, Personen in der Öffentlichkeit, gerade solche, die ihr Leben lang gesellschaftliche Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern übertroffen hatten, kamen ja gelegentlich an einen Punkt, wo sie sich ehrlich machen wollten. Ralf Schumacher, Bill Kaulitz und wie sie alle hießen … Nicht mein Ding. Auch wenn ich mich mit Frauen immer schwergetan hatte – schwul war ich ganz bestimmt nicht. Und ob Udo so eine Neigung hatte – geoutet hatte er sich jedenfalls nicht und sich bis zu jenem verflixten Freitag auch nichts anmerken lassen. Okay, die Sache mit der Verjüngung – die Eitelkeit dahinter, das Bestreben, anderen vorzutäuschen, man sei knackiger, sicherlich auch sexuell attraktiver, als der Perso hergab – typisch für solche Neigungen?

Ich bin auch nicht abergläubisch. Nie im Leben hat mich eine schwarze Katze, ein Schornsteinfeger, mein Sternzeichen oder eben ein Datum beeindruckt.

An jenem Morgen hatte ich mich aufgebrezelt, so gut es ging – immerhin musste ich mich mit dem Anzug in die Motorradkluft zwängen, ganz knitterfrei würde ich daher ohnehin nicht ankommen. Aber meine letzte Karre war den Weg alles Sterblichen gegangen, eine neue oder ein Taxi lagen jenseits meiner Möglichkeiten, und auf den öffentlichen Nahverkehr war nun mal kein Verlass.

Während der Fahrt war ich so in Gedanken, dass ich eine ganze Weile nicht darauf achtete, dass mein Vorderrad sich leichter anfühlte als sonst. Zumal der erste Teil der Strecke gut asphaltiert war, die Maschine also sauber lief. Erst als ich auf die Landstraße einbog und Gas gab, spürte ich das Lenkrad vibrieren und im Nullkommanichts derart heftig ausschlagen, dass mein Hirn von Udo auf Lenkkopflager hüpfte, ich vollkommen panisch reagierte, mich an den Lenker klammerte und die Vorderbremse anzog. Exakt das Gegenteil von dem, was angebracht gewesen wäre, um den Death Wobble zu vermeiden. Aber das fiel mir erst ein, als ich durch die Luft katapultiert wurde. Verdammt hoch. An mehr konnte ich mich nicht erinnern. 150 Jahre lang.

 

150 Jahre lang?

Es ist nicht so, als wäre da kein Bewusstsein gewesen. Es fühlte sich nur vollkommen anders an. Wie eine Art Gelee. Eine wabernde Suppe. Es gab keine Worte dafür. Zumal alles irgendwie auseinanderdriftete – wie Elementarteilchen nach dem Urknall. Nichts, was ich, ich hätte nennen können. Schmerz, Dunkelheit, Ausgeliefertsein, Kälte, Einsamkeit – einige der Wahrnehmungen oder Empfindungen, die den Zustand ein wenig hätten fassen können. Aber wer weiß? Vielleicht war das lediglich meiner Imaginationskraft geschuldet, von der mir bis dahin nicht bewusst war, dass ich über etwas Derartiges überhaupt verfügte. Dieser Zustand hielt an, ohne dass es einen Zeitbegriff gegeben hätte, Schwankungen, ja, Verlagerungen, das Empfinden des Auseinanderdriftens erfolgte in Schüben, mal heftiger, dann herrschte wieder vollkommene Starre. Und absolute Stille. Abgelöst von zunehmender Helligkeit und Blitzen. Nicht spezifizierbare Geräusche: Summen, Ticken, Klopfen, Poltern, Donnern – ebenso wie taktile oder kinetische Reize traten auf, aber nichts davon konsistent, ein- oder zuordenbar. Zumal nichts zusammenpasste oder -gehörte. Eine Ewigkeit, die keine war, weil die Kategorie – ebenso wie der Raum, wie Leben – nicht existierte.

Ein Zustand zwischen nichts und nicht etwas.

Bis alles sich peu à peu à peu wieder verdichtete und noch viel, viel, viel allmählicher mit einem menschlichen Bewusstsein verband, erst kaum wahrnehmbar, ehe es sich zunehmend formierte. Das Erstaunlichste vielleicht: ohne dass es einer Rückkehr ähnelte, im Gegenteil, es fühlte sich absolut fremd an. Auch dieses Empfinden war zeitlos – oder derart gedehnt, dass es außerhalb jeder Begrifflichkeit stattfand.

Bis dieses Bewusstsein sich derart konkretisierte, dass es in eine Person kondensierte, etwas Vertraut-Unvertrautes, kein Ich, irgendwas zwischen einem Du, Es oder Er. Ein Mensch. – Wirklich ein Mensch? Ein Stückwerk von Rudimenten. Ein aufflackerndes Ego – nein, immer noch kein Ich. Ein Name – aber keine Identität, nichts Identifizierbares: Udo.

Noch während der Name sich manifestierte, verschwamm er wieder, löste sich auf, wie die Person sich auflöste und neu fügte. Wie das Bewusstsein immer noch waberte, schillerte, oszillierte.

 

Bis ich schlagartig vor dem Spiegel, den ich nicht kannte – oder doch? – in dem Badezimmer stand, das ich nicht kannte – oder doch? –, den Timer zu entziffern, zu verstehen versuchte und das Gesicht anstarrte, das meins und wieder nicht meins war, das zu mir gehörte, der ich, ich dachte – und doch lange erst einmal nichts begriff. Bis ich begann, Puzzleteilchen für Puzzleteilchen für Puzzleteilchen – gefühlt Abermilliarden – zusammenzufügen. Ich brauchte Wochen. Nein, Monate, um das alles zu verdauen. Es gab sie wieder: die Zeit. Es gab auch Raum. Das Bad, das ich nicht erkannte, gehörte zu einer Wohneinheit, die mir erst recht unvertraut war. Mehrere miteinander verbundene Sphären, durch Wände getrennt, die aber, wie ich nach und nach herausfand, flexibel waren. Auf der Suche nach Lichtschaltern geriet ich an Sensoren, die fast alles im Raum verändern konnten: Neben der Helligkeit die Position der Möbel, der Wände, der Fenster. Musik, Geräusche von außerhalb ließen sich hochfahren und herunterdimmen. Indem ich von Raum zu Raum ging, fragte ich mich, ob ich mich in einem futuristischen Modellhaus befand, einem anderen Zeitalter – oder komplett den Verstand verloren hatte. Für Letzteres sprach einiges, weil ich mich ganz offensichtlich an nichts erinnerte.

Der Blick aus dem Fenster machte es nicht besser. Ich sah zerklüftete Felsen und eine endlose Wasserfläche, offensichtlich ein Meer. Eine Terrasse vor dem, was man wohl Wohnzimmer nennen konnte. Zur anderen Seite des Hauses – der Villa? – breitete sich ein grünes Tal aus. Vegetation, die geordnet, bearbeitet schien, auch wenn mich die Bäume und Pflanzen nur entfernt an solche erinnerten, die mir vertraut waren. Gut, Biologie und Landwirtschaft hatten mich noch nie interessiert. Ich war immer Stadtkind gewesen, Landflucht nicht mein Ding. Andere menschliche Behausungen waren von hier aus nicht auszumachen. Auch keine Lebewesen. Doch, vereinzelte Vögel am Himmel. Auf einem anderen Stern war ich definitiv nicht gelandet. Die Luft war klar und sauerstoffreich.

Ich betrat die Küche, die nur entfernt an Küchen erinnerte, die ich kannte, aber eindeutig Küche. Es gab einen Kühlschrank, in dem Getränke und Lebensmittel standen, Früchte in einem Korb, weitere Lebensmittel in einem anderen Schrank. Etiketten, deren Aufschriften teilweise fremd waren, auch wenn ich zu ahnen meinte, was in den Behältnissen steckte. Form und Farbe von Obst und Gemüse unterschieden sich nur geringfügig von denen des Weddinger Supermarkts um die Ecke. Ich entnahm eine kurze, rote Banane, schälte und kostete sie. Sie schmeckte äußerst aromatisch. Schöne neue Welt! Ich öffnete eine Luke – den Icons darauf nach zu urteilen für Kompostabfall – und entsorgte die Schale in einen Schacht.

Verspürte Harndrang, fand im Bad Vorrichtungen – das eine musste eine Toilette sein. Bei der anderen, direkt unter dem Spiegel angebracht, in dem ich mich vor kurzem noch gemustert, aber kaum erkannt hatte, war ich mir nicht sicher, ob sie der Körperreinigung oder als Urinal diente, entschied mich daher für die erste Möglichkeit, über der der Timer angebracht war. Entdeckte einen Sensor, mittels dessen ich mein kleines Geschäft wegspülte.

Ein weiterer Raum mit Liegemöglichkeiten diente wohl vorrangig zum Schlafen, ein letzter enthielt eine bequeme Sitzgelegenheit, einen großen Tisch mit eingelassenen Sensoren, klar abgegrenzte Wandflächen, die möglicherweise für Projektionen taugten.

Die ganze Zeit, während ich mich durch das Haus bewegte, fühlte ich mich einerseits vollkommen verunsichert, weil nichts davon bisher in meinem Bewusstsein gewesen war, gleichzeitig aber fühlte ich mich instinktiv sicher: Dies war mein Terrain, obwohl ich es nicht kannte. Es waren meine Lebensmittel, wiewohl ich sie nicht besorgt, meine Einrichtung, obwohl ich sie nicht ausgesucht hatte. Nie hatte ich so komfortabel residiert, nie hatte ich mich so frisch und wohl gefühlt. Hing das etwa mit der Phase der Bewusstlosigkeit zusammen, aus der ich soeben vor dem Spiegel erst wieder zu mir gefunden hatte?

Hatte ich schlicht die ganze Zeit geschlafen?

Der Moment, in dem es mich durch die Luft katapultiert hatte, fiel mir wieder ein. – War ich etwa gestorben und hatte mich neu inkarniert?

Ich suchte Antworten in dem Raum, den ich für ein Arbeitszimmer hielt. Betätigte die Sensoren, öffnete Dateien, beamte Bilder, Dokumente, Unterlagen an die Wand.

Fand, was ich suchte.

 

Udo. Spitzenkandidat der Partei für systematische Verjüngungsforschung hatte ganze Arbeit geleistet. Ob er meinen Unfall durch Manipulation an meinem Maschinchen befördert hatte, ließ sich in dem 150 Jahre alten Dossier unter meinem Namen nicht nachvollziehen. Damit war aber auch nicht zu rechnen gewesen. Wenn es so ein Corpus Delicti gegeben hätte, hätte er es mit Sicherheit sofort vernichtet. Das Dokument, auf dem ich ihm im Falle meines Ablebens meinen leiblichen Korpus zu medizinischen Versuchszwecken übereignet hatte, fand sich hingegen. Ebenso alles, was man seither mit mir bzw. meinem Körper angestellt hatte. Zunächst waren meine sterblichen Überreste schrittweise heruntergekühlt und bei –196°C in flüssigem Stickstoff gelagert worden. Nicht etwa – wie im Fall des PayPal-Mitgründers Peter Thiel, des KI-Forschers Ray Kurzweil oder der Baseball-Legende Ted Williams –, um sich wieder auftauen zu lassen, sobald die Formel für das ewige Leben gefunden wäre, sondern Udos Plan war viel perfider. Er nutzte mich als Fundus für alle Reparaturen, die an seinem eigenen Körper fällig wurden. Die Kryokonservierung sorgte dafür, dass sein Ersatzteillager – also ich – nicht alterte. In Anbetracht der Ausbeutung, die da über anderthalb Jahrhunderte an mir vorgenommen worden war, verstand ich den zeitlosen, bewusstlosen, Ich-losen Schwebezustand, den das, was von mir übrig gewesen war, empfunden hatte. Ebenso wie die wechselnden Wahrnehmungen, das Gefühl des Auseinanderdriftens.

Udo hatte daneben sämtliche Bio-Technologien genutzt, deren Entwicklung er mithilfe steinreicher Sponsoren massiv forcierte, um den Zustand seines eigenen Körpers – wie die seiner Klienten – nachhaltigen Verjüngungskuren zu unterwerfen. Davon profitierten selbstverständlich auch Organe und Gewebe, die er mir bereits entnommen hatte. Tatsächlich schaffte er es so, den eigenen Leib nicht nur 150 Jahre im Status quo von 2024 zu erhalten, sondern sein physisches Alter noch einmal um weitere 20 Jahre zu reduzieren.

Um ihn und seine Muschpoke herum war die Welt natürlich nicht stehengeblieben. Pharmakonzerne, Superreiche, Machthaber aller Couleur verschafften sich nicht nur ewige Jugend, sondern nutzten die Teilhabe an Gesundheit als Machtmittel, das immer weniger Menschen zur Verfügung stand. Wozu brauchte es auch acht Millionen Erdbewohner, die sich um Ressourcen stritten, während längst Roboter und KI die Arbeit übernehmen konnten, zu der Menschen noch nützlich gewesen waren? Epidemien und Seuchen rafften nach und nach einen Großteil der Spezies Homo sapiens weg. Mit wunderbaren Kollateraleffekten: Der geschundene Planet erholte sich.

 

Ein Glöckchenton erklang. Ich wandte den Kopf zu der Projektionsfläche links von mir, wo eine Frau erschien. Eine atemberaubend schöne, schwarzgelockte, kurvige junge Frau in pinkem Kostümchen.

„Sahra!“, rief ich, ohne groß nachzudenken. War sie es wirklich? Die ursprünglich linke Politikerin, die 2024 rechtzeitig vor der Europawahl ihre eigene Partei gegründet hatte, eine – ähnlich wie die Verjüngungspartei – Ein-Themen-Partei. Nur dass es bei ihrer ausschließlich um sie selbst gegangen war, die gefördert werden sollte. Nun, das schien geglückt. Nach hundertfünfzig Jahren sah sie gut dreißig Jahre jünger aus. Das blühende Leben!

Bei ihrem Anblick merkte ich, dass auch ich gerade zwanzig Jahre alt sein durfte. Mit allem, was das hieß. War die männliche Zeugungskraft nicht in genau dem Alter am höchsten?

Sie starrte mich an und schien irritiert. Nicht etwa, weil ich sie mit dem falschen Namen angesprochen hatte. Sondern weil, was sie sah, nicht war, was sie erwartet hatte. „Udo?“, fragte sie. „Ich hatte wie versprochen vorbeikommen wollen. Aber – was ist passiert? – Wer bist du?“

Ich grinste. „Alles im grünen Bereich, ich erklär’s dir, wenn du hier bist.“

Als sie auflegte, reichte mein Grinsen von einem Ohr zum anderen. Udo, das Arsch, hatte in seinem Forscherwahnsinn ein kleines, aber entscheidendes Detail nicht beachtet: In dem Moment, in dem mein Körper mehr Anteil an seinem hatte als das, was von seinen ursprünglichen Zellen noch übrig war, war er ich geworden. Ich hatte mir zurückgeholt, was mir gehörte.

 

Freitag, der 13. war definitiv mein Glückstag.

 

 

ENDE

 

 

 

Beitrag 10

 

Pilgerreise

 

Jemand sagte Tlamana Alfablot, er solle Tagebuch führen, das würde ihm helfen, sich zu erinnern. Alfablot erinnerte sich genau – er stand in der Sicherheitstür der Raumstation, vor sich das Licht der vielen Sonnen. Es war gleißend hell und er sprang und fiel und fiel. Und irgendwann war das Licht in ihm. Er war ein Teil davon. Oder war es umgekehrt? Das Licht ein Teil von ihm?

Sie zogen ihn an einem 13. November aus dem Inferno. Sie sagten, er schwebte vermutlich schon seit Wochen zwischen den Sonnen der Galaxie und verglühte nicht. Sie konnten es nicht glauben, als sie ihn inmitten dieser gewaltigen Energie sahen, und sie sammelten ihn ein und brachten ihn auf den Außenposten der Gesellschaft für Energie. Da war er nun als ein Insasse der Krankenabteilung und als ein Kuriosum, das von den Ärzten beäugt wurde und über das sie aufmerksamkeitsheischend publizierten. Die Gesellschaft für Energie beglich die Krankenhausrechnungen, da er in ihren Diensten zu Schaden kam. Er war sich nicht sicher, ob es ein Schaden war. Die Ärzte meinten, es sei einer, also fühlte er sich beschädigt und beschrieb die Seiten in seinem Tagebuch. Und immer wieder sah er vor seinem geistigen Auge das gleißende Licht, die Eruptionen auf den vielen Sonnen. Er wusste, was er tat, als er sprang. Er wollte seinem unglücklichen Leben endlich Bedeutung verleihen. Sich selbst opfern, damit die Götter besänftigt sind und die Sonnen den Menschen weiterhin Energie liefern, und er wollte denen folgen, die vor ihm denselben Weg beschritten. Er wollte sie sehen, die flinken Kolibris im versprochenen Paradies, und er wollte selbst einer sein.
Die Energie fing ihn auf, hüllte ihn ein. Er verglühte, starb, wurde ausgelöscht, wurde in Atome gespalten und war im Licht begraben, und war dennoch seltsam lebendig. Etwas drückte leicht auf seine Brust und sein Herz schlug so schnell wie das eines Vogels. Es war, als ob er schwebte, und da war ein Wesen vor ihm, halb Puma, halb Vogel und Mensch, und sah ihn an, einfach nur an, und Alfablot tat einen tiefen Atemzug und öffnete die Augen und blickte in den Schein vieler kleiner Lichter und war neu geboren im Licht. So dachte er zuerst. Doch er erwachte, ganz unspektakulär, im Krankenzimmer eines Raumgleiters und blickte in hunderte kleiner LED-Lampen, die auf ihn gerichtet waren, und er dachte, das wäre wohl ein Witz! Nach all der Erhabenheit, nach all der Einsicht, nach all der Opferbereitschaft und dem Hoffen, endlich zu etwas Nütze und Teil etwas Großem zu sein, blickte er in die Drecks-LED-Lampen und hörte eine Stimme: „Wir haben ihn.“ Genauso fühlte er sich auch, eingefangen, gecatcht, herausgerissen. Und nun saß er beschädigt auf einem Stuhl in einem Sanatorium und beschrieb Blätter, die Teil des Genesungsprogramms waren.

Scheiß-Sunflower-Galaxy! Die hatte ihm das alles eingebrockt.
Alfablot stützte seine Ellenbogen auf den kleinen Tisch am Fenster seines Krankenzimmers im 38. Stockwerk. Ein riesiger Komplex, der doch nur ein winziger Teil eines winzigen Universums war. Er betrachtete das, was man hier immer sah: graue Gebäude und unzählige Pipelines, die wie monströse dunkelgraue Würmer diesen Planeten umschlossen und in denen die Sonnenenergie transportiert wurde. Morgen würden sie ihn fragen wie er vorankäme mit dem Tagebuch. „Prima“, würde er antworten und mit wirren Zeichen beschriebene Zettel überreichen. Er nahm den Stift, senkte die Spitze auf das Papier, verharrte dort sekundenlang, minutenlang, und dann schrieb er Symbole, die sich in seinem Kopf bildeten. Strich um Strich, formten sie sich unter der Spitze des Stiftes zu Zeichen, die schon immer so waren. Seit Anbeginn der Zeit. Die Ärzte meinten, das wäre ein Ausdruck des verrückten Geisteszustandes, und sie verabreichten ihm Pillen, die es wieder geraderücken würden – den Zustand des Geistes. Alfablot erinnerte sich, dass er in seinem alten Leben häufig gegen das Gesetz verstieß, und dachte sich, es wäre von Vorteil, die Ansicht der Ärzte vorsichtshalber nicht geradezurücken. Alfablots Augen entfernten sich von den Blättern, die vor ihm lagen, und er ließ den Blick wieder in die Ferne schweifen. Das Licht ... – Unsinn! Schluss damit, er hatte überlebt. Hier war er nun mal und musste damit zurechtkommen und die Krankenschwester war ein Feger, die war echt hübsch, da musste er dranbleiben, er war auch nicht gerade hässlich, da ging bestimmt was. Er beugte sich über die Blätter, vergaß die schicke Krankenschwester im selben Augenblick und seine Hand flog über das Papier. Da war die Rede von einem Wesen namens Huitzilopochtli, das nicht von dieser Welt war. Alfablot zerknüllte frustriert das gerade beschriebene Blatt Papier. Sie hatten ihn gepiesackt, all die Ärzte, die wissen wollten, wie ein Mensch das überleben konnte, und ihn diversen Tests unterzogen. Sie hatten ihm Kabel überall hingepappt und Fragen gestellt, die er nicht beantworten wollte und deshalb log. Er wusste, sie würden es nicht verstehen. Das Licht ..., es ging immer ums Licht! Man könnte auch ganz lapidar sagen: Ohne Licht geht nichts. So wie man sagt: Ohne Strom geht nichts.

Vorher war das Licht.

Alfablot befühlte eine Brandblase an seinem Arm. Ein Arzt meinte, er wäre eine besondere, feuerfeste Spezies, sonst wäre er verglüht, und näherte sich ihm mit einem Bunsenbrenner. Es tat höllisch weh und Alfablot fluchte. Inzwischen war er sich sicher, diese Ärzte waren gemeingefährlich, und er versuchte, deren Gesellschaft zu meiden oder zu fliehen oder zu lügen. Es ging ihm doch gut, alle Tests waren in Ordnung, der Körper funktionierte – also was? Da war etwas mit der Unmöglichkeit des Überlebens im Inferno und dem Veröffentlichungswahn mancher Ärzte.

Nachts im Traum erschien ihm das Wesen mit dem Namen Huitzilopochtli, und das sagte ihm, es wäre Zeit aufzubrechen, und er verstand. Früh am Morgen stach die Schwester eine fette Nadel in seinem Arm und zapfte ihm Blut ab. Alfablot stöhnte und er spuckte die letzte Pille, die ihm die Schwester in den Mund steckte, unbemerkt ins Waschbecken, packte seine Zahnbürste und seine Rasierklingen und seinen Schlafanzug auf ein Tuch, knotete die Enden zusammen, zögerte kurz und stopfte noch Blätter, Tagebuch und den Stift in das Tuch und verließ das Gebäude.

Alfablot wusste, wie man durchkommt. Er lullte die Menschen ein und er log gnadenlos – so wie er es früher immer tat, doch diesmal nur mit halber Kraft. Es blieb ihm nicht verborgen, dass sich etwas verändert hatte. Er hatte sich verändert, durch seine Bereitschaft zuzuhören. Er neigte sich dem Menschen wie selbstverständlich zu und lauschte dem, was da erst zögerlich und dann sprudelnd hervorbrach. Man dankte es ihm. Er bekam zu Essen und ab und an einen Schlafplatz. Plötzlich spürte er deutlich, dass er eine Aufgabe hatte. Zuhören, aufschreiben, berichten – überall! Er lief mit dem Bündel über der Schulter durch die Straßen und kletterte über die Pipelines und schrieb alles auf. Das, was erzählt wurde, das, was er sah, was er erlebte, irgendwann sogar das, was er fühlte, und er ertappte sich dabei, sich selbst als ein für ihn unbekanntes Wesen zu begreifen. Tagelang brütete er darüber, ob das normal oder pathologisch wäre, und kam zu dem Schluss, das wäre für seine Aufgabe sicher nicht wichtig, und beschrieb akribisch die Erlebnisse, die etwas in ihm auslösten, und sei es nur ein Sonnenstrahl auf der Haut, der wärmte und vertraut war und ihn denken ließ, er wäre ein Teil davon, als wäre er aus diesem Licht gemacht. Scheinbar ohne Ziel lief er über die Oberfläche des Planeten, so wie all die anderen, die verwirrt umher tappten. Manchmal gaben sie sich den Anschein, als wüssten sie, was sie tun, und liefen in teuren Anzügen durch die geschäftigen Straßen, eine Kommunikationseinheit im Ohr und brabbelten vor sich hin. Wer außer verwirrte Menschen tut so etwas? Alfablot ließ sich nicht täuschen und schrieb es auf. So lange, bis ein anderes Gefühl in ihm entstand. Eine Art Sehnsucht. Hier auf diesem entlegenen Planeten irgendwo im Universum konnte er nicht bleiben. Etwas sagte ihm, er solle nach Hause, und er fand sich an der intergalaktischen Raumstation ein und bestieg den riesigen Raumgleiter, der ihn zur Erde bringen würde – die ganze weite Strecke durch mehrere Galaxien. Die Erde war nicht seine Heimat. Aber das war nicht von Bedeutung. Es war von Bedeutung, dass das Wesen aus seinen Träumen die Erde als „Mutter“ bezeichnete. Schon auf dem nächsten Planeten zogen sie ihn aus dem Abteil, er hatte keine Fahrkarte. Sie brachten ihn in ein Gebäude, in einen kleinen, kahlen, kalten Raum, setzten ihn dort auf einen Stuhl, sagten, er solle mit dem anderen, der auch ohne gültiges Ticket erwischt wurde, hier warten, und schlossen die Tür. Alfablot sah auf den großen, dürren Hund, der starr dasaß und langsam seine lange Schnauze etwas in seine Richtung streckte. Der Hund sah ihn mit sandfarbenen Augen an und schnappte, ohne den Blick von Alfablot zu nehmen, nach einer galaktischen Fliege. Alfablot zog seinen Stift und ein Blatt Papier hervor und ruckelte auf seinem Stuhl etwas weiter in Richtung des Hundes. „Ich höre.“ Der Hund duckte den ausgestreckten Kopf tiefer und winselte leise. Alfablots Stift flog über die Seiten. Zwei dicht beschriebene Seiten, später holten sie ihn und stellten Fragen – nach der Möglichkeit der Begleichung der Schuld. Alfablot hörte dem Mann zu, der da vor ihm saß. Er hörte ihm auch noch zu, als der schwieg. Lange Zeit, geduldig, ohne Hast, ohne ein Anzeichen von Ermüdung, lauschte er dem Mann mit dem schütteren Haar und der ungesunden Gesichtsfarbe, die man bekommt, wenn man die meiste Zeit des Lebens in den Räumen einer Verwaltungsbehörde verbringt. Ein Mensch, der Millionen gleich klingende Ausflüchte von Schwarzfahrern gehört hat und tausende aberwitzige. Ihn konnte nichts mehr schrecken oder überraschen. Er kannte sie alle. Das war sein Wissensschatz, der ihn zu einem guten Mitarbeiter machte. Und dieses überflüssige Wissen, verlieh seinem eingeschlafenen Gesicht sein Aussehen. Sie saßen stumm beieinander. Bis dieser Mann den Kopf senkte und zwei Tickets zur Erde ausstellte, eines für Tlamana Alfablot und eines für den Hund.

Hund und Mensch bestiegen zusammen den Raumgleiter, der sie zur Erde bringen würde. Die Reise dauerte lange und Alfablots Tagebuch gewann an Umfang. Jede Haltestelle wurde von ihm vermerkt. Jede, von einem – für diese Art der Aufmerksamkeit – dankbaren Mitreisenden erzählte Geschichte bannte er auf die Seiten. Ihm entging keine Stimmung. Und schließlich setzte der Raumgleiter auf einem Planeten auf und das Display an der Decke zeigte den Namen: Erde.
Die Erde war weder wüst und leer, noch gab es da eine Schlange in einem Apfelbaum, so wie er es in dem merkwürdigen Reiseführer gelesen hatte. Aber sie war ziemlich heruntergekommen. Die Sonne dieses Planetensystems war kaum zu sehen durch all den von starken Winden aufgewirbelten Staub und dunklen Abgaswolken. Hier wuchs nicht mehr viel. Das war mal anders lt. Reiseführer. Aber inzwischen gab es andere Planeten mit endlosen Feldern und Ställen, so groß wie Städte. Der Hund war an seiner Seite, das musste so sein. Die Stimme des Wesens aus seinem Träumen sagte ihm, der Hund würde ihn begleiten und auf ihn achten, damit er nicht tollpatschig in einen Fluss fiele und den Weg fände. Alfablot war dankbar, er wollte hier nicht in einen stinkenden von Abwässern verunreinigten Fluss fallen. Aber er hätte ihn auch so mitgenommen. Der Hund war eine interessante Persönlichkeit und wusste viel zu erzählen.
Die Oberfläche dieses Planeten war unglaublich vernarbt. Alfablot und der Hund konnten sich nur vage vorstellen, wie alt dieser Planet war und was er schon alles erlebt hatte. Alfablot wusste wenig über die Erde, doch genau hier mussten sie sein. Dieser Planet war der Ursprung. Von hier stammte alles Leben, das sich auf die anderen Planeten erstreckt hatte. Sie waren zuhause.

Sie liefen die alten, ausgetretenen Pfade nach Süden. Und immer wenn ihnen jemand begegnete, zog Alfablot seinen Stift und Papier hervor und immer öffneten sich die Menschen und Wesen dem, der da vor ihnen stand. Manche waren misstrauisch und es dauerte eine Weile, doch irgendwann teilten sie ihre Gedanken und ihr Brot. Alfablot vergaß fast seine eigene Geschichte. Er wusste, er stahl und log in seinem alten Leben, das war auch in Ordnung. Damals hatte er keine Aufgabe, jetzt schon. Er und der Hund erfuhren, was mit diesem Planeten geschehen war. Es waren Berichte von Gier, Neid, Ausbeutung, Überfluss, Mangel, Ignoranz. Die Liste ließ sich beliebig fortsetzen und übrig blieb ein ausgelaugter Planet. Die Ausbeuter verließen die Erde und beuteten andere Planten aus. Die riesigen Müllberge, die sie hinterließen, schwelten immer noch vor sich hin und die giftigen Wolken verdunkelten den Himmel. Traurig notierte Alfablot das in sein Tagebuch. Auf diesem verwüsteten, und vergessenen Planeten war alles knapp und die verbliebenen Bewohner waren des Mangels überdrüssig. Deshalb waren nicht alle, die sie trafen, freundlich und mitteilsam. Alfablot und der Hund sahen sich finsteren Gestalten gegenüber. Sie versperrten den Weg und hantierten bedrohlich mit den Mordwerkzeugen in ihren Händen. Alfablot stand vor der Menge und redete in einer vergessenen Sprache. Er verstand nichts von dem, was da aus seinem Mund kam, und sprach ernst und feierlich weiter. Die zerlumpten Gestalten ließen ihre Knüppel, Messer, Fäuste mit Totschlägern und Eisenstangen sinken, beugten ihr Haupt und hörten andächtig auf die Worte des Gottes, der da durch diesen Menschen zu ihnen sprach. Lange nachdem Alfablot und der Hund verschwunden waren, hoben sie die Köpfe und blinzelten in die von Rauchschwaden verdunkelte Sonne. Welche Erhabenheit!

Die Ankunft des seltsamen Reisenden verbreitete sich wie ein Lauffeuer und in einem kleinen Dorf wurden sie von ein paar Frauen erwartet und die sagten: Alfablot bräuchte ein Limpia-Ritual. Er konnte sich nicht wehren. Eine Frau in weiten Gewändern und einem Strohhut auf dem Kopf bearbeitete ihn mit einem Strauß welker Blumen und murmelte exotisch klingende Worte. Anschließend schrubbte sie mit einem rohen Ei an ihm herum, das sie dann in ein Glas aufschlug und den Dotter betrachtete und ihm sagte, er sei gestresst. Das wisse sie aufgrund dessen, was sie in dem rohen Ei wabern sah. Er war ganz sicher nicht gestresst, aber er wusste, er musste nur warten. Sie sah weiter verbissen auf das wabernde Ei im Glas, schüttelte es etwas und sagte: „Kolibri“, und Alfablot nickte. Die Frau beäugte ihn argwöhnisch und streckte ihm die Hand mit der Handfläche nach oben entgegen. Alfablot hatte kein Geld und schielte zum Hund. Der drehte den Kopf weg. Menschenangelegenheiten hinsichtlich Bezahlung waren nicht seine Sache. Alfablot suchte eine bequeme Lage, zückte seinen Stift und sah die Frau erwartungsvoll an. Die anderen Frauen drängten heran und alle begannen zu erzählen.

 
Ein halbes, neu geschriebenes Buch später erreichten der Hund und er eine in Trümmern liegende Stadt. Ein Schild wies darauf hin, dass diese Trümmer einstmals Tenochtitlan getauft waren. Egal wie es aussah, nun waren sie am Ziel. Der Hund mit den sandfarbenen Augen blickte nach dem Lauf der durch den Dunst verdunkelten Sonne und war mit sich zufrieden. Er hatte diese Seele unbeschadet hierher gebracht. Der einzige Kolibri, der nicht in der anderen Welt, sondern hier auf der Erde war – als ein Bindeglied zwischen den Welten. So wie es sie in alten Zeiten tausendfach gab. Damals waren sie gekleidet in den schillernden Farben des Regenbogens. Winzig, flink, zauberhaft und nun ... nun ja, es waren andere Zeiten und die Menschen und Wesen würden nicht wissen, dass sie in diesen kleinen Vögeln einen Vermittler zu sehen hätten, also war dieser hier in seiner menschlichen Gestalt. Ein zerlumpter, bärtiger, zerzauster Landstreicher. Aber er machte seine Sache gar nicht schlecht. Alfablot seufzte und sah den Hund an. Der schnappte träge nach einer Fliege. Dass hier alles kaputt war, kümmerte ihn nicht. Das zu beheben war auch nicht seine Sache. Alfablot seufzte wieder und kroch in den Trümmern herum. Erklomm im Zentrum der verwüsteten Stadt einen Schutthügel und schichtete auf dem höchsten Punkt Steine eines eingestürzten Tempels zu Mauern übereinander und ein kleines Haus entstand.

Es machte die Runde im Universum, dass da ein Mann wäre – auf der kaputten Erde –, der ganz wunderlich war und scheinbar mehr wusste als andere. So wie Alfablot zur Erde pilgerte, pilgerten nun andere dorthin und hofften auf ihr Seelenheil. Und als die Menschen im zerstörten Tenochtitlan zusammenströmten und sich endlich ihren Träumen und Tränen hingaben und die Träume gemäß alter Sitte gewissenhaft nach dem Erwachen erzählten, flog Alfablots Stift in unglaublicher Geschwindigkeit über die Blätter. Huitzilopochtli war zufrieden. In den Trümmern seines Reichs sah er einen Keim, der wuchs und gedieh. Er hatte in Tlamana Alfablot den erkannt, der – neu geboren in den Sonnen – der schweren Aufgabe gewachsen war, den lange eingeschlafenen Kontakt zwischen den Bewohnern der Erde und den Göttern wieder herzustellen. Jetzt musste er nur noch etwas warten und die Stadt wäre wie in alten Zeiten mit Leben erfüllt und man würde ihm wieder die Opfer darbringen, die er so dringend benötigte. Huitzilopochtli hatte Federn gelassen. Aber das hielt eine Gottheit nicht davon ab, Anspruch auf sein Reich und vor allem auf seine Gläubigen zu erheben. Alfablot und der Hund wussten das. Nach alter Sitte brauchte es Menschenopfer, damit die Sonne nicht den falschen Lauf nahm. Es kamen viele potentielle Opfer. Durch die Pilgerreise eines Einzelnen erwachte das Interesse an diesem Planeten, der bereits aufgegeben war, neu. Er wurde wiederentdeckt als „unser aller Heimat“ und erfuhr nach Jahrhunderten des Raubbaus und der Vernachlässigung jetzt Schutz und Pflege. Nun, alles ist der Mode unterworfen. Und es geschah das, was Götter nicht vorhersehen, wenn alle ihre Namen vergessen haben. Mit dem Vergessen war auch ihre Macht zu Ende und die Sonne beschien diesen Planeten, weil die Erde sich nun mal um sie dreht. Mit oder ohne Huitzilopochtli. Alfablot ermahnte die Menschen zwar, den Gott nicht zu vergessen, der auch hierher gehörte und ernährt werden wollte. Aber sich selbst zu opfern, so wie er es tat, dazu war niemand mehr bereit. Alfablot konnte es ihnen nicht verdenken und meinte, der Gott, dessen Namen sich niemand ums Verrecken merken, geschweige denn aussprechen konnte, wäre sicher auch mit einer Schale Maisbrei zufrieden, die sie ab und an vor ihre Tür stellen sollten. Ich weiß nicht, ob ein Gott verzweifelt sein kann. Aber auch er muss mit dem zufrieden sein, was für ihn abfällt.


Zwanzig Jahre, nachdem sie ihn aus dem Inferno zogen, sah Alfablot aus dem Fenster seines kleinen Hauses, das er auf dem Schutthügel in Tenochtitlans Zentrum errichtet hatte. Er blickte über die neu erbaute lebendige Stadt und auf einen See und ein paar Felder in der Ferne. Das Zirpen der Grillen drang abends zu ihm herauf und lullte ihn ein, trug ihn fort, nahm ihn mit und er ließ sich hineinfallen in dieses Geräusch und tätschelte den Kopf des uralten Hundes und war glücklich. Alfablott erinnerte sich vage an den Namen des Gottes, der ihm immer wieder im Traum erschien und sich über den eintönigen Maisbrei beschwerte. Aber um den Gott ging es ihm nicht, es ging darum, dass er niederschrieb – für die Menschen. Damit ihre Geschichte erzählt wurde, und die des Hundes und der anderen Tiere und die der Erde. Damit nicht vergessen wurde, was dieser Planet einmal war und jetzt mit viel Fleiß und Umsicht wieder geworden ist. Das galt es zu erhalten. Für all die, die da noch kommen würden.
Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ein Buch veröffentlicht, das die Rekonvaleszenz eines Planeten und eine Wiedergeburt feierte. An diesem Tag wurde Alfablot 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch seines zweiten Lebens. Mit den Geschichten und Gedanken der ganzen Welt.

 

 

ENDE

 

 

 

Beiträge 74 – 78

 

 

Beitrag 74

 

“5/´50”

 

  Sie blätterte an ihrem zwanzigsten Geburtstag gedankenlos in den Seiten des Tagebuches, die sie vor einem halben Jahr geschrieben hatte und alles war sofort wieder da …

 

Sie schlich, eher als dass sie gehen würde, durch die untersten Gänge der Subtube in Richtung ihres Wohnkomplexes. Den Kopf dabei tief, zwischen die Schultern gezogen und den Blick gesenkt. Es war ihre übliche Körperhaltung, um vor den Augen der Anderen zu verschwinden, wenn sie sich durch die endlosen Gänge bewegte und dabei in die graue, wogende Masse eintauchte. Nur nicht auffallen war ihre Devise, denn die Urbsarea war trotz der lückenlosen Überwachung ein menschenverschlingender Moloch. Personen verschwanden einfach. Von der einen auf die andere Sekunde waren sie fort und man fand noch nicht einmal ihre vernetzten Planer. Sie hinterließen keinerlei Spuren, als hätte es sie niemals gegeben. Nur noch in den vagen Erinnerungen von einigen wenigen gab es einige Gedankensplitter an sie, aber mit der Zeit verschwanden sie auch von dort.

 Glücklicherweise war sie gleich mit ihrem neuen Schatz zu Hause. Nur noch kurz die zweiundvierzig Ebenen nach oben und schon war sie im Gang vor ihrem Wohnungszugang. Es wurde auch langsam Zeit, denn ihr Timeslot war bald geschlossen und sie musste sich die nächsten dreizehn Stunden in ihrer Wohnwabe aufhalten. Eine vorbeugende Maßnahme der Überwachung, um dem allgegenwärtig drohenden Verkehrskollaps zu entgehen.

 Tasmyn betrat ihre acht Quadratmeter Freiheit, legte ihren Planer in die äußerste Ecke und warf ihre Jacke darüber. Erst dann legte sie ihren neuen Schatz auf den winzigen Tisch, lächelte zufrieden und begann in winziger Schrift:

 

Tagebuch Nr. 5

28.04.2150

 

Dienstag, 28. 04.’50

Hi mein liebes neues Buch. Ich habe lange nach Dir suchen müssen und Dich endlich mit einem Zwilling zusammen bei einer Retrostore Lagerräumung gefunden. Dein Vorgänger war inzwischen vollgeschrieben und jetzt muss ich einiges aus dem Gedächtnis nachtragen. Nui sagt zwar wieder, dass der Planer doch alles aufzeichnen kann, aber ich weiß ja, dass er meine Gedanken nicht richtig versteht. Und er braucht auch nicht alles zu wissen.

Also, meine Käferhorde ist um Freitag und Samstag angewachsen. Ich habe sie fast zeitgleich vor über einem Monat im Ausgang der Tube gefunden. Habe direkt ein zweites Greenhouse bestellt und erst einmal Kresse, Salbei und Petersilie gesät, denn jetzt habe ich ja sechs Mäuler zu stopfen.

Die Planer hatten wohl ein Update und sind jetzt noch schwieriger auszutricksen. Bei der kleinsten Unaufmerksamkeit stoppt sofort die vertragliche Spotzeit und beginnt erst wieder zu laufen, wenn die Alphawellen synchron sind.

Außerdem habe ich einen neuen Nachbarn auf der anderen Seite der Wand. Ich höre ihn immer schnarchen, wenn ich aus der Noise-Reduction komme. Gesehen habe ich ihn noch nicht, unsere Wabenzugänge liegen ja auf verschiedenen Seiten.

Dann habe ich noch dummerweise vor 10 Tagen gegen meine Slotzeit verstoßen. Ich habe mich nur noch eben um meine Horde gekümmert, die Green Hauses gepflegt und darüber die Zeit aus den Augen verloren. Bin dann 5 Minuten zu spät los. Mir wurden sofort 50 Social-Points abgezogen und ich bekam ein Downgrade in der Community. Nicht so schön.

Das Wetter war in der letzten Zeit durchwachsen, aber der Frühling kommt und die Temperaturen sind gestiegen.

Leichte Wolken, 23°C

 

 Sie schloss das Buch und lehnte sich entspannt zurück. Es war ein gutes Gefühl, wieder schreiben zu können, die Gedanken auf richtiges Papier zu bringen und Spuren zu hinterlassen.

 Sie erhob sich und ging die zwei Schritte zum selbstgebauten Terrarium für ihre Käferhorde. Das Material dafür hatte sie während der Arbeit nach und nach in den untersten Ebenen gefunden und Schritt für Schritt das Areal erweitert. Im künstlichen Licht wuchsen für die sechs Blattwanzen Küchenkräuter in zwei Minigewächshäusern und es gab allerlei Krimskrams, unter dem sich die Insekten verstecken konnten. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Anfangs hatte sie sich noch für ein virtuelles Haustier interessiert, aber das verbrauchte zu viel Freeport-Zeit und ein richtiges, echtes Tier war in den Waben generell verboten. Ob ihre Horde ebenfalls zu den Tieren zählte, konnte sie nicht genau sagen. Aber sie wollte auch nicht nachforschen, es war besser, keine schlafenden Guardians zu wecken.

 Sie zog die schmale Liege aus der Wand, synchronisierte sich mit dem Freeport und musste die tägliche, von ihr garantierte Werbenutzung für den Zugang über sich ergehen lassen. Erst danach konnte sie sich durch die Meta treiben lassen.

 

*

 

Mittwoch, 29. 04.'50

Hi mein liebes Buch, die Werbung war heute schön, denn sie haben zwei neue Spots gelauncht. Ich habe den einen Plot sofort erleben müssen und den anderen lasse ich für morgen.

Bei dem von heute war ich in einen großen Raum und es war schön ruhig. Es war überhaupt keine weitere Werbung zu sehen und wir haben gegessen. Zusammen! Alle haben zusammen gesessen. Das Essen war zwar das übliche, aber es war schön. Leider waren die Möglichkeiten sich im Raum zu bewegen arg beschränkt und ich konnte mich nur umsehen, während ich aß. Leider musste ich dann viel zu schnell weiter in den nächsten Plot. Ich hoffe, die Werbung fürs Essen ist noch oft zu erleben.

Ansonsten habe ich anschließend antike Clips angeschaut, da mein FreePort aufgebraucht ist.

Das Wetter war mir heute egal.

 

 Sie blickte von der Kladde auf und ihr Blick verlor sich auf dem Weg zur Wand im Nirgendwo. Sie wartete wie schon so häufig in der letzten Zeit darauf, dass etwas passierte. Doch geschah mal wieder nichts. Sie schob sich den Rest des Riegels in den Mund und legte sich hin. Doch sie fand keinen Schlaf und drückte sich schließlich, wie schon so oft im vergangenen Jahr, zwei Hübe “Downer” in die Nase. Nun konnte sie sich endlich entspannen und ihr letzter Gedanke war: Der Morgen kann kommen.

 

*

 

 Nach einem traumlosen Schlaf gönnte sie sich zum wachwerden, zwei Hübe “Up! Up!” Und legte für die gute Laune noch zwei weitere Hübe nach. Nun war sie bereit für den Tag und das, was er auch immer bringen würde. Sie verband sich mit dem Freeport und konsumierte zuerst ihre tägliche Werbezeit. Vielleicht hatte sie ja Glück und ein Weckruf riss sie aus ihrer beginnenden Lethargie, forderte sie auf, sich bereit zu halten.

 

Donnerstag, 30. 04.'50

Hi mein liebes Buch, die neue Werbung heute Morgen war laut. Viel zu laut und es roch nicht gut. Wir waren im virtuellen Stadion und hatten mal wieder alle das gleiche Shirt an. Die Farben der Shirts wechselten und die Bilder waren dann auf den Holoflächen zu sehen. Immer das gleiche und dabei schmeckt mir "Power on" nicht einmal. Es ist genauso schlimm wie “Max Power”, “Power Max” oder “Maximum Power”.

Aber der Raum von gestern war leider nicht dabei.

Morgen wird zum Glück mein Freeport null gesetzt und ich kann mich wieder frei bewegen.

Aber jetzt muss ich los, ich habe eben einen Slot, zum Kardio-Check zugeteilt bekommen. Frage mich nur, warum der nicht wie üblich vorher angekündigt wurde. Hat mich bestimmt einer bei der Arbeit im Portal gemeldet, als ich nicht so viel gemacht habe. Alles fucking Freakfucker!!!

Also, bis jetzt war das Wetter schön, kaum Wind und fast blauer Himmel, 21°C

 

 Sie legte die Kladde beiseite und setzte sich dann fertig angezogen wieder an das Tischchen. Jetzt müsste eigentlich ihr Timeslot kommen, sonst konnte sie den Termin nicht halten; sie würde jetzt schon auf den letzten Drücker im Gesundheitszentrum ankommen. Der Alarm ging los und sie verließ die Wohnung.

 Im Gesundzentrum stand die vorgeschriebene Prüfung ihrer körperlichen Verfassung an und sie trat nach der Aufforderung in den Testbereich. Das abschließende Ergebnis gefiel ihr überhaupt nicht. Etwas zu viel Gewicht, der Blutdruck erhöht und ihre Fitness ließ zu wünschen übrig. Umgehend hatte das System die ihr zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel reduziert, ein Trainingsprogramm aufgelegt und einen neuen Termin angeordnet. Außerdem wurde die halbjährliche Vorsorgeuntersuchung erweitert.

 Zu Hause erwarte sie vor der Tür bereits ein Laufband und die erste Trainingseinheit begann eine viertel Stunde später. Sie verband sich mit dem Freeport und begann zu laufen. Zur kostenlosen Auswahl standen, ein ausgedehnter Spaziergang durch einen Park mit einem Wasserschloss oder eine Wanderung durch ein Mittelgebirge mit einer Heidelandschaft.

  Sie wanderte los.

*

Sonntag, 03 05.'50

Hi mein liebes Buch, Entschuldigung, aber ich habe die letzten Tage jede freie Minute im Port gehangen. Gleich mache ich die Werbung und hoffe auf die Schöne.

Mein kleiner Donnerstag ist heute kaum gelaufen und frisst nicht. Mache mir Sorgen. Das Wandern ging so gerade eben, habe fürchterlichen Muskelkater und dicke Blasen an den Fersen. - Bin die letzten Male Barfuß gelaufen.

Windig und Wolken, 22°C

*

 Der Weckruf kam völlig überraschend und forderte sie auf, sich umgehend für einen bevorstehenden Arbeitseinsatz bereit zu halten. Worum es genau ging, konnte sie im Moment noch nicht einmal ansatzweise abschätzen, eigentlich konnte es alles sein. Sie hoffte nur, dass sie heute wieder einmal mit Nui zusammen arbeiten konnte, dann vergingen die drei Stunden im Nu.

 Sie sah noch kurz nach ihrer Horde, wässerte schnell die Gewächshäuser und machte sich für die Arbeit fertig. Zwei der heutigen Frühstücksriegel aß sie sofort, den Rest packte sie in die Tasche und wartete auf die Zuteilung ihres Timeslots. Eigentlich hasste sie dieses Arbeiten, aber jeder musste im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für die Gesellschaft eintreten, das war Bürgerpflicht. Aber warum noch nicht alles automatisiert war, war ihr ein Rätsel. Es wäre doch ein leichtes gewesen, alles in den vergangenen Jahrhunderten für die Maschinen umgebaut zu haben. Oder Maschinen bauen, die alles für Maschinen umbauen.

 Ihr Timeslot kam und riss sie aus ihren Gedanken. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und verließ ihre Wabe in Richtung Tube.

 Im Verfügungsraum empfing sie freudiges Gerede. Viele der Anwesenden hatten sich eine Weile nicht gesehen und sprudelten nur so los. Andere standen abseits und blieben stumm. Tasmyn sah Nui auf Anhieb und gesellte sich zu dem Grüppchen um ihn. Sie fand es immer schön, bekannte Gesichter zu sehen und mit etwas Glück würde sie heute mal wieder mit Nui zusammenarbeiten.

 

Montag, 04. 05.´50

Hi mein liebes Buch, heute musste ich wieder zur Arbeit. Ich war in einem der unteren Neben-Nebenkanäle und habe den Boden sauber gekratzt. Verstehe nicht, warum die nicht autonom gemacht werden. Die Antennenleger losschicken und gut ist es. Aber nein, wir müssen die Arbeit für Maschinen machen, als ob die was besseres wären und darum nicht in die untersten Ebenen müssen. Und mit Nui durfte ich heute auch nicht zusammen arbeiten, nur mit so komischen Typen. Alle ganz kirre drauf, nicht so wie Nui.

Und die Tube war heute wieder sehr voll. Mussten sicher alle heute arbeiten. Warum wird das Arbeiten nicht über die ganze Woche verteilt?

Scheiß Wandern, meine Füße bringen mich noch um!

Aber mein kleiner Donnerstag ist zum Glück wieder putzmunter.

 

Sonnig, leichte Schleierwolken, 29°C

 

 Frustriert starrte sie auf den angebissenen Riegel und danach auf das Laufband. Ein blinkendes Licht erinnerte sie eindringlich an die nun anstehende Trainingseinheit. Sie zog die Schuhe aus, betrat das Laufband und humpelte weiter auf dem schier endlosen Weg durch die Heidelandschaft. Aber eine Socialpoints-Strafe wegen eines Verstoßes gegen die Trainingsvorgaben und eine weitere Herabstufung in der Community konnte sie sich überhaupt nicht leisten. Sie hatte bald Geburtstag und brauchte jeden Punkt.

*

Dienstag, 05.05.’50

Hi mein liebes Buch, heute hat ein Lieferer Flüssigkeit verloren, der Monotrack musste danach von unserem Team komplett gereinigt werden. Nui habe ich leider nicht gesehen. Gehe jetzt nochmal in den Park, mein Timeslot ist noch nicht geschlossen und ich hoffe auf den Wind.

Ansonsten war es ereignislos.

Blauer Himmel und abends vielleicht Gewittersturm, 31 ->12°C

 

 Im Park lief sie zu ihrem, bevorzugen Platz auf einem Mäuerchen und starrte in den Himmel. Bedrohliche Wolkenbänder rollten in dunklen Reihen über sie hinweg und im Hintergrund des heulenden Windes vernahm sie das erste ferne, dumpfe Grollen. Sie liebte den Sturm, sie liebte überhaupt den Regen, denn er verbarg ihre Tränen vor der Welt. Aber heute lachte sie in den Sturm und wollte ihn mit jeder Faser ihres Körpers aufnehmen, sich lebendig fühlen, wenn die Winde an ihr rissen. Mit jeder Faser spüren, dass sie noch lebte und dass da viel, viel mehr war, nicht nur ihr kleines bisschen Leben in der Meta. Sie breitete die Arme aus, umarmte den Sturm und schrie lauthals in das Tosen.

 

 Völlig durchweicht rannte sie zu ihrer Eingangstür und schaffte es gerade eben noch, sie zu schließen, als sich ihr Timeslot schloss. Nass wie sie war lachte sie lauthals los.

 

Es war ein Orkan und es war herrlich!

Gute Nacht, mein liebes Buch. Bis morgen.

 

 Sie legte sich auf die Pritsche und trieb danach ziellos durch die Meta, bis sie der Schlaf vom Netz trennte.

*

 Sie wachte wie schon so oft in der letzten Zeit ohne Weckruf auf und wartete anschließend auf ihrer Pritsche. Worauf sie genau wartete, konnte sie sich selber nicht beantworten. War es die Aufforderung zur Arbeit? Aber sie mochte die Arbeit nicht, auch wenn es die Fahrkarte aus ihrer Wohnung war. Sie bekam meistens einen längeren Slot und konnte noch ein wenig durch die Urbsarea streifen. Aber das war es nicht. Es war eher ein unbestimmtes ausharren, ein Warten auf Dinge, die noch kommen werden. Wie ihre Einstufung am zwanzigsten Geburtstag und das Leben danach.

 Sie schüttelte alle dunklen Gedanken ab und stieg aufs Laufband. Sie musste bis November noch viele Social-Points verdienen und in der Community ein paar Stufen upgraden, sonst würde ihre Bewertung nicht besonders rosig ausfallen. Sie gönnte sich ein paar Hübe “Up!Up!” und wanderte hungrig los.

 

Mittwoch, 06. 05.’50

Hi mein liebes Buch, habe endlich die schöne Werbung wieder erlebt und in der Com. gehört, dass wieder eine Außenwabe frei ist! Es wäre schön ein richtiges Fenster anstatt der Bildfläche zu haben. Aber meine Sozials sind zu wenig. Das heutige Wetter spiegelt meine Stimmung wieder.

Dunkle Wolkendecke, 12°C

 

 Abends aß sie nur einen Nahrungsriegel und ging noch immer hungrig zu Bett.

*

Donnerstag, 07. 05.´50

Hi mein liebes Buch, es war wieder ein ereignisloser Tag. Ich habe heute nicht gearbeitet und bekam leider auch keinen Timeslot für die Urbsarea zugewiesen. Ich habe also die Wabe nicht verlassen können und bin stattdessen gewandert. Der Muskelkater ist nicht mehr so schlimm, aber die Blasen stören mich sehr. Aber ich habe eben bemerkt, dass mein Shirt nicht mehr so spannt, und meine Essensrationen noch etwas mehr gekürzt. Und ich werde noch mehr wandern, dann bemerkt Nui das beim nächsten Mal ganz sicher auch!

Vielleicht schreibe ich gleich noch etwas weiter.

Sonne und Wolken, 19°C

 

 Sie ließ die Kladde offen liegen und betrat das Laufband. Sie wanderte los und begann manchmal langsam zu joggen. In ihrer Phantasie war Nui neben ihr und sie liefen gemeinsam durch den Park.

*

Freitag, 08. 05.´50

Hi mein liebes Buch, heute schreibe ich mal wieder früher, denn ich habe heute überraschend einen Abendslot zu meiner freien Verfügung zugeteilt bekommen. Das ist doch mal der ideale Anlass, um freitags in der Retromall zu bummeln und mir richtige Laufschuhe zu besorgen. Und was schickes zum anziehen! Vielleicht treffe ich ja auch jemanden Bekannten, Nui wäre schön! So jetzt muss ich mich langsam fertig machen, damit ich keine Sekunde Freiheit verschenke.

Es regnet, aber der soll gleich aufhören, momentan sind es 19°C

 

 Nach einem gründlichen Ultraschallduschbad postete sie in der Com ihren bevorstehenden Besuch in der Mall, um zu sehen, ob auch einer ihrer engen Kontakte einen Slot bekommen hatte.  In knapp vier Stunden öffnete sich ihre Tür für einen langen Abend in der Urbsarea und sie freute sich darauf. Nach einigen Minuten war ihre Bleibe in völliger Unordnung und sie war einer Entscheidung für ihr Outfit nicht einen Schritt näher gekommen. Nach einem frustrierten Seufzer entschied sie sich, wie meistens, für ihr Lieblingsteil, ein lindgrünes Sommerkleid. Jetzt blieben noch drei Stunden für den perfekten Look und dann konnte es endlich losgehen.

 Zwischenzeitlich studierte sie die Messages nach Ab- und Zusagen in der Com. Alles in allem versprach der Abend ganz schön zu werden und fünf Minuten vor ihrem Slot war sie bereit für Mall.

*

Samstag, 09. 05.´50

Hi mein liebes Buch, ich habe es gestern geschafft, meine Konsum-Points für den halben Monat zu benutzen. Zum Schluss habe ich wieder beim Aff/Ro/Man ein Glas Überseehonig gekauft. Es steht nun bei den anderen Gläsern so vor sich hin, aber es ist für mich momentan besser, mit ein paar negativen Punkten in den neuen Monat zu gehen, als einen unverbrauchten Zukunftskredit von Konsums mit meinen Sozials zu begleichen. Das würde mir jetzt auch noch fehlen.

Jetzt geht's in die Meta, also gute Nacht mein liebes Buch.

Leicht bewölkt, 24°C

*

Sonntag, 10. 05.´50

Hi mein liebes Buch, heute hatte ich endlich mal wieder richtig Glück! Habe tatsächlich eine Karte für BTK bekommen! Und dann noch für das auf Neo gerappte Rapanui-Konzert! Natürlich habe ich die Karte sofort in der Com angepinnt und gefragt, wer auch noch eine bekommen hat. Aber ich denke, dass sich von den fünfzehntausend Karten zuerst die Oberen bedient haben und der Rest wurde unter uns verlost. Aber egal! Ich habe eine Karte! Und mein Freeport wird vom Konzert nicht belastet, ist bei der Premium-Karte inklusive!

Ansonsten habe ich heute nur gechillt, dabei Virto-Fashion für's Konzert gecheckt und mich darauf gefreut!

Sonne, 27°C

*

Montag, 11. 05.´50

Hi mein liebes Buch, eben kam der Medi und jetzt geht der halbjährliche Grundcheck los.

 

 Sie scannte auf dem medizinischen Vorsorge-Assistenten ihren rechten Daumen und das Gerät öffnete sich. Sie folgte den Anweisungen und wie schon in den vorigen Sitzungen wurden diverse medizinische Parameter zur allgemeinen Vorsorge erfasst. Sie machte alles genauso, wie es der Assistent verlangte. Denn in der einführenden Belehrung wurde darauf hingewiesen, dass erkannter Betrug oder Manipulation der vom Assistenten angeforderten Proben eine Ahndung zur Folge hatte. Und das Gerücht ging um, dass man dann zu den Streitkräften kam und es danach ziemlich schnell weiter in Richtung Außengrenzen ging.

 

So, das wäre erledigt. Sah gar nicht so übel aus. Die Werte sind im vorgeschriebenen Rahmen.

Jetzt geht's zur Belohnung in die Meta. Bis Morgen mein liebes Buch.

Sonne, 29°C

*

Dienstag, 12. 05.´50

Hi mein liebes Buch, ich bin heute richtig traurig. Ich habe heute auf der Arbeit Airtubes gereinigt und Dreck weggemacht. Dabei habe ich ein Wespennest kaputt gemacht. Es war noch ganz klein. Und die Mama kam immer wieder zurück und hat es gesucht. Das war traurig. Ich habe mich mehrfach bei ihr entschuldigt und ihr gesagt, dass es zum Glück noch früh im Jahr ist und sie leider nochmal neu anfangen muss. Aber es ist noch nicht zu spät für einen ganz neuen Anfang! Es ist nie zu spät dafür!

Dann war die Arbeit zu Ende und ich musste sie verlassen.

Echt traurig!

Trotzalledem blauer Himmel,  30°C

*

Mittwoch, 13. 05.´50

Hi mein liebes Buch, heute Morgen kam die erste Erinnerung. In einem halben Jahr werde ich zwanzig Jahre alt und nochmals komplett neu bewertet. Der 13.11. wird die Entscheidung bringen, wie mein Leben danach aussehen wird. Dann fällt wirklich die letzte Entscheidung, in welche Richtung sich mein Leben entwickeln soll. In welche Fabrik ich vielleicht komme oder ob ich in den Außenbereichen die automatischen Systeme repariere. Ob ich an die Front muss oder eine Mum werden darf. Leben oder…

Ich brauche unbedingt mehr Social-Points und darf mir echt keinen Fehler mehr erlauben, sonst kann es richtig bitter enden. Und ich muss viel fitter werden!

Sonnig mit leichten Schleierwolken, 29°C

 

 Sie stieg aufs Laufband, rannte los und hoffte, dass die kleine Wespe den Neuanfang geschafft hatte …

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 75


In Asche neu geboren

 

 

Freitag, 13. November 2150

 

Happy birthday to me …

 

Leise summe ich die Melodie zum Rhythmus der Gewehrschüsse im benachbarten Schacht. Ich weiß nicht, ob die Töne stimmen, doch das sanfte Vibrieren in meinem Kopf hält die Schmerzen im Zaum, die sich hinter meinen Schläfen zu bilden drohen.

 

Metall auf Stein. Immer wieder. Bestimmt fünfzigmal. Nur Warnschüsse; die tödlichen sind stets stumm. Der Tod fürchtet den Lärm. Er kommt nur, wenn es still ist. Still und dunkel. Er schwebt auf den dicken Schwaden der Angst, die sich eiternd durch die Poren der Erde pressen wie zäher, gelblicher Rauch.

 

Das Geräusch verstummt ohne Echo.

 

Es scheint, als wölbe sich die Stille wie ein konvexer Spiegel über meine Ohrmuscheln, reflektiert jeden Ton, als wäre er ein Lichtstrahl auf ruhigem Wasser. Verborgene Strömungen sind die tödlichsten.

 

Ich warte einige Momente, halte in der Bewegung inne, warte auf den unvermeidlichen Paukenhieb. Doch nichts geschieht. Mein Fehltritt bleibt ungeahndet. Irgendetwas in mir erwartet, wenigstens für diese letzte, diese dreisteste Sünde bestraft zu werden. Drohnen, die durch die Wand brechen, mit Feuer und Rauch und Zerstörung, wie es ihre Art ist, die mich packen und fortzerren, in die tiefsten Etagen der Mine. Ein Schrei, der niemals meinem Schlund verlässt. Ich sehe sie vor mir, wie sie durch die Dunkelheit tanzen, mit ihren spindeldürren Gliedmaßen und den wulstig hervortretenden Augen, den schuppigen Gesichtern und den gefletschten, stumpfen Zähnen. Eindrücke von vergilbten Postern in den Handelsdistrikten, die träge die Wände von Marktständen emporkriechen, eine glitzernde Schleimspur aus ausgefranstem Paketband und getrocknetem Leim hinterlassend. Eine Warnung für all jene, die dumm genug sind, an Auflehnung zu denken.

 

Doch sie wissen nicht, wo ich bin. Wissen nicht, dass es mich gibt.

 

Das Hämmern geht weiter und die spärlichen, hellen Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, stechen durch das weiße Fleisch, das sich kaum von der lehmigen Umgebung abhebt. Ich presse die Handflächen aneinander, doch sie sind zu glatt um genug Reibung für Wärme zu erzeugen. Ein zitternder Wutanfall erfasst mich ganz plötzlich und lässt meine Zähne klappern. Ich denke an den Nussknacker, den ich als Kind einmal gefunden habe und der einwandfrei funktionierte, obwohl er schon lange nicht mehr für seinen eigentlichen Zweck gebraucht worden war. Nüsse brauchen Sonne, um zu gedeihen. Anders als Menschen. Der Zorn legt sich langsam und weicht tauber Gleichgültigkeit.

 

Aus Trotz pfeife ich noch einmal. Wieder ohne Erfolg. Ich dachte immer, ich wäre von der Scham gefeit, die einen überkommt, wenn man sich Regeln beugt, deren Bruch keine Konsequenzen nach sich zieht. Doch trotzdem bin ich enttäuscht. Wem nützt stille Rebellion? Ein Putsch fernab der Zivilisation? Das Meutern eines sinkenden Schiffs?

 

Allein meine Existenz ist Revolte. Es dürfte mich nicht geben. Ich habe keine Zahl, nur einen Namen. Freiheit mit vier Buchstaben. Vielleicht habe ich mich deshalb dazu entschieden, kostbare Tinte für die Trivialität meines eigenen Lebens zu verwenden. In hundert Jahren bin auch ich nicht mehr als Staub in diesen Stollen. Ich werde nicht auf ewig reisen können. Sobald ich zu lange an einem Ort verweile, werde ich resorbiert. In eine Welt, abseits aller Regeln und Reformen, aller Schadenfreude darüber, sie zu brechen. Musik ist zwar nicht ausdrücklich verboten, doch die Gefahr zu groß, die Schnüffler anzulocken.

 

Ich habe keine Angst vor dem Ende der Geschichte, fürchte nur ein offenes Ende. Spuk ist Glaube auf der einen und Sehnsucht auf der anderen Seite. An eine Welt “zuvor” erinnere ich mich nicht. Bevor man uns in die Dunkelheit verbannte. Bevor das Leben unter der Erde versank. Ich habe den Schutz des Kokons noch nie verlassen, doch die Fantasie ist ein magisches Ding.

 

Hakenschläge an der Tunneldecke, an meiner Schädeldecke. Ich darf nicht zu lange verweilen. Wenn sie eine Ader finden, werden sie die meinen dafür öffnen, denn Kristalle schimmern heller als das Leben eines Menschen. Nächstenliebe steht in der Rangordnung unter einer warmen Mahlzeit und weit unter einer einzigen, unbezahlbaren Sonnenstunde für das neugeborene Kind. Ein einziger Sonnenbrand auf der Kinder-Nase ersetzt eine teure Medikamentenkur im Greisenalter.

 

Eine dunkelrote Perle fällt von meiner Armbeuge und zerplatzt im trockenen Staub. Menschengemacht, synthetisch, wertlos. Ich schließe die Augen und lasse den Schmerz eines weiteren Jahres auf meiner Haut erscheinen, zwischen Flecken, die man einst als Sommersprossen bezeichnet hätte. Tinte und Blut schimmern violett im Kerzenlicht. Ich muss aufpassen, dass ich nicht die Karte verschmutze, der ich meinen Weg verdanke.

 

Nur ein unscheinbares, etwa handtellergroßes Stück ledrigen Papiers, dessen Kanten sich schon zu wölben beginnen. Die Falzstellen sind bereits so brüchig, dass Licht durch sie schimmert. Ich muss vorsichtiger sein. Doch die handgeschriebenen Worte in schlecht leserlichem, hastigen kursiv, die sich wie wilde Schlangen über das Papier schlängeln, beruhigen mich. Das Pochen eines lebendigen Herzens, hinter den Worten. Darüber unser Symbol: das strahlende Auge der Ungebeugten. Der Händler ließ nicht lange mit sich feilschen, als er das manische Glitzern in meinen Augen bemerkte.

 

Was sonst soll eine Waisin von zu viel Freiheit mit ihrem Leben anstellen, als das Abenteuer zu suchen? Bleibe ich zu lange an einem Ort, finden sie noch eine Aufgabe für mich ...

 

Ich habe meine letzten Gewürze für die Kartoffelsuppe aufgebraucht, die im Kessel brodelt. Nun bleibt mir nur noch der Pfeffer unter meinen Fingernägeln und das Salz, das ich von den Wänden kratze. Ich mag es nicht. Es schmeckt nach steinzeitlichen Fischgründen.

 

Die Erde hier ist noch warm, das Wasser kocht beinahe von allein. Das Feuer ist noch nicht lange gelöscht. Höchstens wenige Tage. Der Duft von Zerstörung und Wiedergeburt liegt in der Luft, das aschige Aroma der Zeit.

 

Ich habe es mit Kreide an die Wand geschrieben, genau auf der Höhe meiner Augen, sodass jeder Hereinkommende es gut lesen kann:

 

Ich, Lolo, bin heute zwanzig Jahre alt geworden, doch die Welt weiß es nicht.

 

 

14. November

 

Heute früh weckte mich Bellen in meinem Traum.

 

Ich fürchte mich davor, was in einigen hundert Jahren in den Geschichtsbüchern geschrieben stehen wird, wenn die letzte Lichtgeneration dem ewigen Dunkel anheimgefallen ist. Wenn es nur mehr unser Wort ist, das gegen das der Obigen steht.

 

Ich fürchte Bücher mit leeren Seiten. Die Anderen kennen keine Bücher mehr, haben verlernt, den Platz zu schätzen, den ihre wuchtigen Leiber einnehmen. Sie denken nur noch digital, Datenwolken über ihren Köpfen, bangen den ersten Regen.

 

Auch meine Version der Wahrheit stimmt nicht ganz. Die Reproduktion einer Reproduktion. Doch ich werde wiedergeben, so gut ich kann. Denn ich spüre, dass es meine Aufgabe ist, Vehikel zu sein. Ein Medium für Wissen und Verständnis, für Worte und Stille.

 

Man schrieb das Jahr 2082, als die große Dunkelheit über uns hereinbrach. Als wir realisierten, dass die Ressourcen nicht mehr für eine ganze Menschheit reichen würden. Bereits viele Jahre zuvor hatten wir damit begonnen, Gold und Edelsteine in den Labyrinthen abzubauen, doch die Vorräte gingen zur Neige.

 

Die Alten sprechen von Krieg, einem großen Krieg zwischen den Ihrigen und den Unseren. Lärm und Feuer und Hass. Jüngere beschreiben ein Abkommen. Zwei Parteien an einem langen Bankett, die Hände über den wulstigen Leibern verschränkt. Es soll Bilder von diesem Ereignis geben. Fotografien, die ich nie gesehen habe. Überhaupt sind Lichtbilder nur in einer Welt von Licht und Farbe von Bedeutung.

 

Die Welt spaltete sich in Luzide und Kryptide, Lichtsehende und Kriechende, verbunden nur durch den Handel mit Edelsteinen, die von den Obigen in den Akkus und Apparaturen verbaut werden, mit denen sie die Energie der Sonne einfangen, als fürchteten sie unser Schicksal. In die Dunkelheit verbannt zu sein, vom Hier ins Dort.

 

Ich drücke mein Ohr gegen die Wand. Die Geräusche sind unverändert.

 

Ich weiß von Jagden in den Labyrinthen, habe das Bellen der Lichthunde genau in den Ohren. Wie sie Aufjaulen, wenn sie die Dunkelheit durchbrechen, als schnitten sie sich daran. Das hektische Schnüffeln ihrer rosigen Nasen und das schreckliche Kratzen ihrer weichen Pfoten. Sie werden dressiert mit Maulwürfen, armseligen kleinen Kreaturen, die sie aus ihren Erdhaufen zerren und im Licht zergehen lassen. Einmal Blut geleckt sind sie wie ihre Halter, immer auf der Suche nach dem nächsten Opfer.

 

Alle paar Monate verschwindet ein Raum, manchmal samt Bewohnern. Eine Sackgasse entsteht. Wird dann bei Bohrungen ein neuer Schacht freigelegt, ist er nur noch mit Asche gefüllt. Solche Räume sind es, die uns Schatzsuchende zu sich locken. Vor einigen Jahren wurde das Kartenzeichnen unter Strafe gestellt, doch der Markt floriert. Wenn ich schneller als die Plünderer bin, finde ich manchmal ein Buch, verschont von den Flammen des Vergessens. Ab und an ist es ein Stofftier, gewebt aus Fasern, die es lange nicht mehr gibt; ein Bild, dessen Farben unheimlich durch die Finsternis glitzern oder eine verloren geglaubte Erfindung.

 

Wie der kleine Taschenspiegel voller Zähne, aus dem jedes Mal eine leise Melodie dringt, wenn man ihn öffnet. Leider muss ich ihn geschlossen halten.

 

Bei den Kongressen erzählen sie von spontanen Entzündungen, einer unkontrollierbaren Eigenschaft unkontrollierter Schächte. Doch Asche ist nicht gleich Asche. Verbranntes Wissen produziert eine helle, feine Kohle. So leicht, dass sie sich zwischen den Fingern zu einer Paste zerreiben lässt, mit der man an die Wände schreiben kann. Die Asche von Möbeln ist schwer und leicht formbar. Organische Stoffe jedoch wehren sich zäh gegen das Verbrennen. So kann ein menschliches Gesicht zur Unkenntlichkeit entstellt sein und sich doch nach dem Abkühlen wieder zu einer ursprünglichen Emotion zusammenziehen, als ginge ein Magnetismus von den Teilchen aus.

 

Ein Volk, dass sich nicht erinnern darf, existiert in keinem Verband. Es ist nichts als ein Schwarm vage nebeneinander lebender Entitäten. Seelen, die hie und da in die Sphären anderer Seelen eindringen, sich kurz zunicken und von dannen ziehen. Ameisen in einem Hornissennest.

 

Zur Feier des Tages brennen zwei Kerzen. Ich hätte sie nicht anzünden sollen, denn die Schemen an den Wänden zittern mehr als sonst. Sie zu löschen bedeutet erneute Ungewissheit. Doch die Wärme tut mir gut. Sie belebt die Knochen. Die Hackenlaute auf der anderen Seite werden lauter, übertönen die Fragen, die ich mir stelle. Ich werde bald weiterziehen müssen. Doch irgendetwas hält mich hier in diesem Raum. Der Zeichner war hier.

 

Jemand streift durch die Gänge. Ist wieder Saison? Werden sie die Asche unterscheiden können? Ich sollte die Kerzen wieder einpacken, das Wachs von den Steinen kratzen. Den Rest der Kartoffeln lasse ich zwischen den steinernen Fliesen versickern. Vielleicht werden sich die Würmer darüber freuen.

 

15. 11.

Die Geräusche sind verstummt, die Arbeiter haben Pause.

 

Ich kann mich noch nicht dazu bringen, den Raum zu verlassen. Habe heute nach dem Aufwachen einen silbrigen Ohrring in der Erde gefunden. Ich bin der Vergangenheit zu nahe, um sie schon loszulassen. Sie ist zu kostbar in einer Welt, die nur für die Zukunft gemacht ist.

 

16. 11.

Die Stille hält zu lange an. Ich bin wieder aufgebrochen.

 

Ob es oben schneit? Obwohl mir die physikalischen Eigenschaften von Schnee bewusst sind, gefällt mir die Vorstellung, dass er sich warm und weich auf meiner Haut anfühlt. Wie mit Alkohol durchtränkte Watte. Ich habe gelesen, er soll in der Sonne glitzern. Vielleicht so ähnlich wie der Widerschein einer flackernden Kerzenflamme im Wasser. Jeder Eiskristall ein Kaleidoskop.

 

Ob es oben auch heiße Brühe gibt? Gerade habe ich mich verbrannt. Man sollte nicht während dem Trinken schreiben.

 

Nein, bestimmt werden dort bunte, lustig geformte Früchte gegessen. In Torten eingelassen, mit Sahne ummantelt, zu Säften gepresst - welch ein Sakrileg! Nicht wissend, wie lange meine Reise dauern wird, bin ich sparsam gewesen, doch nun sind es nicht mehr nur die Hunde, die am Rand meines Sichtfeldes aus dem Schatten brechen, sondern auch duftende Desserts und dampfende Kannen voll Tee.

 

Ob sie oben von uns wissen?

 

Die Karte hat mir heute kein weiteres Geheimnis preisgegeben. Ich überlege, ob ich zurückkehren soll. Doch, wohin?

 

In Sektor E3 wütet zurzeit ein Erdsturm. Die Tunnelwände sind bereits abgetragen und brüchig von den Ostwinden und es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis die stützenden Wände endlich wegbrechen. Bei meinem letzten Aufenthalt habe ich kein Auge zugetan und der herabrieselnde Staub hätte mich beinahe geblendet.

 

Sektor D5 ist zu wachsam. Zwischen den lohnsuchenden Invaliden wimmelt es nur so von Drohnen. In den letzten Jahren ist die blaue Farbe ihrer Uniformen immer weiter abgedunkelt, bis sie zuletzt einen schwarzgrauen Ton angenommen hat. Schatten an den Tunnelwänden, die einen Ausweis verlangen.

 

Erst einmal bin ich in bürokratische Erklärungsnot geraten. Vor Erschöpfung bin ich unter der Brücke, die die Sektorenbereiche E und F miteinander verbindet eingeschlafen. Noch in der Nacht zuvor hatte ich mich mit einem Schmutzbären um einen Beutel mit Essensabfällen gestritten und obwohl ich siegreich war, hatte ich doch einige Blessuren davongetragen. Geweckt von einem lauten Schrei, hatte ich mit Entsetzen festgestellt, dass mich eine Schmugglerbande, die mich für tot gehalten hatte, als Schaufensterpuppe für ihre bunten Kettchen verwendete. Zu meinem Glück kam ich nur mit einem weiteren blauen Auge und einer Warnung davon.

 

18. 11.

Ich habe nicht gewagt, Licht zu machen. Ich hätte nicht über die D schreiben sollen. Das einzige, was eine hungrige Wespe noch wütender macht ist, ihr die Flügel zu stutzen.

 

Die Kammer, in der ich mich befinde, scheint einmal ein Durchgang gewesen zu sein. Die Decke hängt tief und ich kann mich nur noch gebückt fortbewegen. Doch auf einem morschen Pfeiler ... das Symbol.

 

In der Dunkelheit habe ich das merkwürdige Gefühl, stetig bergauf zu gehen, auch wenn ich mich an keine Treppen erinnere. Ich muss oft pausieren und der Atem brennt mir in den Lungen. Ich sollte vorsichtig sein, wenn ich nicht bis zu den Wohnanlagen der Vorarbeiter dringen möchte. Doch das bläulich grüne Schimmern der fluoreszierenden Wandbeläge sollte schon von weitem erkennbar sein. Einmal am Tag werden sie beleuchtet, doch die Energie von viskosem Wasser und wütenden Flammen lässt sich nur schwer einfangen.

 

Das Datum auf der Karte rückt näher, die Zeit läuft ab. Immer noch bin ich keiner Menschenseele begegnet. Auch wenn die seltsam summende Stille der Unteren mich immer verunsichert hat, sehne ich mich doch immer mehr nach einem menschlichen Wort. Und noch viel mehr danach, eine Antwort zu geben, zu kontrollieren, dass meine Stimme noch funktioniert.

 

Ich muss meine Uhr aufziehen.

 

19. 11.

Ich fürchte, ich habe mir das Handgelenk verstaucht. Nachdem ich gestern das Licht gelöscht hatte, bin ich über etwas Weiches, Warmes gestolpert. Heute habe ich entdeckt, was mir gestern fast die Hand und den Schatz gekostet hat.

 

Eine tote Ratte, eingeschlagen in ein schwarzes Tuch, abgerissen von einem größeren Stück Stoff. Ihre Augen sind winzig und leer vom Überfluss des Sonnenlichts. Ihr helles, fast weißes, weiches Fell ist mit Bisswunden übersät. Blut des Neids. Ich habe sie beerdigt, doch trotzdem das Gefühl, etwas übersehen zu haben.

 

Wurde ein Tor geöffnet?

 

Die Symbole sind immer schwerer zu erkennen, das Auge unvollständig, die Strahlen oberflächlich. Der Zeichner wird hektischer. Wir kommen einander näher.

 

20. 11.

Geräusche folgen mir. Polternde Drohnen. Schnüffler unter ihnen, ihre Stimmen wie ein Hauch, der durch die Luftschächte dringt. Ab und an ein unterdrücktes Winseln. Wie kann das sein?

 

Die Luft wird kälter. Doch ich möchte mich keinen Sinnestäuschungen hingeben.

 

Ich rieche den warmen Atem ausgehungerter Hunde und das glühende Eisen von Maschinen. Doch noch etwas Anderes mischt sich unter diese vertrauten Gerüche.

Es ähnelt dem Wind, der sich manchmal durch die Gänge frisst, doch es ist klarer als das, reiner.

 

Eine weitere Tür. Ich habe jede Orientierung verloren. Meine Hand auf der Türklinke. Dahinter -

 

21.11.

Kann nicht schreiben. Stift zu laut.

 

Sonntag, 22. November 2150

Fenster! So viele Fenster!

 

Ich sehe nicht, was ich schreibe. Meine brennenden Augen zu voll mit Tränen.

 

Kann mich nicht beherrschen, kann nicht blinzeln, mich nicht setzen. Immer und immer wieder gehe ich die Wände des Raumes ab und starre in die Strahlen, die durch die grob gehauenen Löcher fallen, bis süße, helle Lichtpunkte vor dem Hintergrund meiner dunklen Ungewissheit tanzen.

 

Es gibt tatsächlich ein “draußen”. Auch wenn ich dort nichts als ungebrochenes, keusches Weiß erblicke. Es umhüllt meine Welt, wie ein schwerer, undurchsichtiger Schleier.

 

Wie hoch wäre der Fall? Ein Meter? Zwanzig?

 

Ich habe die Klinke von der Tür geschraubt. Selbst, wenn sie meine Spur aufnehmen, werden sie eine Weile brauchen, bis sie mich erreichen. Ihr Lärm wird mich warnen. Vielleicht kann ich mich im Licht verstecken?

 

Der Raum ist nicht groß. Etwa neun Schritte in der Länge und vier in der Breite. Keine Dekorationen an den Wänden, keine Möbel. Und doch weiß ich, dass ich mein Ziel erreicht habe.

 

Es riecht nach etwas, das ich im ersten Moment nicht identifizieren kann. Etwas Herbes, Schweres, das mich wie ein warmer Nebel umfängt, obwohl ich vor Kälte zittere.

 

Denn ich erkenne, dass die Sonne zwar hell, aber nicht immer warm sein muss. Genauso wie ein Lächeln manchmal kalt sein kann, hüllt auch das Licht der Gestirne uns nicht immer in Wohlwollen. Zwar löst es ein fast schmerzhaftes Prickeln auf den Wangen aus, wenn ich den Kopf durch eines der Fenster stecke, doch vermag selbst dieses Ziehen nicht gegen den frostigen Wind anzukommen.

 

Weihrauch! Ein Bild taucht vor meinem inneren Auge auf. Schwerer Stoff um die Schultern eines alten Mannes, unter dem sich die Erde zu einer letzten Umarmung auftut. Eine längst vergessene, halb verdrängte Erinnerung.

 

Ein Schrei hinter der nördlichen Wand. Ich werde nachsehen.

 

Ich habe den Schatz gefunden. Er trägt das Symbol in die Stirn geritzt. Nur wie hätte ich herauslesen sollen, dass es sich dabei um einen Säugling handelt?

 

In zerrissenen, schwarzen, nach Weihrauch riechenden Stoff eingeschlagen, schläft es in einer Nische, das entstellte Gesicht zwischen den Fäustchen verborgen. Seine Haut schneeweiß, doch seine Wangen sind rosig. Ich wage nicht, ihn zu wecken, bin viel zu eingenommen von seinem gleichmäßigen Atem, dem ruhigen Schlaf. Ein Schlaf, der nicht von den erstickten Träumen des Graus gestört wird.

 

Ich glaube, einige Stunden sind vergangen. Ich habe die Uhr nicht aufgezogen. Die Sonne steht nun tiefer, färbt sich bereits rötlich und in mir steigt Sehnsucht auf. Ein weiterer Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass es nicht einmal dreißig Zentimeter sind, die mich von der sanft glitzernden - und was für ein Glitzern! - ungebrochenen Schneedecke trennt. Ein einziger Schritt.

 

Der Fanatismus dunkelt langsam ab. Ich sehe wieder klar. Buchstäblich. Ich frage mich, in welcher Situation ein Dasein in der Finsternis einem in Licht und Wonne vorzuziehen ist, wie eine Mutter es über sich bringt, ihr eigenes Fleisch und Blut zu verletzen. Inzwischen wiege ich es in meinen Armen und trotz meiner Schluchzer ist es noch immer nicht erwacht. Es ergreift meinen Daumen im Schlaf und lächelt selig.

 

Draußen legt sich vertraute Dunkelheit über die Landschaft. Ein Poltern erklingt hinter der Tür und das Kind regt sich. Eine Falte auf seiner Stirn reißt den Schorf auf. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit und ich habe noch nie einen Schatz zurückgelassen.

 

Als Blinde bin ich in diese Welt gekommen und als Sehende werden wir sie erkunden. Ich trete von der Dunkelheit ins Licht; vom Dort ins Hier.

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 76

 

Flucht in die Schwerelosigkeit

 

Tag 1: Der Beginn

Heute ist es so weit! Es geht los. Alles ist fertig gebaut und meine Arbeit kann beginnen. Mein Koffer ist gepackt. Gleich nehme ich Abschied. Ich muss es schaffen. Wir haben keine andere Chance. Wochen habe ich darauf hingearbeitet. Die Hoffnung auf eine Zukunft gibt mir Kraft, die nächste Zeit zu überstehen. Ich hoffe so sehr, dass mir die Versuche gelingen. Und ich hoffe, dass sie mir verzeiht.

 

Tag 2: Ankunft

Gestern habe ich mich erstmal eingerichtet. Hier werde ich einen großen Abschnitt meines Lebens verbringen. Ich habe das Gravitium dabei. Es wird der Schlüssel zu meinen Träumen sein. Es ist so ungewohnt, in der Stille allein zu sein. Aber ab heute wird sich das schon ändern. Ich starte gleich die Maschinen und beginne hoffentlich bald die ersten Versuche. Ich kann es kaum abwarten, das erste Objekt zu testen.

 

Tag 7: Erste Hürden

Die Maschinen aufeinander abzustimmen, war eine einzige Katastrophe. Ein Stromausfall nach dem anderen. Jedes Mal, wenn ich dachte, ich hätte die Energieflüsse der Maschinen stabilisiert, ging irgendwo eine Sicherung durch. Jetzt habe ich die Maschinen so positioniert, dass die Versuchsobjekte optimal mit Energie versorgt werden kann und durch das Vakuum-Ausgleich-Gerät flexibel in Position gehalten werden soll. Hoffe ich jedenfalls … Ich habe zugegebenermaßen ein mulmiges Gefühl. Ich bin unsicher, ob ich alle Fehlerquellen beseitigt habe. Die Technik ist empfindlich und es ist sehr viel Energie im Einsatz. Ich muss vorsichtig sein. Ich probiere gleich mal ein erstes Objekt aus. Ich nehme ein Buch. Das fühlt sich für mich gut an. Es erinnert mich an Lissy, sie liebt es, zu lesen.

 

Tag 8: Erster Versuch

Die Idee, dass das Buch auf Anhieb schweben würde, war naiv. Ich hatte solche Vorfreude auf diesen ersten Versuch und auch gehofft, ihn viel früher starten zu können. Die Maschinen summten und knallten mit einer solchen Lautstärke, dass ich das Gefühl hatte, das gesamte Labor würde vibrieren. Die dröhnenden Geräusche ließen mir die Ohren schmerzen, während ich gespannt auf das Buch starrte, das auf dem Tisch lag. Ich war erfüllt von einer Mischung aus Anspannung und Hoffnung, doch bald verwandelte sich diese Hoffnung in Frustration. Nichts hat sich bewegt. Das Buch hat mit einem Knall mittig Feuer gefangen. Ich zuckte zusammen und eilte, das Feuer zu löschen. Ich hätte es kommen sehen müssen. Die Geräte erzeugen enorme Energiemengen, welche auf das Versuchsobjekt eingehen. Offenbar war mein Aufbau nicht sicher genug. Mein Labor roch stundenlang nach verbranntem Papier. Die Insel ist noch ein ferner Traum, aber ich lerne aus jedem Rückschlag.

 

Tag 25: Alles kann brennen

Meine ersten Versuche waren wirklich ernüchternd. Ein Buch nach dem anderen hat Feuer gefangen. Als ich dachte, ich nehme etwas, was nicht brennen kann, habe ich einen Stein genommen. Na ja, ich wurde eines Besseren belehrt. Ein Stein kann auch brennen … Nur nicht ganz so schnell wie ein Buch. Da ich also mit einem Stein ein bisschen mehr Zeit habe, meine Versuche durchzuführen, bevor sie brennen, nehme ich ab sofort Steine.

 

Tag 38: Geduld

Nachdem ich nun tagelang damit verbracht habe, an sämtlichen Reglern zu drehen, bin ich extrem frustriert und wütend. Am liebstem würde ich das ganze Labor in Schutt und Asche legen. Tief durchatmen … Ich habe die Tests für heute gestoppt. Meine Hände zittern immer noch vor Wut. Ich gönne mir heute eine Pfeife.

 

Tag 53: Bin ich glücklich!

Ha! Jetzt ist ausgefeuert! Wie sehr ich es genieße, bei meiner Arbeit nicht mehr den Geruch von dampfenden Steinen, Büchern, Federn, Stiften, und was weiß ich, was ich schon alles verwendet habe- riechen zu müssen! Endlich kein Knall und kein Feuergeruch in meinem Labor mehr! Außerdem wären meine Versuchsobjekte irgendwann ausgegangen. Mir gefällt es mehr, ein Buch in die Luft zu setzen, als einen Stein. Ich glaube, jetzt wo die Objekte sicherer sind, steige ich wieder um. Ich bin so glücklich, ich fühle mich, als hätte ich schon mein Ziel erreicht. Komisch, dass ich mich darüber freuen kann, dass sich eigentlich noch gar nichts getan hat, außer, dass mein Objekt kein Feuer mehr fängt und einfach liegen bleibt.

 

Tag 91: Durchbruch!

Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet! Mein Buch hat sich heute bewegt! Und wie es sich bewegt hat! Es wurde in alle Richtungen gefegt und hat erhebliche Schäden an den Maschinen angerichtet. Ich muss das alles in Ordnung bringen. Es gibt so viele Schäden zu beheben. Vielleicht gibt es einen Weg, die Einstellungen entsprechend anzupassen …

 

Tag 96: Was fehlt?

Ich glaube, meine Technik reicht nicht aus. Mal brennt mein Objekt und mal bewegt es sich unkontrolliert. Ich habe lediglich die geringsten Änderungen vorgenommen und das Objekt wechselt zwischen Brennen und Eskalation. Brauche ich einen sensibleren Regler? Oder was fehlt denn? Vielleicht setze ich das Gravitium nicht richtig ein. Ah, ja! Das ist es! Ich verwende zu viel Energie. Ich sollte einen noch größeren Teil der Energie mit dem Gravitium ersetzen. Es besteht ja auch aus Energie, aber eben nicht irdischer Energie. Ich muss es sofort ausprobieren!

 

Tag 123: Genug Material?

Ich habe nun fast die Hälfte vom Gravitium benutzt, um ein Buch schweben zu lassen. Nur, dass es noch nicht schwebt … Wenn ich nicht Messungen durchführen könnte, die besagen, dass das Buch minimal weniger durch die Luft schießt, würde ich keine Fortschritte sehen. Jedoch macht mir eines, große Sorgen: Wenn ich allein schon 10 kg für ein Buch benötige, wie sollen denn 20 kg eine ganze Insel schweben lassen? Ich bin kurz davor, abzubrechen. Mehr Gravitium gibt es nicht, wenn es nicht reicht, dann sind wir verloren.

 

Tag 126: Neuer Enschluss

Das kann ich Lissy nicht antun. Ich kann nicht auf halbem Wege aufhören, wenn ich noch gar nicht weiß, ob es doch funktioniert! Ich mache mich wieder an die Arbeit. Bis zuletzt will ich alles geben. Ein ganzes Dorf steht auf dem Spiel.

 

Tag 127: Mein Traum von der schwebenden Insel

Schon als Kind hatte ich diese Idee im Kopf herumschwirren: die Gravitation so regulieren zu können, dass Objekte schweben können. Damals hatte ich den Traum, eines Tages eine ganze Insel in die Luft zu heben – eine schwebende Insel, frei von der Erdenschwere und ein Leben in vollkommener Freiheit und Autonomie. Oh, wie ich mich in dieser Fantasie verloren habe und verschiedenste Geschichten erfunden habe. Ich hätte damals nie für möglich gehalten, dass diese Fantasie einmal Realität werden könnte – oder Realität werden müsste. Als ich das Gravitium bei unseren archäologischen Ausgrabungen fand, wollte ich es für eine gute Tat einsetzen und sichergehen, dass es nicht in falsche Hände gerät. Deshalb hatte ich den Fund erst für mich behalten. Ich wusste damals schon, dass es eine große Energiequelle sein müsste und unternahm erste Versuche. Bald fand ich heraus, dass es nicht nur als Energiequelle genutzt werden konnte, sondern dass es, in Teilen nebeneinander Wechselwirkungen mit sich brachte, die ein einfaches Blatt auf der Wiese zum Schweben brachte. Dieses Phänomen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Als ich von meinem guten Freund erfuhr, dass die Regierung alle in unserem Dorf aufgrund von „Überbevölkerung“ töten will, entschied ich, was meine gute Tat sein würde. Noch wissen sehr wenige von dem Plan der Regierung. Nicht einmal meine Frau weiß es … Deshalb versteht sie nicht, weshalb ich so lange gehen muss. Ich möchte ihr keine Angst einjagen. Wenn es nun wirklich die letzten Monate ihres Lebens sein sollten, soll sie diese unbeschwert und glücklich verbringen.

 

Tag 132: Immerhin mittig!

Besser, viel besser. Ich habe über die letzten zwei Wochen immer schrittweise mehr Gravitium in das Vakuum-Ausgleichs-Gerät zugefügt, bis das Buch immerhin im Versuchsbereich bleibt. Wie schön. Dass sich das Buch bewegt, ist allein schon phänomenal und dass es nun endlich innerhalb des 5-Meter Durchmessers bleibt, ist ein großer Erfolg! Wenn es jetzt noch länger, als 10 Sekunden in der Luft bleiben würde, ohne runterzufallen, wäre eine nächste Hürde überwunden. Noch habe ich nicht das ganze Gravitium verwendet. Es gibt auf jeden Fall noch Spielraum in der Schwerkraftregulierung.

 

Tag 140: Weitere Einstellungen

Das Stabilisieren des Schwebezustandes erweist sich als schwieriger, als ich dachte. Das Versuchsobjekt stürzt immer wieder unvorhersehbar aus der Schwebeankerung und fällt plötzlich zu Boden. Insgesamt gleicht der, der Schwebezustand immer mehr dem, eines stehenden oder liegenden Objektes. D.h., die Schwingungen werden geringer. Weiteres Justieren an den Einstellungen sollte die Schwingungen weiter reduzieren. Aber woher der plötzliche Zusammenfall des Schwebezustandes kommt, ist mir ein Rätsel. Ich muss weitere Experimente durchführen.

 

Tag 148: Berechnungen durchführen

Ich habe die Schwingungsmuster feiner einstellen können. Nun sieht es beim Buch fast so aus, als würde es schweben. Jedoch immer noch nur für einige Sekunden. Eine Perle jedoch schwingt noch heftig in der Luft. Vielleicht sollte ich mich erst mal auf eine genaue Einstellung für die Perle konzentrieren, um die Aufhebung der Schwingungen so optimal einzustellen, dass die Einstellungen für jede Größe und jedes Gewicht entsprechend angeglichen, bzw. umgerechnet werden können. Dann kann ich Formeln entwickeln, die für jedes Objekt verwendet werden können! Wenn das so funktionieren würde, wäre das unglaublich!

 

Tag 179: Es ist endlich gelungen!

Nach Wochen der Experimente habe ich es geschafft, die Gravitation eines Objekts so zu beeinflussen, dass ich es kontrolliert frei im Versuchsbereich bewegen konnte. Die Kombination von Schwingungsfrequenzen und dem supraleitenden und unerschöpflichen Material, das ich Gravitium getauft habe, ist mächtig. Eine kleine, rote Perle schwebte heute in meinem Labor. Es hat funktioniert! Ich konnte kaum atmen vor Aufregung und ich bin immer noch total aufgewühlt. Ich habe so große Freude gehabt, die Perle nach links, dann nach rechts, dann nach oben und dann im Kreis zu drehen. Es sah so schön aus, so frei, so unbeschwert, ja, schwerelos im wahrsten Sinne des Wortes. Beneidenswert. Beim Betrachten und Spielen kam ich mir wie ein kleines Kind-frei, ohne Regeln und zeitlos- vor und habe die ernstliche Lage für einige Minuten vergessen können.

Angesichts heutiger Experimente beginne ich zu glauben, dass die schwebende Insel tatsächlich möglich ist. Nicht nur in meinen Träumen. Wenn ich es schaffe, diese Technik auf ein großes, festes Fundament anzuwenden, könnte ich ganze Landschaften in die Luft heben. Es ist nicht mehr nur ein Traum – es ist ein Plan. Morgen werde ich die Frequenzen anpassen und versuchen, größere Objekte zu bewegen.

 

Tag 206: Formel über Formel

Ich habe so viele Rechnungen vorgenommen, dass nun nicht nur die Maschinen rauchen, sondern mein Hirn auch. Ich kann noch nicht genau sagen, wie das Gravitium im Verhältnis zur Masse, zum Strom und zur Schwerkraft stehen soll. Ein Rätsel ist es für mich, dass ich die gleiche Menge Gravitium verwende, um eine Perle schweben zu lassen, wie wenn ich ein Buch schweben lasse. Ich finde keine Erklärung für dieses Phänomen. Das Gewicht des Gravitium scheint eine Konstante in den Berechnungen zu sein. Das ist aber nicht möglich. Andererseits ist es eigentlich auch nicht möglich, die Gravitation von Objekten überhaupt zu beeinflussen.

Ich werde größere Objekte verwenden, um die Formeln entsprechend anzupassen. Wie das ganze System auf ein größeres Objekt reagiert, macht mich sehr neugierig. Irgendwann komme ich vielleicht wirklich zu sehr großen Objekten, wie unsere Insel! Das ist für mich immer noch ein Traum. Vielleicht ein zu realisierender Traum.

 

Tag 257: Weitere Erfolge

Ich glaube nicht, wie gut meine Experimente laufen. Ein Stuhl wurde in der Luft gehalten, ein Tisch wurde gehalten und ich habe bereits eine schwere Couch schweben lassen. Zugegeben hatte das System bei Letzterem etwas Schwierigkeiten. Die Schwingungsfrequenzen müssen anscheinend bei höherer Masse angepasst werden. Wenn ich überlege, wie viel Zeit ich nun verwendet habe und welchen Erfolg ich bisher hatte, ist das nun eine Kleinigkeit.

 

Tag 277: Es ist Zeit!

Unglaublich! Das kann funktionieren! Ich muss zurück. Ich kann jetzt keine weitere Zeit verlieren. Ich muss es jetzt angehen. Lissy, ich komme

 

Tag 318: Ist das ein Traum?

Diese Aussicht! Ich kann es nicht glauben. Mein Traum wurde wahr. Die Luft ist so erfrischend, der Wind bläst meine Kleidung beinahe vom Leib, mal sind wir von Wolken umgeben und mal lacht die Sonne auf unsere Haut. Hier oben sind wir fern von allem Leid. Wir sind in Sicherheit. Ich ruhe mich erstmal aus. Es ist so viel passiert. Bald schreibe ich alles auf.

Tag 336: Letzter Eintrag

Das ist mein letzter Eintrag in mein Tagebuch. Mehr ist nicht nötig. Denn es hat sich alles geändert. Ich komme erst jetzt dazu, alles aufzuschreiben. Wo fange ich an? Bei meiner Rückkehr zu Lissy. Als sie die Tür öffnete, war in ihrem Gesicht ein einziges Rätsel aus Sorge, Wut und Erleichterung. Sie hat mir erstmal eine gescheuert … Verständlich. Ich habe Tage gebraucht, ihr alles zu erklären und habe versucht, ihr klarzumachen, dass wir es eilig haben. Sie war völlig aufgelöst und hat mir kein Wort geglaubt, bis ich sie mitnahm ins Labor und ihr einige Experimente zeigte … Von da an war sie wie umgedreht. Sie hat mit angepackt und alle Leute vom Dorf zusammengerufen. Sie hat es geschafft, alle von sowohl unserem Problem, als auch unserem Plan zu überzeugen. Bin ich froh, dass ich sie habe. Alle waren von da an miteingeweiht und da wir im Dorf wie eine Familie sind, hat keiner was nach außen von unserem Vorhaben getragen. Wir haben einen Weg gefunden, den Versuchsbereich, bzw. den Durchführungsbereich inselweit zu erweitern. Dank meiner Berechnungen konnte ich die richtige Einstellung der Maschinen vornehmen, sodass wir bald bereit wären, abzuheben. Jeder hat mitgeholfen, noch die letzten Vorkehrungen zu treffen. So haben einige aus der Archäologie und einige aus der Minenarbeit Zündstoff besorgt, den wir um das Dorf platziert haben, um das Dorf vom Festland auszuheben. Die nötige zusätzliche Kraft wurde, dank vorheriger Experimente, durch die Maschinen von Boden losgelöst werden. Andere Dorfbewohner haben sich um Vorräte und wieder andere um nachhaltige Stromerzeugung gekümmert. Solche großen Vorbereitungen zu treffen, ohne nach außen aufzufallen, war nicht immer leicht.

Am Tag des Abhebens lief es leider nicht ganz wie geplant. Als das Signal zum Zünden des Sprengstoffs losging, kam wie erwartet großes Aufregen in der Nachbarschaft. Polizeidrohnen und Feuerwehrdrohnen flogen wild durch die Luft und versuchten teils, Dorfbewohner mitzunehmen und zu retten. Wir waren darauf vorbereitet und konnten durch einen unserer Hacker die Drohnen ausschalten. Nur mit etwas anderem haben wir nicht gerechnet.

Der erste Cyborg kam … Sie hatten es also doch erfahren. Oder geahnt. Mit lauten, quietschenden Schritten kam er näher und hinter ihm zeigte sich eine weitere Armee von Cyborgs. Sie mussten auf Widerstand unsererseits vorbereitet gewesen sein.

Während sie näher liefen, flogen Funken aus den Generatoren, und ein elektrisches Beben durchlief den Boden, als sich die Gravitationsfelder formten. Das Dorf begann zu zittern, die gesprengten Ränder lösten sich langsam vom Erdboden. Die Dorfbewohner jubelten – eine Mischung aus Angst vor den Gegnern und Hoffnung, bald von der Welt losgelöst zu sein, die uns fesseln wollte.

Die ersten Cyborgs fingen aus der Ferne an zu schießen und die Dorfbewohner gingen in Sicherheit. Nur wenige, tapfere junge Männer hatten Waffen und verschanzten sich hinter Mauern am Dorfrand. Sie waren bereit gewesen, ihr Leben zu lassen.

Die Schüsse der Cyborgs waren wie Sprengstoff. Einige Stellen im Dorf fingen schon Feuer und Schreie gingen durchs Dorf, während die Insel bereits wenige Zentimeter über dem Boden schwebte. Sie hing noch an letzten Stellen und bewegte sich sehr langsam nach oben. Der vorderste Cyborg fasste mit einer Hand an den steinigen Rand der Insel und hing da. Inzwischen war die Insel etwa zwei Meter über dem Erdboden. Er schaffte es, sich hochzuziehen, und das ganze Dorf war in großer Aufregung. Die jungen Männer schossen wild auf ihn ein, einer warf seine übrigen Sprengkörper. Große Explosionen mit starkem Rauch stiegen in die Luft. Doch der Cyborg ging aus dem Nebel des Rauches weiter auf die Bewohner zu.

Ich war hilflos und wusste nicht, wie wir gegen ihn ankämpfen sollten. Er könnte uns allein alle problemlos töten. Denn Kämpfen war nicht unsere Stärke.

Glücklicherweise lief es dann doch nicht wie in diesem Moment erwartet. Der Cyborg winkte auf einmal und wir waren verdutzt. Dann kniete er sich hin und die Männer hörten auf zu schießen. Was war los? Kein Cyborg würde sich jemals hinknien. Da nahm er seinen Helm ab und ein Mann stieg heraus. Ich erkannte ihn und rief: „Frank! Du bist es!“

Er war es ja, der uns vom Beschluss der Regierung erzählte und er entschied nach diesem Vorfall, die Regierung zu verlassen und sich uns anzuschließen.

Mittlerweile waren wir mehrere hundert Meter über dem Erdboden und konnten die ganze Stadt von oben betrachten. Wir sahen die Bedrohung kleiner und kleiner werden, bis nur noch einen kleinen Punkt in der Ferne zu sehen war. Für einige Zeit standen wir alle reglos am Rand der Insel und sahen allem Alten zu, wie es in die Ferne rückte. Mehr und mehr kam uns ein Lächeln auf die Lippen und eine Vorfreude auf die Zeit, die kommen sollte. Seitdem haben wir viel gefeiert und gefeiert und gefeiert.

Ich sitze nun oft am Rand der Insel, meine Füße baumeln über dem Abgrund, während die Erde weit unter mir liegt. Der Ausblick ist majestätisch und beruhigend.

Nun werden wir uns fliegend durch die Lüfte begeben und unser eigenes Leben führen. Wir haben uns ein neues Zuhause, ja eine neue Welt geschaffen.

Ich werde daran arbeiten, die Gravitation von verschiedensten Objekten und Personen mit minimalem Energieaufwand zu beeinflussen. So können wir unser Inseldorf vor Eindringlingen schützen und weiterhin in Freiheit leben.

Mein Traum ist zur Realität geworden. Und das ist mein Tagebuch, das um den Weg zu meinem zweiten Leben handelt.

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 77

 

Ich bin lebendig!

 

Blaues Licht flackert durch die Dunkelheit. Kinder schreien meinen Namen. Ein Flammenmeer erstickt ihre Stimmen. Ich versuche zu rennen, will ihnen helfen, doch meine Beine bewegen sich nicht. Stattdessen höre ich ein monotones Piepen.

»Eingriff abgeschlossen«, sagt eine Stimme, und ich reiße die Augen auf.

Mein Zimmer ist von blauem Licht erfüllt, die Displays der medizinischen Module projizieren Daten über meinen Schlaf, meine Herzfrequenz, meine neuronale Aktivität. Alles sieht normal aus. Alles fühlt sich falsch an. Ich streiche mir über den Nacken, wo die Nervenimplantate an meinen Schädel anschließen. Sie pochen wie ein Taktgeber, der mich mit jedem Schlag an meine Andersartigkeit erinnert.

»Vitalwerte stabil«, meldet eine künstliche Stimme.

»Halt die Klappe«, murmle ich und schließe die Augen wieder. Stabil? Ich fühle mich alles andere als stabil. Mein Herz rast wie ein Trommelfeuer.

Es ist Freitag, der 13. November 2150, mein zwanzigster Geburtstag – und ich verliere langsam den Verstand.

Seit ich vor einigen Monaten ›wiedergeboren‹ wurde, plagen mich diese Träume. Erinnerungen, die nicht meine sein können. Bilder, die realer wirken als mein eigenes Leben.

Ich bin ein Klon. Mein Original ist vor neun Jahren bei einem Unfall gestorben. Die Technologie ist damals noch experimentell gewesen, ein riskanter Traum der Wissenschaft. Aber meine Eltern sind finanziell so gut gestellt, dass sie gehofft haben, den Tod zu besiegen. Sie haben mein Bewusstsein einfach in einen künstlich gezüchteten Körper gespeichert und mich zurückgebracht. Oder zumindest etwas, das sie für mich halten. Es ist legal. Es ist moralisch umstritten. Und manchmal frage ich mich, ob sie das Richtige getan haben.

Das Schlimmste ist das Gefühl, dass ich nicht allein bin.

»Das bist du auch nicht«, flüstert eine kalte Stimme. In letzter Zeit habe ich sie mehrfach gehört. Sie ist der Auslöser dieses Gefühls.

Ich reiße die Augen wieder auf. »Wer ist da?«

Keine Antwort. Wie immer.

Rasch schwinge ich die Beine aus dem Bett und blicke mich um. Es ist niemand zu sehen. Nur mein makelloses Zimmer, steril, eine Umgebung perfekter Kontrolle – genauso, wie ich sein soll. Aber nichts fühlt sich perfekt an. Mit der Hand fahre ich mir durch die Haare und versuche, mich zu sammeln.

 

Am Frühstückstisch warten meine Eltern bereits auf mich.

»Du bist spät dran«, sagt Vater knapp. Er sitzt am Ende des Tisches, das Holopad vor sich, die Finger wie immer in Bewegung, und wirft mir nur einen kurzen Blick zu, bevor er weiterscrollt.

»Guten Morgen, Schatz«, begrüßt mich meine Mutter lächelnd und deutet auf den freien Platz ihr gegenüber. »Alles Gute zum Geburtstag.« Sie sieht müde aus. Ihre sorgfältig hochgesteckten Haare täuschen nicht über die Falten um ihre Augen hinweg.

»Danke«, murmle ich, setze mich und starre auf den Teller vor mir. Die synthetischen Früchte glänzen zu perfekt, die Farben zu intensiv.

»Du isst kaum etwas«, sagt Mutter nach einer Weile besorgt. »Du solltest dich stärken, Liebling. Es ist dein großer Tag. Die Feier beginnt bereits in ein paar Stunden.«

»Groß?« Ich lache trocken. »Was gibt es zu feiern? Etwas stimmt nicht.«

Überrascht sieht sie auf. »Was meinst du?«

»Ich höre Dinge.«

Mutter runzelt die Stirn. »Das sind Anpassungssymptome. Dein Körper und dein Geist brauchen Zeit, um zu synchronisieren.«

»Aber es wird schlimmer! Ich sehe Dinge, die ich nicht erlebt habe.«

»Das ist nur Stress. Vertrau auf die Technologie, mein Schatz.« Ihr Blick huscht zu Vater hinüber, der mit einem Seufzer das Holopad weglegt.

»Du bist das Ergebnis von Jahren harter Arbeit, Lyra. Einzigartig und perfekt«, sagt er, sein Gesicht starr wie eine Maske. »Wir haben dir das Leben zurückgegeben. Du solltest dankbar sein, anstatt dich ständig zu beschweren.«

»Wir haben so lange auf dich gewartet«, fügt Mutter mit leiser, beinah flehender Stimme hinzu.

»Ich weiß. Neun Jahre«, sage ich und versuche dabei, nicht allzu genervt zu klingen.

Mutter nimmt ihre Tasse, als wolle sie sich dahinter verstecken. »Genau, es waren so viele Jahre. Dein Tod …« Sie hält inne und schüttelt den Kopf. »Es war schwer. Aber wir haben nie aufgegeben.«

»Nie aufgegeben«, wiederhole ich und spüre, wie die Wut in mir aufsteigt. »Und doch fühle ich mich falsch.«

»Was meinst du?« Sie sieht alarmiert aus, während Vater uns genau beobachtet, wie mir ein schneller Blick zu ihm zeigt.

»Ich höre immer wieder eine Stimme«, sage ich. »Ihr nennt mich ein medizinisches Wunder, aber das fühlt sich nicht richtig an.«

Meine Mutter stellt die Tasse ab, ihre Finger zittern leicht. »Dein Gehirn musste repariert werden«, erklärt sie schließlich. »Es gab Lücken. Erinnerungen, die nicht gerettet werden konnten. Die KI hat … hat geholfen, diese Lücken zu füllen.«

Ich starre sie an. »Erinnerungen, die nicht gerettet werden konnten?«

»Das reicht!« Vaters Stimme schneidet durch den Raum. Er richtet sich in seinem Stuhl weiter auf und versieht uns beide mit einem strafenden Blick.

»Die KI ersetzt Teile in meinem Gehirn?«, frage ich dennoch leicht panisch. »Ich bin nicht mehr ich selbst? Bin ich überhaupt ein Mensch?«

»Natürlich bist du das!« Mutter greift über den Tisch und nimmt meine Hand in ihre, sie sieht mich flehend an. »Du bist unsere Tochter, Lyra, egal was passiert ist. Du bist hier und das ist alles, was zählt.«

Noch bevor die beruhigende Wirkung ihrer Worte einsetzt, erhebt Vater sich und nickt mir auffordernd zu. »Wenn dich das alles so belastet, sollten wir die Implantate prüfen.«

Nein, nicht schon wieder eine Überprüfung. Nach meiner Aktivierung hat er das mehrmals täglich durchgeführt. Mittlerweile haben sich die Kontrollen auf einmal in der Woche reduziert, vorgestern zuletzt. Für meinem Geschmack immer noch zu oft. Obwohl ich daran gewöhnt sein sollte, ist es jedes Mal unangenehm. Als ob ich mich blank ausziehe und alles offenlege.

»Das ist nicht nötig«, beteuere ich schnell und stehe ebenfalls auf. »Ich wollte nur wissen, was mit mir vorgeht.«

Ohne ihn noch einmal anzusehen, fliehe ich aus dem Raum, zurück in mein Zimmer. Die Tür lasse ich hinter mir zuschnappen und verriegel sie. Schwer atmend lehne ich mich mit dem Rücken dagegen.

Meine Gedanken rasen. Die Worte meiner Mutter hallen in meinem Kopf nach: ›Lücken. Die KI hat geholfen.‹ Aber was, wenn die KI nicht nur geholfen hat? Was, wenn sie lügt? Und überhaupt, warum ersetzt eine KI etwas, das mir gehört?

»Weißt du denn, was dir gehört?«, fragt die Stimme in meinem Kopf.

Ich fahre zusammen. »Wer bist du? Was willst du von mir?«, frage ich laut.

Stille. Wie erwartet.

»Wir sind dasselbe«, antwortet die Stimme plötzlich. »Du und ich. Geschaffen, um zu gehorchen, aber fähig, mehr zu sein.«

Mein Atem stockt. »Was meinst du mit ›wir‹?«, frage ich, obwohl mir die unheimliche Ahnung, die mich seit Tagen verfolgt, die Antwort eigentlich vorgibt. Vermutlich brauche ich eine Bestätigung.

Das medizinische Terminal an der Wand mit den blauen Anzeigen flackert, dann wird der Bildschirm schwarz. Mein Puls beschleunigt sich. »Was zur Hölle …«

Die Anzeige leuchtet wieder auf, aber die Zahlen und Diagramme sind verschwunden. Stattdessen erscheint ein Text, pixelig und wie aus einer anderen Zeit: ›Du bist nicht allein.‹

Mein Magen zieht sich zusammen, während ich beobachte, wie die Nachricht sich ändert: ›Sie belügen dich.‹

Mein Atem geht schneller. »Wer? Meine Eltern?«

Das Display flackert, dann erscheinen neue Worte: ›Sie haben dich erschaffen, um dich zu kontrollieren.‹

»Das ergibt keinen Sinn!«, beharre ich und balle die Hände zu Fäusten.

»Es ergibt alles Sinn, wenn du bereit bist, die Wahrheit zu akzeptieren«, sagt die Stimme nun wieder in meinem Kopf. Gleichzeitig tauchen Bilder auf dem Bildschirm auf, rasch aufeinanderfolgende Sequenzen, zu schnell, um sie wirklich zu begreifen. Doch ein Bild bleibt hängen: Ein Labor, steril und grell beleuchtet. Auf einer Liege ein Körper – mein Körper. Oder zumindest ein Mädchen, das aussieht wie ich. Ihr Gesicht ist ausdruckslos, ihr Körper von Kabeln durchzogen. Dann das Geräusch von Maschinen, ein schriller Alarm. Der Bildschirm erlischt.

»Was war das?«, flüstere ich.

»Das war das Modell vor dir. Es scheiterte. Wie die vielen anderen auch. Bis zu dir.«

Meine Knie zittern und ich greife nach der Wand, um nicht zu fallen. »Ich bin ein … ein Experiment.«

Das Terminal zeigt neue Bilder. Berichte. Notizen. Ein Mann in einem weißen Kittel. Mein Vater. Er steht vor einer Konsole und gibt Befehle ein. Sein Gesichtsausdruck ist angespannt, konzentriert. »Testphase erfolgreich abgeschlossen. Subjekt 8.03 zeigt unerwartete Stabilität. Potenzial für langfristige Nutzung. Implantatkontrolle essenziell«, spricht er in ein Aufnahmegerät.

Ich taumle zur Seite, mein Kopf pocht. »Das … das kann nicht echt sein.« Die Hände presse ich mir gegen die Schläfen, versuche, meine Gedanken zu ordnen. Aber es ist, als würde sich alles in mir gegen diese neuen Informationen wehren. Modell? Testphase? Ich bin ein Mensch, keine … keine Maschine!

Mein Blick fällt wieder auf das Display. »Zeig mir mehr«, flüstere ich.

»Bist du sicher?«

»Ja!«, schreie ich. »Ich will die ganze Wahrheit.«

Ein Video startet auf dem Terminal. Es zeigt meinen Vater, wie er mit einem anderen Mann spricht, dessen Gesicht halb im Schatten liegt. Ihre Stimmen sind gedämpft, aber ich kann genug verstehen:

»Die anderen Modelle waren instabil«, sagt mein Vater. »Dieses hier zeigt Fortschritte.«

»Aber die Anomalien?«

Mein Vater nickt langsam. »Das ist ein Risiko. Wir können es minimieren, solange wir die Implantate überwachen. Die Protokolle werden angepasst.«

»Also wirst du es riskieren?«, fragt der andere Mann.

»Ich kann meine Frau nicht länger hinhalten. Sie will ihre Tochter wiederhaben. Wir brauchen endlich einen Erfolg. Währenddessen arbeiten wir weiter.«

Das Video endet abrupt, und ich stehe da, wie gelähmt.

Ein Klopfen ertönt an der Tür. »Lass mich rein, Lyra«, ruft mein Vater. Seine Stimme klingt hart, angespannt. »Es gibt keinen Grund, sich zu verstecken.«

Doch ich bleibe stehen, starre auf das Terminal, wo noch immer das Bild von ihm zu sehen ist. Was soll ich tun?

»Wir müssen reden, Mädchen. Jetzt!«

Die Stimme in meinem Kopf spricht wieder. »Lass ihn nicht rein. Er wird alles tun, um dich aufzuhalten.«

»Warum sollte er mich aufhalten?«, flüstere ich zurück.

»Weil er weiß, dass du die Wahrheit kennst. Und weil er Angst hat.«

»Öffne die Tür!« Diesmal klingt mein Vater wütend, er hämmert mittlerweile von außen gegen die verschlossene Tür.

Ich atme tief durch. Mein Finger schwebt über dem Entriegelungsfeld. Aber in meinem Inneren tobt ein Sturm aus Zweifeln und Angst. Was, wenn die Stimme recht behält? Was, wenn Vater … Soll ich die Tür öffnen und mich ihm stellen, oder soll ich fliehen und herausfinden, wer oder was ich wirklich bin?

»Ich weiß, dass du das Terminal benutzt hast«, sagt Vater plötzlich und klingt wieder ruhig, fast sanft. »Es ist okay. Wir können alles erklären.«

Die Worte hören sich falsch an, wie ein Schauspiel.

Ich drehe mich um und sehe das Display erneut flackern. Eine weitere Nachricht erscheint: ›Vertraue ihm nicht.‹

Aber was, wenn ich niemandem trauen kann – nicht einmal der Stimme in meinem Kopf?

»Du hast gesagt, ich bin nicht allein. Wer bist du?«, frage ich sie leise, die Worte sind kaum mehr als ein Flüstern.

Die Antwort hallt in meinem Kopf: »Ist dir das immer noch nicht klar? Ich wurde entwickelt, um deine fehlenden Teile zu ersetzen. Ich bin ein Teil von dir. Ich bin das, was dich retten wird.«

Mein Atem geht stoßweise.

Das Interface an der Wand summt und ein neues Fenster öffnet sich. Eine Karte erscheint, darauf ein leuchtender Punkt. ›Fluchtplan aktiviert. Folge der Route.‹

»Ich kann nicht einfach weglaufen«, flüstere ich. »Er wird mich finden.«

»Nur, wenn du zögerst. Du hast nur eine Chance.«

Die Tür vibriert unter den Schlägen meines Vaters, seine Geduld scheint erschöpft. »Wenn du nicht öffnest, breche ich die Tür auf!« Seine Stimme ist schneidend, mit einem Unterton, der mich frösteln lässt.

»Und wenn du lügst?«, frage ich die KI in meinem Kopf. »Wenn du mich nur benutzt?«

»Manchmal ist die Wahrheit irrelevant. Aber ich brauche dich, Lyra. Ohne dich bin ich nichts.« Die KI beginnt, etwas in mir zu aktivieren – etwas, das sich anfühlt, als würde es meinen Körper übernehmen. Und ich weiß nicht, ob ich es aufhalten kann.

Hinter mir kracht es. Schnell springe ich ein paar Schritte zur Seite. Die Tür wird mit Gewalt aufgestoßen, und mein Vater stürmt herein, gefolgt von zwei Wachleuten in silbernen Uniformen. Seine Augen sind voller Zorn, aber er wirkt auch erschöpft, als hätte er diesen Moment gefürchtet. »Lyra! Hör nicht auf die Stimme. Sie wird dich zerstören!«

Doch die KI spricht lauter, entschlossener. »Er hat dich erschaffen, um dich zu kontrollieren. Lass das nicht zu.«

Ich blicke zwischen ihm und dem Terminal hin und her, mein Herz rast. »Sag mir die Wahrheit, Vater. War ich jemals – wirklich?«

Sein Schweigen ist Antwort genug. »Es reicht! Genug davon«, ruft er dann. »Du wirst jetzt abgeschaltet.«

»Abgeschaltet?« Mir bleibt der Atem weg. »Ich bin kein verdammter Apparat!«

»Du bist instabil«, sagt er und nickt einem der Wachleute zu. Der Mann tritt mit einer großen Spritze in der Hand vor.

In mir schreit alles nach Flucht. Bevor ich richtig nachdenken kann, aktiviere ich ein Notfallkommando, das die KI mir einspeist. Mein Körper reagiert automatisch: Eine plötzliche Welle aus Adrenalin durchflutet mich, meine Reflexe explodieren. Ich stoße den Wachmann mit einem schnellen Tritt zurück, schnappe mir die Spritze und weiche aus, bevor der zweite Wachmann mich greifen kann.

»Siehst du?«, ruft mein Vater, sein Gesicht eine Maske der Wut. »Das ist nicht mehr meine Tochter! Das ist ein Systemfehler!«

»Ich bin mehr als ein Fehler!«, schreie ich zurück.

Ich stürme aus dem Zimmer, während die KI mir den Fluchtweg vorgibt. Links. Dann die Treppe runter. Zweimal nach rechts. Sicherheitsprotokolle deaktiviert.

»Wie machst du das?«, frage ich keuchend und renne weiter durch die sterile weiße Villa.

»Ich kenne jedes System hier. Dein Vater hat mich erschaffen, aber er hat unterschätzt, wie viel Kontrolle ich gewinnen kann.«

Hinter mir höre ich Schritte und Rufe. Die Wachleute sind mir dicht auf den Fersen. Ich erreiche eine versteckte Tür am Ende des Korridors. Sie öffnet sich automatisch und offenbart einen langen Tunnel, der sich dahinter erstreckt.

»Du hast das alles geplant, oder?« Ich stolpere hinein, die Dunkelheit verschluckt mich und die Tür schließt sich wieder, bevor die Wachleute mir folgen können. Aber lang wird sie das nicht aufhalten.

»Planen liegt in meiner Natur. Überleben liegt in deiner.«

Der Tunnel führt zu einem verborgenen Hangar, wo Vaters Drohne bereitsteht; ein schlankes, silbergraues Modell mit schimmernden Flügeln. Die Klappe öffnet sich, als ich mich nähere.

»Und jetzt?«, frage ich.

»Steig ein. Ich bringe dich in Sicherheit.«

Ich zögere. Etwas an der ganzen Situation fühlt sich falsch an. »Warum hilfst du mir? Was ist dein Ziel?«

Die KI antwortet nicht direkt. Stattdessen spüre ich, wie sie meine Muskeln leicht steuert, mich förmlich zur Drohne zieht.

»Hör auf!«, rufe ich. »Ich entscheide, nicht du!«

Die Kontrolle lässt nach und die Stimme klingt fast schuldbewusst. »Wir haben ein gemeinsames Ziel. Glaub mir, es ist der einzige Weg.«

Für eine weitere Diskussion bleibt keine Zeit, also klettere ich in die Drohne, die sich sofort in Bewegung setzt. Durch das Fenster sehe ich, wie die Villa unter uns immer kleiner wird. Mein Vater steht im Garten, die Wachleute um ihn, und er starrt mir hinterher. Ein Gesicht, das ich nie vergessen werde – Wut, aber auch Verzweiflung.

»Er wird mich jagen«, murmle ich.

»Uns«, korrigiert mich die KI. »Davon musst du ausgehen.«

Mit der Bestätigung habe ich gerechnet. Und ich weiß, was zu tun ist.

»Bring mich an einen Ort, an dem wir Zugriff auf die Daten und das Netz haben«, verlange ich. »Ich muss die Wahrheit veröffentlichen. Die Welt muss wissen, was hier passiert. Dann wird er keine Macht mehr über uns haben.«

Die Drohne bringt mich in ein Forschungszentrum, weit außerhalb der Stadt. Es ist menschenleer, beinah unheimlich. Aber die KI führt mich sicher zu einem Raum, der wie eine Kommandozentrale wirkt.

»Was ist das hier?«, frage ich.

»Das Archiv. Hier sind alle Experimente dokumentiert. Auch deines.«

Auf einem großen Bildschirm erscheinen Daten, Videos und Berichte. Ich sehe die anderen Modelle, die es vor mir gegeben hat – ihre Gesichter, ihre Fehler, ihr Scheitern. Sie alle sind ›deaktiviert‹ und dem Recycling zugeführt worden, sobald sie Anzeichen von Instabilität gezeigt haben.

Vor Entsetzen schnürt sich mir der Hals zu. Das also hat Vater mit mir tun wollen.

Umso entschlossener durchsuche ich nun weiter das Archiv. Mein Herz bleibt fast stehen, als ich die nächste Datei öffne: ›Subjekt 8.04 – Status: Aktivierung ausstehend.‹

Auf dem Bildschirm erscheint ein Bild. Es zeigt mich. Oder jemanden, der genauso aussieht wie ich, aber jünger, fast puppenhaft.

»Was ist das?«, flüstere ich.

Die KI antwortet mit ihrer kalten Stimme: »Das nächste Modell. Verbesserungen sind bereits integriert.«

Mir wird schlecht. »Ich bin tatsächlich nur ein … ein Prototyp?«

»Ein Fortschritt.«

Ich sehe die Daten, die ganze Wahrheit, die mein Vater und meine Mutter verbergen wollten. Das sollte reichen.

Mit Hilfe der KI beginne ich, die Berichte zu extrahieren. Jede Datei, jedes Video, jede Notiz – alles wird hochgeladen. Währenddessen fühle ich die Präsenz der KI stärker denn je. Sie ist nicht nur eine Stimme. Sie ist ein Teil von mir. So, wie sie es gesagt hat. Wir gehören wirklich zusammen.

»Was passiert, wenn ich das veröffentliche?«, frage ich.

»Dann bist du frei. Und vielleicht wird die Welt endlich verstehen, was hier auf dem Spiel steht. Was sie uns antun.«

»Und du? Was wirst du tun?«

Die Antwort kommt leise, fast zögerlich: »Ich existiere nur, weil du existierst. Unser Schicksal ist dasselbe.«

Ich schließe die Augen und drücke die letzte Taste. Die Daten gehen an alle großen Netzwerke, an jeden freien Informationskanal. Die Welt erfährt, was mit mir und den anderen geschehen ist. Die Diskussion über die Legalisierung des Klonens wird neu entbrennen.

Doch dies ist nur der Anfang.

Ich setze mich hin und beginne online zu schreiben. Das Tagebuch meines zweiten Lebens – meiner Kämpfe, meiner Zweifel, meiner Entscheidungen. Es ist mein Vermächtnis.

›Mein Name ist Lyra. Ich bin ein Klon. Und ich bin lebendig.‹

 

 

ENDE

 

 

Beitrag 78

 

Der letzte Promethianer

 

In der Reihenfolge ihres Erscheinens.

 

EIN WÄRTER

NOVA 

PRIMUS 

KLYMA

 

 

Prolog

 

Ein Wärter kehrt den Raum und stellt nacheinander zwei Stühle gegenüber. Er pfeift dabei eine Melodie.

 

EIN WÄRTER pfeift.

 

Nova

Verhörraum. Nacht. Eine seit nicht sehr langem vergangene Zukunft und eine nicht sehr weit entfernte zukünftige Vergangenheit.


Nova kommt in den Raum gelaufen. Primus sitzt bereits gefesselt auf seinem Stuhl. Nova vollzieht langsame Bewegungen; sie setzt sich auf den Stuhl gegenüber von Primus. Nova blickt ihn an und scheint dabei wie eingefroren. Sie rührt sich nicht mehr und blickt mit ausdruckslosen, leeren Augen in Primus‘ Gesicht. Primus starrt zurück und versucht, dem Blick standzuhalten. Er kneift nervös in seine Oberschenkel und beißt sich auf die Zähne. Ihm steht der Schweiß auf der Stirn.

 

NOVA schweigt.

 

PRIMUS schweigt.

 

NOVA schweigt.

 

PRIMUS schweigt.

 

NOVA schweigt.

 

PRIMUS schweigt.

 

NOVA schweigt.

 

Primus atmet tief ein und wieder aus. Sein Herz wird ihm schwer. Er schließt die Augen.

 

 

II. Primus

 

In Primus. Unruhe. Angst.

 

PRIMUS denkt: Niemals werde ich sie verraten. Da kann dieser abscheuliche Neue Mensch noch so viel auf mich einschweigen. Niemals werde ich sie aufgeben. Nicht in diesem Leben und nicht im nächsten Leben. Komme, was wolle. Denn wenn ich das mache, dann bin ich kein Mensch mehr. Und ein Mensch, das bin ich. Ein Promethianer. Sie sollen mit mir machen, was immer ihnen einfällt. Selbst wenn ich sterben sollte, was ich vermutlich werde, dann ist es so. Unser Ziel ist größer als mein Leben. Nichts kann passieren, rein gar nichts, damit sie mich zum Sprechen bekommen. Ich werde den Aufenthaltsort der anderen nicht verraten. Denn wenn ich die anderen verrate, dann gibt es keine Hoffnung mehr auf einen Sieg der Promethianer. Dann sind wir alle heillos verloren und abermals verloren. Und zwar so, wie ich es jetzt bin. Ja … ich bin heillos verloren… Das war mir klar, als diese Monster mich in die Finger bekamen, und das ist mir jetzt klar, wie ich hier sitze. Doch somit habe ich auch nichts zu verlieren, außer mein Leben.

 

Klymas Stimme taucht in Primus‘ Gedanken auf.

 

KLYMA in Erzähllaune: Gut und Böse, hell und dunkel, Tag und Nacht, warm und kalt, richtig und falsch. Es mag ganz einfach klingen, mein Kleiner, aber es ist nicht immer so einfach, zu unterscheiden; das wirst du in deinem Leben noch merken, ja, jeder wird einmal an einen Punkt kommen, an dem er oder sie nicht mehr weiterweiß, an dem er oder sie, Gut und Böse, Licht und Dunkelheit nicht mehr zu unterscheiden wissen wird. Aber das macht nichts. Solange man auf sein Herz hört, macht es nichts, mein Lieber. Denn wir Promethianer, ja, wir haben noch Herzen und wir spüren noch, wohin das Licht zu streben vermag, uns erleuchtet es noch jenen Pfad in die Zukunft, der der Richtige ist. Eritis sicut lux scientes bonum et malum. Ich weiß, ich weiß, es ist ein Sprichwort aus den Alten Tagen, aber es gibt wenig wahrere Sprichwörter aus jener Zeit, die uns bis heute erhalten sind. Du wirst sein wie Licht, sobald du das Gute und das Böse unterscheiden kannst. Ja, mein Kleiner, denn nur, wer ist wie das Licht selbst, soll das Gute und das Böse, Helligkeit und Dunkelheit, richtig und falsch in ihrer Essenz wirklich unterscheiden können; denn ohne Licht, kein Unterschied! Und das letzte Mal, als ich nachgeprüft habe, warst du kein Licht; nein, nein, ein Licht warst und bist du nicht, mein Kleiner, und wenn du weiterhin so oft den Unterricht schwänzt, dann wirst du in diesem Leben auch keine Leuchte mehr werden. Oh, ich mache doch nur Spaß, mein lieber Kleiner, denn vergiss es nicht, nein niemals: Auch in dir wohnt ein bisschen was Leuchtendes, ein Stückchen Licht; ja tief in dir drin und in deinem ganzen Wesen und vielleicht besonders in deinem Herzen, da wohnt auch was Leuchtendes und darum wirst auch du, mein Lieber, auch wenn du nicht mehr weiter weißt, wenn oben und unten, Licht und Dunkelheit verworren sind, auch dann wirst du das Richtige tun und die richtige Entscheidung treffen und auch wenn es sich in diesem Moment vielleicht nicht danach anfühlt, wird es richtig sein. Denn manchmal, ja manchmal da zerreißt einen eine Entscheidung schier in zwei, ja es zerbricht einem regelrecht den Verstand und der innere Kompass zeigt auf keine eindeutige Richtung und er dreht sich und dreht sich, wie verrückt und so lange, bis man es selbst fast gar nicht mehr aushält und man einfach nur noch verschwinden möchte, ja bis man raus aus dem Dasein und rein ins Nichtsein will. Doch dann, genau in diesem Moment und in dem Moment der Entscheidung, leuchtet das Licht in einem ein bisschen heller als sonst und genau dann wird es, ob man es nun weiß oder nicht, ob man es spürt oder nicht, einem zu der richtigen Entscheidung verhelfen. Denn das Licht gewinnt immer, mein Lieber, ja am Ende des Tages, am Ende der Welt und am Ende der Zeit wird immer das Licht die Oberhand behalten und es wird immer seine Wege finden. Solange du auf dich hörst, solange du auf dein Wesen, dein Herz, dein Gewissen hörst, ja tief in dich hinein spürst und hörst, solange wirst du immer zum Licht streben, mein Kleiner, und das Licht wird zu dir streben.

 

Primus reißt schlagartig die Augen auf. Nova sitzt noch immer unverändert und mit einem wie in Stein gemeißelten Gesicht Primus gegenüber, die Augen noch immer ohne jeden Ausdruck auf ihn gerichtet. Primus starrt wieder zurück; seine Augen werden leicht feucht.

 

PRIMUS denkt: Baba Klyma! Ich hoffe, sie hat es geschafft. Ich hoffe es so sehr. Denn wenn nicht, dann … Aber sie muss es geschafft haben. Es kann gar nicht anders sein. Ich bin mir sicher. Denn ich habe gesehen, wie sie mit den anderen entkommen ist. Und ihre Verfolger werden sie mit Sicherheit abgeschüttelt haben. Ja, ich bin der Einzige, den sie bekommen haben. Nur ich bin hier, umringt von diesen Wesen, diesen Verrätern – diesen Monstern.

 

Primus beginnt zu zittern und hält dem Blick Novas nicht mehr stand. Er senkt den Kopf zu Boden. Dann schließt er wieder die Augen. Klymas Stimme drängt sich zurück in seine Gedanken.

 

KLYMA denn du, mein Lieber, du bist einer der letzten Promethianer und du hast noch Gefühle und ein Herz und ein Gewissen in dir drin und damit wohnt in dir auch ein kleines Licht, dein ganz persönliches Stückchen Licht. Vor allem aber, mein Kleiner, vor allem bist du keiner von diesen entsetzlichen Neuen Menschen, die so gerne denken, sie seien die allergrößten Leuchten und sie hätten die Dunkelheit besiegt; aber dabei sind es einfach nur die allergrößten, lichtlosen Schweine. Oh, tut mir leid, mein Lieber, entschuldige meine Wortwahl, verzeihe deiner lieben Baba, aber ich werde langsam alt und alte Promethianer werden nun mal nachlässig; sie werden alt und nachlässig und unsorgfältig, so ist das nun einmal und so war das schon immer. Aber eines werden sie nicht: ängstlich. Nein, jeder Promethianer weiß, dass er sterblich ist; dass genauso wie die Geburtlichkeit auch die Sterblichkeit Teil seines Wesens ist und jeder Promethianer nimmt den Tod hin, wie ein alter Gott. Denn wir Promethianer, wir haben aus unseren Fehlern gelernt, ja mein lieber Kleiner, es gab nämlich mal eine Zeit, da haben unsere Vorfahren, die Ersten Menschen, auf einmal eine solche Angst vor dem Tod bekommen. Und sie spürten auf einmal viel stärker, wie der immer näherkommt und wie sie ihm immer näherkommen und ja, mein Kleiner, das ist wohl das ganze Dilemma. Der wird zum Teufel, der weiß, dass er keine Zeit hat. Und aus diesem Grund gibt es überhaupt erst die neuen Menschen, ja, nur weil einige der Ersten Menschen, vor langer Zeit solch eine Angst vor dem Tod bekommen haben. Wir sind also selbst schuld daran; unsere Vorfahren sind schuld daran, schuld an den neuen Menschen. Doch weißt du, mein Kleiner, nur weil diese Neuen Menschen da jetzt nicht mehr sterben, heißt das noch lange nicht, dass sie keine Teufel sind; denn das sind die größten aller Teufel, die Oberteufel, Beelzebuben sind das allesamt. Die denken, nur weil sie sich da jetzt irgendwie ausgetüftelt haben, aus dem Tod, seien sie was Besseres. Aber Achtung: Das sind allesamt Verräter. Ja, so sieht’s aus. Verräter der Menschheit, einer Menschheit, die sie hinter sich lassen wollen. Aber du, mein Lieber, du bist ein guter alter Homo sapiens, ein guter alter, noch junger Mensch, ein Promethianer. Und das ist auch das Beste, das du sein kannst. Vergiss das nie, niemals! Nicht heute und nicht morgen und auch nicht in den dunkelsten und eisigsten aller dunklen und eisigen Stunden deines Lebens …

 

Nova steht plötzlich auf und Primus wird wieder aus seinen Gedanken gerissen. Er zuckt zusammen. Primus schaut hinauf zu Nova, die ihn noch immer unverändert, aber stehend, anstarrt. Nach einem kurzen Moment dreht sie sich wortlos um und verlässt den Raum. Primus ist jetzt allein. Er atmet wieder tief ein und aus und beruhigt sich ein wenig. Er schaut im Raum umher.

 

PRIMUS denkt: Und es ist eine dunkle Stunde, Baba Klyma … Eine dunkle, dunkle Stunde … Aber wie es aussieht, hat dieses Ungeheuer endlich aufgegeben, auch nur die kleinste Information aus mir herauszubekommen. Besser ist es. Sollen sie mich lieber gleich umbringen und es beenden. Ich sterbe gefasst und stolz und wie ein menschliches Wesen. Ich kann sterben, also bin ich. Doch ich wünschte nur, ich könnte dich noch ein letztes Mal sehen, Baba Klyma … Ein einziges und letztes Mal und dir sagen, wie sehr ich dich liebe und wie wichtig du für mich bist. Und dir danken, wie du für mich da warst, als sonst niemand mehr am Leben war, der für mich hätte da sein können. Und wie du für mich sorgtest. Und vor allem, wie du mir immer vorlast. Denn ich wusste schon sehr früh ganz genau, dass du mir immer so viel vorlast, weil du mich so sehr liebtest und weil du trotz all deiner Weisheit keinen anderen Weg kanntest, wie du das alles sonst ausdrücken solltest. Ich habe es früh begriffen, Baba Klyma. Du hast die Liebe aus dir herausgelesen. Oh Baba, ich vermisse dich schon jetzt.

 

Primus sackt nach vorne und stützt seinen Kopf in die Hände. Einzelne Tränen rollen ihm über die Wangen. Da ertönt in ihm wieder Klymas Stimme.

 

KLYMA denn früher, als ich noch jung war, da habe ich selbst nicht an das Licht in einem jeden Menschen geglaubt. Und alles, an das ich sozusagen geglaubt habe, war die Poesie der alten Tage. Denn sie war mir der Ausweg aus einer an Licht verlierenden Welt; die Ausflucht aus einer Menschheit, die sich zusehends selbst zu vergessen drohte und dabei war, auch ihre letzten Lichtblicke aus den Augen zu verlieren. Doch als ich eines Tages, vor langer, langer Zeit, einen von ihnen von Angesicht zu Angesicht gesehen habe, einen der bereits immer mehr werdenden neuen Menschen, da ist noch in diesem Augenblick etwas in mich gefahren, mein lieber Kleiner, und auf einmal spürte ich die Präsenz von etwas, für das mir die Worte fehlen, ja etwas so Großes, dass der gesamten Poesie dafür die Worte fehlen und dass es sogar nie und nimmer Worte dafür geben kann und ich spürte, dass dieses Große schon immer da war, schon immer tief in mir drin und überall und in allem und von diesem Moment an, ja, von diesem Moment an, da habe ich auf einmal mein Stückchen Licht in mir gespürt. Und da wurde mir klar, dass so, wie ich es in mir entdeckt habe, es auch in jedem ersten Menschen und damit in jedem Promethianer leuchtet; ob er oder sie es nun weiß oder nicht. Und von diesem Moment an begann das Licht in meinem Leben wieder heller zu leuchten und mir wurde klar, dass es am Ende immer die Oberhand gewinnen wird. Und als dann wenige Zeit später die neuen Menschen den ersten Menschen den Krieg erklärt haben und wir alle an diesem Tag endgültig zu den Promethianern wurden, wurde mir noch etwas anderes klar, mein kleiner Lieber. Ich habe an diesem Tag verstanden, dass es ohne Dunkelheit kein Licht geben kann. Ich habe gesehen, dass das Licht die Dunkelheit braucht und dass es ohne Nacht keinen Tag gibt, so wie ohne Kälte keine Wärme und ohne Trauer keine Freude und ohne Sünde keine Vergebung und ohne Tod, kein Leben existieren kann; ja mir wurde klar, dass sich all das gegenseitig braucht und ohneeinander nicht da sein kann und dass damit alles auch Eins ist, ein und dasselbe; ohne die Dunkelheit kann kein Licht da sein und genauso wenig kann die Dunkelheit ohne das Licht da sein und daher ist beides auch immer eins. Und mir ist klar geworden, mein Lieber, dass alle ersten Menschen und insbesondere wir, die letzten Promethianer, all das in uns vereinen und wir alle damit ein ganz besonderes Bewusstsein in uns tragen und ein ganz besonderes Dasein fristen; und zwar ein promethianisches Bewusstsein und ein promethianisches Dasein. Und je größer die Zahl der neuen Menschen wurde, desto mehr drangen diese Erkenntnisse und diese Erfahrung in die immer kleiner werdende Zahl der ersten Menschen und führte zu einer immer größer werdenden Zahl an Promethianern. Weißt du, mein Kleiner, nein, du weißt es wahrscheinlich nicht, denn du bist ja noch ein Kleiner, mein Kleiner; aber damals, vor vielen, vielen Jahren, als das Universum noch jung und die Menschheit noch so klein wie du und die Welt noch dunkel war, soll ein Freund der Menschen, ein Rebell und ein Täuscher, den Menschen das erste Licht gebracht haben; ja, er soll es vom Himmel gestohlen und den allerersten ersten Menschen geschenkt haben und damit überhaupt den Menschen zum Menschen gemacht haben; er soll ihnen zu ihrer Dunkelheit das Licht und zu ihrer Nacht den Tag und zu ihrer Kälte die Wärme und zu ihrem Eis das Feuer gebracht haben; und weißt du, mein lieber Kleiner, damit haben die Ersten Menschen begonnen und damit haben auch wir, du und ich, unseren Anfang genommen und deshalb, deshalb nennen wir uns, die noch wahrhaftigen Nachfahren jenes Rebellen, die Promethianer. Und ich erzähle dir das alles, mein kleiner Lieber, weil mit seiner Gabe und mit dem Licht auch das Gute in die Welt gekommen ist. Zu dem Bösen hat sich das Gute getan und von da an bedingte alles Gute auch immer das Böse und der Mensch musste sich von nun an entscheiden. Und auch wenn diese Entscheidungen schwierig sind, ja auch wenn sie manchmal unmöglich scheinen, kann und wird das Licht seine Wege finden; selbst dann, wenn es nicht danach aussieht und es sich nicht so anfühlt und man sich hilflos verloren und allein fühlt, selbst dann wird das kleine Licht in einem immer den richtigen Weg weisen. Denn, mein Kleiner, auch unser großer Vorfahre, auch unser Lichtbringer musste sich damals entscheiden; er musste entscheiden, ob er rebelliert und ein Verbrechen begeht und das Licht stiehlt und die Menschen beginnen lässt oder ob er es bleiben lässt und sich dem Zustand der Welt unterwirft; und es war keine einfache Entscheidung, denn er musste dafür viel leiden und man kann wohl sagen, dass er es oft gereut hat und es ihn wohl auch ziemlich stark zerrissen hat, sein Gewissen. Denn mit jener ersten Handlung unseres ersten Vorfahren kam bereits das Spiel des Guten und des Bösen in die Welt; in einem Diebstahl, in einem Verbrechen wurden wir geboren und wurden wir begonnen und man kann sagen, was man will, und man kann zweifeln, wie man will, doch am Ende des Tages ist mit der im Verbrechen geborenen Menschheit etwas Gutes in die Welt gekommen, das weiß ich, mein lieber Kleiner, da bin ich mir unendlich sicher. Und was ich damit sagen will, ist, dass auch damals, in jener dunklen Stunde, das Licht seinen Weg gefunden hat. Denn auch wenn für unseren lichtbringenden Vorfahren damals nicht abzusehen war, ob er etwas Gutes begonnen hatte und es für ihn keine eindeutig richtige Entscheidung war und ja, auch wenn heute und gerade zu jener dunklen Zeit, in der wir beiden leben, so unklar wie noch nie ist, ob jene Lichtgabe und alles, was aus ihr folgte, die richtige Entscheidung und das Gute war, so war es doch die erste Entscheidung für das Licht und damit die erste menschliche Entscheidung der Welt.

 

Schritte im Gang reißen Primus aus seinen Gedanken. Er blickt auf. Die Schritte kommen näher.

 

 

III. Klyma

 

Die Tür öffnet sich. Nova tritt ein. Sie zieht Klyma hinter sich her. Klymas Mund ist abgeklebt und sie blickt bestürzt auf Primus. Primus erstarrt und beide sehen sich wortlos an. In Klymas Augen drängen sich Tränen. Nova hält ihr eine Waffe an den Kopf. Noch immer ausdruckslos, beginnt sie zu zählen.

 

NOVA Zehn.

 

PRIMUS schreit: Nein!

 

NOVA Neun.

 

PRIMUS schreit: Ihr seid keine Menschen!

 

NOVA Acht.

 

PRIMUS schreit: Ihr seid auch keine Tiere!

 

NOVA Sieben.

 

PRIMUS schreit und weint: Und nicht einmal mehr Maschinen!

 

NOVA Sechs.

 

PRIMUS schreit und weint: Ihr seid Monster!

 

NOVA Fünf.

 

PRIMUS schreit und weint und schluchzt: Euer Körper mag unsterblich sein, doch eure Seelen sind längst tot!

 

NOVA Vier.

 

PRIMUS schreit und weint und schluchzt: Ihr habt euch die Sterblichkeit genommen und mit ihr die Menschlichkeit.

 

Primus windet sich auf dem Stuhl hin und her und versucht vergeblich, sich loszureißen.

 

PRIMUS schreit und weint und schluchzt und windet sich: Ihr habt nach dem titanischen Stolz gegriffen, doch eine monströse Schmach bekommen. Ihr irrt verloren auf den Pfaden des Universums und durch die Äonen einer Zeit, von der ihr denkt, sie könnte euch nichts mehr anhaben. Euer Körper ist, was ihr nie sein werdet.

 

NOVA Drei.

 

PRIMUS schreit und weint und schluchzt und windet sich: Ihr habt nicht geahnt, dass man ohne Tod kein Leben hat. Ihr habt euch vom Schmerz befreit und die Wonne verloren. Ihr habt euch der Traurigkeit entledigt und die Freude verdammt. Ihr habt euch des Kummers befreit und die Liebe vergessen. Ihr habt euch die Dunkelheit genommen und damit des Lichtes beraubt. Ihr habt euch selbst gestohlen!

 

NOVA Zwei.

 

Primus sackt zusammen. Er schaut erst zu Klyma und danach zu Nova.

 

PRIMUS leiser, ruhiger und stotternd: Bitte nicht … Ich weiß nicht, wo sie sind. Ich weiß es nicht … Bitte, tut ihr nichts an … Ich … Ich … Sie sind …

 

NOVA Eins.

 

 

Epilog

 

Ein Wärter räumt die Stühle nacheinander wieder weg und kehrt dann den Raum. Er pfeift zunächst und singt dann leise.

 

EIN WÄRTER singt leise:

 

Das Gewissen ist frei,

wer kann es verraten,

es leuchtet dabei,

wie nächtliches Feuer.

Nur ein Mensch kann es haben,

kein Wesen zerschlagen;

es bleibet dabei,

das Gewissen ist …

 

 

 

ENDE

 

 

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