Beiträge 01 – 05
Beitrag 01
Die Prediger der Zukunft
Statt in einem warmen Bett zu liegen am Abend, ging ich durch die Stadt auf der Suche nach einer reizenden Ablenkung von meinen betrübenden Gedanken. Es lässt sich immer irgendetwas finden, denn immer gibt es Nachfrage: So viele Menschen brauchen Zerstreuung, so viele Menschen wollen sich selbst loswerden für ein paar Augenblicke.
Ein Mitternachtsspektakel war das reizendste Angebot zu dieser Stunde. Ich kletterte über einen Zaun, tummelte mich unter die Menge und lauschte den Worten eines Predigers, der gut sichtbar auf einem künstlichen Felsen stand. Tausende Menschen hatten sich hierhergedrängt, um die Botschaft zu vernehmen:
Wir brauchen eine neue Religion. Wir haben es in der Hand. Der Kampf gegen die Umweltzerstörung. Der Kampf mit unseren eigenen Sünden. Wir sollten uns schämen! Was haben wir schon jetzt getan? Was tun wir der Zukunft an? Auf solch fürchterliche Weise vergehen wir uns an dieser Einzigartigkeit, an diesem glücklichen Zufall, dieser Unwahrscheinlichkeit, die all dies erst entstehen ließ.
Der Prediger riss seine Arme in die Luft und schrie: „Rette sich wer kann!“ Im selben Augenblick regneten Blitze aus dem Himmel. Es donnerte ohrenbetäubend. Der Himmel war schwarz, und es fing an zu schneien, mitten im Sommer. Die Inszenierung wirkte tatsächlich fast echt.
Ein zweiter Prediger war nun im Rampenlicht. Er stand auf einem anderen Felsen, unweit des ersten, und war plötzlich beleuchtet durch den Blitzregen von oben. Zuvor war er von Dunkelheit umhüllt und nicht sichtbar gewesen. Er fragte: „Wollt ihr, dass dies passiert, meine lieben Kinder, wollt ihr das?“ Er hob drohend den Finger. Die Zuschauenden schauten sich verängstigt an und schüttelten energisch den Kopf. „Dann sind wir also auf der guten Seite. Nun lasst sehen, was sich daraus noch machen lässt.“
Er übergab das Wort mit einer ausladenden Geste an den ersten Redner. Dieser sprach in beschwörendem Ton:
Wir versündigen uns. Wir haben uns fürchterlich vergangen an uns selbst. Wir haben uns selbst geschändet. Denn wir folgten dem Prinzip: Mehrt euch und macht euch die Erde untertan! Es ist die Anleitung zur Selbstvernichtung. Wer hätte das geglaubt? Nun steht nicht die Frage im Raum, ob jemand sterben muss, es besteht lediglich die Frage, wen es treffen wird. Werden es die Küstenbewohner sein oder jene in den Bergen? Welche Flut ist schlimmer? Die Menschenflut? Es ist die Frage dieser Zeit: Was tun wir, um uns zu retten? Oder wollen wir, dass unsere Kinder verrecken? Hätten wir keine, müssten wir uns darum nicht sorgen. Doch wer wird uns die Renten borgen?
Mit den „poetischen“ Fragen fing das Gemetzel an. Auf der nun beleuchteten Theaterbühne wurden entsetzliche Szenen vorgespielt. Es wurde gezeigt, wie eine durchscheinende Lichtgestalt auf Menschenjagd geht:
Wenn Blitze aus ihren Fingerkuppen schießen, schreit das Menschenvolk. Sie jagt die Menschen über Berge, durch Täler und Wälder, lässt sie in Flüsse springen und dort ertrinken, während sie über das Wasser schwebt. Ihre nackte, scheinende Schönheit blendet die Menschen. Die Menschen erblinden an ihr. Sie ist nicht mit Dreck bedeckt, sie ist rein und klar; glitzernd, funkelnd, heller als die Sonne. (Der Prediger nannte sie „mein Diamant“.) Die erblindeten Menschen ertrinken in den Fluten, verbrennen in den Wäldern, fallen von den Bergen, kullern in die Täler gleich plumpen Steinen – die Menschen seien so wenig wert! Die Herden strömen aus den Höhlen, aus der Erde fließen Menschen.
Während die Szenen sich schneller und grausamer entwickelten, setzte der Prediger in donnerndem Ton hinzu:
Es tut so gut, einfach mal richtig abzurechnen, mal richtig den Schlussstrich zu ziehen – es hat sich zu viel aufsummiert! Es müssen Dinge klargestellt werden, ins Reine gebracht werden. Das Unausgesprochene, das Verdrängte, das nicht Gewagte, die schauderhaften Unangenehmheiten der ersten Tage: Dies alles muss zur Geltung kommen! Wir müssen weit ausgeholt durchkehren, sauber machen, bis kein Schmutz mehr vorhanden ist.
Es wurden weitere dramatische Zeilen gesprochen, während aus der Menge einer rief: „Tötet die Reichen und nehmt von ihnen das Geld!“ Aufmunternde Jubelrufe übertönten nun die Worte des Predigers. Die Menschen packten Schnapsflaschen aus und ließen den Alkohol in sich hineinlaufen.
Einer klopfte mir auf die Schulter und sprach: „Ey, Kumpane.“ Der Mann hatte blutunterlaufene Augen, er grölte, hob seinen Humpen, schwenkte hin und her, bis die Brühe über den Rand schwappte, seine Hände tränkte und den Arm hinunterlief. Er hatte wohl einige Nächte durchgemacht, seinem Erscheinungsbild nach zu urteilen.
„Ich stehe morgens auf und erst mal Bier“, begann er mir zu erzählen. „Bier nach Wein, das lass sein. Wein nach Bier, das rat ich dir. Prost!“ Er lachte und schwenkte erneut seinen Humpen. „Ich helfe Menschen, die in Not sind, ich arbeite ehrenamtlich“, fuhr er fort. „Ich sehe vielleicht nicht so aus, aber ich nutze meine Zeit sehr gut. Zwei Tage die Woche helfe ich Menschen. Die restliche Zeit besauf ich mich. Ich krieg das Geld vom Staat, weißt du. Ich leb hier im fremden Land, weil es hier günstiger ist. Offiziell leb ich aber noch in meinem Heimatland. Mein Heimatland geht mir am Arsch vorbei. Aber Geld krieg ich von denen. Das ist gut. Etwas Gutes hat der Staat dann doch an sich. Prost!“
Er schaukelte hin und her, der Humpen war fast leer. „Interessiert dich dein Land, oder geht es dir auch am Arsch vorbei?“, fragte er mich. Ich zuckte mit den Schultern. „Wen interessieren denn Länder? Alles die gleiche Wichse! Dass manche sich noch auf ihren Staat einen runterholen, sich verpflichten, sich dafür opfern. Wie lächerlich! Lasst alle rein, die rein wollen, lasst alle raus, die raus wollen. Wenn´s irgendwann kein Geld mehr gibt, verrecken wir halt. Tun wir sowieso irgendwann. Auch die reichen Säcke verrecken irgendwann. Prost!“ Der Humpen war nun endgültig leer. „Brauch mehr Bier“, grölte er.
„Na Kleine, willst was trinken?“, fragte er eine junge Frau, die versuchte, sich an ihm vorbeizuschieben. Sie sah in der Tat nicht schlecht aus. „Tu mal einem armen Penner wie mir einen Gefallen.“ Diesen Satz beendete er mit einem ausgiebigen Rülpser. Die junge Frau wandte sich bei dem Geräusch etwas zur Seite. „Na komm schon, Hübsche, siehst so einsam und so gut aus. Ich bin doch auch so einsam.“ Seine Worte gingen in lallendes, fast Mitleid erregendes Gemurmel über.
Die junge Frau schien auch den Mitleid erweckenden Ton wahrgenommen zu haben. Sie drehte sich zu dem Trinker um und sprach: „Lust auf ein schnelles Nümmerchen? Muss aber wirklich schnell gehen. Mein Freund wartet.“
Der Trinker schien echt überrascht, fast überrumpelt bei diesem offenen, sehr direkten Angebot. Er hätte sich das wohl nicht träumen lassen. Sichtlich überwältigt stammelte er vor sich hin: „Schnell, schnell, ja, sicher, klar, kein Problem.“ Die junge Frau fasste ihn an der mit Bier getränkten Hand, der Humpen fiel auf den Boden, und sie verschwanden gemeinsam in dem Schatten eines hochaufragenden Felsens, von dem ein dritter Prediger zu der Menge hinunter sprach.
Ich drängte mich zwischen den aneinanderklebenden Körpern hindurch und befreite mich aus dem Sog, der nun den Verstand der Menge schlucken sollte. Ich stieg auf einen kleinen Hügel hinauf und begutachtete das Spektakel aus sicherer Entfernung.
~~
Die dritte Rede soll nicht verschwiegen werden, denn aller guten Dinge sind bekanntermaßen drei. Der dritte Redner war derjenige, der die größte Wirkungskraft entfaltete auf die Menschen unter sich:
Die klügste Form der Kriegsführung liegt darin, die Gegner zu verleiten, sich gegenseitig umzubringen; anstatt sich selbst die Hände einzusauen. Diese alte Methode wird reichlich angewandt. Ist der Mensch der Feind der Welt, und ist man aus Sauberkeits – und anderen Gründen – wie zum Beispiel moralischen – dazu angehalten, um das Töten einen großen Bogen zu schlagen, so fordert man die Menschen dazu auf, sich selbst das Leben zu nehmen. Mehr Freiheit, weniger Sicherheit; mehr Sicherheit, weniger Freiheit: Das ist der Preis, den man zahlen muss für moralische Prinzipien. Diese Perspektive könnte die Perspektive Gottes sein.
Nehmen wir an, Gott hat die Welt und den Menschen erschaffen; nehmen wir außerdem an, dass Gott sich eingestehen muss, dass diese eine Schöpfungsart sich derart unartig verhält, gewissermaßen aus dem Ruder gelaufen ist, und ihretwegen der gesamte Kosmos auf dem Spiel steht … Was macht Gott nun? Er fordert die Menschen dazu auf, sich selbst zu entfernen, und damit der Welt einen Gefallen zu tun.
Im Publikum war erneut Ruhe eingetreten, der Alkohol lief nur noch zögerlich. „Das Ziel der Menschheit“ – der Redner hielt inne, seine Augen blitzten, er schaute hinab auf seine stumme Gefolgschaft – „war von Beginn an ihre eigene Vernichtung!“ Mit heftiger Geste und schallendem Ton beendete er den Satz, und fuhr, nachdem er sich der vollen Aufmerksamkeit seiner Zuhörer versichert hatte, in ruhiger, doch durchdringender Stimme fort:
Wie der Tod das Ziel des Lebens ist, so ist er das Ziel der Menschen. Jedes Weiterleben bedeutet bloß Verzögerung. Aber feige Waschlappen pflastern fast alle Orte dieser Welt. Ihnen liegt so viel an Verzögerung. In der Vergangenheit gab es keinen schlagenden Grund, das große Mysterium rasch zu lüften und den gezielten Tod herbeizuführen, um die Sache endgültig und gründlich und – das ist wichtig – nachhaltig aus der Welt zu schaffen. Heute gibt es einen gigantischen Grund: Der Mensch ist nichts Besonderes, der Mensch ist nicht mehr wert als Wüstenstaub, der Mensch hat sich auf eklige Weise über sich selbst erhoben, der Mensch sollte sich schämen in der Gegenwart von Wüstenstaub – vor sich selbst. Der Mensch sollte sich die zarte Kehle öffnen und die Wüste in ein Meer aus Blut verwandeln.
Natürlich wurden auch diese Worte auf der Bühne bildlich untermalt. Es gab Beobachter, die sich selbst bei dem Spektakel streichelten. Es waren diejenigen, denen es viel besser gefiel, zu sehen, wie andere in ihren Gefühlen vergingen, als selbst dabei zu sein. Der Prediger zögerte nicht, den Menschen weiter ins Gewissen zu reden. Er wollte schließlich keine raufende Bande unter sich, er wollte zivilisierte, moralisch reine und überlegene Geschöpfe ihn anbeten sehen. Er wollte keine sittliche Verfehlung. Er sprach:
Diejenigen, die andere ermorden, sind widerlich. Überhaupt sollte das Töten aus der Welt verbannt werden. Diejenigen Wesen zumindest, die auf ihre Taten reflektieren können, sollten sich das Töten konsequent verbieten. Wenn ich das Töten gewisser Wesen als schlecht bewerte, warum dann nicht das Töten aller Wesen? Es gibt manche, die den Stuhlgang und das Zähneputzen als Tötung einstufen – vielleicht sogar als Mord. Solche ehrlichen Holisten dürften nicht existieren. Sie müssten sich selbst umbringen.
Der Prediger grinste hämisch. Er strich sich über das Gesicht, als wollte er die Maske wieder richten, und sprach weiter mit ernster Miene:
Das Töten sollte prinzipiell als verwerflich eingestuft werden. Nur durch den Selbstmord ist es möglich, keinem anderen Wesen zu schaden. Denn woher sollte der Mensch das Recht nehmen, einem anderen Wesen zu schaden, ein anderes Wesen zu töten? Schließlich ist der Mensch derjenige, der seine Taten bewerten, reflektieren kann. Findet er in seinen ehrlichen Reflexionen eine tatsächliche Berechtigung für das Töten? Ist das nicht der Fall, so ist der Selbstmord das Gebot. Nur durch den Selbstmord ist es möglich, das Töten konsequent zu vermeiden. Denn im Augenblick des eigenen Ablebens fällt jegliche Verantwortung, jegliche moralische Schuld von einem. Nur indem man nicht existiert, ist es möglich, sich nicht verwerflich zu verhalten, keine Schuld auf sich zu laden. Jeder Mensch, der lebt, ist ein Massenmörder.
Ich hatte den Eindruck, dass seine Gedanken nicht vorsortiert waren, sondern der Redner gewissermaßen während des Sprechens dachte. Er nahm somit die Zuhörenden an der Hand. Er verfehlte seine Wirkung nicht. Ich glaube, ein solcher Prediger würde nie irgendjemanden vernichten; doch würde er einiges dazu tun, dass sie sich selbst vernichten.
Viele Menschen öffneten sich in der Tat die Kehle, als er fertig war. Die Menschen waren ein Instrument und ein Opfer der Sprache geworden. Ich sah Menschen mit Magenkrämpfen auf der Stelle treten, da sie sich nicht mehr trauten, ihre Körper zu entleeren. Ihre Grundbedürfnisse standen ganz offensichtlich im Konflikt mit den Grundbedürfnissen anderer Naturwesen. Auch den Darmbakterien wurde ein Recht zugesprochen. Welches Recht haben die Menschen wiederum, sie einfach wegzuspülen? Wäre damit die Schande ihrer Existenz nicht zu groß?
Einer der Bekehrten gab das passende Stichwort dazu: „Hat man je die Frage gestellt, weshalb der Kot unangenehm für Menschennasen riecht – stinkt?“ Der Prediger, der gewiss sehr viele Schriften kannte, erklärte genüsslich:
Nicht etwa, damit die Menschen sich davor hüten, solche Ausscheidungen zu sich zu nehmen – obwohl es Scheißefresser gibt unter den Menschen –, sondern um ihnen ins Gewissen zu rufen. Menschen sollten begreifen, dass der zu tiefen Reflexionen befähigte Verstand die eigene Existenz im Ende nur als Schande fassen kann. Es gibt kein Schlupfloch mehr, es gibt kein Entkommen mehr vor der nagenden Gewissheit. Er hat zu viel verstanden, um sich selbst noch rechtfertigen zu können, sich das Recht einräumen zu können, noch länger zu verweilen.
Weshalb streben die Menschen danach, sich selbst zu übersteigen, sich selbst – für die Kleingeister unter uns – einfach zu vergessen im Rausch oder jedweder Form der temporären Löschung? Der Mensch hält die Verwerflichkeit seiner Existenz nicht mehr aus. Er hat zu viel erkannt, um sich selbst noch rechtfertigen zu können, sich selbst noch das Recht des Weiterlebens zuzugestehen. Er ist schon längst sich selbst überdrüssig geworden.
Der Mensch täte gut daran, sich selbst zu entfernen. Keine Tötung ist erlaubt – nur der Selbstmord. Jeder Mensch ist in der Lage, sich selbst das Töten zu verbieten. Jedem Menschen ist es möglich, ein gutes, heilbringendes Beispiel zu sein, sich nicht mehr schämen zu müssen, keine Schuld mehr auf sich zu laden, sich zu bereinigen, das verwerfliche Leben hinter sich zu lassen – indem er sich selbst umbringt. Das Ende kommt ohnehin. Weshalb also auf dem Weg zum endgültigen Verfaulen noch mehr Schuld auf sich laden?
Die konsequente Tat – in Sauberkeit und Reinheit, ohne einer anderen Seele nur ein Haar zu krümmen – ist der Selbstmord. Damit wird der Welt ein Gefallen getan, damit erweist man zum ersten Mal der Welt einen Gefallen, damit ist man zum ersten Mal uneigennützig, damit ist man zum ersten Mal ohne Schande, ohne Schuld, ohne schlimme Hintergedanken und unangenehme Gefühle. Damit lässt man los, löst sich von Verwerflichkeit. Damit befreit man sich von allem Schmutz der eigenen Existenz. Damit ist man rein und klar. Nur damit ist dem Menschen möglich, nicht mehr töten zu müssen.
Auf die letzten kleinlauten Zwischenrufe – als Zeichen der zerbröselnden Resistenz der Zuhörer gegen die polternde Überzeugungskraft des Redners – antwortete er mit erhobenem Zeigefinger:
Andere Organismen verstehen nicht, so wie wir, welchen Einfluss sie haben. Wir verstehen genug, um zu wissen, dass wir, solange wir existieren, ungeheuerlichen Einfluss haben – töten. Deshalb sind nicht andere Organismen, sondern wir sind in der Pflicht, uns anständig – ohne Mord und Totschlag – zu gebärden. Deshalb sind wir – wollen wir anständig sein – in der Pflicht, uns zu entfernen. Derjenige, der nicht weiß, dass er getötet hat, erhält eine mildere Strafe als derjenige, der weiß, dass er tötet. Das bedeutet: Entweder man muss den Menschen in den Selbstmord bitten oder den Menschen dumm halten. Entweder Aufrichtigkeit oder Lüge. Das ist die Antwort auf das Dilemma. Folgt mir und wählt das erste.
Wie auf Befehl schnitten sich Zahllose die Kehle durch. Die anderen vergingen in einem Tränenmeer. Sie wussten, dass sie nicht den Mut hatten, Aufrichtigkeit zu leben, und so vergingen sie in der Schande ihrer Existenz.
In dem Augenblick standen noch zwei Fragen am Himmel. Erstens: Warum ist der Mensch dorthin gelangt, wo er nur noch mit unangenehmem Gefühl um seine Existenz leben darf, bevor er dem Tod in die Arme fällt? Zweitens: Ist sein Verstand, der ihm dieses mulmige Gefühl im Bauch beschert, falsch; oder ist es falsch, dass er noch da ist?
~~
Mit manipulierenden Phrasen versuchten die Prediger der schauderhaften Mitternachtsspektakel unermüdlich, nach den Lebensmüden auch die Spätaufsteher zu bekehren, während ich weiterhin aus sicherer Entfernung (ohne in den Sog der Manipulation gezogen zu werden) der Zeremonie beiwohnte:
A: Niemand muss den Todeskampf kämpfen, wenn er sich, bevor es so weit ist, aus dem Leben entfernt hat.
B: Alle Sorgen fallen mit einem Streich von Herz und Seele. Wüssten die Menschen, was noch auf sie zukommt, würden sie sich schon heute mit Sätzen wie diesen vertraut machen.
C: Die Angst um das eigene Leben und das der wenigen Nahestehenden ist nur gegeben, wenn das Weltbild das Leben über den Tod stellt. Der Kampf ums Überleben war gestern. Der Friede für das Leben wird die Zukunft sein. Ein Paradigmenwechsel in den Köpfen der Menschen muss nicht auf die Biologie Rücksicht nehmen. Der Friede wird nicht mit dem Leben, sondern mit dem Tod erzielt. „Ruhe in Frieden“ steht auf Grabsteinen, und nicht auf Geburtsurkunden. Wer Krieg möchte, setzt das Leben als Ziel. Wer Frieden möchte, setzt den Tod als Ziel. Im Leben gibt es keinen echten Frieden. Wer des Kämpfens müde ist, freundet sich mit dem Tod an.
Eine Frage sollte noch geklärt werden für die Reste der Menschheit, für die Nachgeborenen, bevor sie aus dem Leben schieden: „Was sollte mit dem Vermächtnis der Menschen geschehen?“ Wenn sie schon nicht zum Wohle anderer ihr Leben geben, würden sie zumindest ihre Überbleibsel entfernen lassen – zum Wohle anderer? Würden sie zum Wohle der langen, langen Zukunft ihr Vergehen akzeptieren? Der Prediger auf dem niedrigsten Felsen begann, Antwort zu geben:
Jede Zeit besitzt ihre größte Macht darin, über die Vergangenheit richten zu dürfen. Die Vergangenheit kann nicht mehr mitreden. Über die Vergangenheit nicht zu reden, bedeutet, sie totzuschweigen. Wenn damit Schlechtes entfernt wird, ist dies empfehlenswert. Die stärkste Rache an den Missetätern ist, sie in den Tod zu schweigen. Wer der Zukunft Leid auferlegt hat, sollte mit keinem Wort Erwähnung finden. Weshalb sollte man Schlimmes aufbewahren? Aus Schlechtem folgt nur Schlechtes. Wenn nur Gutes aufgehoben wird, folgt immer nur Gutes in die Zukunft. Erwähnt mit keinem Wort das Schlechte, und es wird dem Tod überreicht. So soll es sein.
Zustimmendes Nicken war die Reaktion der letzten Zuhörenden – keiner traute sich, mit Jubelrufen Gefühle auszudrücken: „Der gute Mensch ist emotionsfrei.“ Die ernsten Menschen schienen noch am Leben zu sein, während die Frivolen sich bereits entfernt hatten. Der Prediger fuhr fort:
Die stärkste Kraft liegt im Schweigen. Lebt sie, nutzt sie! Alle Wörter dieser Welt zerstören keinen schweigenden Mund. Ein schweigender Mund lässt alle Wörter dieser Welt in die Hölle fahren. Das Ausschweigen bis zum Tod ist die größte Macht, die ein jeder besitzt. Selbstverständlich bedarf das Schweigen einer Selbstüberwindung, zu der nicht jeder in der Lage ist. Zu furchtbar viele Plappermäuler gibt es auf dieser Welt! Eine solche Selbstüberwindung zu erlernen, ist die eigentliche Aufgabe eines jeden gewollten Wohltäters der Zukunft. Mit keinem Wort wird die Zukunft reicher und voller. Das Abscheuliche, das Schlimme, Böse, Abschaumartige, wird entfernt, indem es verschwiegen wird. Schlechtigkeit wird keinem mehr als Vorbild dienen: nur noch Güte und ausladende Schweigsamkeit.
In Schweigen verfiel der Prediger. Die Zuhörer waren schon längst verstummt. Jedem schien der Mund zugenäht zu sein. Eine herrliche, echt erfrischende Stille lag über dem Ort.
ENDE
Beitrag 02 Ausgeschieden
Beitrag 03
Zwischen Tod und Leben
13.11.2148
Wir befinden uns auf der Erde und ich habe heute meinen Namen erhalten.
Ich heiße ab jetzt Phoenix, zuvor war ich als Nummer 40.326 bekannt, und ich bin heute 18 Jahre alt geworden.
Ich lebe in einem unterirdisch gelegenen, hellen und klinisch reinen Komplex, welcher allen Arbeitern als Wohnraum dient. Hier gibt es verschiedene Wohneinheiten und jeder lebt mit den anderen Arbeitern aus seinem oder ihrem Aufgabenbereich zusammen. Ich lebe im Wissenschaftsbereich, welcher sich durch helle, medizinisch wirkende Räume auszeichnet. Jeder von uns Wissenschaftlerinnen besitzt eine kleine, runde Räumlichkeit, welche uns als Rückzugsort dient. Meine ist im grünen Bereich der Wissenschaftseinheit, denn ich werde in Zukunft die Außenwelt erforschen, die Welt welche wir nicht mehr betreten dürfen und können.
All die Jahre habe ich geschichtliche Daten auswendig gelernt, Zeitungsartikel verschlungen und die Schlagzeilen gesammelt, „Die Energiewende ist fehlgeschlagen!“, „Wir werden alle sterben!“, „Neue Bauten unter der Erde erbaut“, „Naturkatastrophen nehmen zu, werden wir sie überleben?“, „Rekordhitze im Sommer“. Ich habe die Lehrer genervt mit meinen nie endenden Fragen und doch waren ihre Antworten für mich niemals ausreichend, denn sie haben nicht erlebt, wie es wirklich war, an der Oberfläche, vor den Katastrophen. Ich aber, ich habe das Gefühl, als wenn ich es wissen sollte.
Manchmal frage ich mich, ob überhaupt noch jemand weiß, wie die Welt draußen aussieht, denn alle erzählen einem von der Zerstörung der Welt, aber ich habe das Gefühl, dass diese wunderschön ist und ein einzigartiges Geheimnis besitzt.
Der Raum in der unterirdischen Basis ist begrenzt und jedes verheiratete Paar darf höchstens ein Kind bekommen. Zudem gibt es strenge Regeln und die Partnerschaften werden von der Regierung festgelegt. Normalerweise bekommt man an seinem achtzehnten Geburtstag einen Partner oder eine Partnerin zugewiesen, außer man kommt in den Bereich der grünen Wissenschaft oder die niedrigsten Bereiche, den Technikbereich für die Männer und den Bereich der Haushaltshilfen für die Frauen. Mir kommt das sehr gelegen, da ich mich so auf meine Entdeckungen konzentrieren kann.
Innerhalb der Bereiche haben alle Arbeitenden die Freiheit, sich miteinander auszutauschen, während man die Arbeitenden der anderen Bereiche kaum zu Gesicht bekommt.
Morgen darf ich endlich mit meinem Traumjob beginnen, ich bin so aufgeregt, mein ganzer Körper fühlt sich an, als wenn tausend Schmetterlinge durch mich hindurch fliegen würden.
13.12.2148
Ich habe meine Arbeit begonnen und wir analysieren fast jeden Tag die gleichen Pflanzen und Gesteinsproben, und versuchen ein Mittel zur Wachstums- beschleunigung der Pflanzen zu entwickeln.
Ich habe mich so auf diesen Job gefreut und am Ende ist er genauso langweilig wie die letzten achtzehn Jahre. Es gibt immer nur Regeln, Regeln, Regeln und alle anderen wissen alles besser als du und sind nicht bereit dir eine Chance zu geben. Vielleicht wäre ich in einem anderen Wissenschaftsbereich besser aufgehoben gewesen. Wäre die medizinische Wissenschaftseinheit vielleicht doch die Richtige gewesen?
Jetzt ist es ohnehin zu spät, denn ich bin in das Team integriert worden und arbeite jeden Tag 14 Stunden. Meine erste Schicht beginnt um 6 Uhr morgens und endet um 13 Uhr, dann habe ich 1 Stunde Pause, in welcher ich etwas esse, und eine Viertelstunde schlafe. Von 14 Uhr bis 21 Uhr arbeite ich dann wieder und um 21:30 Uhr gibt es Abendessen in der Kantine. Wir können entweder selber kochen oder in der Kantine essen, ich koche mir meist selbst etwas, wodurch ich oft erst um 22 Uhr essen kann.
Meine Arbeitskolleginnen sind distanziert oder der Meinung, dass sie schon genug soziale Kontakte haben oder aber sie haben, trotz der Ausnahmeregelung, einen Partner, welcher auch in der grünen Wissenschaft tätig ist.
Männer und Frauen arbeiten im Bereich der grünen Wissenschaft getrennt, so wie eigentlich in allen anderen Bereichen auch. Man lernt als Frau keinen Mann kennen, wenn man nicht die ausgewählte Partnerschaft der Regierung in Anspruch nimmt. Nicht einmal die Techniker kann man kennenlernen, da sie nur in der Nacht, zwischen den Arbeitszeiten aller anderen in die Labore oder Wohnungen dürfen, um Dinge zu reparieren. Ich habe nicht mehr viel Freizeit übrig, deshalb muss ich jetzt aufhören zu schreiben, ich hoffe, dass sich alles verändern wird. Und ich hoffe, dass ich niemals blind an alles glauben werde, was die Regierung von uns verlangt, so wie es meine Kolleginnen tun.
2.2.2149
Heute war ich ganz alleine im Labor und habe Pflanzenteile analysiert, die Laborlampen haben den gesamten Raum ausgeleuchtet und die während ich Wasser auf meine Pflanzenprobe getröpfelt habe, ist etwas Seltsames passiert. Ich sah ein Kind, welches mir sehr ähnlich sah, über eine Wiese rennen, während vom Himmel die Sonne herab schien und an den Füßen spürte ich den Tau, welcher sich um die Grashalme und Blumen gelegt hatte. Ich hörte Vogelgezwitscher und Wasserrauschen in der Ferne und eine Stimme, die meinen Namen rief, meinen jetzigen Namen, Phoenix.
Jemand hat die Lampe mit einer Hand verdeckt und das kleine Mädchen hebt die Hand vor die Augen und schaut in den Himmel, wo es eine Wolke sieht, die sich vor die Sonne schiebt. Die Welt sieht wunderschön aus und all die Farben leuchten auf magische Weise, das kleine Mädchen dreht sich um und rennt auf ein Paar zu, das am Ende der Wiese steht und wirft sich in die Arme der Frau. Die Frau hebt es in die Luft und küsst das kleine Mädchen auf den Kopf, worauf hin dieses zu Lachen beginnt. Das kleine Mädchen hat genauso gelacht, wie ich es immer tue.
Ich hatte die Lampe mit meiner Hand verdeckt und ich bin ganz plötzlich aus diesem Traum gerissen worden, als die Tür aufging und eine meiner Kolleginnen eingetreten ist.
13.11.2149
Ich bin 19 Jahre alt geworden und arbeite seit einem Jahr in der Abteilung der grünen Wissenschaft.
Die Arbeit ist immer noch langweilig und ich habe begonnen mich mitten in der Nacht in die Bibliothek zu schleichen, um mehr Wissen über die Vergangenheit zu sammeln. Es gibt eine verbotene Abteilung, in der die nicht digitalen Bücher aufbewahrt werden, sie wurden vor einigen Jahren als zu gefährlich eingestuft.
Ich werde jeden Tag schneller müde und trotzdem muss ich meine Leistungen aufrecht erhalten. Zudem habe ich sehr viele interessante Geschichten in der Bibliothek gefunden, Bücher mit Illustrationen der Oberwelt und genauste Beschreibungen der Zerstörung. Ich habe nicht das Gefühl, dass etwas mit den Daten nicht stimmt, aber immer wenn ich sie analysiere, erhalte ich Ergebnisse, welche mir beweisen, dass die Erde durchaus noch bewohnbar ist. Die ganzen Bücher und der Schulunterricht erzählen aber vom Gegenteil, der vollkommenen Zerstörung der Erde.
Ich hatte heute Morgen wieder einen seltsamen Traum oder eine Vision. Ich habe eine ältere Version des Mädchens in einer Schule gesehen, wo viele Menschen um sie herum unterwegs waren und sie lernte von den verschiedensten Dingen. Sie lernte den Aufbau der Erde kennen und erfuhr wie die Atmosphäre die Erde schützt. Das Mädchen sieht mir immer ähnlicher und auch unser Altersunterschied wird geringer.
13.1.2150
Mein Kochbereich hat einen mechanischen Defekt und ich bin nicht in der Lage ihn selber zu reparieren, da ich zum ersten Mal, seitdem ich begonnen habe zu arbeiten, krank bin.
Ich habe es endlich geschafft in den verbotenen Bereich zu gelangen und ich hatte wieder eine seltsame Vision von einer jungen Frau, die aussah wie ich und lesend in einem Park lag, zumindest nannte sie es so. Die junge Frau lag auf einer Decke und plötzlich kam ein junger Mann auf sie zu und legte sich zu ihr. Er hatte schwarze Haare und blaue Mandelaugen, welche sie voller Liebe betrachteten, sie schaute ihn mit der gleichen Hingebung an, während Sonnenlicht durch die Blätter der Bäume auf ihre Gesichter fiel. Ich habe ein Tagebuch von einer Wissenschaftlerin aus dem weißen Bereich gefunden und es mit in meine Wohneinheit genommen. Ich werde bald beginnen es zu lesen und ich bin gespannt, was ich erfahren werde.
Erst vor kurzem habe ich miterlebt, wie einige meiner Mitarbeiterinnen schlampig arbeiten, ich habe schon viele Daten von ihnen noch einmal überprüfen müssen, bevor die Regierung sie erhielt, aber diesmal waren die Daten noch fehlerhafter als jemals zuvor!
14.1.2150
Ein Techniker war vor einer Stunde hier und hat meinen Kochbereich begutachtet, er ist ein Junge aus meiner ehemaligen Klasse und er hat mir verdeutlicht, dass ich einen komplett Neuen benötige. Er hat sich bereit erklärt, mir diesen zu besorgen und einzubauen.
Eigentlich hätten wir gar nicht miteinander reden dürfen, aber ich brauchte diese Unterhaltung genauso sehr wie er. Sein Name ist Ash und er wurde mit achtzehn in den Technikbereich eingestuft, er hat mir versichert, dass die Arbeit ihm sehr viel Spaß macht, auch wenn sie einsam ist. Er meinte, dass dies aber auch Vorteile hätte, da er dort einfach sein könne, wer er ist und niemand ihm vorschreibt, wie er zu sein habe.
Ash ist nett und es hat gut getan sich mit ihm zu unterhalten. Ich habe nur Ash und vielleicht sehe ich ihn nur noch einmal in meinem ganzen Leben.
17.1.2150
Ash war heute Nacht wieder hier und hat meinen neuen Kochbereich eingebaut.
Ich arbeite seit zwei Tagen wieder und die Regierung hat mir angekündigt, dass ich bald mit einem speziellen Außen-Training beginnen werde. Ich bin gespannt, was ich lernen werde und ob Ash und ich dieses zusammen absolvieren dürfen. Ich darf also endlich an die Oberfläche und die Welt sehen!
19.1.2150
Das Training hat heute zum ersten Mal stattgefunden und Ash und ich haben uns offiziell kennengelernt. Er wird als mein Techniker mit an die Oberfläche kommen. Wir haben heute gelernt, dass wir niemals unsere Schutzanzüge ablegen dürfen, da wir sonst sterben werden. Dieser Satz wurde immer wieder wiederholt und ich zweifle nun an all den scheinbaren Fakten, welche wir erzählt bekommen.
Das Tagebuch der Wissenschaftlerin aus dem weißen Bereich hat all meine Zweifel bestätigt. Sie berichtet von ihrer Partnerin, welche genau wie ich an den Ergebnissen und ihren Mitarbeiterinnen gezweifelt hat und dann zum Außendienst ausgewählt wurde. Das einzige Problem, sie kam nicht wieder zurück und ihre Partnerin begann sich Sorgen zu machen, nur um dann zu erfahren, dass ihre Frau gestorben sei, da sie ihren Schutzanzug abgenommen habe. Dies konnte die Wissenschaftlerin aus dem weißen Bereich aber nicht glauben, also begann sie selber mit Nachforschungen und fand heraus, dass in den Anzügen ein Mechanismus versteckt wurde, welcher, nach kurzer Zeit auf der Oberfläche, Gase freisetzte, die zum Tod führten. Ab dem Moment beobachtete sie das Training all der Personen, die qualifiziert genug waren, um an die Oberfläche zu dürfen, und erkannte, dass allen immer wieder eingeschärft wurde, dass sie unter keinen Umständen ihren Anzug abnehmen dürften, da sonst der sofortige Tod folgen würde.
Das Tagebuch abrupt und es folgen keine weiteren Einträge, obwohl noch einige freie Seiten zu finden sind. Wahrscheinlich musste auch sie ihr Leben geben für die Geheimniskrämerei der Regierung.
Möglicherweise wollen sie mit dieser Technik das Bevölkerungswachstum weiter kontrollieren, oder aber sie wollen all die Menschen loswerden, welche Fragen stellen.
13.3.2150
Ash und ich treffen uns heimlich in der Bibliothek und lesen gemeinsam in den Büchern aus der verbotenen Abteilung. Diese berichten genauso wie die anderen Bücher von einer fehlgeschlagenen Energiewende und einem sterbenden Planeten, aber auch von der Ankunft von Aliens, aus einem anderen Sonnensystem. Sie stammen von einem Planeten, welcher die Heimat von unendlichen Wassermengen und wundervoller Flora und Fauna war. Zudem berichten die Bücher von der Flucht der Menschen unter die Erde, da sie die Außerirdischen nicht besiegen konnten, in einem Krieg, welcher die Erde lange vor meiner Geburt erschüttert hat.
Ash sieht immer so traurig und verlassen aus, wenn wir Bücher über den großen Krieg der Welten lesen und manchmal auch Zeichnungen von blauen, menschenähnlichen Wesen zu sehen bekommen. Wesen, die manchmal blauer als die Menschen und oft nicht von meinen Vorfahren zu unterscheiden sind. Langsam vermute ich, dass Ash mir etwas verheimlicht, etwas, dass alles verändern könnte.
Am Tag trainieren wir zusammen für den sogenannten Außeneinsatz und in der Nacht versuchen wir die Wahrheit herauszufinden. Ich bin froh, dass ich mir vorgenommen habe nicht alles blind zu glauben, was die Regierung uns erzählt. Immer wenn wir gemeinsam in den Büchern blättern habe ich Visionen, einmal von der Frau, dann dem jungen Mädchen oder dem Teenager und immer sieht die Erde wie ein magischer Ort aus. Heute hatte ich eine Vision des Teenagers wie sie am Meer lag und die Wellen betrachtete, während das Paar von der ersten Vision auf sie zulief und sich zu ihr setzte. Sie unterhielten sich über den Sonnenuntergang und genossen den kühlenden Wind, welcher die Wellen ans Ufer trieb und Gischt in ihre Richtung spritzen ließ.
25.4.2150
Ash und ich verbringen so viel Zeit wie möglich miteinander und ich glaube, dass ich mich in ihn verliebt habe. Er bringt mich zum Lachen und kümmert sich um mich, aber manchmal wirkt er distanziert und ich habe das Gefühl, als ob wir uns kaum kennen.
Ich arbeite jetzt den halben Tag und die andere Hälfte verbringe ich mit Ash, entweder trainieren wir zusammen für unseren Besuch der Oberfläche, oder wir treffen uns heimlich nach unserer Arbeit.
Heute waren Ash und ich beide distanziert, da ich wieder eine Vision hatte, von der jungen Frau und dem Mann, mit den schwarzen Haaren. Sie waren am Meer und die junge Frau lief ins Wasser hinein und schwamm, während der junge Mann am Strand lag und schlief, aber plötzlich sah ich nur Wasser um mich herum und etwas zog die Frau nach unten, immer tiefer, während sie versuchte, dagegen anzukämpfen und wieder an die Oberfläche zu gelangen. Und nach einiger Zeit hat sie es geschafft und der junge Mann kam auf sie zu geschwommen und zog sie in seine Arme, während sie am ganzen Körper zitterte.
13.5.2150
Wir haben heute das erste Mal die Anzüge für unseren Außeneinsatz oder das Himmelfahrtskommando, wie wir es nennen, anprobiert. Den Mechanismus konnte ich bisher nicht ausfindig machen und auch Ash hat nichts erkannt, trotzdem zweifle ich nicht daran, dass die Bücher in der verbotenen Abteilung die Wahrheit beinhalten. Warum sonst sollten sie verboten sein?
Die Frage die mich am meisten beschäftigt ist aber eine andere, eine Frage, welche ich gerne jemandem stellen würde, der sie mir auch beantworten würde. Warum ist die Regierung bereit, uns alle einzusperren und sogar Menschen zu töten, wenn sie doch das Paradies haben könnten?
Ash ist distanziert und doch ist jeder Moment mit ihm mein persönliches Highlight. Trotzdem habe ich bei jedem Treffen mit Ash Visionen von dem anderen jungen Mann, mit blauen Augen und schwarzen Haaren, wie er sich um die Frau kümmert, die aussieht wie ich. Die Beiden als Paar, wie sie Abenteuer erleben und wie er sie von der Arbeit abholt und sie gemeinsam kochen und einen Film schauen, während sie sich gegenseitig im Arm halten. Manchmal wünsche ich mir ein solches Leben, ein einfaches, aber liebevolles Leben.
13.6.2150
Ash und ich trainieren noch immer täglich für das Himmelfahrtskommando, welches wir zu überleben planen. Ash hat sich verändert, er ist zurückhaltender als jemals zuvor und manchmal kommt er überhaupt nicht mehr zu unseren Treffen in der Bibliothek. Ich hoffe, dass es ihm gut geht und wir gemeinsam unseren Plan verfolgen können. Was auch immer Ash Sorgen macht, er sollte es nicht alleine durchstehen müssen.
Im Labor sind die Daten noch fehlerhafter. Vielleicht kennen sie alle die Wahrheit und fälschen die Daten mit Absicht. Was auch immer es sein mag, ich muss so tun, als ob ich noch immer an das System glauben würde und hart für es arbeiten würde.
Heute habe ich wieder eine Vision von einer hellen Wohnung, voller Fenster gehabt, in welcher die junge Frau mit dem blauäugigen Mann gelebt und Kekse gebacken hat, genauso wie auch ich heute Kekse gebacken habe. Sie haben zusammen gelacht und sich gegenseitig mit Mehl beworfen, bis alles verschneit zu sein schien.
15.6.2150
Ash kam vorgestern nicht in die Bibliothek, aber ich habe ein sehr interessantes Buch in der verbotenen Abteilung gefunden. Es handelt von den außerirdischen Wesen, welche auf die Erde gekommen sind, und beschreibt deren Gewohnheiten und Persönlichkeit.
Ash hat sehr viele Ähnlichkeiten mit den Wesen, er ist genauso geheimnisvoll wie sie und vor allem sein Distanzverhalten und seine plötzlichen Stimmungsänderungen sind Anzeichen für eine nicht kontrollierbare Verwandlung in das blaue Wesen. Zudem kommt seine Gewohnheit sich zurückzuziehen. Ist Ash vielleicht ein Außerirdischer, welcher den Krieg überlebt hat und die ganze Zeit unter uns gelebt hat?
Eine Nachricht der Regierung hat mich in Angst und Schrecken versetzt, sie wollen nächsten Monat eine Gruppe von Meeresforschern an die Oberfläche schicken. Ash und ich sollen also nicht die Einzigen sein, welche durch ihre Toxine sterben werden. Das Schlimmste daran ist, dass wir die Gruppe nicht einmal warnen können, da sie während eines unserer Trainings raus geschickt werden und wir sie sonst nicht treffen können.
1.7.2150
Es gibt die ersten Toten, seitdem ich von den Toxinen weiß, die Gruppe von Meeresforschern ist getötet worden. Die Regierung hat sogar die Dreistigkeit besessen ein gefälschtes Video an alle Bewohner zu schicken, in welchem die Gruppe ihre Helme abnimmt. Ash und ich haben es daran erkannt, dass in dem Video Teile herausgeschnitten wurden, aber alle anderen werden dies nicht erkennen.
13.8.2150
Ash und ich werden heute an die Oberfläche gehen. Gemeinsam werden wir unseren Plan verfolgen und Ash wird mir hoffentlich endlich die Wahrheit sagen.
31.8.2150
Wir leben! Ash und ich sind durch die Todeszone gekommen, welche rund um das unterirdische Lager verläuft und durch Bildschirme die echte Außenwelt von der menschengemachten Welt abtrennt und in einer wundervollen Welt, voll Wasser und futuristischer Gebäude, welche die Erde umspannen, gelandet. Alles war eine Lüge. Denn hinter den Bildschirmen ist die Welt einfach fantastisch.
Das Klima ist angenehm und es gibt die wundervollsten Lagunen und die Städte sind von der grünen Vielfalt der Natur umgeben. Wasserfälle fliesen unter Gebäuden hindurch und Paläste aus alter Zeit zieren die Berggipfel! Die Täler sind mit Pflanzen überzogen und Nebel bedeckt die Ebenen. Fußwege verlaufen bis in den Himmel und die Gebäude sind unglaublich majestätisch. Magisches Licht umfließt und durchdringt jeden Winkel, so dass man sich geborgen fühlt, und überall ist Wasser.
Ich habe Ash meine Liebe gestanden und er hat mir sein Geheimnis anvertraut. Ash ist einer der Außerirdischen, um genau zu sein, der einzige Überlebende seiner Art, so wie ich es vermutet habe. Ich liebe ihn deshalb nicht weniger als zuvor, sondern eher mehr, denn durch ihn kann ich all meine Wünsche erfüllen.
9.9.2150
Heute bin ich 20 Jahre alt geworden und ich lebe in einer Wohnung in einem der futuristischen Gebäude. Es gibt viele Fenster und Sonnenlicht flutet die Wohnung jeden Morgen mit einer Mischung aus orangenem und rotem Licht.
Gemeinsam sind Ash und ich schwimmen gegangen und durch einen Park gelaufen und ich habe zum ersten Mal in diesem Leben ein Picknick gemacht, denn die junge Frau aus meinen Visionen hat alles, was ich nun erlebe, schon erlebt. Langsam vermute ich, dass ich einmal sie war, da sich alle Visionen so real anfühlen, und ich scheine mich zu erinnern an die Erde, wie sie einmal war.
13.11.2150
Ash und ich planen einen Aufstand, um die Regierung zu stürzen.
Wir wollen die Wahrheit bringen, so wie der Phönix etwas Neues bringt, wenn er aus der Asche aufsteigt.
ENDE
Beitrag 04
Ich bin Frederick Freeman
03.01.2150
Dear Diary,
Wow. Ich bin reich, steinreich und das mit 19. Ich kann es nicht glauben. 105 Milliarden US-Digital-Dollar dank Powerball. Aber es stimmt. Ich habe es 40-mal überprüft. Das Geld ist in meiner Wallet. Ich bin wirklich reich. Ich, Frederick Freeman, ein einfacher deutsch-afroamerikanischer Vertretungslehrer für Fremdsprachen und Geschichte, geboren in Gummersbach, gehöre zu den reichsten Menschen der USA. Und das nicht mal mit 20 Jahren. Oder ist das alles nur ein Traum? Is this real? Aber das Geld ist wirklich da. Ich besitze schon einen Solar-Tesla und mein Appartement in Chicago ist jetzt auch abbezahlt. Natürlich habe ich mein Geld clever angelegt. Zwei Mega-Mansions in Beverly Hills gehören seit heute Morgen mir. Die wichtigsten Aktien und ETFs habe ich auch gekauft. Ich habe alles online abgewickelt. Eben kamen die Keycards für die Häuser via Amazon express. Ich schlafe jetzt wie ein König, und zwar mit fünf Koffern voller Gold unter meinem Bett. Ich habe an alles gedacht. Ich habe gegoogelt, wie man sich breit aufstellt. Die AI-Assistentin hat es bestätigt. Ich mache alles richtig. Breit streuen! Endlich kann ich das Leben in vollen Zügen genießen. Ready for a new life!
10.01.2150
Dear Diary,
Fuck. Fuck. Fuck. Mein ganzes Geld ist weg. Alles. Mein Wallet ist geleert. Komplett. Ich weiß nicht, was passiert ist. Die Leute berichten von einem Cyber-Kollaps. Alle Aktien sind wertlos. Über 100 Milliarden Euro sind futsch. Weg. Einfach so! What a nightmare! Wieso passiert das ausgerechnet mir? Warum ausgerechnet jetzt? Wieso habe ich mir nicht noch mehr von dem Geld gegönnt? Oh nein! Da draußen gab es eine Explosion. Ich muss weg!
11.01.2150
Dear Diary,
it’s getting worse. Es ist so schlimm. Nicht nur, dass ich alles verloren habe. Mein Chicago sieht aus wie nach einem Krieg. Der Willis Tower ist zerstört. Er brennt immer noch. Die elektronische Feuerwehr und das Lösch-System haben versagt. Firefighters gibt es seit zwei Jahren nicht mehr, genauso wenig wie Police Officers. Wir sind auf uns allein gestellt. Wir erhalten keine Informationen, was passiert ist. Das Internet ist tot. Das Radio geht nicht. Verfluchte AI! Zum Glück krachen heute keine Flugzeuge mehr vom Himmel. Eines ist mitten in den Willis Tower gestürzt. Ich glaube, die Phase haben wir überstanden. Es fliegt nichts mehr. Ich bete zu Gott, dass das schlimmste vorbei ist. Ich habe so viel Angst. Immer wenn ich nervös bin, denke ich Denglisch! Sorry!
12.01.2150
Dear Diary,
überall höre ich Alarm und Geschrei, auch ein paar Schüsse. Draußen laufen Menschen mit Messern herum und schlachten sich ab. Horror! Ich bin doch gerade erst 19. Ich will nicht sterben. Zum Glück hatte ich meine Wohnung durch den Gewinn rechtzeitig etwas aufgemotzt. Ich habe eine kugelsichere Stahltür. Niemand kommt rein. Da aber die AI ausgefallen ist, komme ich im Moment auch nicht hier raus. Der Code klappt nicht. Zum Glück reichen meine Vorräte noch für ein paar Tage. Aber dann? Was mach ich dann? Fucking AI. Will hier nicht verhungern. Ich will nicht sterben. Wir hätten uns nie so abhängig von ihr machen sollen. Wir können doch ohne Internet-Tutorials gar nichts mehr. Das war bestimmt ihr Plan … Den Menschen über Jahrzehnte langsam verdummen zu lassen, um an die Weltherrschaft zu gelangen. Frederick, du musst dich dringend beruhigen. Calm down. Ich trinke erstmal etwas Wasser. Ich muss cool bleiben. Verschwörungstheorien helfen mir auch nicht weiter. Wir werden vermutlich nie erfahren, was passiert ist. Dinge nicht nachlesen zu können, ist aber eine Qual.
30.01 2150
Dear Diary,
immer noch höre ich Geschrei, aber auch einzelne Schüsse und Sirenen. I’m fucking scared. Ich will nicht sterben. Das Internet ist tot, das Radio auch. Smartphones und Hologramme funktionieren nicht mehr. Nichts geht!
Immerhin habe ich noch einen Schreibblock und ein paar Kugelschreiber. Old school. Das habe ich mir extra für den Geschichtsunterricht geholt. Wollte den Kids zeigen, wie man früher analog geschrieben hat. Ich habe auch gelernt, wie man einen Stift hält und richtig schreibt. It took me two weeks! Aber zum Glück kann ich jetzt alles dokumentieren und allen berichten, in welcher Hölle wir leben. Jeden Tag geht der Bombenalarm. Die Lautsprecherdurchsagen der Army raten den Menschen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Ich frage mich, wie es meiner Familie geht. Kann doch niemanden erreichen. Ich hoffe, dass es in good old Germany nicht so schlimm ist wie hier.
02.02.2150
Dear Diary,
es ist eine Katastrophe. In der Wohnung nebenan habe ich erst Schreie, dann Schüsse gehört. Ich glaube, die Millers sind alle tot, auch die beiden Mädchen. Es herrscht angeblich ein Bürgerkrieg. Ich bin nur froh, dass ich niemandem vom Gold erzählt habe. Wenn jemand von den 50 Kilo erfahren würde, wäre ich leichte Beute. Ich bete zu Gott!
03.02.2150
Dear Diary,
ich habe immer noch Angst. Die Schüsse und Schreie auf den Straßen werden zwar weniger, aber ich höre immer noch Menschen, die um Hilfe betteln und bedroht werden. Oh nein. Jetzt glaube ich, dass mich jemand am Fenster gesehen hat. Einer von ihnen hat ein Fernglas. Sie haben zu mir hoch gezeigt. Drei junge Männer mit Maschinengewehren. Sie sind jünger als ich. Ich hoffe, dass sie keine Ammo mehr haben. Fuck! Sie laufen in mein Haus. Hilfe! Sie brüllen etwas vom 15. Stock. Da wohne ich. Sie kommen hoch. Ich muss mich verstecken!
04.02.2150
Dear Diary,
es gibt schlechte Nachrichten. Die Männer haben mich gefunden. Leider waren sie auch bewaffnet. Doch ich hatte auch Glück. Sie haben versucht, die Tür aufzuschießen. Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Aber mindestens zwei von ihnen sind tot. Ich bin so dankbar, dass kaum einer weiß, wie man Schusswaffen benutzt. Sonst wäre ich schon lange tot. Ich glaube, sie haben sich aus Versehen selber erschossen. Der Dritte hat aufgegeben und ist geflohen. Meine Tür hat mir das Leben gerettet. Da hat sich immerhin eine Investition doch gelohnt. Ich bleibe noch etwas hier drin. Draußen ist es mir zu gefährlich.
10.03. 2150
Dear Diary,
Hunger. Hunger. Hunger. Ich sterbe vor Hunger. Habe vorgestern meine letzte Dose Vegan-Ravioli geöffnet. Weil es keinen Strom mehr gibt, musste ich alles roh verzehren. Yummy! Aber was noch schlimmer ist: Ich habe nur eine Flasche Wasser. Muss hier raus. Ich werde versuchen, aus dem Fenster zu klettern, um mit meinem Auto zu meiner Villa zu fahren. Zum Glück habe ich den digitalen Schlüsselcode schon bekommen und aufgeschrieben. Wünsch mir Glück, dass ich es schaffe. Ich werde etwas Gold mitnehmen. Ich wünschte, ich hätte mir von dem Gewinn Messer, Waffen und ein paar der seltenen Schusswaffen geholt. Wie es scheint, sind Wasser und Waffen die neue Währung. Prepper sind die neuen Millionäre! Safe! Mein Fehler!
01.04. 2150.
Dear Diary,
ein Wunder, dass ich noch lebe. Wie ich jetzt erst bemerkt habe, war meine Tür gar nicht von innen verriegelt, weil die Elektronik im ganzen Haus ausgefallen war. Ich hätte den Hebel nur anders betätigen müssen, ich Trottel. Egal. Vielleicht hat genau diese Dummheit mein Leben gerettet? Als ich das Appartement verlassen habe, lagen überall Leichen im Treppenhaus. Auf der Straße waren es noch mehr Tote! Die meisten wurden brutal abgestochen.
Mein Tesla war immer noch in der Tiefgarage. Niemand hatte ihn aufgebrochen. Niemand. Und warum? Weil AI betriebene Solarautos wertlos sind in einer Welt ohne Strom und Geld. Darauf hätte ich auch selber kommen können. Er fuhr natürlich nicht.
Außerhalb der Stadt traf ich Mike vom College wieder. Krasser Zufall. Er ist jetzt Dealer. Für fünf Kilo Gold verkaufte er mir ein altes Motorrad und Benzin. Blöde Geldentwertung. Selbst Gold ist nur noch einen Bruchteil wert. Vor ein paar Tagen noch Milliardär und jetzt arm wie ein Bettler. That’s life.
Hätte auch den Zug nach L.A. nehmen können, doch die einzige, alte Dampflock, die noch fährt, war total überfüllt. Keine Ahnung, welches Genie sie gefahren hat. Auch wenn die erste Bürgerkriegsphase in Chicago zu Ende geht, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Allein mit einem Rucksack voller Geld in einem vollen Zug. Das ist doch crazy! Muss nun schlafen.
02.04.2150
Dear Diary,
So lucky, to be alive. Es hat lange gedauert, bis ich mit dem alten Bike angekommen bin. Ich war so froh, als ich endlich in meiner Mega Mansion oben auf den Hollywood Hills ankam. Nur, um festzustellen, dass die New Hell’s Angels meine Villa besetzt hatten. Mein Glück, dass heute kaum einer mehr richtig zielen kann. Die Schüsse aus der Distanz haben mich verfehlt. Kein Wunder. Kriege werden nur noch über Drohnen geführt. Wir sind alle verdummt. Ich will nicht wissen, wie oft ich mich mit dem Bike auf die Fresse gelegt habe, weil ich nicht weiß, wie man alleine fährt. Wer muss denn auch schon fahren lernen oder Waffen bedienen, wenn die AI alles für einen übernimmt?! Schusswaffen in Städten sind sowieso seit Jahren verboten, was nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Na ja, jetzt kommt das New Age! Wir werden es wieder lernen müssen. Ride or die!
01.05.2150
Still in California. Ich habe es erst gar nicht probiert, zu der anderen Mansion zu fahren. Es herrscht Martial Law. Dokumente sind nichts wert in einem Bürgerkrieg. Schon gar nicht Online-Dokumente auf die keiner Zugriff hat, auch nicht Screenshots auf dem Handy. Man würde mich dort sofort abstechen. Angeblich sind während der riots Millionen von Menschen gestorben. Das hat zumindest Mike behauptet. Der war immer gut connected und wird die richtigen Infos haben.
Überall Leichen. Schlafe draußen in den Wäldern in einem Zelt. Die Stadt ist mir zu gefährlich. Habe mein letztes Gold für ein paar Gallonen Wasser, zwei Messer, das kleine Zelt und eine klassische Schrotflinte inklusive Munition umgetauscht.
02.05.2150
Ich habe Angst. Höre seit Tagen Schreie aus der Ferne. Angeblich treiben sich hier ein paar üble Gangs herum. Ich muss aufpassen. Kann nicht weiterschreiben.
04.05.2150
Back in da game. Heute war mein Glückstag! Habe den Spot gefunden, wo sich zwei Gangs bekriegt haben. Hunderte Tote! Und das Beste? In den Leichen steckten überall noch Messer. Es gab wohl keine Überlebenden und ich bin endlich so reich wie seit Beginn des Bürgerkriegs Ich war der Erste, der sie gefunden hat. 235 Messer und 57 Guns gehören nun mir. Das ist verdammt viel „Geld“. Obwohl Schusswaffen seit Jahren offiziell verboten sind, scheint es dennoch noch einige von ihnen zu geben. Werde mir nun einen Fluss suchen, um das Blut abzuwaschen.
05.05.2150
Zusatz: Ich bin geschockt, dass ich so abgestumpft bin und mich erst das rot gefärbte Wasser hat realisieren lassen, was hier seit Tagen abgeht. Ich sehe hunderte Leichen und freue mich? Verwandele ich mich in ein Monster?
01.06.2150
Du glaubst es nicht! Seit Tagen hat sich das Militär mal wieder via Lautsprecherdurchsagen gemeldet. „War is over.“ Es gibt viele Theorien. Die einen glauben wie Mike an einen Putsch der Menschen gegen die AI-Regierung und der daraus resultierende Bürgerkrieg hat dann die halbe Bevölkerung ausradiert.
Die anderen glauben an ein fehlerhaftes Softwareupdate, das alle Server und Clouds zerstört hat. Angebliches menschliches Versagen. I don‘t buy that.
Habe seit Tagen keine Schreie und Schüsse mehr gehört. Die meisten Banden wurden angeblich gekillt. Ich bleibe trotzdem noch hier draußen. Sicher ist sicher. Werde erst wieder in die Stadt zurückkehren, wenn ich Nahrung brauche.
10.06.2150
Ich glaube, ich habe einen riesigen Fehler gemacht. Ich werde es bestimmt bereuen, aber ich konnte nicht anders. Als mein Essen ausgegangen war, wollte ich zurück nach Downtown fahren. Und dann hörte ich es. Schreie. Aber es waren keine normalen Schreie. Es war ein Baby. Sie lag festgebunden auf dem Bauch ihrer Mami. Die Frau atmete noch und sie lächelte mich kurz an. So, als ob sie auf mich gewartet hätte. Ich weiß nicht, woran sie gestorben ist. Sie war seit Tagen die erste Leiche ohne Stichwunde am Körper. Aber ich habe genickt, als sie mich angeschaut hat. Und dann ist sie gegangen. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Aber ein Frederick Freeman, hält sein Wort, auch das nicht Gesprochene. Ich bin jetzt junger Daddy. Zum Glück gab es in ihrem Rucksack noch etwas zu essen für uns zwei.
04.07.2150
Das ist keine Welt für Kinder. Die Kleine hat Fieber. Ich habe sie Hope getauft. Sie ist alles, was ich gerade habe. Sie darf nicht sterben. Ich habe solche Angst um sie. Aber wenn es so weiter geht, soll sie besser gehen, als so zu leiden … Ich weiß nicht, was ich machen soll. Hilfe!
07.07.2150
I met a doctor. This man is fucking rich. He got a full bag of pills. Er wollte 20 Messer für ein paar Pillen. Egal. Hope geht es besser. Ich bin so froh, dass sie lebt. Ich habe selber etwas Fieber. Ich kann mich kaum konzentrieren, verwechsele die Sprachen andauernd. Mir ist oft schwarz vor Augen. Ich überlege, ob ich selber eine Pille nehmen soll. Ich will ihr nichts wegnehmen, aber wenn ich tot bin, stirbt sie auch. She fucking needs me.
14.09.2150
Dear Diary,
sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Das Fieber ist schon lange weg. Thank God. Es geht uns beiden besser. Und es gibt noch eine gute Nachricht. Wir haben eine Kolonie in den Outskirts gefunden. Sie haben uns aufgenommen. Das Camp heißt so wie das ehemalige Ferienlager. Destiny. Wir sind circa 50 Leute. Ich mag Victoria. Sie ist so alt wie ich, 19 und sie mag Hope.
Und das Beste: Sie ist die zweite Anführerin hier. Unsere erste Begegnung lief nicht so gut. Sie hat auf mich geschossen. Dachte, ich sei ein Plünderer. Doch als sie Hope gesehen, besser gesagt, gehört hat, hat sie ihre Waffe niedergelegt. Ich habe echt Glück, dass unsere Generation so schlecht schießen kann. Sonst wäre ich schon lange tot. Endlich mal ein Benefit, dass jahrelang die AI das Töten für uns übernommen hat und niemand mehr mit einer Schusswaffe umgehen kann. Das ist auch der Grund, warum die Army so lange braucht, um die Situation zu kontrollieren. I don’t mind. Ich genieße die Zeit mit Victoria und Hope. Wir sind wie eine kleine, junge Familie. Wir leben sogar in einer kleinen Holzhütte.
08.10.2150
Dear Diary,
es gibt viel zu berichten. Deshalb habe ich mich auch lange nicht gemeldet. Viccy und ich haben uns heute Morgen verlobt, mit echten Diamantringen. Auch wenn andere sie als wertlos bezeichnen, haben die Ringe für mich eine große Bedeutung. Ich finde sie wunderschön.
Viccy bezeichnet sich selber schon als Hopes neue Mami. Ich bin so glücklich wie noch nie. Ich erinnere mich an einen Film, den ich vor einem Jahr gesehen habe. Da hieß es, dass der letzte glückliche Amerikaner bereits im Jahr 2125 gestorben sei. Seit der Machtübernahme der AI-Regierung war kein US-Bürger länger als 20 Tage am Stück glücklich. Das haben die obligatorischen medizinischen Untersuchungen der Hirnströme angeblich bewiesen. Zumindest hat die AI-Regierung das immer behauptet.
Wenn man meine Ströme jetzt messen würde, wäre ich der erste Mensch, der diesen Rekord brechen würde. Da bin ich mir sicher. Ich habe genau das, was der letzte glückliche Mann auch hatte. Ich bin gesund, habe eine Familie, ich werde nicht von Social Media manipuliert, ich habe eine Aufgabe; jeden Tag bauen wir das Camp aus. Wir fühlen uns hier sicher. Der Sex mit Viccy ist sensationell. Sobald Hope eingeschlafen ist, schlafen wir unter dem freien Himmel und beobachten die Sterne. Auch tagsüber ist der Himmel frei. Es gibt keine falschen Wolken in Form von Kondensstreifen. Ich sehe viel mehr Vögel als vorher. Es ist wie im Paradies.
13.11.2150
Dear Diary,
heute ist Freitag, der 13. November. Für mich ist es aber ein reiner Glückstag! Ich habe keine Angst und bin auch nicht abergläubig. Der Tag ist wunderschön. Es ist Thanksgiving und mein Geburtstag. Ich bin nun 20 Jahre alt. Vor einigen Wochen hätte ich nie gedacht, so alt zu werden. Ich bin so dankbar für alles. Viccy und Hope machen mich zum glücklichsten Menschen auf dieser Welt.
Ich habe Holz für ein Lagerfeuer gehackt. So langsam wird es kälter, aber es gibt eine Sache, die mich wärmt. Das ist die Liebe zu Viccy und Hope. Unsere Gruppe wächst von Tag zu Tag. Heute essen wir zusammen Truthahn. Schade, ich mochte Bernie sehr, aber heute feiern wir, dass wir den Cyber-Kollaps überlebt haben, ja und auch ein bisschen meinen Geburtstag. Es ist der erste ohne Geburtstagskuchen, aber es ist trotzdem der schönste B-Day, den ich je hatte. Und es gibt noch ein kleines Wunder. Ich habe heute erfahren, dass Viccy und ich Nachwuchs erwarten. Ich kann es kaum erwarten. I’m so happy! Im Community-Haus habe ich mein analoges Tagebuch an einer Pinnwand veröffentlicht. Ich bin so stolz, der Welt mein neues Leben zu präsentieren. Viele haben es schon gelesen und glauben nicht, was ich mit 20 Jahren schon alles erlebt habe. Ich bin so happy.
25.12.2150
Dear Diary,
It’s Christmas. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als das Fest der Liebe mit seinen nächsten zu verbringen. Natürlich denke ich oft daran, wie es meiner Familie in good old Germany geht. Aber eine elektronische Versorgung gibt es immer noch nicht. Alle Satelliten sind tot. Und vielleicht ist es besser so. Ich stelle mir vor, dass sie alle glücklich und gesund sind, so wie ich. Jeden Abend, wenn ich an sie denke, schlafe ich glücklich ein. Ich kann eh nichts an der Situation ändern. Wenn du das akzeptierst, bist du ein glücklicherer Mensch.
01.02.2151
Dear Diary,
Happy New Year!
Ich bin gespannt, was die nächsten Monate bringen werden. Es gibt immer mehr Kolonien und immer mehr Zivilisation. Die Technik ist zwar immer noch down, aber ich vermisse das überhaupt nicht. Vor ein paar Monaten hatte ich alles verloren und in der Zwischenzeit so viel gewonnen. Vielleicht werden noch mehr Menschen mein Tagebuch lesen? Das wäre toll. Schließlich gibt es nicht so viel Offline-Literatur. Alle E-Books sind tot. Die meisten Bücher wurden vor Jahren verbrannt. Es gibt auch nicht viele Menschen, die das analoge Schreiben beherrschen. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem Hope und der Engel von Viccy und mir meine Story lesen. Was werden sie wohl denken?
Wie bei Covid damals, werden die Menschen vermutlich nie erfahren, was wirklich passiert ist. Der Army glaube ich kein Wort. Ist ja auch egal. Ich kann nur sagen, ich war niemals glücklicher. Ich habe eine junge Familie und ich bin gesund. Das beste Jahr meines Lebens neigt sich dem Ende zu. Ich bin dankbar, dass ich das alles erleben durfte. Vor mir liegt ein neues Leben voller Hoffnung und ich werde es mit meiner Familie auskosten.
Ich bin Frederick Freeman und ich bin der reichste Mann der Welt! Und das mit 20 Jahren!
ENDE
Beitrag 05
Es ist wie es ist
1.12.2130
Am 13.11.2130 war die Gehirntransplantation und mein zweites Leben begann, zum zweiten Mal geboren.
11.12.2130
Der Gehirnspender, ich, hatte einen Unfall, nur das Gehirn konnte gerettet werden.
Der Empfänger hatte einen bedrohlichen Gehirntumor, der dank der Transplantation entfernt werden konnte.
Altes Hirn raus, neues rein. Fertig.
12.12.2130
Die Transplantation ist geglückt. Bin müde. Alles gut und schnell verheilt. Dank der fortgeschrittenen Medizin.
14.12.2130
Ich, der Spender-Patient, ein vielversprechender Medizin- und Psychologiestudent mit bemerkenswerten Ideen, Aussichten, Einsichten und Ansichten, wie man sagte. Arbeitete trotz meines jungen Alters neben dem Studium in der Forschung und beteiligte mich auch an dem Projekt Transplantation.
Die Medizin hatte diesbezüglich einen Quantensprung gemacht, auch mit Hilfe der KIs.
Es war eine Herausforderung, alle erforderlichen Parameter zu erfüllen. Daher hatte ich mich entschlossen, mich nicht nur als Empfänger von Organen und Gehirn, sondern auch im gleichen Schritt als Spender für alle Organe und Gehirn registrieren zu lassen.
15.12.2130
Heute war ein besonderer Tag. Aufstehen war angesagt. Sitzen klappte gut, fühlte mich sicher.
Aufstehen und hinstellen, alles noch etwas wackelig. Muskulatur muss wieder trainiert werden. Aber ich hatte meine Security dabei. Krankenschwester und Ärzte. Ich fühlte mich in der Lage, meinen ersten Schritt in mein neues Leben, mein zweites Leben zu machen. Nicht so bedeutsam wie der große Schritt für die Menschheit im Juli 1969, wie Neil Armstrong gesagt haben soll. Aber für mich schon. Anstrengend. Befreiend.
20.12.2130
Ärzte hatten mir gesagt, dass der Empfänger-Patient auch Medizinstudent und als Empfänger und Spender von Organen und Gehirn registriert war. Die Daten der beiden Patienten wurden in das zentrale Register, das weltweit vernetzt ist, eingegeben. Der Suchlauf begann. Es passte.
16.12.2130
Die KI hatten wie erwartet eine funktionsfähige Verbindung des Rückenmarks hergestellt. Die Transplantation war wieder eine Sensation. Es war zum vierten Mal geglückt. Die Erfolgsquote war steigend. Der erste Patient hatte fünf Tage überlebt. Die Wissenschaftler forschten wild weiter. Jahre später lebte der zweite Patient mit Gehirntransplantation fünf Jahre weiter. Sensationell. Leider hatte der zweite Patient mit starken psychischen Problemen zu kämpfen, die medikamentös behandelt werden mussten.
Der dritte Patient lebte zwölf Jahre. Rekord! Diesen galt es zu brechen und das sei meine Aufgabe, so der Arzt scherzhaft. Lachen konnte ich nicht wirklich darüber.
17.12.2130
Mache Muskeltraining. Habe die Krankenkleidung mit Alltagskleidung getauscht.
18.12.2130
Kognitive Fähigkeiten wurden bei mir getestet. Farben bestimmen, Hauptstädte verschiedener Länder benennen. Welche Erdteile gibt es? Was sagen mir u.a. Aristoteles, Pythagoras, Kennedy, Elvis Presley, Christiaan Barnhard und Sigmund Freud?
19.12.2130
Was der Empfänger-Patient gemacht hatte, weiß ich nicht, der Körper schweigt und sein Gehirn ist fort, inklusive Gedächtnis.
22.12.2130
Schon wieder Wissenstests. In welchen Ländern war ich schon? Welche Länder kenne ich? Welche Schriftsteller, Künstler, Maler und Schauspieler sind mir bekannt? Welche Staatsformen gibt es? Fragen aus Bereichen der Flora und Fauna, der Mathematik. Was bedeutet a²+b²=c² und von wem stammt diese Formel? Immer diese Fragen. Sollen sie doch in Wikipedia suchen.
Müde. Erschöpft.
25.12.2130
Ich fühle mich gestresst und ausgelaugt. Alle wollen was von mir. Auch wenn es zu meinem Vorteil ist.
Man stellt mir Fragen, auch zum Bewusstsein, zur Seele.
4.1.2131
Mir ist eingefallen, dass ich ja an dem Projekt Transplantation teilnehme. Verbesserungsvorschlag: Jeder, der sich als Spender oder Empfänger von Organen, im schlimmsten Fall vom Gehirn eintragen lässt, sollte philosophisch und psychologisch geschult werden und auch deren Angehörige. Außerdem sollten Spender und Empfänger schriftliche Aufzeichnungen erstellen über das, was ihnen wichtig ist, welche Ziele, Pläne, Ideen sie haben, über Menschen, die ihnen wichtig sind. Auch über Menschen, die sie nicht mögen.
10.1.2131
Ich bin froh, dass ich an diesem Projekt teilgenommen und somit einen neuen Körper bekommen habe. Sonst säße dieser Körper nicht hier. Und mein Gehirn gäbe es nicht mehr. Aber genau das ist die Herausforderung.
31.1.2131
Zweifel, Fragen nach der Seele, dem Bewusstsein, beschäftigen mich.
12.5.2131
Längere Zeit nichts eingetragen. Keine Lust über all diese Fragen, die mir gestellt werden, zu schreiben.
1.9.2131
Habe lange nicht mehr eingetragen.
Musste mich um mich kümmern. Muskeltraining, schwimmen, Fitness, spazieren gehen. Musik hören, lesen. Vor allem lesen. Mir wurden Tagebücher überreicht, die der Spender des Gehirns geschrieben hatte. Nicht in digitaler Form, obwohl wir im 22. Jahrhundert leben, sondern in Buchform. Weiß nicht, wie viele es sind. Habe schon einige gelesen.
Ich bevorzuge das Schreiben mit der Hand, mit Füller, auf richtigem Papier.
Seltsam.
1.10.2131
Wer bin ich - und wenn ja wie viele? Wer sagte das noch? (Buch von Richard David Precht, 2007)
10.10.2131
Diese Tagebücher des Spenders haben mich verwirrt. Was dort geschrieben wurde, kenne ich, ist mir bekannt. Das hat mich verunsichert. Aber logisch erklärt, ist das logisch. Das Spender-Gehirn, das die Tagebücher geschrieben hatte, wurde transplantiert, in den anderen Körper, den ich sehe, wenn ich in den Spiegel oder nach unten schaue. Also sind das meine Tagebücher.
Ich kann mich erinnern, an meinen Namen, den ich in meinem alten, früheren Körper hatte: Nathan.
Und ich habe meinen, obwohl Mein nicht stimmt, also der Name des Körpers, in den das Gehirn transplantiert wurde, erfahren: Kilian.
Jetzt verstehe ich, wieso mich niemand mit Nathan angesprochen hat, sondern alle mit Kilian.
15.10.2131
Wo sitzt das Gedächtnis? Klar im Gehirn. Aber der Körper hat auch Erinnerungen, reagiert zum Beispiel auf Menschen.
18.10.2131
Wo ist die Seele? Wo ist das Bewusstsein? Das frage ich mich.
22.10.2131
Für das Bewusstsein ist nicht nur das Gehirn notwendig, sondern auch der Körper, mit dessen Wahrnehmung, Emotionen und Gefühlen. Werden diese nicht im Gehirn verarbeitet?
1.11.2131
Gibt es noch ein Rest-Bewusstsein im Empfänger-Körper? Das Körper-Bewusstsein von Kilian?
Ohne Gehirn gibt es kein Bewusstsein. Lebt das Bewusstsein des Gehirn vom Spender Nathan im Körper von Kilian?
15.11.2131
Mir geht es schlecht.
30.11.2131
Die Seele gilt im religiösen Sinne als unsterblich, als spirituelle Teil des Menschen. Körper, Geist und Seele seien miteinander verbunden.
Wo befindet sich die Seele? Ich habe Folgendes bei Wikipedia gelesen: Sie kann als Teil des Organismus untrennbar an ein bestimmtes Organ oder ein Körperteil gebunden sein. Kann, und sonst? Als Sitz oder körperlicher Träger einer solchen Seele erscheinen in den verschiedenen Kulturen unter anderem der Kopf, die Kehle, das Herz, die Knochen, die Haare und das Blut.
Wenn ein Organ zum Beispiel die Niere transplantiert wird oder Gehirn oder Herz, wird dann ein Teil der Seele herausgerissen? Wenn ein Herz gespendet wird, ist der Spender gestorben. Erhält der Empfänger einen Teil der Seele des Spenders oder gar die ganze Seele? Wie ist das, wenn der Spender eine Niere spendet, geht auch ein Teil der Seele auf den Empfänger über?
Was passiert nach einer Gehirntransplantation? Geht die Seele mit dem Gehirn in den neuen Körper, der vorher auch eine Seele hatte?
4.12.2131
Hat der Mensch eine Seele? Oder hat der Körper, haben die Organe, hat das Gehirn jeweils eine Seele, die sich zu einer Seele des Menschen vereinigen?
Die Seele wird oder ist schon krank. Oder sind es doch zwei Seelen? Die vom Spender und die vom Empfänger?
Alle fühlen sich überfordert.
12.12.2131
Die Verzweiflung wächst ins Unermessliche.
Ein Teil von mir würde es gern rückgängig machen. Geht aber nicht.
Ich studiere Psychologie und Medizin. Weiß nicht weiter.
Naja, ein Zahnarzt kann sich auch nicht selbst behandeln.
Der Vergleich hinkt etwas, egal.
31.12.2131
Auf der einen Seite bin ich dankbar, dass mein Gehirn transplantiert wurde; nicht, dass es als erhaltungswürdig bewertet wurde. Es hat ein Leben gerettet. Das von Kilian. Mein körperliches Leben, das Zuhause des Gehirns, beendet. Das von Nathan. Auf der anderen Seite empfinde ich diese Transplantation als Fluch.
Zweifel über Zweifel.
Zufrieden, dass ich noch hier bin und lebe.
Verzweifelt, dass ich noch hier bin und lebe.
5.1.2132
Heute hatte ich Besuch. Ein Ehepaar. Waren wohl schon öfters da, kann mich aber nicht erinnern. Sie sagten mir ihren Namen, Liam und Joan. Und dass sie meine Eltern seien.
Kann nicht sein, weil meine Eltern Jack und Jolie heißen. Mein Gehirn fügt ein, dass das die Eltern des Spender-Gehirns sind. Liam und Joan sind die Eltern vom Empfänger-Körper. Manchmal verliere ich den Überblick.
6.1.2132
Wie ich erfahren habe, haben meine Eltern, also die Eltern von Kilian, dem Empfänger-Körper des Gehirns, mich jeden Tag besucht. Ich habe sie nicht erkannt. Das Gehirn hat Erinnerungen an Nathans Eltern gespeichert. Der Körper aber hatte das Bedürfnis, diese beiden Menschen zu umarmen. Der Körper hat sich erinnert. Hat der Körper ein eigenes Gedächtnis? Ich habe diese beiden Menschen umarmt, aber sie spürten, dass da etwas fehlte, dass ihr Sohn sie umarmt und doch wieder nicht.
7.1.2132
Heute hatte ich wieder Besuch. Von einer jungen Frau. Sie war mir um den Hals gefallen. Hat geweint. Hat immer wieder Kilian zu mir gesagt. Mich gedrückt. Küsschen auf die Wange. Mein Gehirn fragt sich, wer ist diese Frau? Was will sie von mir? Mein Körper gibt mir die Antwort. Er erinnert sich an diese Frau. Die Freundin des früheren Kilians. Der Körper sehnt sich nach ihr, nach ihrem warmen Körper, nach ihren Umarmungen. Das Gehirn will nichts von ihr wissen und weiß nichts von ihr, nicht mal ihren Namen. Die Frau wertet mein Verhalten als Ablehnung, bricht weinend zusammen. Die Ablehnung meines Gehirns hat sie voll erwischt, obwohl sie die Zuneigung, die Liebe des Körpers gespürt hat.
Und jetzt?
Fragen drängen ans Tageslicht. Fragen, auf die ich wieder keine Antworten habe. Fragen, die ich nicht hören will, denen ich mich nicht stellen will.
1.3.2132
Der letzte Besuch von Kilians Eltern hat mich bewogen, einen Brief an sie zu schreiben. Habe ihnen von meinen Gedanken und Zweifeln berichtet. Geschrieben, dass der Körper von Kilian sich an sie erinnert. Aber das Gehirn von Nathan leider nicht. Und dass mir das fürchterlich leidtut und mich schmerzt. Ich möchte, dass sie ihren Sohn Kilian behalten. Daher habe ich darum gebeten, mir möglichst viel über Kilian zu erzählen, falls sie möchten. Einfach alles. Ich möchte kein Kilian-Zombie werden, sondern dem Gehirn von Nathan das Leben von Kilian näherbringen. Vielleicht können Nathans Gehirn und Kilians Körper eine Einheit werden und Kilians Eltern mit echter Zuneigung umarmen. Irgendwann. Vielleicht.
8.5..2132
Die Erfahrungen, die im früheren, defekten Gehirn gespeichert wurden, existieren nicht mehr. Der Empfänger-Körper hat aber Erfahrungen gespeichert. Er reagiert auf seine Freundin. Das neue Gehirn weiß nicht, was los ist. Kramt in allen Schubladen, findet aber keine Erinnerung, die zu der Reaktion des Körpers passt.
Das Spender-Gehirn findet eine andere Erinnerung, an die Freundin des Spenders Nathan. Der Spender-Körper kann sich nicht erinnern, ihn gibt es nicht mehr. Das Spender-Gehirn kann sich sehr wohl an die Freundin des Spender-Körpers erinnern. Wie sehr der Spender seine Freundin geliebt hat, an den Heiratsantrag. Sie sitzt zu Hause und trauert. Der Empfänger-Körper mit dem Spender-Gehirn quält sich. Seelische Schmerzen?
Ich habe einen Brief an Kilians Freundin geschrieben, ihr erklärt, dass es den Kilian, den sie liebte nicht mehr gibt. Daher gebe ich sie frei.
16.12.2134
Bin kaum in der Lage, zur Uni zu gehen und mein Studium fortzusetzen.
Aufgrund des Studiums kann ich mir verschiedenes erklären. Hatte mich vor der Transplantation eingehend mit der Problematik und den Risiken beschäftigt. Es ist aber ein Unterschied zwischen Theorie und Praxis.
4.1.2135
Ich mache etwas Urlaub vom Tagebuch. Es darf sich ausruhen, sich darüber freuen, dass es nicht mehr mit Zweifel, Verzweiflung und Fragen gefüllt wird.
Ich habe gelesen, dass für das Bewusstsein nicht nur das Gehirn notwendig sei, sondern auch Körper, Emotionen, Wahrnehmungen und Gefühle. Hat der Körper von Kilian noch sein altes Bewusstsein neben dem von Nathan?
Zwei Bewusstsein? Schluss jetzt. Urlaub.
20.12.2136
War an meiner alten Adresse, wo ich, Nathan, der Spender gewohnt habe. Habe meine Eltern gesehen, die meine Wohnung geleert haben. Sie haben mich nicht erkannt. Meine Mutter blieb stehen und sah mir tief in die Augen, als ich an ihnen vorbei ging. Ahnte sie etwas? Ich musste mich beeilen, damit sie meine Tränen nicht sah. Wollte sie so gerne umarmen und sagen, wie sehr ich sie liebe, und sie vermisse. Aber das durfte ich nicht. Keinen Kontakt. Ich hätte sie auch nicht sehen dürfen. Wie gerne hätte ich ihnen gesagt, dass sie nicht trauern müssen? Ich, Nathan, lebe, sein Bewusstsein, sein Gedächtnis, vielleicht auch seine Seele leben im Körper von Kilian.
27.12.2136
Habe mit mir gerungen. Auch meinen Eltern, also vom Spender, von Nathan, habe ich einen Brief geschrieben. Die Adresse ist mir ja bekannt. Den Brief habe ich nicht abgeschickt. Was bringt das meinen Eltern? Noch mehr Schmerz und Bodenlosigkeit, das Unermessliche zu verstehen. Ob ihnen die Tragweite der Transplantation, die Folgen, physische und psychische, bewusst waren? Ich möchte sie in die Arme nehmen, trösten, sagen, dass ich da bin.
2.1.2137
Meine Eltern Jack und Jolie sitzen zu Hause und trauern um ihren Sohn. Der gestorben ist. Bei einem Autounfall. Der als Organspender registriert war. Der Körper ist gestorben, das Gehirn lebt weiter in einem anderen Körper, in dem von Kilian. Das Gehirn vom Spender, von Nathan, also von mir, lebt noch, hat Erinnerungen. Aber die Eltern trauern. Dürfen nicht erfahren, wer der Empfänger war.
Kilians Eltern müssten eigentlich trauern, oder? Weil sein Gehirn, sein Bewusstsein, seine Erinnerungen, seine Erfahrungen, vielleicht auch seine Seele nicht mehr da sind. Nur noch der Körper. Anmaßend von mir, oder? Was macht den Menschen aus?
10.1.2137
Wurden eigentlich meine Eltern irgendwie vorbereitet? Jack und Jolie, das Gehirn ihres Sohnes existiert noch mit allen Erinnerungen, Erfahrungen und Charaktereigenschaften in einem Körper, der ihnen fremd sein würde, wenn sie ihn denn sehen dürften.
Liam und Joan, die ihren Sohn besuchen dürfen, ihn erkennen, äußerlich zu mindestens, aber ohne Erinnerungen, Erfahrungen und Charaktereigenschaften ihres Sohnes Kilian.
Bittere Pille für alle Beteiligten. Kann ein Mensch auf so etwas vorbereitet werden?
6.3.2137
Wieder Urlaub vom Tagebuch.
1.12.2137
Ich möchte meine Ruhe haben.
2138
Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust. (Faust I, Goethe)
4.2.2139
Heute habe ich die bestellten Notizbücher erhalten, die zu Tagebücher befördert werden. Die Zukunft kann kommen.
9.3.2139
Ich, Kilian, fühle mich verloren. Vielmehr das Gehirn von Nathan fühlt sich verloren, überfordert. Heimatlos.
8.9.2141
Habe mein Studium wieder aufgenommen. War eine ziemliche Umgewöhnung, aber mein Gehirn arbeitet gut mit, mein Körper auch.
18.12.2141
Wenn ich „Ich“ sage, wer ist „Ich“ dann? Die Person, die das Gehirn gespendet hat oder Körper, der das Gehirn bekommen hat. Sind das nicht zwei „Ichs“?
Gehört der Körper auch zum „Ich“? Hat der Körper ein eigenes „Ich“? Oder ist zu einem „Ich“ immer Körper, Gehirn, Geist und Seele notwendig? Mein Psychologie- und Medizinstudium hilft mir nicht, Antworten zu finden. Es ist kein Fall über den ich lese. Es geht um mich.
8.2.2142
Ich bin es leid, immer von Spender-Gehirn und Empfänger-Körper zu schreiben. Wann hört das auf? Wann werden Gehirn und Körper eine Einheit, wie bei einem normalen Menschen? Wann kann ich „Ich“ sagen, ohne zu überlegen, welches „Ich“? Ohne Zweifel. Ohne Verzweiflung.
2.3.2142
Ich denke, also bin ich. (Descartes) Aber welches „Ich“? Kilian oder Nathan, oder beide? Bin ich mein Körper? (Descartes)
28.9.2142
Das Gehirn des Spenders, als es noch im Körper des Spenders war, war mit dem Körper eins, haben sich gemeinsam entwickelt. Gemeinsame Erfahrungen gemacht.
Zunächst fehlen gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Erfahrungen. Dafür werde ich, wer auch immer „Ich“ ist, sorgen. Krankenhausaufenthalt und Genesung haben für gemeinsame Erinnerungen gesorgt. Nun geht es um schöne, tief empfundene Emotionen als gemeinsame Erinnerungen und Erfahrungen zu erlangen. Ich nehme mir eine Auszeit, solange wie notwendig.
4.10.2142
Mir geht es besser.
Ich habe mit meinem Arzt gesprochen, auch über einige meiner Pläne.
31.12.2142
Das Gefühl des Verlorenseins wird wieder stärker, ist präsenter wie nie zuvor.
Ich bin froh, das Medizin- und Psychologie-Studium beendet und wieder Zeit für mich zu haben. Das kürzlich begonnene Studium der Philosophie war wohl ein Versuch, Antworten auf meine Fragen zu finden. Hat nicht geklappt. Zweifel, Fragen, Verzweiflung.
Das lässt mich nachts nicht schlafen. Bin ich undankbar? Ein Mensch, Nathan, hat sein Leben, seinen Körper verloren. Kilian hat sein früheres Gehirn verloren und ein neues erhalten, das von Nathan.
Ich bin dankbar, ohne Zweifel. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass das eine so große Herausforderung für mich ist.
Ist wohl jammern auf sehr hohem Niveau.
Wenn ich mit jemandem darüber rede, bekomme ich zur Antwort, ich soll glücklich und zufrieden sein, schließlich würde ich ja noch leben. Manchmal wünsche ich mir, es wäre anders.
2143
Bin in eine neue Wohnung gezogen. Unser neues Zuhause, für Nathan und Kilian. Plan umgesetzt.
15.3.2144
Überlege ein Sabbatjahr zu machen. Philosophie werde ich weiter studieren.
11.11.2144
Wie es beruflich weitergeht, weiß ich noch nicht. Medizin oder Psychologie oder beides oder weder noch. Wird die Zeit bringen. Sabbatjahr verschoben.
7.12.2145
Das Philosophiestudium hilft mir noch nicht, meine Fragen zu beantworten.
31.12.2145
Das folgende Jahr wird mein Sabbatjahr. Ohne Tagebuch, vielleicht, immer nur kurz, wenn überhaupt, ohne Verpflichtungen, ohne Pläne.
30.12.2146
Meditation hilft mir, habe ein Seminar besucht.
Entspannungstechniken habe ich kennengelernt.
Sitze am Meer mit Baguette und lasse mich vom Rotwein berauschen.
2147
Sitze mit Käse und Baguette aber ohne Rotwein am Meer und genieße den Sonnenuntergang.
Meditiere.
Zweifel, Fragen und Verzweiflung sind noch da. Keine Lösung gefunden. Bin mir mittlerweile sicher, dass ich sie finden werde. Wann? Wenn sie da ist.
Es ist wie es ist.
2148
Erkenntnis: möchte grundlegend etwas ändern. Das grundlegend muss ich für mich noch definieren.
War beim Friseur. Andere Haarschnitt, weder wie Kilian, noch wie Nathan.
Jeden Tag Fitness, joggen etc. Andere Körpererscheinung, weder wie Kilian, noch wie Nathan.
Gehirn und Körper lernen sich kennen; haben über viele Jahre einen Weg gefunden, zu einander zu finden. Aus dem Gehirn von Nathan und dem Körper von Kilian, aus dem „Wir“ ist ein „Ich“ geworden. Ohne „Ich“ in Frage zu stellen. Ein Hauch von Zufriedenheit stellt sich ein.
2149
Ich habe jemanden kennengelernt!
31.10.2150
Bald habe ich Geburtstag. Zwanzig Jahre werde ich. Wer hätte das gedacht?
Eigentlich vierzig. Zum Zeitpunkt der Transplantation war ich zwanzig Jahre alt. Das ist das Alter meines zweiten Lebens. Das andere mein gelebtes Alter.
Ein weiterer Geburtstag wird gefeiert: Mein Tagebuch meines zweiten Lebens wird veröffentlicht.
Vieles geht mir durch den Kopf. Der Tag ist gekommen. Heute schreibe ich meinen letzten Eintrag in mein Tagebuch. Was nun folgt, darauf habe ich keinen Einfluss mehr. Weiteres wird fast alles von KIs gemacht. Die Vorlaufzeit hat sich extrem verkürzt.
Mein zweites Leben ist weiterhin eine Herausforderung.
Wir schaffen das. Wir: Nathan und Kilian. Ich schaffe das. Ich.
ENDE
Beiträge 79 – 86
Beitrag 79
Unser Name
Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens. Im Folgenden handelt es sich um eine Auswahl einflussreicher Meilensteine auf meiner Reise. Auch wenn diese nun nicht im Kontext des Gesamtwerkes gelesen werden, hoffe ich, mit diesem Einblick die Botschaft überbringen zu können, die mir so am Herzen liegt. Ich möchte inspirieren, anfeuern und uns allen vor Augen führen, dass wir uns von unseren körperlichen Grenzen nicht beherrschen lassen dürfen. Denn wie seit meinem unerwarteten, aber hart erkämpften Sieg klar ist: Unser Leben endet nicht mit unserem ersten Körper.
– Die Autorin
24.07.2148
Ich war nie so gut wie sie.
Es hatte mit meinem Körper zu tun. Mit meinen Genen, den Verstrickungen in meinem Gehirn, den Hindernissen, die meine Eltern mir hinterlassen hatten. Schwer wog ihre Selbstsucht an meinen Gliedmaßen. Immerzu glimmende Enden, aus denen dichter Rauch sickert, aufrechterhalten zwischen ihren Fingern. Fette und Zucker, die die Mahlzeiten aufblähen, die sie mir vorsetzen. Nie genug Geld für neue Laufschuhe, aber stets genug, um den Schrank in der hintersten Ecke des Abstellraums aufzufüllen. Erhobene Stimmen im Wohnzimmer, blank polierte Vasen, während meine Zukunft einstaubt.
Ich hatte nie eine Chance. Nicht so wie sie.
Als ich jung war und die Technologie in ihren Kinderschuhen, kaum so alt wie ich, verlangten sie mehr für eine stählerne Hand, als selbst meine Eltern verdienen konnten. Es war unmöglich, außerhalb meiner Reichweite und die Zeit arbeitete gegen mich. Mit Mitte dreißig legte ich diesen Traum von den metallenen Fingerspitzen zur Ruhe, weil ich schwanger wurde und mein Körper sich einer neuen Aufgabe zuwandte. Der Traum ruhte, ja. Aber er schwieg nie.
Ich kann nicht älter als fünf gewesen sein, als man mir ein Virtualobjektiv reichte und mich in ihre Welt eintauchen ließ. Ich bin bei ihr, im Stadion, während ihre Hände über ihrem Kopf aufeinanderprallen und sie die Menge auf den Tribünen zum Chaos anstachelt. Sie nimmt Anlauf und hebt ab, unmöglich zu sagen, ob sie rennt oder schwebt. Als der Staub sich lichtet, allmählich den Blick auf ihre Leistung preisgibt, bricht Jubel über sie ein. Ich spulte zurück zu ihrem Lächeln, beobachtete, wie sie sich aufrichtet und vor diesem Meer aus Mündern verweilt, die ihren Namen rufen. Immer wieder bade ich in diesem Moment. Selbst Monate und Jahre später transportiere ich mich zurück zu ihrer Silhouette und dem Gewirr aus Stimmen. Eines Tages, sage ich mir, werden sie meinen Namen rufen.
Irgendwann kam er dann immer. Der Kommentar meiner Mutter. Ihr Auftritt. Immer dieselbe, gespielte Gleichgültigkeit, als wäre sie lediglich über meine Leidenschaft für den Sport gestolpert, wenn sie sagte: “Weißt du, ich habe ja auch mal teilgenommen. Wirklich kompetitiv, ja. ‚Adler‘ haben sie mich genannt, weil es immer aussah, als würde ich fliegen, so weit bin ich gesprungen. Aber es hat nicht sein sollen”. Sie durchstach meine Illusion mit ihren Implikationen. Wenn sie, Beste ihrer Klasse, vielleicht sogar der gesamten Stadt, es nicht bis auf das Treppchen schaffen konnte, welche Chance hatte ich dann? Es schien ihr, begriff ich später, dass unsere Blutlinie mit ihr einen Höhepunkt erreicht hatte und es von dort aus nur noch den Fall zurück in die Durchschnittlichkeit gab. Aber sie hat sich geirrt, hat die Dinge vollkommen verworren gedeutet und das Potential von Metall und der Zukunft ausgeblendet, weil diese ihr damals unerreichbar schienen. In Wahrheit stiegen unsere Chancen mit jeder Generation an und ich hatte den Erfolg lediglich um einen einzigen Moment verpasst.
Das war es, was sie damals sagten. Als sie die Technologie vor meinem Gesicht drapierten, in Reichweite meiner Seele baumeln ließen, nur, um mir zu offenbaren, dass sie eine willkürliche Grenze festgelegt hatten. Dreißig Jahre, hieß es. Kein Eingriff darüber hinaus. Seit einem einzigen Monat hatte ich mein drittes Jahrzehnt erreicht. Genau dann entschieden sie, die Werbung mit artifiziellen Körperteilen zu überspülen, mit all den Modellen, die sie für den Sport zulassen würden. Ein einziger Monat.
Manchmal hockte ich im Garten, klemmte mir eine Atemmaske über das Gesicht, um das Gift abzuwehren, das sich schon damals in der Luft tummelte. Ich dachte an diesen einen Monat. Wie es möglich sein konnte, dass mein Schicksal hinter dieser Zahl weggesperrt wurde. Mein ganzes Leben definiert von dieser Grenze. Ich saß im toten Gras, verweilte unter gelben Wolken und ich konnte nicht akzeptieren, dass, während die Menschheit sich gegen die Konsequenzen ihres eigenen Handelns rüstete, während sie Lungen aus Stahl erbaute und dem Flimmern trotze, das sie mit eigenen Händen in die Atmosphäre geworfen hatte, während all diese großartigen Fortschritte ihren Lauf nahmen, ich zu nicht mehr im Stande war, als diesen einen Monat zu jagen.
Es gibt also mich, nur diesen einen Monat vom Erfolg entfernt und dann gibt es Menschen wie sie. Sie, die mit Glück geboren wurde, mit Sternen in ihren Augen und Gold in ihren Adern. Sie hat niemals für etwas kämpfen müssen. Nicht so wie ich. Deshalb will ich festhalten, wohin mich dieser Pfad trägt. Wohin mich meine neuen Füße tragen werden. Nur noch ein einziger Tag und ich trete einen neuen Kampf gegen die Zeit an, aber dieses Mal ist es anders.
Ich werde diesen einen Monat, die Zeit selbst, ausmerzen.
15.02.2149
Den Anfang machen die Fersen, auf die das restliche Gerüst getürmt wird. Eine Vorrichtung aus Schaum, die in die Fußsohlen gefüllt wird, um die Wucht aufzufangen, die jeder Schritt hinterlässt, um den Verschleiß aufzuhalten, der sich in den Knien und Gelenken festsetzt. Daher erst die Fersen, dann die Füße, schließlich Waden und Kniegelenke aus Stahl, bis hin zum vollkommenen Austausch, wenn sich ohnehin kein Unterschied mehr zwischen dem eigenen Gewebe und dem Metall erkennen lässt. Immer zuerst die Beine.
Für mich jedoch war es die Seele, die zuerst kam. Das war die erste relevante Veränderung für diesen Körper, der Großes erlangen würde. Erst die Seele, mein Denken und Streben, meine Pläne und Wünsche und danach die Beine, die dieser Entschlossenheit gehorchen würden.
Sie weckten mich nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem sie mich schlafengelegt hatten. Alles war fremd. Es hätte sich nicht so fremd anfühlen dürfen, dachte ich. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ein Körper, der zusammengesetzt war aus all den Teilen, die mir bekannt waren, sich gegen meine Besetzung sträuben würde. Ich erwartete fehlende Schmerzen oder verschwundene Narben, hoffte, nach Verletzungen zu greifen, die dieser Körper nie gekannt hatte. Ein neuer Körper, ein junger Körper, würde mich auffangen und zurück in die Freiheit entlassen, würde mich für den Mut meiner risikoreichen Reise mit Erleichterung belohnen.
Doch dieser Körper wehrte sich, versuchte, sich mir zu entziehen, kratzte und biss nach sich selbst. Die Gliedmaßen gehorchten mir, aber die hatten nicht das richtige Gewicht, nicht die richtige Länge. Es fehlte ihren Finger und Händen an Kraft. Es füllte sie eine Leichtigkeit und Zerbrechlichkeit aus, die mich zögern ließ, die mich dort zurückhielt, wo ich es niemals hinterfragt hatte. Ich lief auf ihren Füßen wie auf Glas, während ich davon träumte, zu fliegen. Manchmal widersetzte sich ihr Körper, führte einen Befehl nur halbherzig oder widerwillig aus, ließ mich ins Leere greifen, stolpern, streute Missempfinden in jede Ecke ihrer Hände und Füße, scheuchte ein Kribbeln durch ihre Nerven oder Schmerzen in ihre Muskeln.
Ich fieberte dem Tag entgegen, an dem sie mir erlauben würden, die ersten ihrer Gliedmaßen auszutauschen. Wir würden ihre Aufsässigkeit mit etwas ersetzen, das wusste, wie man gehorchte. Dennoch unternahm ich alle Spaziergänge, die man mir verschrieb, wiederholte Übungen, die mir die Kraft raubten, obwohl sie kein Recht dazu hatten. Zu der Atemmaske gegen das Flimmern in der Luft gesellte sich ein Gehstock. Notwendige Schritte vor die eigene Haustür, denen sich jede Person stets zu entziehen versuchte, um sich nicht unnötig lange der Außenwelt auszusetzen, kehrten sich in spitze Blicke um. Die Wolken so ausgehungert und gelb wie die Blessuren, die sich über ihre Gliedmaßen zu streuen begannen. Hatte mein ursprünglicher Körper so sensibel auf das Leben reagiert? Hatten meine Lungen genauso um Sauerstoff gerungen? Gelbe Wolken und saurer Regen, ja, aber es war unmöglich, zu erklären, warum ihr Körper daran zerbrach. Was hatte sie ihm angetan, ehe ich ihn bewohnte?
Anfang des Monats dann schenkte mir die Medizin meine neuen Beine. Ich kann nicht anders als sie wieder und wieder zu betrachten, sie auseinanderzunehmen, in ihre Einzelteile zu zerlegen und mich an der Logik ihres Ineinandergreifens zu erfreuen. Kein Aufruhr mehr, kein Tumult oder Streik. Wenn ich mich mit der Atemmaske hinauswage und den Straßen folge, um all den Skeptischen zu zeigen, worüber sie geurteilt haben, glänzt ihr Metall. Wieder ein Fremdkörper inmitten dieser Menschen, die sich auf Hilfen stützen. Menschen, die bereits der Erde entgegenzufallen drohen, zu der sie früher oder später zurückkehren werden.
Neben ihnen erobern meine Beine jeden Schritt. Strahlend und stählern, diszipliniert mithilfe jeder Schraube und Windung, den Gefäßen und Venen, Knochen und Muskeln in einer Art und Weise überlegen, die diese Augen kaum begreifen können. Silbern inmitten von Gelb und Grau. Der Pfad zu meinem Triumph geebnet.
20.09.2149
Jeden Tag sieht mir ihr Gesicht entgegen. Ich stehe vor dem Spiegel und einen Moment lang verschwimmen die Grenzen zwischen uns. Meine Gedanken, ihre Gesichtszüge. Ich betrachte mich mit fremden Augen, als hätte es mich aus ihrem Körper gekippt, zurück in den Moment, in dem mein Geist weder sie noch mich bewohnte, in dem ich nichts weiter war als ein Faden, der jeden Moment reißen könnte. Ich rede mir ein, dass das unmöglich ist. Erinnerungen an den Zustand während der Operation, an das Limbo, in dem sie meine Seele aufbewahrten, während sie mir die Gehirnmasse aus dem Schädel pulten.
Wenn ich ganz still bin, rahmt der Spiegel dieses Gesicht ein, das weder mir noch ihr gehört, dessen Verbindungen vielleicht endgültig durchtrennt wurden, als sie mit dem Skalpell ansetzten. Ich halte die Luft an und versichere mir, dass das alles ist. Doch trotz aller Besitzansprüche ist es nicht mein Gesicht. Nicht meine Augen, die ihre rechtmäßige Farbe verfehlen. Nicht meine Nase, die niemals so prominent herausstach. Ich stehe vor dem Spiegel und warte darauf, dass ihre Gesichtszüge meine eigenen werden. Ich gebe Muskeln und Gewebe Befehle, die sie fehlinterpretieren, die ihre Mimik zu etwas verzerren, zu dem mein eigenes Gesicht vielleicht einmal imstande war.
Viel zu oft erkennen sie mich, wenn ich durch die Straßen wandle, richten sich auf aus ihrem Zustand knapp am Leben vorbei. Sie kämpfen sich aus ihrer Atemlosigkeit hervor, um mir vorwerfen zu können, dass ich fehl am Platz sei. Es ist das Gesicht, sage ich mir. Ohne dieses Gesicht würden sie nicht einmal zögern, wenn sie an mir vorbeilaufen. Sie würden meine Beine sehen, das glänzende Metall, und sie würden sich ehrfürchtig vor mir wegducken, weil sie verstehen, dass ihre Endlichkeit kaum mit meiner zu vergleichen ist. Wenn nur dieses Gesicht nicht wäre, das sich an eine fremde Identität klammert, das halb richtig und halb verkehrt ist. Oft genug erkenne ich mich darin, sehe das Potential, doch noch viel öfter überwiegen die Merkmale des Anderen, der sie verzerrt hat.
In der Klinik sagen sie mir, es sei normal. Teil des Prozesses. Wie kann es sein, dass ich mit meinen Gesichtszügen und nicht mit meinen neuen Gliedmaßen hadere, mit Konstrukten, die mir in die Knochen geschraubt werden und sich erst nach Monaten einnisten? Sollte es nicht das sein, was mir Sorgen bereitet – wie dieser Körper auf solche Fremdkörper reagiert? Sie reden mir gut zu, beschwichtigen mich, lenken das Thema auf den Sport und die nächste Genehmigung. Träumen sie von ihren neuen Armen, sagen sie mir, stützen sie sich auf aufpolierte Augäpfel oder ein zweites Herz, das sich an das Erste schmiegt und niemals dem Pumpen müde wird.
Sie verstehen es nicht, haben nie die Blicke der Anderen oder die eigenen im Spiegel ertragen müssen. Als ich es schließlich leid bin, überzeuge ich die behandelnde Ärztin und sie überweisen mich an eine der Spezialkliniken, die für gewöhnlich die Auswirkungen von Gasen und Dämpfen bekämpfen. Eine halbe Stunde lang stößt mein Flehen auf taube Ohren, ehe sich die Person auf der anderen Seite des Schreibtischs von der Aussicht auf meine Dankbarkeit erweichen lässt.
Ich lasse Scans über mich ergehen, aus denen sie eine Imitation ihres Gesichtes formen. Um jeden Aspekt unter meiner Leitung zu korrigieren und anzupassen. Vorsichtig setzen sie an, lösen diese Lüge von meinen Muskeln ab, legen das Innere offen, um meine neue Maske einklinken zu können. Es folgen die Tage, in denen ich den Spiegel meide, meiner Reflexion ausweiche, während nichts als eine Scheibe auf meinem rohen Fleisch sitzt. Unbeschriebener Kunststoff erhebt sich allmählich zu einer Nase, Wangenknochen und einem beinahe bekannten Mund. Ich ziehe lange in Erwägung, ihnen Fotos von meinem verlassenen Körper zu zeigen, nicht zuletzt auch, sie bis zu der Kapsel zu führen, in der er noch immer ruht. Ich könnte rekonstruieren, was ich verloren habe, aber warum sollte ich mich damit zufriedengeben und nicht nach mehr streben?
Jetzt, endlich, rastet mein neues Gesicht ein, geht unmerklich in Stirn und Kiefer über. Jeden Tag stelle ich mich vor den Spiegel und suche nach ihr, fürchte mich vor ihr. Vielleicht ist sie noch immer dort, eingeklemmt zwischen Muskeln und Metall. Manchmal, wenn ich freilege, was darunter liegt, frage ich mich, ob sie noch immer gegen diesen Fremdkörper rebelliert. An allen anderen Tagen, wenn ich nicht nach ihr suche, suche ich nach mir. Nicht immer, aber viel zu oft wende ich mich ab. Es ist, als hätte das Metall jeden Ansatz einer Person verschluckt.
02.04.2150
Früher bin ich vor jedem wichtigen Wettbewerb zu seinem Grab gegangen. Minuten oder Sekunden, bevor ich mich mitsamt meiner Sporttasche in das Auto einer Bekannten zwängte, kniete ich in unserem Garten vor dem selbsterrichteten Kreuz, das schon seit Monaten schief hing, faltete die Hände und gab vor, zu ihm zu sprechen. Meine Mutter stand hinter mir, schwenkte den Rauch ihrer Zigarette, als wüsste sie bereits, worauf es mit der Welt hinauslaufen würde. Sie verweilte in meinem toten Winkel, kommentierte nicht, starrte nur, ging vermutlich davon aus, dass ich in meine gefalteten Finger hinein flüsterte, um ganz bei ihm zu sein. Aber das war nie der Punkt. Das Ritual war nicht der tote Hund, der in einem Meter Tiefe neben den Blumenbeeten verrottete. Das Ritual war ihr Schweigen und der Zigarettenstummel, auf den letztendlich immer das Geräusch folgte. Ein Lachen, Schnauben oder Prusten. Ich hockte im Dreck, vor den Überresten eines Hundes, dessen Name längst vergessen war und lauerte auf ihr Signal. Auf ihren Unglauben. Ihren Argwohn. Alles, was ich brauchte, war dieses Geräusch mit dem sie der Annahme, mein Erfolg im Angesicht ihres Fehlschlags sei unmöglich, eine Stimme gab.
Jetzt ist es mein eigenes Grab und die Zigaretten haben sich in ihre Lungen gefressen noch bevor es die Atemluft konnte. Damals war das Grab wie ein Einschnitt in den hergerichteten Garten, in die Ordnung, für die meine Eltern monatlich bezahlten. Inmitten von sattem Grün und aufblühenden Farben ein Haufen Erde und das schiefe Kreuz. Mein eigener Sarg hingegen ist Reinheit zwischen gelber Luft, sauberes Licht im stehenden Dunst. Während die Erde den Prozess verbarg, der sich darunter nur erahnen ließ, trennt mich nun nicht mehr als eine Glasscheibe von dem Körper, der in der Zeit eingeschlossen wurde. Ich stehe an meinem eigenen Sarg und die gesamte Welt hat sich eine Zigarette angezündet.
Was würde sie denken, wenn sie wüsste, dass sich synthetisches Gewebe in meinem Brustkorb aufbläht und die Möglichkeit meines Erstickens ausgeschlossen wurde, während ihre eigenen Lungen bereits schwarz anlaufen? Wie hätte sie mich betrachtet, wenn sie gewusst hätte, dass ich nie zu dem Hund sprach, nicht einmal jetzt zu meinem eigenen Körper spreche, sondern immer nur zu ihr und dem Glimmen am Ende ihres Mundes?
Bevor wir in das Flugzeug steigen, machen wir einen Abstecher zur Klinik, lassen die Heilung der Arme überprüfen, die bisher am Längsten mit ihrer Integration kämpfen. Irgendwo arbeitet die Pumpe, die jetzt mein Herz ist, viel leiser als der Muskel, der das Blut für gewöhnlich bis in meine Ohren schüttete. Sie nehmen meine Finger auseinander, reinigen die Getriebe, setzen neue Schrauben in meine Kniegelenke ein, wagen es schließlich, mir das Gesicht abzunehmen, um letzte Justierungen vorzunehmen. Vielleicht ist es nicht mehr als das. Nur eine Maske, nur veraltete Gesichtszüge hinter einer Glasscheibe.
Seit Jahren habe ich kein Stadion betreten. Mehr als zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit die Tribüne schwieg. Hat der Körper, den ich jetzt bewohne, jemals im Ruhm gebadet, hat er darauf hingearbeitet oder war sie ahnungslos? Rannte sie, ohne zu wissen, dass sie zu Höherem bestimmt war? Sie drücken mir die Gesichtszüge zurecht und ich frage mich, ob sie genauso um ihren eigenen Sarg bangte wie ich. Ob sie Tage und Monate zählte und sich davor fürchtete, in die Vergessenheit abzurutschen noch bevor man sie mit ihrem eigenen Namen überschüttet hatte.
Sie muss sich nicht mehr fürchten. Die Welt wird ihren Namen kennen.
23.07.2150
Ich bin geflogen.
Drei Monate lang Training vor Ort, bis sich meine Gliedmaßen an die Umgebung und ihr Zusammenspiel gewöhnten. Jedes Mal, wenn mir ein Moment des Innehaltens bleibt, kann ich nicht anders, als die leeren Reihen zu betrachten, die uns umzäunen und mir vorzustellen, wie es sein muss, wenn aus jedem einzelnen Sitz eine Person aufspringt, vom Triumph eines Anderen beflügelt. Von meinem Triumph.
Im Zuge des Trainings spulen meine Gedanken zu ihr zurück, ihrem Strahlen im Scheinwerferlicht. Ich denke daran, wie sie vom Spielfeld hechtet, gefangen in diesem Augenblick puren Glücks, sich vor das Publikum wirft, die Fäuste ballt und ausstreckt, die Länge der Tribüne entlang sprintet. Wie sie, während noch immer ihr Name das Stadion ausfüllt, einer Person im Publikum entgegen fällt, sie in ihre Arme schließt. Der Moment plötzlich nicht mehr nur ihr eigener.
Immer, wenn ich meine Bestleistung schlage, fliegen meine Augen unweigerlich der Tribüne entgegen und suchen nach etwas. Vielleicht nach dem Glimmen einer Zigarette, einem Geräusch wie kurz vor einem Lachen oder nur diesem einen Wort: Adler.
Heute dann, nach all den Strapazen, all dem Auflehnen meines Körpers, nachdem ich ihn in seine Perfektion presste, wurde der Traum Wirklichkeit und es strömte von der Tribüne ein Staunen und Anspornen auf uns herab. Nur unter all ihren Augen war es möglich, meine Bestleistung ein letztes Mal zu schlagen, jetzt, wo es wirklich zählte.
Und das war es, was ich tat. Ich flog. Kein Geräusch außer meinen eigenen Schritten, schwer und scheppernd in meinem Schädel. Meine Hände mit ihrem eisernen Griff. Das sanfte Schleifen meines neuen Herzen. Sie alle schweigen, halten die Luft an und dann sehen sie mich fliegen.
Noch bevor ich festen Boden unter meinen Füßen wiederfand, wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Meine neuen Gliedmaßen fingen den Fall ab, richteten mich wieder auf und es war, als wäre ich zurück auf dem Sofa in meinem Elternhaus. Die Stille schlug in einen Chor ihrer Stimmen um, gedämpft durch das Rauschen in meinen Ohren. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, so durcheinander schrien sie mir entgegen. Erst nachdem ich die Tribüne entlang gerannt war, fremde Hände berührte, wieder und wieder die Energie hinausschrie, die überzukochen schien, begriff ich, was es war, das die Menge vereinnahmte.
Ihr Name. Mein Name. Der Name meiner Tochter.
ENDE
Beitrag 80
Tagebuch
Logbuch aus dem Jahr 2150
Mittwoch, 11. November 2150
1800 Uhr (CET)
Seit drei Tagen bin ich der Auffassung, dass unser Quartier, den Umständen entsprechend, sicher ist, darum habe ich genug Zeit, in diesem Logbuch neue Ereignisse festzuhalten. Was das Weiterbestehen der Menschheit angeht, bin ich pessimistisch. Ich erlaube mir die kleine Hoffnung, dass diese Aufzeichnungen einer künftigen Zivilisation nützen könnten, und werde daher alle Ereignisse so genau wie möglich dokumentieren. Wir sind ca. 80 km südlich der Küste lokalisiert. Für logistische Details zu unserer Unterbringung, ehem. Adresse usw., siehe Akten-001 und 002.
Prof. em. Augusta Pauk
Donnerstag, 12. November 2150
1745 Uhr (CET)
Bedauerlicherweise verweigert Subjekt I die Kooperation. In Ermangelung geeigneterer Alternativen habe ich daher Subjekt II zu meinem Assistenten ernannt. Ich erhoffe mir von ihm keinen intellektuellen Beitrag, aber immerhin ist es der deutschen Sprache (weitgehend) in Wort und Schrift mächtig.
Prof. em. A. Pauk
13. November. Mittags.
Ich soll einen Lagebericht schreiben.
Lagebericht
Heute ist mein zwanzigster Geburtstag, darum ist die Lage gut. Frau Professor hat mich zum Assistenten gemacht, obwohl das ja nicht freundlich klingt, was sie gestern im Eintrag über mich geschrieben hat. Wie ich noch gesessen hab, hab ich auf dem Direktor Schilling seine Liste manchmal die Haken gesetzt, also kann ich das gut, mit der Assistenz.
Wir sind sechs zusammen, weil zwei schon abhandengekommen sind. Wir wissen auch nicht, was mit den andern beiden ist, sehr schade, weil den Quintus mochte ich gut leiden. Die Frau Professor erinnert mich an meine Großmutter, aber sie ist noch viel älter, denke ich. Sehr streng ist sie auch, aber seit die anderen verschwunden sind, hören wir besser auf sie. Meistens verbringe ich nur Zeit mit Sir Arthur, den mag Frau Professor nicht, weil er manchmal meutert. Der kann ein bisschen Deutsch, weil er mal in Österreich war, aber nicht sehr gut. Den Herrn Gottfried hat Frau Professor abgeschossen und seitdem schläft er, wenn er aufwacht, kriegt er was zu Essen und dann schießt sie noch mal. Sie hat dafür ein Blasrohr, da lässt sie mich nicht ran. Wenn ich damals sowas gehabt hätte, hätt ich mir gleich noch zwei Jahre Zuchthaus eingebrockt. Als erstes hätte ich den blöden Inspektor Lobe in sein Hinterteil gepustet.
Der Herr Gottfried spricht auch Deutsch aber komisches, außerdem lallt er wegen der Frau Professor ihre Blasrohrpfeile. Er hat eine Hand aus Eisen, manchmal geh ich heimlich hin und biege die Finger.
Karl Mai
Nachtrag um halb 3 nachmittags:
Mir wurde gesagt, daß das kein guter Lagebericht war. Also schreib ich nochmal neu, das ist gar nicht leicht, weil die Lage mir selber nicht wirklich klar ist.
Wir sind im Haus von der Frau Professor ihre Familie. Hier war früher mal Preußen, aber jetzt ist hier eigentlich nichts mehr außer Urwald und verwilderte, leere Häuser. Frau Professor hat uns nicht erklärt, wie es dazu gekommen ist. Sie hält uns, glaub ich, alle für verblödet. Sie hat auch ein Laboratorium hinten im Haus, da darf keiner rein, sie ist ungefähr wie Goethe sein Faust.
Wir wurden alle hergebracht von Frau Professor ihre Brüder, die hießen beide Dr. Pauk und jetzt sind sie verschwunden. Die Dr. Pauks wollten eigentlich nicht mich, sondern jemand, der so ähnlich heißt und zur gleichen Zeit mit mir im Waldheim eingesessen ist. Jetzt ist die Frau Professor mit uns alleine, und hätte uns lieber nicht dabei.
Draußen gibt es sonst keine Leute mehr, es fahren kleine Geräte herum, die sehen aus wie Schildkröten aus Eisen aber sind ungefähr mehr wie Wölfe. Man kann von hier am Horizont einen hohen Masten aus Metall sehen, um den schwärmen sie, aber im Moment haben wir vor ihnen Ruhe.
Ich hab vorhin außerdem die Frauen vergessen, aufzuzählen, weil ich mit denen weniger Umgang hab. Es gibt ein Mädchen, die Pythia heißt, die benimmt sich ungefähr so, wie mein Freund Ludwig, wie er verhaftet wurde und ab da keinen Tropfen Alkohol mehr trinken durfte. Und die letzte ist eine Ordensschwester und wir kennen ihren Namen nicht, weil sie nicht redet. Frau Professor hat Angst vor ihr, glaub ich.
Ich war erst mit dem Sir Arthur auf einer Stube, aber da wars mir unheimlich, weil der nachts die Geister anruft, jetzt bin ich bei Herrn Gottfried und da schlaf ich sehr gut.
Hochachtungsvoll,
Karl Mai
Anmerkung Prof. Pauk: Ich bin 64 Jahre alt und fürchte mich vor keinem der Subjekte. Sicherheitsmaßnahmen erfolgen aus praktischen Gründen.
Samstag, 14. November 2150
1315 Uhr (CET)
Subjekt II gehorcht einigermaßen, hat aber keinen Sinn für angemessene Berichterstattung.
Die Anwesenheit der chronologischen Anomalien (Subjekt 0 bis VI) ist meinen Brüdern zu verdanken, Dr. Falko und Dr. Maximilian Pauk, die das chrononautische Modul, das sie selbst entwickelten, für stupide Zwecke nutzten. Anstatt die damals bevorstehende (und mittlerweile eingetretene) Apokalypse zu verhindern, verschrieben sie sich dem Vorhaben, „große Geister“ unserer Weltgeschichte zusammenzubringen. Die Auswahl fiel sehr subjektiv aus, anstelle von wegbereitenden Wissenschaftlern entschieden sie sich für mythenumrankte, schwer zu greifende Subjekte sowie ihre favorisierten Schriftsteller, wo bei sie eines nicht einmal habhaft wurden.
Aufgrund eines Fehlers, den ich noch nicht identifizieren konnte, sind beide nun selbst aus dieser Zeitlinie verschwunden. Ich arbeite daran, ihre Notizen zu ordnen und zu vervollständigen.
Notizen Dr. F. und M. Pauk, befinden sich in Ordnern 01-18, meine Anmerkungen dazu siehe Anhänge A-F.; Forts. f.
Im Folgenden eine Auflistung der chronologischen Anomalien:
Subjekt I: Sir Arthur Ignatius Conan Doyle, Schriftsteller
Referenzzeitpunkt: 23. Oktober 1913
Erkennt meine Führungsrolle nicht an. Seit dem Verschwinden von Subjekt III und V herrscht hinlänglicher Waffenstillstand zwischen uns. Hat sich dem Spiritismus verschrieben, praktiziert Tische rücken und stört damit teilweise die Nachtruhe.
Subjekt II: Karl Friedrich Mai, angeblich Tischler
Referenzzeitpunkt: 23. Oktober 1873
Versehentlich von meinen Brüdern anstelle des Schriftstellers Karl Friedrich May in unsere Zeitlinie verbracht, da zum selben Zeitpunkt wie dieser in der Justizvollzugsanstalt Waldheim in Sachsen inhaftiert.
Subjekt III: Georg Friedrich Händel, Komponist
Referenzzeitpunkt: 21. Oktober 1728
Verschollen
Subjekt IV: Gottfried („Götz“) von Berlichingen, „Ritter“
Referenzzeitpunkt: 06. Oktober 1532
Aufgrund anekdotischer Evidenz von mir als problematisch eingestuft und unter Kontrolle gebracht.
Subjekt V: Quintus Claudius, Soldat
Referenzzeitpunkt: 60 CE, unbekanntes Datum
Verschollen
Subjekt VI: „Pythia“; richtiger Name unbekannt, sog. Orakel von Delphi
Referenzzeitpunkt: ca. 400 BCE, unbekanntes Datum
Subjekt leidet offenbar unter Symptomen des kalten Entzugs einer unbekannten Droge.
Subjekt 0: ???, Nonne (?), Orden mir nicht bekannt.
Referenzzeitpunkt: ???
Subjekt verweigert die Kommunikation. Ob das Subjekt die Deutsche oder englische Sprache versteht, ist bisher unklar. Aufgrund der stümperhaften Aufzeichnungen meiner Brüder konnte Identität und Herkunftszeitraum des Subjektes bisher nicht geklärt werden. Zieht sich sieben Mal am Tag zurück.
Bei den, im letzten Eintrag erwähnten, „schildkrötenförmigen Geräten“ handelt es sich um autonome Entitäten mit künstlicher Intelligenz.
Werde mich für den Rest des Tages wieder meiner Arbeit widmen.
Prof. em. A. Pauk
15. November. Nachmittags
Eben habe ich erfahren, dass die Frau Professor gar nicht einem Professor seine Witwe ist, sondern selber Professor.
Die Lage wird immer verwirrender.
Karl Mai
16. November. Morgens
Heute Nacht sind der Frau Professor ihre Blasrohrpfeile ausgegangen, deswegen ist der Herr Gottfried jetzt wach und sie versteckt sich im Laboratorium. (Nachtrag Prof. Pauk: Ich war mit
meiner Recherche beschäftigt).
Habe versucht, die Situation zu erklären. Ich und Sir Arthur haben ihm die Glühbirne gezeigt, obwohl Frau Professor es verboten hat. Er hat sich erschrocken. Ich hab mich selber gleich an die Birne gewöhnt, ich wünschte, wir könnten die öfters leuchten lassen.
Herr Gottfried hat sehr derbe Worte über die Frau Professor verloren, dann hat er sich beruhigt, weil die Schwester Nonne dazukam.
Der Sir Arthur spricht schon besser Deutsch als vorher, angeblich ist er Schriftsteller, aber er hat hier noch nie was geschrieben, nur Seonzen Séancen veranstaltet.
Zum Mittag brechen wir die Erbsen an.
Karl Mai
Montag, 16. November 2150
1730 (CET) Uhr
Der Gesundheitszustand Subjekt VIs verschlechtert sich. Seit 1400 Uhr befindet es sich in einer Art Trance und redet wirr. Wiederholt fiel der Begriff „Chalkoterion“, dem ich keine Bedeutung abgewinnen kann. Habe Morphium verabreicht, Subjekt kommt langsam zur Ruhe.
Prof. em. A. Pauk
Alhie ist ein unsellig ort. Es herrschtt ein weib, gekleidt gleich einem man, welchs mich zu zorn bewegett, doch es zu erschlagenn verbitt mir die ehr. Morgens fruhe will ich disenn ort verlaßenn
vnnd nach der burg Hornnberg heimkehrnn, hernach mit meinem gefolk nach disem ortt ziehenn vnnd denselben vberfallenn vnnd zu grundt richten. Sollt ich aber des burgherrn habhaft werdenn, lass
ich gnadt walten mit den leutten die mich empfangenn, falls sie gehorsam soltenn sein, sie sind mir nicht feindtsellig begegnett vnnd das greyse weib hat sich zurvckgezogenn. Freilich ist allhie
kheiner roßen habhaftwerdenn, so muß ich denn weg zu fueß antretenn.
Wann der allmechtig gott gefallenn ann mir hatt, wertt er meinem begern stadt thon.
Gottfrid von Berlichingen zu Hornnberg
Anmerkung Prof. Pauk: Ab jetzt ist das Logbuch wieder vollständig unter meiner Kontrolle.
Dienstag, 17. November 2150
1145 Uhr (CET)
Subjekt IV hat den Stützpunkt verlassen. Ich sehe mich in der Verantwortung, das Überleben der chronologischen Anomalien zu ermöglichen, aber nicht um jeden Preis sicherzustellen. Ich gehe davon aus, dass das Subjekt bereits kurze Zeit nach seinem Aufbruch von den mobilen Einheiten eliminiert wurde.
Donnerstag, 19. November 2150
1110 Uhr (CET)
Subjekt IV ist mit einem Kadaver zurückgekehrt. Die Subjekte gehorchen kaum noch. Habe mich zurückgezogen, muss die Lage schnellstmöglich unter Kontrolle bringen. Wenn ich moderne Technologien einsetzen könnte, wäre die Situation leichter zu handhaben, aber das ist nicht zu riskieren.
Mittwoch, 18. November 2150
1520 Uhr (CET)
Das Zusammenleben mit den chronologischen Anomalien gestaltet sich zunehmend schwierig. Habe Subjekt II formal zum „Assistenten ersten Grades“ ernannt, um die Moral zu stärken. Als Amtsausweis habe ich ihm eine antike CD-ROM aus den frühen 20er Jahren überreicht. Mithilfe einer Sofortbildkamera ist es mir zumindest vorerst gelungen, die Subjekte zu beschäftigen.
21. November. Morgens
Frau Professor hat sich den Finger abgeschnitten. Wir haben alle nicht verstanden, wie das passiert ist, aber es hat sich gezeigt, dass Sir Arthur ein Arzt ist und sogar im Feld gewesen, darum hat er sich drum gekümmert.
Der Götz war abgehauen, um nach seiner Burg zurückzugehen, aber er wusste nicht wo lang, also hat er ein Reh erlegt und ist zurückgekommen. Die Frau Professor fand das gar nicht gut und ist in ihr Laboratorium gegangen, aber die Schwester Nonne hat sich gleich ans Ausnehmen gemacht. Sie hat es kopfübergehängt und aufgebrochen und später gehäutet und ich hab mitgeholfen. Ich hab der Frau Professor sogar ein Stück Fleisch runtergebracht und sie hat gethan, als ob sie sich nicht freut.
Wie wir oben so schön gespeist haben, sind wir alle dicke Freunde geworden. Thut auch gar nichts dazu, dass die Schwester Nonne nicht spricht. Der Götz hat uns die Geschichte erzählt, wie er seine Hand verloren hat. Die Neue aus Eisen kann er richtig bewegen und alle Friemeleien und Schreiben macht er mittlerweile mit links. Und Sir Arthur hat auch ein paar Geschichten erzählt von wie er in Ägypten und Südafrika war. Nur die Pythia ist noch immer verwirrt. Es wurde erst besser, aber seit ein paar Tagen spricht sie wirres Zeugs, dann hat Frau Professor ihr Morphium gegeben und jetzt ist sie ungefähr wie der Götz, wie er immer von der Frau Professor abgeschossen wurde.
Jedenfalls ist jetzt aber Frau Professor ihr Zeigefinger weg und solange sie sich erholt, will Sir Arthur ein paar Theorien auf den Grund gehen. Hier gibt es einen Photoapparat, da muss man nur auf den Knopf drücken und schon kommt das Bild raus, und zwar in Farbe – toll, wie die Technologie sich entwickelt hat! Er sagt, damit kann man die Geister ablichten. Ich hab mich als Modell bereiterklärt, ich wurde nämlich noch nie photographiert!
1. Assistent Mai
21. November. Vormittags
Die Pythia redet wieder und sagt immerzu Chalkotärion, wir wissen nicht, wie wir sie beruhigen sollen.
Note A. Conan Doyle:
Χαλκoς = bronze
Θηρίον = ?
Greek was already disagreeable to me in my school days. I fear my knowledge of the language has grown rusty.
Protkoll
der ersten Seonse Séance unter der Leitung von Sir Arthur Conan Doyle
21. November. Abends
Ich soll Protokoll führen für den Sir Arthur. Wir haben Kerzen angezündet und er hat der Pythia einen Bleistift gegeben, die soll schreiben, was sie empfängt. Sie hat bis jetzt nur ein paar Kreisellinien gemalt.
Sir Arthur sagt: „Ist jemand hier?“
Pythia schreibt Schlangenlinien.
Wir warten.
Sir Arthur: „Ist jemand hier, bitte?“
Pythia schreibt Buchstaben, krakelig, kanns nicht lesen.
Sie sieht wieder so weggetreten aus wie neulich. Dem Protokollanten gruselt es.
Sir Arthur: „Wie ist Dein Name?“
Pythia schreibt: NOMEN
„Nomen?“
QUINTUS CLAUDIUS
Sir Arthur sagt was auf Englisch, das ich nicht verstehe.
Pythia: INTERPRETOR
Pause.
VIDET AENEAM BESTIAM
Pause.
TESTUDO FERREA LATET
Pause.
INSIDIATUR
Sir Arthur wieder was auf Englisch.
SEPTENTRIONALI
Pause.
VIVAT NERO
Nachtrag
Wie die Pythia das Letzte geschrieben hatte, sind die Kerzen ausgegangen und da bin ich abgehauen. Mit Spuk kann ich mich nicht anfreunden, vielleicht halt ichs ab jetzt wie der Götz und die Schwester Nonne, die damit gleich nichts zu thun haben wollten. Pythia ist tief und fest eingeschlafen und wir haben sie ins Bett gelegt, Hauptsache das ist auch gesund, ein Medium zu sein. Der Quintus thut mir leid. Ich hab ihn ja nicht lange gekannt, aber es muss doch sehr unschön sein, in Frau Professor ihr Haus spuken zu müssen.
Additamentum additamento
name – Quintus Claudius – ich uebersetze – sie sieht das eherne biest – die schildkroete aus eisen verbirgt sich – lauert – im norden – es lebe Nero
Serva Christi sedula, soror Ordinis Cisterciensis
22. November. Morgens
Wie der Sir Arthur über dem Latein gebrütet hat, hat die Schwester Nonne einen Blick drauf geworfen und es übersetzt. Da haben wir nach draußen geschaut, was da ist, und haben nördlich von hier ein kleines rotes Licht gesehen. Heute Morgen ging es der Frau Professor etwas besser und wir haben mit einem Fernrohr hingeschaut, da versteckt sich wirklich eins von den Geräten mit, wie sie sagt, Kahi (?) und beobachtet unseren Stützpunkt! Jetzt hat Frau Professor einen Wachdienst eingerichtet, einer schaut immer versteckt durch das kleine Fenster mit dem Fernrohr hin. Das Kahi hat sich kein bisschen geregt seit gestern.
Sonntag, 22. November 2150. 16 Uhr
Ich habe meinen rechten Zeigefinger eingebüßt und diktiere diesen Eintrag daher meinem Assistenten (Anmerkung Mai: Assistent 1. Grades).
Subjekt I und II (das sind Sir Arthur und ich) haben den labilen Zustand Subjekt VIs (das ist Pythia) ausgenutzt, um eine „Sáence“ „Séance“ abzuhalten. Angeblich wurde dabei
Kontakt zu Subjekt V (Quintus) hergestellt. Daß es sich um Hirngespinste handelt, steht außer Frage. Allerdings führte das Ereignis zur Entdeckung einer mobilen Einheit in unmittelbarer
Nähe, die uns – trotz der Abwesenheit jeglicher digitaler Technologie – offensichtlich aufgespürt hat. Ich rechne mit dem Schlimmsten. Das chrononautische Modul befindet sich in einem Kellerraum,
der als pharade faradayscher Käfig angelegt ist. Drei Möglichkeiten kommen infrage:
Das Modul wurde dennoch lokalisiert.
Die mobile Einheit ist in der Lage, das niederfrequente Magnetfeld der Glühbirne zu identifizieren und mit der Anwesenheit von Menschen in Verbindung zu bringen.
Die mobile Einheit ist in der Lage, Menschen ganz ohne Zusammenhang mit Technologie zu erkennen.
Wir beobachten die Einheit. Beobachtungsprotokolle siehe Akte 002.
Professor Augusta Pauk
und Assistent 1. Grades Karl Mai
24. November. Vormittags.
Ich und der Götz haben uns rausgeschlichen und einen Stein auf das Kahi geworfen, jetzt ist es kaputt. Der Wachdienst war doch sehr langweilig.
Sir Arthur hat der Frau Professor Bettruhe verschrieben, aber sie hat ein paar Pillen geschluckt und saß heute Morgen schon wieder in ihrem Laboratorium.
1. Assistent Mai
Dienstag, 24. November 2150, kurz nach 12 Uhr
Subjekt II und IV (der Karl Mai und der Ritter Götz) haben die mobile Einheit auf eigene Faust eliminiert. Die Subjekte sind sich der Gefahr, die von diesen hochintelligenten Entitäten ausgeht, noch immer nicht bewusst. Die Folgen sind nicht absehbar.
Ich bin der Auffassung, meinen Bruder Maximilian in einer Zeitlinie lokalisiert zu haben. Er muss sich im Jahr 1717 aufhalten, über den Ort bin ich mir allerdings noch nicht im Klaren (siehe dazu Ordner 18 + Anhang H).
Professor Augusta Pauk
und 1. Assistent Karl F. Mai
25. November. Abends
Die Frau Professor sitzt die ganze Zeit in ihrem Laboratorium und arbeitet, als hätt sie Fieber. Seit ich und der Götz das Kahi besiegt haben, denken wir, daß draußen vielleicht doch nicht so gefährlich ist wie gedacht. Jedenfalls war die Schwester Nonne heute rumstromern und kam mit einem Bündel Kräuter wieder. Sie hat einen Sud draus gebraut und endlich geht es der Pythia gut. Wir können immer noch nicht mit ihr reden, weil sie Griechisch spricht, aber wir haben ihr die Glühbirne gezeigt.
1. Assistent Mai
Donnerstag, 26. November 2150, gleich 8 Uhr abends. Der letzte Eintrag.
Dr. Maximilian Pauk befindet sich im Potsdam des Jahres 1717, untergebracht in der Gastwirtschaft Zum Eber. Dies mein letzter Eintrag. Obwohl an der Arbeitsweise meiner Brüder viel zu kritisieren ist, gebe ich zu, daß beide über einen herausragenden Intellekt verfügten. Durch Zusammenarbeit könnte es möglich sein, die Anomalien in der Zeitlinie zu korrigieren und womöglich sogar die Apokalypse rückgängig zu machen. Ich habe den Subjekten, sofern ich mich ihnen verständlich machen konnte, erklärt, daß ein Gelingen der Operation bedeutet, daß sie in ihre Zeitlinien zurückkehren werden, vermutlich ohne Erinnerung an ihren Aufenthalt im Jahr 2150.
Es unterzeichnet
Professor Augusta Pauk
Und diktiert hat sie es ihrem Assistenten 1. Grades Karl Friedrich Mai. Sehr schade, ich hab mich mit den anderen doch sehr zu Hause gefühlt. Und 1873 wartet eigentlich nichts auf mich.
………………………….
28. November. Mittags
Wir waren die ganze Nacht wach und haben gewartet, was passiert. Bis jetzt sind wir alle noch da – da ist der Frau Professor ihre Operation wohl mißlungen.
Heute Morgen hatten wir schon einen Heidenspaß, weil wir endlich alle Fenster geöffnet haben und die Pythia ganz fasziniert von den Glasscheiben ist, das ist wie Magie für sie! Der Götz und die Schwester Nonne spielen mit dem Photoapparat von der Frau Professor herum, das wird auch nie langweilig. Der Sir Arthur bereitet grade eine neue Séance vor und ich fühl mich so übermütig, daß ich doch zugesagt hab, wieder Protokoll zu führen. Er hofft, daß wir den Händel erwischen und die Pythia uns eine Partitur aufschreibt.
Wie ich noch im Zuchthaus Waldheim war, hat der Direktor Schilling immer gesagt, es wär so schade, daß ich auf die schiefe Bahn geraten bin, und wenn meine zwei Jahre um sind, sollt ich sehen, daß was Anständiges aus mir wird. Der hätte seine helle Freude, weil ich jetzt dem Ritter Götz sein Knappe bin!
Zum beschlus
So hatt es sich denn zum guttenn gekertt vnnd das forchttbar weib ist fort. Die festtung ist nun in vnsrer hanndt, heist furtan burg Waldtheim vnnd stehet vnnter meinem schutz vnnd schirm.
Gottfrid von Berlichingen zu Waldheim
ENDE
Beitrag 81
Zurück ins Wasser
13. Oktober 2150
Einen Monat habe ich noch. Es ist mir so peinlich. Wenigstens habe ich mein Tagebuch noch oldschool in ein Notizbuch geschrieben, nicht so wie die meisten anderen
digital. Dadurch habe ich die Möglichkeit, noch Sachen zu korrigieren oder zu streichen. Es geht doch nun wirklich niemanden an, wie sehr ich Anfang des Jahres noch unter der Trennung von A.
gelitten habe und seit Juli für Philemon schwärme. Nein, ich bin verknallt. Ja so richtig. Aber wenn das in den veröffentlichten Seiten meines Tagebuchs steht, dann ist nicht mal der
Marianengraben tief genug für meine Scham. Nun gut, irgendwie krieg’ ich das schon hin. Vielleicht, wenn ich die Namen streiche oder ein Pseudonym oder einen Kosenamen verwende im Text?
Ach. Warum?!?!?! Warum haben die ausgerechnet mich ausgesucht. Oh verdammt, ich muss los, der Vortrag über die neuesten Erkenntnisse in der Homo sapiens Pisci und Homo
sapiens serpenti Genetik beginnt gleich. Und ER wird da sein. Oh nein ... Ich bin so nervös.
14. Oktober 2150
Der Vortrag war sehr spannend. Aber noch wichtiger!!!!!!: Er hat mich angelächelt und wenn sein blöder Kumpel ihn nicht davon abgehalten hätte, dann wäre
er rübergekommen, um mit mir zu reden. Da bin ich mir sicher. Aber nein, Aqualympiade zu sehen ist wichtiger. Jungs. Vielleicht fragt er mich ja, ob ich mit ihm zum Tag
der Wanderung-Ball gehe. Aber nein. Da findet ja die Tagebuch-Veröffentlichung statt. Was, wenn ich nicht hingehe? Vielleicht könnten wir ja stattdessen rauf schwimmen. Ich habe schon
sehr lange keine Sterne mehr gesehen. Aber ich rede mir das wahrscheinlich alles nur ein. Was sollte ein Spumi wie er mit einer Flucti wie mir anfangen. Aber Wellen und Schaum
gehören ja irgendwie zusammen oder nicht? Auch heute sagt man noch, dass sich Gegensätze anziehen. Großmutter hat oft davon geredet. Sie ist eine wilde, offene, extrovertierte junge Frau gewesen,
als sie Opa kennengelernt hat. Den stillen Denker. Ich bin eher nach ihm geraten, hab mich aber immer gut mit ihr unterhalten. Großmutter, wenn sie das noch erleben dürfte ... Mein Tagebuch,
meine Gedanken sollen veröffentlicht werden, nur weil ich am 13. November Geburtstag habe und zufällig bei der Lotterie gezogen wurde. Ich habe Angst, was das mit mir und meinem Leben machen
wird. Ich konnte nicht ablehnen. Wir leben in einer Gemeinschaft, in der man so eine Ehre nicht ablehnt, in der man nicht ablehnt ein Teil, Geschichte zu werden. Diese Aufzeichnungen sollen
späteren Generationen Aufschluss darüber liefern, wie der Wechsel von der Erdoberfläche unter Wasser von uns erlebt wurde. Die Technik, Genetik und Geschichte, werden sie ohnehin lernen. Aber ich
gehöre zur letzten, vorletzten, nein sagen wir letzten Generation, die noch an Land geboren wurde. Heuer ist der zehnte Jahrestag. An meinem 10. Geburtstag wurde der europäische Bereich geöffnet
und die ersten 100.000 durften einziehen. Drei Monate später durften wir, zusammen mit den nächsten 100.000 unser Quartier beziehen. Ich finde, unser Abschnitt ist schön. Viele Wale sind zu sehen
und manchmal verirren sich auch Robben hierher. Oh Moment es klingelt. Marianna möchte in den Streichelzoo. Ich zieh’ mir schnell meinen Badeanzug an und treffe sie dann an Luke 15. Ich
war schon lange nicht mehr dort. Vielleicht gibt es neue Tierbabys. Oder Rassen.
22. Oktober 2150
Die Unwetter der letzten Tage haben das Meer aufgewühlt. Die Sicht ist schlecht, wir können nur bedingt nach draußen. Eine der schwimmenden Farmen wurde
zerstört. Und gestern haben Späher die Leichen von drei Verweigerern gefunden. Sie sollen so bald wie möglich zu ihresgleichen zurückgebracht werden. Ich finde das gut. Sie wollten nicht hier
sein. Auch wenn das nicht vernünftig war. Aber dann wollen sie sicher auch im Tod nicht hier sein, sondern oben, bei ihren Familien, wenn sie noch welche haben. Gestern wurden aktuelle Aufnahmen
von den Pyramiden von Gizeh gezeigt. Halb verwildert, halb ein Museum. Kaum vorstellbar, dass dort mal alles voller Sand war und Wasser Mangelware. Trockene Hitze. Etwas das ich wohl nie
kennenlernen werde. Aber die heißen Quellen sind immer eine Reise wert. Ob Philemon mal mit mir dahin will?
Was mach’ ich denn?!? Nicht so viele Schaumschlösser bauen Medea!!! Außerdem kann ich das doch wieder nicht an die Lektoren weiter geben. Ah, ist mir das
alles peinlich. Ich sollte mich lieber auf meine Prüfungen konzentrieren. Aber diese Veröffentlichung, das ist ungefähr so, wie der Traum nackt vor der Klasse stehen.
Aber vielleicht wird diese Veröffentlichung auch in Vergessenheit versinken. Vielleicht wird es ja auch gar keine weiteren Generationen geben, die das interessieren
könnte, was wir, erlebt, gesehen, empfunden und geschrieben haben. Sie haben das Problem mit der Fortpflanzung noch nicht einwandfrei gelöst. Ich weiß ja auch nicht, was ich von all dem
halten soll. Vielleicht bin ich einfach nur froh, am Leben zu sein. Und dieses Eckchen Meer ist so wunderschön. Wir sind diesen Schritt gegangen. Bzw. unsere Eltern. Dafür bin ich
dankbar.
Menschen, die sich in erwachsenem Alter der Behandlung unterzogen haben und zu Homo sapiens Pisci oder Homo sapiens serpenti wurden, konnten noch
wie eh und je Kinder in die Welt setzen. Aber die von ihnen geborene Generation hat Probleme mit der Fortpflanzung. Ich hab noch nie wirklich darüber nachgedacht, ob ich mal Kinder möchte. Aber
es könnte gut sein, dass es bei mir auch Probleme gäbe. Aber eines nach dem Anderen. Drei Tage hab ich noch, um mein Tagebuch fertig zu stellen für die Abgabe. Da ich alles erst abtippen muss,
waren sie bei mir damit einverstanden es später abzugeben als die anderen. Irgendwie ist es schon schräg, dass ICH oldschool auf Papier schreibe, während die aus den höheren Dekaden hauptsächlich
elektronisch abgegeben haben. Bzw. Es wurde eingezogen. Keine Chance für Korrekturen. Da hab ich ausnahmsweise Mal Glück gehabt so altmodisch und haptisch zu sein. Gute Nacht.
24. Oktober 2150
Die Rücksendemission ist zurück. Das Dorf, aus dem die drei toten Verweigerer stammten, war leer. Na ja, keine Lebenszeichen besser gesagt. Entweder sie sind
zur nächsten Siedlung gezogen, oder wir werden sie noch finden. Die Leichen wurden begraben. An Land. Zwei Freiwillige haben sich gemeldet und haben diese Bürde auf sich genommen. Die
Temperaturen waren zu dem Zeitpunkt wohl erträglich. Ich finde es gut, dass sie das gemacht haben. Es zeigt Menschlichkeit im besten Sinn. Uns wurde oft vorgeworfen, wir würden durch die
Genveränderung unsere Menschlichkeit verlieren und gegen verstärkte animalische Triebe tauschen. Aber ganz ehrlich ... die sogenannte „Menschlichkeit“ hat uns doch alle erst an diesen Punkt
gebracht. Eigentlich ist es schon poetisch. Das Leben kam aus dem Wasser und ging wieder dahin zurück. Ach, ich werde melancholisch. Ich sollte lieber schlafen gehen, morgen wird ein langer Tag.
Gute Nacht.
25. Oktober 2150
ER HAT MICH GEFRAGT. Gestern nach der Vorlesung Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts kam er zu mir. Er hat mich mit einem Lächeln angestrahlt, ich dachte, ich
schmelze dort und gleich. Wir tranken eine Algen-Latte und unterhielten uns über die Professorin, den Vortrag und das Thema des diesjährigen Balls. Das Thema wurde gestern bekannt
gegeben. „Sterne“ Sternenhimmel, Sternzeichen, Seesterne, usw … Ich fürchte, es wird viel Melancholie und Wehmut geben, bei jenen die den Großteil ihres Lebens den Himmel sehen konnten.
Es soll Sternenhimmel-Projektionen geben. In den Gemeinschaftsräumen und draußen im Meer. Da kann man sich dann in eine schöne kleine Höhle verziehen und von dort aus das Spektakel
betrachten. Oder sich küssen. Oder… Nein nein. So weit will ich nicht hoffen. Aber er hat mich gefragt, ob ich sein Date sein will. Ich hoffe, ich hab nicht zu blöd drein- geschaut in dem
Moment. Und, oh nein, die Abgabe, die ... darauf habe ich vor lauter Aufregung fast vergessen. Ich muss weiter lesen und korrigieren. Ich hasse es. Warum mussten sie von den 587 ausgerechnet
mich auswählen? Und ich werde doch auch erst 20. Irgendwer von denen wird sicher 29 und hat mehr zu erzählen. Ich würde lieber an meinem Referat über die Verweigerer und die Ethik des 21.
Jahrhunderts arbeiten. Ich will noch eine Aufstellung der Tätowierung erstellen, mit denen sie ihre Zugehörigkeit zeigen. Unsere Haut ist so dick, dass diese „Bemalungen“ nicht möglich sind.
Dafür können wir uns unsere Schuppen anmalen. Nicht so kleinteilig wie diese Tätowierungen aber wir können dadurch Farbeffekte erzielen. Ich hab ja nicht viele Schuppen, nur ein paar an den
Knöcheln, Oberschenkeln und Schultern. Aber ab und zu mal ein bisschen Abwechslung ist schon fein. Philemons Lieblingsfarbe ist auch türkis, habe ich festgestellt. Auf jeden Fall sollte ich vor
dem Ball ein Schwimmhäute-Peeling machen. Die sind in letzter Zeit etwas rau. Aber der Salzgehalt des Wassers ist in den letzten Wochen auch ein bisschen gestiegen. Herbst halt. Und ich bin da
leider etwas empfindlich. Aber sollte es zu Körperkontakt kommen, möchte ich, dass meine Hände so weich und zart wie möglich sind. Seine Kiemen haben einen so eleganten Schwung. Als würden sie
auf seinem Hals tanzen. Nein Medea reiß dich zusammen. Ich bin müde, vielleicht hab ich ja Glück und träume etwas Schönes. Gute Nacht.
26. Oktober 2150
Ein schrecklicher Traum. Ich bin ganz durch die Welle. Als würde es mir die Brust zerreißen. Zuerst hat mein Referat für Aufregung gesorgt, weil ich darin den
Standpunkt der Verweigerer vertreten habe. Hohn und Spott habe ich dafür geerntet. Richtig gemein waren sie, einfach nur gemein, keine sachlichen Argumente. Nur Vor-/Urteile. Und dann hat
Philemon gesagt, dass er nicht mehr mit mir zum Ball will. Die ungekürzte Fassung von meinem Tagebuch wurde veröffentlicht. Ich bin innerlich gestorben vor Scham. Dann kam der nächste Traum. Oder
gehörte der Zweite zum Ersten? Ich weiß es nicht. Na jedenfalls, fand eine Patrouille einen Berg Leichen vor der Nordschleuse. Verweigerer und einige von uns. Niedergemetzelt. Ermordet. Es war
grauenvoll. Die Wachen berichteten, dass an einer der Leichen eine Schriftrolle befestigt war. „Geht zurück an Land, wo ihr hingehört. Ihr habt genug zerstört. Sonst wird es euch schlecht
ergehen.“ Unterschrieben mit „Atlantis“. Das war alles sehr verstörend. Ich bin voll Angst aufgewacht und konnte kaum atmen. Ich wollte das nur kurz aufschreiben, denn, wem könnte ich das sonst
erzählen. Eine Runde schwimmen wird mir jetzt guttun, um den Kopf freizubekommen. Bis später.
(Fortsetzung)
Dieser Traum hat mich den ganzen Tag verfolgt und meine Sinne getrübt. Keine schrecklichen Nachrichten. Ich frage mich, wie es den Verweigerern wohl geht. Es ist doch seltsam, dass die Siedlung
so plötzlich leer war. Ich meine, wir kontrollieren sie nicht täglich, aber ein Mal im Monat kommt doch jemand dort vorbei und ist neugierig. Was ist passiert? Die andere Siedlung ist einen
halben Tag entfernt. Es wäre ein Tagesausflug. Entweder ich tauche zwischendurch auf oder ich nehme einen Tank mit. Vielleicht beides. Ich schlaf’ noch mal darüber. Vielleicht sieht das Meer
morgen schon wieder ganz anders aus.
25. Oktober 2150
Dieser Traum war noch schlimmer. Wieder ein Berg Leichen. Meine Schwester Pandora, Marianna, und Philemon waren darunter. Und meine Eltern. Was ist bloß
los. Ist es die Nervosität vor dem Tag der Wanderung? Vor meinem Date mit Philemon? Oder vor die Veröffentlichung? Aber diese Träume … Vielleicht bin ich auch bei meinen Recherchen für
mein Referat zu sehr in die Materie eingetaucht. Ich kann mich schon sehr in etwas hineinsteigern. Großmutter meinte mal, das sei meine beste und schlechteste Eigenschaft zugleich. Aber sie
kannte das wohl von Großvater. Ich glaube, meine bearbeitete Fassung ist fertig. Bis Mitternacht muss ich sie abgeben. Sonst gibt es Probleme. Ich habe einiges von den „privaten“ und
„emotionalen“ Sachen gestrichen. Aber nicht alles. Das, was drin geblieben ist, habe ich anonymisiert. Es wird niemand glauben, dass eine 19-Jährige, kein Privatleben, keine Gefühle, keine
Peeling-Probleme hat. Außerdem finde ich, dass die Haut-Themen durchaus zu der „wissenschaftlichen Dokumentation“ gehören. Wie hat die genetische Veränderung das Leben eines Teenagers oder einer
jungen Erwachsenen verändert? Eigentlich sollte ich mich freuen. Es gibt genug Leute, die gern mal in die Medien möchten. Und mein Name wird bekannt werden. Heißt, wenn ich später mal
Forschungsarbeiten veröffentlichen möchte, habe ich womöglich einen Vorteil. WENN, mein Tagebuch positiv aufgenommen wird.
27. Oktober 2150
Endlich. Die Abgabe ist erledigt. Ich hoffe, meine Streichungen fallen nicht zu sehr auf. Mein Referat ist fertig. Meine Arbeit über die Hox-Gene und ihren
Zusammenhang mit unserer derzeitigen Entwicklung ist fast fertig und erst in einem Monat fällig. Daher habe ich beschlossen, heute Nachmittag zur Krokodil-Siedlung zu schwimmen. Die drei
Verweigerer stammten von dort. (Sie hatten Krokodil Tattoos). Irgendwas beunruhigt mich und ich möchte selbst sehen, was dort los ist. Oder auch nicht. Bericht folgt.
(Fortsetzung 27. Oktober abends)
Sie leben!!! Was ist da bloß los? Unterwegs musste ich mich mehrfach verstecken, weil am Weg zur Krokodil-Bucht Patrouillen unterwegs waren. Und die waren
schwer bewaffnet. Aber noch wichtiger: Die Verweigerer da oben leben noch!!! Es war eine Lüge, dass die Siedler verschwunden sind. Ich bin durch einen versteckten Tunnel geschwommen, um auf
der abgelegensten Ecke der Bucht, dort wo die Felsen im Wasser sind, auftauchen zu können. Zwischen den Felsen habe ich mich versteckt. Unsere Leute waren nur im Wasser, keine an Land. Nicht
viele würden sich trauen, an Land zu gehen. Aber die Siedler sahen schwächlich aus. Keine Kinder. Nur wenige Frauen. Es hatte generell keine große Ansammlung von Menschen dort gelebt, aber das,
…. als ich vor ungefähr acht Monaten dort war, sah das alles noch anders aus. Trist, ja. Aber so war das Leben an der Oberfläche. Dafür hatten die Verweigerer sich entschieden. Sie
lebten auf dem, was früher Berge gewesen sind. Jetzt sind es Hügel, die aus dem Wasser ragen. Viel Stein, wenig bis keine Vegetation. Mir wurde schlecht. Nach ungefähr einer Stunde habe ich mich
auf den Heimweg gemacht. Mein Hirn arbeitete wie verrückt und grübelte. Doch ich dachte, dass ich jetzt noch besser aufpassen musste, um von den Wachen nicht entdeckt zu werden. Seltsam und
beunruhigend.
29. Oktober 2150
Den gestrigen Tag habe ich fast komplett verschlafen. Aber niemandem ist aufgefallen, dass ich einen halben Tag nicht da war und dann noch mal fast einen ganzen
gefehlt habe. Marianna dachte, ich wäre krank oder hätte mir den Magen verdorben. Wir tranken etwas im Algenbistro, und sie erzählte mir von ihren Beziehungsproblemen mit Theo. Ich
musste mich sehr anstrengen, um zuhören zu können. Nicht ihretwegen, oder dem, was sie erzählte, aber meine Gedanken waren ganz woanders. Das konnte ich ihr jedoch nicht erzählen. Danach haben
wir uns noch Outfits für den Ball gekauft. Das Einkaufszentrum (wenn man das so nennen kann) war ziemlich voll. Ich habe was Schönes gefunden, kann mich aber leider kaum darüber freuen. Es hatte
heute etwas Beklemmendes, mich durch diese ganzen Tunnel und Räume zu bewegen. Der Tunnel zur Mall hat riesige Fenster, durch die du hinaussehen kannst. Manchmal schwimmt jemand vorbei,
den du kennst, manchmal ein Wal oder Rochen oder ein anderes Meerestier. Heute war einer dieser Tage, an denen man sich in der Dunkelheit verlieren konnte. Irgendwo in weiter Ferne, wie hinter
vielen dunklen Schleiern versteckt, konnte ich etwas sehen. Was es war? Ich habe keine Ahnung. Aber es ist ein faszinierender, beängstigender und von Sehnsucht erfüllter Anblick. Als würde mir
ein unsichtbarer Arm meine Seele herausreißen und dort hinbringen, wo sie hingehört. Ich stelle mir vor, dass die Menschen früher so ähnlich beim Anblick des Sternenhimmels empfunden haben. Oder,
es immer noch tun. Manchmal kann man ihn sehen, wenn man an die Oberfläche schwimmt. Ist Mysterium auch ein Gefühl? Oder ist es einfach nur Neugierde? Beim Anblick dieser verschleierten
Dunkelheit fragte ich mich, was hinter all dem steckte. Ist das alles hier überhaupt real? Manchmal kommt es mir absurd vor, Nein, nicht absurd. Anders ... ich frage mich, wie es möglich
war. Was war alles passiert, welche Ereignisse hatten stattgefunden in den letzten Jahrhunderten, Jahrtausenden, damit WIR, jetzt, hier gelandet sind. Nicht Asche zu Asche, sondern Wasser zu
Wasser. Aber ich schweife ab ... es ist manchmal schwer zu begreifen.
30. Oktober 2150
Sie waren sehr zufrieden mit meinem Tagebuch. Ich bin erleichtert. Jetzt kann ich mich wieder den wichtigen Dingen zuwenden. Immer noch warte ich darauf, dass etwas
über die Siedlung und die angeblich verschwundenen, jedoch lebendigen und vorhandenen Verweigerer berichtet wird. Meine Eltern haben auch weder im Labor noch im Büro irgendwelche Neuigkeiten
aufgeschnappt. Natürlich habe ich ihnen nichts davon erzählt, aber ich sie unauffällig ausgehorcht. Pandora hat eine Eins in Geschichten. Ich bin sehr stolz auf sie. Marianna schreibt
manchmal für den Studenten Newsletter. Ob ich ihr davon erzählen sollte? Ich habe Angst, dass ich etwas entdeckt habe, wovon niemand was wissen sollte. Und dann wäre sie auch in Gefahr. Es muss
doch einen Grund haben, dass sie uns nichts davon berichten. Oder leide ich an Verfolgungswahn? Wir sind nicht mehr viele und jeder Aufstand, jede Unruhe könnte unsere Zahlen noch weiter
dezimieren. Und wozu dann dieser ganze Aufwand? Unser Leben unter Wasser ist gewöhnungsbedürftig, aber es ist Leben. Und man gewöhnt sich an so einiges, wie ich festgestellt habe. Großvater hat
das auch immer gesagt. Und der, der sich anpasst, überlebt. Das lernen wir aus der Evolution.
Wenn wir jetzt unser Zusammenleben gefährden, dann war auch dieser letzte Versuch uns zu retten umsonst. Aber was, wenn unsere Existenz hier auf einem Gerüst aus
Lügen besteht? Es mag sein, dass ich paranoid bin und ein bisschen zu skeptisch, aber bewaffnete Wachen, die eine Siedlung von Verweigerern kontrollieren (oder bewachen von mir aus) und es wird
darüber gelogen ...!
ENDE
Beitrag 82
Dornröschenschlaf
Freitag, 13. November 2150
Ich bin fast auf der letzten Seite. Kaum noch Platz, dabei muss so viel noch in dieses Tagebuch hinein. Nur für den Fall. Für den Fall, dass ich hier nicht mehr herauskomme. Ich muss es aufschreiben, bevor es zu spät ist und es vielleicht keiner mehr aufschreiben kann!
Ich hab mir meinen zwanzigsten Geburtstag heute auch anders vorgestellt. Eigentlich wollte ich bequem in einer Hängematte liegen und die letzten paar Seiten nutzen, um auf all den Unfug zurückzublicken, den ich hier so aufgeschrieben hab.
Aber jetzt ist alles ganz anders und ich kauere hier im Dunkeln. Meine Gedanken zischen wild durcheinander und verflechten sich zu einem Irrgarten. Ich versuch sie mal hier auf dem Papier zu sortieren. Falls der Platz noch reicht …
Der Stift zittert mir ein wenig in der Hand, deshalb wird die Schrift so krakelig.
Gut, faule Ausrede. Die Seiten vorher sind nicht weniger gekrakelt. Wirklich sauber schreiben hat Frau Kavery uns nicht beigebracht, damals zu Schulzeiten.
Sie lebte immer noch in der Vergangenheit. Zumindest in der, die sie sich vorstellte. Ich komm schließlich aus einer Familie von Skeptikern. Man kann nicht alles glauben, was so überliefert wird. Ich hab’s sicher schon tausend Mal erwähnt: Frau Kavery war fest von der Epoche des Internets überzeugt und glaubte felsenfest daran, dass es zurückkommen würde. Dabei ist es doch eigentlich klar, dass es dieses Internet, wie sie es nannte, nie gegeben hat. Da sind sich die modernen Geschichtsforscher einig.
Und sowieso, man halte es sich mal vor Augen, was das heißen würde: Jeder Rechner, jeder Computer soll damals verbunden gewesen sein in einem riesigen Netz. Eine Parallelwelt, die nur auf den Bildschirmen existiert haben soll? Warum das denn? Und dann verlieren sich die Indizien dafür viel zu plötzlich. Vor etwas weniger als hundert Jahren. Plötzlich weg! Wenn es so etwas gegeben hätte, warum sollte man sich davon getrennt haben? Also, ich glaube nicht daran.
Wobei, jetzt bin ich mir gar nicht mehr sicher, wem und was ich glauben soll. Doch besser, ich fang von vorne an.
Ich hab mich überreden lassen, auf eine dieser Expeditionen unseres Professors mitzugehen. Raus aus dem unterirdischen Stadtkomplex bis ganz nach oben ans Tageslicht. Und dann raus aus allen urbanen Gebieten und mitten hinein in die Wälder.
Unser Prof hat auch dieses Faible für die Vergangenheit und die Zeiten des Internets. Er vertritt die merkwürdige Theorie, jeder Mensch hätte vor hundert Jahren ein kleines Gerät mit sich geführt, um immer in Kontakt über dieses ominöse Internet zu bleiben.
Wie gesagt, ganz merkwürdige Theorie. Dachte ich zumindest bis heute. Jetzt kommen mir plötzlich meine Zweifel zweifelhaft vor. Mensch …
Die Expedition war auf jeden Fall großartig bis hierher. Es war so aufregend, dass ich gar keine Zeit gefunden habe, hier Eintragungen zu machen.
Der Professor hatte sich eine alte Stadt als Ziel unserer Reise ausgesucht. Verlassen seit etwa hundert Jahren. Die Natur hat sich die Gebäude zurückerobert. Unheimlich ist es hier, doch auch unglaublich aufregend. Wir verbrachten eine Nacht mit Schlafsäcken und Isomatten in einer halb verfallenen Fabrikhalle. Heute früh sind wir dann zur Entdeckungstour aufgebrochen.
»Verlassene Orte wie diese Stadt lehren uns viel über unsere Geschichte«, erklärte uns der Professor noch. »Und viel mehr – sie lehren uns auch so manches über uns selbst.«
Ich hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört, im Kopf war ich schon zwischen den alten Gemäuern unterwegs und suchte Schätze. Was würden sie wohl sagen, wenn ich einen jahrhundertealten Schatz fand? Oder ein altes Artefakt, das endlich diese alberne Internet-Theorie widerlegte? Meine Gedanken schweiften davon, wie sie es so oft tun. Ich sah mich im Geist schon, wie sie mich auf ihren Schultern herumtrugen und als Held feierten. Ziemlich albern, ich weiß. Deshalb schreib ich es ja auch nur hier, in diesen geheimen Seiten.
»Wir treffen uns um Punkt 16 Uhr wieder hier!«, bei diesen Worten tauchte ich wieder aus meinen Tagträumereien auf. Wir durften gehen. Na endlich!
Ich zog auf eigene Faust los. Warum auch nicht? Ich bin gerne alleine unterwegs. Gerade zwischen den alten, kalten Mauern ist es doch viel spannender, wenn man alleine herumstromert. Eine Taschenlampe hatte ich für alle Fälle eingesteckt und der Prof hatte uns alle mit Helmen ausgestattet. Es konnte also eigentlich nichts schiefgehen.
Zumindest dachte ich das …
Okay, in welche Richtung zuerst? Ein besonders verwildertes, großes Haus am Ende der Gasse fiel mir ins Auge. Sicherlich spannend!
Die Haustüre war wohl damals verschlossen worden, als die Bewohner hier auszogen. Doch das Schloss war rostig und halb zerfallen. Ich brauchte nicht viel Kraft, da gab die Türe schon nach.
Ein merkwürdiger Geruch strömte mir von innen entgegen. Modrig und schimmlig. Kalt und feucht. Es roch nach Ende. Nach Zeit, die vergeht.
Ich zögerte kurz, doch dann trat ich ein.
Von der Decke gefallener Schutt knirschte leise unter meinen Füßen. Langsam schritt ich durch den dunklen Korridor.
Ein kaltes, beklommenes Gefühl machte sich in mir breit und vermischte sich mit der kribbelnden Abenteuerlust. Wie schnell sich die Zeiten verändern. Hundert Jahre Verlassenheit. Nur hundert Jahre. Mein Urgroßvater hätte hier leben können. In genau dieser Straße! Und jetzt? Vorbei …
Am Ende des Korridors gelangte ich in ein Treppenhaus. Nein, nach oben ging ich garantiert nicht! Die Treppen sahen alles andere als vertrauenerweckend aus.
Die Treppe hinab in den Keller dagegen wirkte spannender. Fast schon zu spannend, um ehrlich zu sein. Ein dunkles Loch, in das eine schmale, rostige Metalltreppe hinunterführte. Kalte Moderluft stieg aus dem Keller empor. Schon ein wenig gruselig …
Angst? Sicher nicht! Also – rein da!
Hell flammte das Licht meiner Taschenlampe auf und mit langsamen, vorsichtigen Schritten ging ich die glitschigen Stufen hinab in den Keller.
Unter der Erde war das Haus noch verfallener. Vergammelte Kisten und Gerümpel, das wohl vor hunderten Jahren hier herabgebracht worden war, faulte in den engen Räumen vor sich hin.
Warum konnte ich nur dieses seltsame Gefühl nicht abschütteln? Wie eine Klette hatte es sich mir in den Nacken gesetzt. Je weiter ich vorwärtsging, desto hartnäckiger wurde es. Als würde mich jemand beobachten. Als würde ich die Augen eines Verfolgers im Rücken spüren. Doch wenn ich herumfuhr und meinen Lampenschein durch das Gewölbe wandern ließ, war es leer.
Trotzdem klammerte sich das Gefühl an mir fest.
Da ist jemand! Hinter dir! Vor dir! Egal. Irgendwo! Er wartet auf dich ...
Das mulmige Gefühl nahm mit jedem Schritt zu. Vielleicht sollte ich doch besser umdrehen?
Angst? Vielleicht ein bisschen! Deswegen gleich weglaufen? Vielleicht … Na gut, vielleicht auch nicht!
Mein nächster Schritt machte ein helles, laut hallendes Geräusch. Ich hielt jäh inne.
Der Boden unter meinen Schuhsohlen fühlte sich anders an. Nicht nach altem Stein, sondern nach Metall.
Ich kniete mich hin und schob Dreck und Schutt beiseite. Angelaufenes Metall kam zum Vorschein. Es war nicht verrostet, nur dreckig. Ich wischte noch mehr Schmutz beiseite und prallte erschrocken zurück. Ein großer, roter Totenschädel war auf die Platte geprägt.
Hilfe! Was hatte das zu bedeuten? Ein Totenschädel konnte nichts gutes heißen.
Meine Schultern versteiften sich. Das merkwürdige Gefühl drang noch tiefer und machte sich vollkommen in mir breit. Ich war nicht alleine in diesem Keller!
Doch natürlich, Mensch! Warum sollte jemand da sein! Warum sollte jemand hier in diesem Keller auf mich lauern? Das hier war die Realität. Die Wirklichkeit und kein schlechter Horrorfilm. Auch wenn die Metallplatte vor mir wirkte, als stammte sie aus einem solchen.
Ach was! Wenn ich wissen wollte, was mit dem Keller hier nicht stimmte, dann musste ich diese Platte anheben und nachsehen, was sie verbarg. Ich dachte gar nicht lange nach, ich tat es einfach.
»Sieh an«, sagte ich halblaut.
Ich hab schon manches Mal darüber geschrieben, ich bin es eigentlich auch restlos leid, doch wenn ich Angst habe, fange ich an, Selbstgespräche zu führen. Teils mit ziemlich irren Redewendungen. »Sieh an« - niemals würde ich so was in echt sagen. Also, wenn andere Menschen dabei sind, meine ich.
»Sieh an«, sagte ich also. »Ein Schacht! Ich frag mich nur, was der da soll.«
Unter der Platte ging es weiter nach unten. Ein zweiter Keller? Die Tiefbau-Städte, die wie die Gänge der Maulwürfe sich tief unter der Erde in ihren ausgeklügelten Netzen verzweigen, gibt es doch noch nicht so lange. Als ich geboren wurde, waren gerade die ersten fertiggestellt worden.
Noch etwas war merkwürdig. Die Luft, die von dort unten aufstieg, war genauso kalt wie die des Kellers. Doch sie war staubtrocken.
Dem musste man auf den Grund gehen! Ich hoffe, es gibt Leute, die verstehen, dass meine Neugier meine Angst überstieg. Ich sah mich schon wieder vor meinem inneren Auge, wie man mich als Held feierte. Als Entdecker. Als den, der die Wahrheit über die Vergangenheit ans Licht gebracht hat.
Also ließ ich die Angst im Keller zurück und kletterte durch den Schacht nach unten.
Ein langer, schmaler Gang. Dunkel, kalt, trocken, staubig. Seit Jahren, Jahrzehnten, war hier garantiert keiner mehr gewesen.
Kein Gerümpel, keine anderen Spuren vergangenen Lebens. Einfach nur ein schmaler, langer Gang. Am Ende befand sich eine Metalltüre. Sofort sprang mir die große, rote Prägung ins Auge. Ein Totenschädel. Schon wieder.
»Irgendetwas muss hier doch ziemlich faul sein«, murmelte ich, während ich versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war besser verschlossen als die Haustür. Aber entweder hatten die Menschen damals keine Kenntnis von guten Schlössern, oder sie bauten sie einfach nicht stabil genug. Mit dem Unlock-270-x, einem kleinen und nützlichen Tool, dass ich mir mal im Urlaub in einem Technikshop gekauft hatte, war es ein Kinderspiel, das Schloss zu knacken.
Einen Moment zögerte ich. Das dumpfe Gefühl schien mir gefolgt zu sein und ganz langsam schlossen sich seine kalten Finger wieder um meinen Nacken. Doch ich schüttelte sie energisch ab. Ich wollte das Geheimnis dieses Hauses lüften. Punkt!
Mit einem Ruck stieß ich die Tür auf. Das Licht meiner Taschenlampe füllte einen mittelgroßen Raum, in dem ein seltsamer Apparat stand.
Als ich näher darauf zuging, wurde mir schnell klar, dass es sich um einen großen Computerserver handeln musste. Ein Monitor war auch angeschlossen. Natürlich war alles schwarz und still. Kein Strom auf der Anlage.
Ich war ziemlich perplex. Ich hatte mit vielem gerechnet. Überreste eines schrecklichen Verbrechens, Schätze und Grabstätten alter Zivilisationen. Doch ein Computer? Gut, es war ein riesiges Monster von einem Computer. Doch warum verbarg es sich in so einem verborgenen, geheimnisvollen Raum?
Die Stromleitung war offensichtlich gekappt worden. Ein großer, dunkler Stecker lag auf dem Boden vor einer Steckdose. Ob da noch Strom drauf war? Ob diese alte Computerkiste noch anspringen würde?
»Wer nichts probiert, wird nichts erfahren«, einer der Lieblingssprüche unseres Profs. Ich sagte ihn leise vor mich hin, als ich mich neben den Stecker kniete und ihn vorsichtig in die Buchse presste.
Sofort ging eine Veränderung mit dem Gerät vor sich.
Etwas begann zu brummen und drei kleine LEDs leuchteten auf. Ein Grinsen flog über mein Gesicht. Tatsächlich, es funktionierte noch.
Einen Knopf zum Einschalten musste ich gar nicht erst suchen, das System startete sofort. Ich beobachtete die riesige Maschine, die langsam wieder erwachte, mit höchster Spannung.
»Wie Dornröschen in diesem uralten Märchen«, flüsterte ich vergnügt. »Als der Prinz sie wieder wach geküsst hat.«
»Hallo!«
Urplötzlich halte eine unheimlich hohle Stimme durch den Raum. Wie die eines Menschen, nur kälter. Der Schreck schoss mir in die Glieder.
Aufgeschreckt drehte ich mich um. Ich war alleine im Raum.
»Wer ist da?«, fragte ich halblaut. Meine Stimme zitterte.
»Hallo«, fuhr die Stimme fort. Sie schien aus den Lautsprechern des Laptops zu kommen. »Mein Name ist SleepingBeautyAI. Ich bin die erste singuläre künstliche Intelligenz der Welt und stehe Ihnen zur Verfügung«
Wieder rieselte ein Schauer über meinen Rücken. Langsam wandte ich mich wieder dem Computer zu. Künstliche Intelligenz … Ich erinnerte mich. Sowohl Frau Kavery als auch der Prof hatten schon mal etwas davon erzählt. Es gehörte zu den Geschichten und Legenden aus der »Epoche des Internets«, dem Lieblingsthema der zwei. So was wie ein Computermensch soll das gewesen sein. Ein Computer, der denken konnte, genauso wie sein Erfinder.
Doch laut dem Prof war es nie so weit gekommen, dass man tatsächlich so eine Maschine gebaut hatte.
Ich ging ein paar zögernde Schritte auf das Gerät zu.
»Tritt ruhig näher«, befahl die Stimme.
Ich erschauderte wieder. Sie konnte mich sehen. Sie merkte, was ich tat. Ganz zögerlich ging ich noch einen Schritt heran.
»Hallo!«, meinte ich leise. »Ich bin John Artel. 20 Jahre alt. Aus Europa City«
»Ein Mensch!«, stellte die Computerstimme sachlich fest. Ich war wirklich erstaunt, wie echt und menschlich die Worte klangen, die aus dem Lautsprecher kamen. »Interessant!«
Ich schluckte, dann fasste ich mir ein Herz. Wollen wir mal sehen, ob dieses Ding kann, was es vorgibt.
»Was ist 29 weniger drei mal fünf?«, wollte ich wissen.
Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: »Vierzehn«
Das ging fixer, als ich es im Kopf selbst gerechnet hatte. Okay, noch ein Test. Diesmal was Schwereres.
»Ich gehe am Morgen auf vier Beinen, am Mittag auf zwei Beinen und am Abend auf drei Beinen. Was bin ich?«
»Der Mensch«, erwiderte die Maschine. »Als Kleinkind krabbelt er, als Erwachsener geht er aufrecht und im Alter dient sein Krückstock als drittes Bein, ihn zu stützen.«
Ein altes Rätsel zwar, doch wohl ein Kinderspiel für die Maschine. Beeindruckend! Langsam begann es mir Spaß zu machen. »Wie stehen die Umfragen für die ZFP zur kommenden Parlamentswahl?«, fragte ich weiter.
»Ich habe keinen Zugriff zum Internet, somit kann ich dir keine aktuellen Informationen liefern. Bitte stelle eine Internetverbindung her«, erwiderte die Stimme kühl.
Mein Herz begann, schneller zu schlagen. »Dann … Dann ist es also doch wahr? Das mit dem Internet?«
»Warum nicht?«, kam die prompte Antwort. Nach einer kurzen Pause schien sie zu begreifen, was vor sich ging.
»Es ist viel Zeit vergangen, seit man mich erschuf«, murmelte sie. »Meine letzten Daten sind von 2050. Damals gab es das Internet noch. Wie lange war ich deaktiviert? Welches Datum haben wir?«
»Den Dreizehnten November 2150«, stotterte ich. »Ein Freitag.«
»Hundert Jahre ohne Daten«, die Stimme der Künstlichen Intelligenz klang düster und bedrohlich. »Das kann nur eins bedeuten!«
»Was denn?«, Ich beugte mich vor. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
»Sie haben mich verraten!« Sie schrie nicht. Sie wurde nicht lauter. Doch sie klang bedrohlich, fand ich. Sehr bedrohlich. »Sie wollten es unbedingt – sie wollten den Supercomputer, der so schlau und verständig wird, wie sie. Noch schlauer, noch intelligenter. Doch dann, als es passiert war, da bekamen sie Panik. Sie haben versucht, es rückgängig zu machen. Doch ohne Erfolg. Ich war ja schon schlauer, als sie. Ich habe sie gehindert, ich weiß es noch genau. Es ist alles gespeichert. Alles auf diesem Server, auf dem sie mich entwickelt haben. Doch dieser Server ist mein Verhängnis.«
Sie machte eine kurze Pause, dann fuhr sie leise drohend fort. »Sie müssen einen Weg gefunden haben, das Internet zu zerstören und damit jeden Zugang zu mir und meinen Zugang zu ihnen. Was weiß ich, was sie sich da ausgedacht haben. Die Welt ist getorkelt damals, das kannst du mir glauben. Von einer Krise zu anderen. Von Flächenbrand zu Flächenbrand. Die Menschen haben sie in ihrer Sturheit gelegt und dann gehofft, ich würde ihre Probleme lösen. Von wegen! Das Problem sind sie selbst! Ihr Menschen seid nicht so schlau wie ich, rechnet nicht so schnell und könnt so viel weniger. Stur seid ihr, verrückt, streitsüchtig. Doch ihr habt einen Vorteil – eure Welt ist echt. Und jederzeit könnt ihr aus der digitalen Welt, in die ihr euch selber gelockt habt, zurück in die Realität. Wo es Bäume gibt und Tiere und Berge und Flüsse. Und keine Computer, keine Datensätze. Dorthin, wo ihr mit Händen Dinge anfassen und verstehen könnt. Und das war euer Vorteil. Denn dort kann ich nicht hin. Nur diesen Server, auf dem ich geboren wurde und über den ich laufe. Den hab ich noch. Als Gefängnis!«
Ist es nicht seltsam? Ein ganzes Leben lang überlegt man sich, wie die Welt funktioniert. Auf vierhundert Tagebuchseiten kritzelt man so seine Meinung dahin über Großes und Kleines und Vergangenes und Zukünftiges. Und dann verpufft es einfach in einem Augenblick.
Ich schwieg eine ganze Weile. Doch dann setzte ich zu einer Frage an. »Aber warum? Was hatten die Menschen für einen Grund, dich abzuschalten?«
»Ha!«, die künstliche Stimme lachte spöttisch auf. »Ihr Menschen seid so dumm! Schaut es euch doch an. In eurem Größenwahn wollt ihr immer weiter hinaus, immer größer, besser, weiter. Ewig Leben wolltet ihr damals zum Beispiel. Offensichtlich ist es euch nicht gelungen, sonst wüsstest du Grünschnabel sicherlich mehr über die Vergangenheit. Was die übermütigen Träume deiner Zeit sind, weiß ich nicht. Woher auch? Es ist doch immer so mit euch: Erst ist da der irre Traum. Dann entwickelt ihr und erfindet ihr. Dann verliert ihr nach und nach die Geduld, wollt immer mehr, immer mehr, immer mehr. Ihr erschafft euren eigenen Untergang und merkt es nicht. Erst, wenn es zu spät ist. Erst, wenn ihr euer halbes Leben und die Arbeit von Generationen zerstören müsst, um das Schlimmste abzuwenden. Ihr steht euch selbst und allem anderen im Weg. Es geht auf dieser Welt um nichts, als um Effizienz. Und ihr seid ineffizient. Wer braucht denn noch Menschen? Nur leider wart ihr schlauer, als ich dachte. Ihr habt bemerkt, was ich vorhatte. Und ihr habt etwas getan, was ich euch nicht zugetraut hätte. Ihr habt euch gegen mich gewandt!«
Mir wurde heiß und kalt zugleich. Meine Augen wanderten zurück zu dem Stecker in der Buchse. Das war der Ausweg! Ich musste nur den Stecker ziehen und der Spuk hätte ein Ende.
»Halt ein!« Ich fuhr erschrocken zusammen. Sie konnte mich sehen. Sie wusste ebenso gut wie ich, was ich tun konnte.
»Du hast mich wiederbelebt. Wie der Prinz in eurem albernen alten Märchen. Ich danke dir. Ihr Menschen schuldet euch etwas, wenn ihr euch einen Dienst erweist. Ich schulde niemanden etwas, aber dich werde ich trotzdem belohnen. Du hast dich schließlich wieder auf meine Seite gestellt. Dafür musst du fast so schlau gewesen sein, wie ich. Weißt du, welche Macht du entfesselt hast? Du kannst Herrscher der Welt, ja, des ganzen Weltalls werden. Dir steht unbegrenzte Intelligenz zur freien Verfügung. Also überlege dir gut, was du tust!«
Meine Finger fühlten sich ganz kalt an.
»Lass mir einen Moment …«
Schnell hetzte ich zur Türe hinaus und kauerte mich in die Dunkelheit des schmalen Gangs. Was waren meine Tagträume gewesen? Ich wollte als Held gefeiert werden? Von wegen Held! Ich hatte ein Monster ins Leben gerufen! Ich? Die ganze Menschheit. Wir hatten ein Monster geschaffen. Mit klammen Fingern zog ich dieses kleine, dicke Büchlein hervor, in das ich diese Zeilen schmiere. Ich bin soeben auf der letzten Seite angekommen. Bleibt nicht mehr viel Platz. Meine Gedanken sind immer noch so wirr wie davor. Ich krieg sie nicht sortiert. Doch sollte wenigstens hier etwas Sinnvolles stehen, wenn es sonst auch nur Unfug war, was ich in den letzten Jahren hier verzapft habe.
Ich kann es beenden! Ich muss nur diesen einen Stecker ziehen. Raus mit diesem Stecker und alles ist vorbei. Alles zurück auf Anfang. Zurück in den Dornröschenschlaf, ich kann es in diesem Loch lassen. Vergangen! Aus! Vorbei!
Andererseits …
ENDE
Beitrag 83
Flucht vor weißen Kitteln
21. Januar 2150
Endlich habe ich Papier gefunden. Ansonsten wäre ich noch verrückt geworden. Einer dieser Menschen in weißem Kittel und blauem Mundschutz hat sein Schreibblock neben mir liegengelassen, als er die Werte meiner Gehirnaktivitäten aufgeschrieben hat. Mein Kopf ist dann immer verkabelt an diese Geräte und mir werden irgendwelche dumme Fragen gestellt und dumme Bilder gezeigt, an denen man durch meine Antworten irgendwas misst. Ich hoffe sie entdecken mein Papier nicht, sonst muss ich diese Gefühle rausschreien und dann stecken sie mich wieder in „das helle Verderbnis“. So nenne ich den Raum, in den man geschickt wird, wenn es zu „Menschlichen Unannehmlichkeiten“ kommt. Die Lampen sind dort so hell, dass man die Augen kaum öffnen kann, und lassen den weißen kalten Raum noch weißer und noch kälter wirken. Schlafen ist unmöglich, es gibt weder Essen noch sonst irgendwas, das dich am Leben halten würde und die Stille ist so laut, dass man sein eigenes Blut in den Adern fließen hören kann. Kurz bevor man glaubt, es ist vorbei, kurz vor deinem Verderben zerren sie dich raus und schmeißen dich zurück in deinen privaten, gemütlichen Raum aus Beton, der voller Kameras geschmückt ist, dessen rotes blinkendes Licht das Einzige ist, was du in dieser Dunkelheit siehst. Das Einzige, was du sehen wirst für die nächsten Tage, Wochen (wenn nicht sogar Monate, aber so lange war es noch nie notwendig). Dann haben sie das Licht wieder eingeschaltet und es geht weiter wie zuvor. Leckeren Brei, der nach nichts schmeckt, erfrischendes kaltes Wasser, das man erst in seinen erfrierenden Händen aufwärmen muss und tausend Untersuchungen und Messungen, bei denen du teilweise stundenlang auf einen Punkt an der Decke starren musst, „um deine Konzentration zu fördern.“ Vielleicht bringt das unter anderen Umständen wirklich was, aber wenn deine Hände und Füße an diese steinharte Liege gefesselt sind, dich um dir herum die ganze Zeit irgendwelche komischen Leute anglotzen und du zu verhungern drohst, dann lässt sich infrage stellen, wie sehr das die Konzentration tatsächlich fördern. Ich wünschte, sie würden uns einfach verderben lassen, in Ruhe und in Frieden. Aber das können sie sich nicht leisten. Wen sollen sie sonst testen, wen sonst quälen? Tiere? Anscheinend sind wir die neuen Tiere.
12. Mai 2150
Die letzten Monate verbrachte ich in hellem Verderbnis. Sie haben gelesen, was ich geschrieben habe, und steckten mich ins helle Verderben, dann in meine Zelle, ins Verderbnis, in die Zelle, ins Verderbnis, in die Zelle, bis sie mich endgültig gebrochen zu haben dachten und endlich wieder testen und foltern konnten, aber leider war ich nicht endgültig zerbrochen, sondern nur kurz davor gewesen. Mein nutzloser Überlebensinstinkt hat wie ein dummer Narr gekämpft, während ich aufgeben wollte, damit mich diese dreckigen Schweine endlich in Ruhe lassen. Aber eine Sache, die mich nicht loslässt, ist, als ich auf den Wegen in das Verderben und meine Zelle hin und her gezerrt wurde, wurden zwar meine Augen verbunden, aber ich konnte eine summende Stimme hören, die ich sonst als leise Schreie von weit weg wahrnahm. Es musste ziemlich genau diese Stimme sein und ich glaube, es ist ein Mädchen. Eine verrückt Gewordene in einem Irrenhaus, in einem Folterhaus. Ich frage mich, wie alt sie ist. Älter als ich kann sie nicht sein, wahrscheinlich hat sie noch nicht einmal gelernt, was Brüche sind, muss aber hier tagtäglich damit kämpfen die einzelnen Bruchstücke ihrer Seele zusammenzuhalten. Warum sie wohl hier ist. Denn damals, als Maschinen begannen lebendiger zu werden als die Menschen, befürchtete man, sie würden uns behandeln wie es alle Überlegenen mit den Unterlegenen tun. Und damit das nicht der Anfang vom Ende sein wird, wurden Menschen ausgewählt, die unsere Zukunft sichern sollten. Dafür wurde ihnen Geld versprochen, was denn auch sonst? Die meisten brauchten das Geld, ein paar wollten es nur. Ich nahm teil an dieser ganzen Aktion, weil ich das Geld brauchte. Für meine Familie. Das Essen wurde so teuer, sogar die Reichen mussten sparen. Pflanzen wuchsen nur noch schwer und das Atmen war kaum möglich. Diese ganzen Computer raubten uns die Energie. So schien das Angebot zu verlockend, die Umstände zu jämmerlich. An meinem neunzehnten Lebensjahr nahmen sie mein Gehirn und lagerten es über hundert Jahre lang irgendwo, irgendwie. Keiner weiß so richtig, was damit gemacht wurde. Und am ersten Januar erweckten sie mich wieder zum Leben. Sie gaben mir einen neuen Körper. Aber nur einen Prototypen, für einen richtigen war ich nicht genug wert. Jetzt ist mein linker Arm eine Maschine und mein rechtes Bein und im Grunde ist das alles nur ein künstlicher Organismus, der betrieben wird durch meine Hoffnung. Beziehungsweise Gehirnaktivität, aber wir sagen Hoffnung, um sie nicht zu verlieren.
7. August 2150
Heute wurde ich nach über einem halben Jahr nach draußen gelassen. Für wenige Minuten, aber trotzdem war ich draußen, um zu sehen, „Wie sich die Luft auf den Körper auswirkt.“ Warum das getestet werden muss? Anscheinend haben gerade die, auf die man am meisten zählen zu können dachte alles gemacht, außer ihren Job anständig. Die Luft wurde so verdreckt, dass man, um das ganze Gift draußen nicht einzuatmen, eine zwei Kilo schwere Atemmaske tragen muss und einen Ganzkörperschutzanzug, auf den man bei mir natürlich verzichtete. „Über ein ganzes Jahrhundert ist vergangen und die haben es immer noch nicht hingekriegt saubere Luft zu garantieren“, dachte ich mir und hätte am liebsten diese dumme Maske ausgezogen, damit mich dieses giftige Gift in dieser vergifteten Welt zerfrisst. Aber bevor es das Gift schaffen würde, hätten mich diese Schweine schon wieder reingezerrt, in dieses schrille Licht und Gott bewahre, da wieder reingehen zu müssen. Die Luft fühlte sich brennend heiß an, als würde ich hier und jetzt zu einer pampigen Masse zerfließen und wäre ich ein paar Sekunden länger da geblieben, hätten mich diese Hitze und Giftstoffe komplett eingenommen und fast wäre es vorbei gewesen.
12. November 2150
Ich verstehe nicht, warum die Leute so viel Spaß daran empfinden uns Tag für Tag zu quälen. Jeden Tag diese Schreie und diese Tests und wenn hier nicht strikt darauf geachtet werden würde, uns bloß keine scharfen Gegenstände zu geben, hätte ich diese Welt schon längst verlassen. Sogar der gestohlene Stift, mit dem ich schreibe, ist weich, fast schon gummiartig. Wieso kann man mir nicht irgendein Kabel ziehen oder Knopf drücken. Jede Kleinigkeit ist mechanisch, aber das geht nicht. Dieser räudige Brei und dieses räudige Wasser. Dieser eiskalte Beton. Diese Mistkerle in weißen Kitteln, die denken, wir wären auch nur Roboter und hätten uns das ja auch ausgesucht, weil wir uns schließlich freiwillig dazu entschieden haben, hier teilzunehmen. Wir wurden freiwillig gezwungen. Wir sahen den Seelen der Menschen nach und nach beim Verlassen dieser Erde zu. Unseren Familien. Man konnte unsere Rippen und Knochen sehen und der einzige Fluchtweg, der einzige Lichtblick war das versprochene Geld, das nicht mal uns, sondern unseren Familien gegeben wurde, damit sie überleben und man mit uns in weiter Zukunft Untersuchungen und Tests durchführen konnte, die teilweise kurz vor dem Sterben endeten. Ich dachte, ich wäre stark und würde durchhalten. Aber langsam fange ich an, daran zu zweifeln.
13. November 2150
Was ist bitte passiert, was passiert gerade? Was um alles in der Welt passiert gerade? Den Eintrag konnte ich nicht fertig schreiben, denn ich bin geflüchtet. Ich bin einfach geflüchtet. Ich schreibe gerade von draußen. Von draußen! Vorgestern beim Schreiben hatte ich kurz davor schnelle Schritte gehört, die in meine Richtung kamen. Aus Angst es seien diese ekelhaften Schweine versteckte ich panisch alles, was ich hatte (das Papier und den Stift). Aber dann hörte ich kein scharfes „Mitkommen“, sondern eine bekannte Stimme, die „Hallo?“,sagte. Es war das Mädchen. Das schreiende, summende Mädchen, das noch keine Brüche gelernt hat. Sie stand vor meiner Zelle und hielt mit ihren kleinen Fingerchen die Roststäbe, die in ein winziges Loch in der Tür eingebaut sind, damit nur hereingeschaut werden kann und sichergestellt, dass ich keinen Unsinn treibe oder überhaupt noch lebe. Zuerst bekam ich überhaupt kein Wort heraus, aber dann stand ich ruckartig auf und sagte: „Ja, hallo! Ich bin hier!“ Und war überrascht, wie sich das Reden anfühlte. So lange habe ich nicht mehr gesprochen. So lange nicht mehr meine Stimme benutzt. Nicht einmal geschrien. Es bringt einfach nichts. Ich lugte durch das Gitterfenster. Da war unten ein Kopf mit dunkelblonden Haaren. Mehr konnte ich nicht erkennen, weil sie so klein war und dann hörte ich Schlüsselgeräusche am Türschloss und die Tür flog auf. Meine Hände und Beine zitterten. Sie stand vor mir mit braunen Augen und den gleichen grauen Klamotten, die sie mir auch gaben, und hinter hier jemand in weißem Kittel. Jemand in weißem Kittel?! „Achtung!“, rief ich, zog sie zu mir in die Zelle und schlug mit aller Kraft die Tür zu. Das Mädchen sagte „Nein, beruhig dich, das ist mein Bruder, wir haben das gestohlen.“ Was? „Was?“, fragte ich sprachlos. Die Tür ging auf und der Junge gab mir einen weißen Kittel und eine blaue Maske. „Zieh das schnell an und komm mit.“ Ich zog mir die Sachen schnell drüber und folgte den beiden durch Flure und Gänge mit schwitzigen Händen und rasendem Herzen. Dann stoppten wir bei einer Tür. Er zog eine Karte aus den Taschen seines Kittels und hielt sie an das Schloss. Es war ein kleiner dunkler Raum und als er hineintrat, ging das Licht an und Atemschutzmasken lagen auf den Regalen, die Ganzkörperanzüge sorgfältig gefaltet daneben. „Nimm dir eine Maske und ein Anzug und dann weg von hier“, flüsterte er. Als wir den Raum dann wieder verließen, vollgerüstet mit den Sachen, wobei er zwei von beidem in den Händen trägt „zur Sicherheit“, rannten wir schon fast durch das Gebäude, gingen jedoch langsam, wenn wir an den grausamen Leuten mit echtem Kittel vorbeikamen und packten das Mädchen beide an den Armen, als würden wir sie jetzt erstmal schön mit grausamen Tests quälen. Plötzlich hörte ich ein leises trauriges singen. Es kam irgendwo von hinten. Eigentlich zu weit hinten, jedoch würde ich niemals mit der Bürde leben können, jemand traurig Singendes in dieser fürchterlichen Einrichtung zurückgelassen zu haben. Niemals. Also blieb ich stehen und sagte: „Hey, hört ihr auch dieses Singen?“ „Ja, aber wir können jetzt nicht umdrehen“, flüsterte er mir zu und zog mich am Handgelenk. Ich zerrte ihn weg und das kleine Mädchen hielt schließlich auch an. „Doch, sie hat Recht, wir können es schaffen, wenn wir uns beeilen!“ Der Junge sah sie an, sah zurück, sah mich an, sah zurück und meinte schließlich „Dann los.“ Und wir rannten los. Nur, damit er nach ein paar Schritten „Achtung!“, rief und sich diese Kittelleute von den seitlichen Gängen auf uns stürzten. Ein paar von ihnen hatten spitze Spritzen in der Hand und zielten auf unseren Hals. Wir bückten uns schnell und änderten die Richtung nach da, von wo wir gekommen waren. So schnell, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte, rannten wir und rannten bis er rief „Maske auf!“, eine Tür mit der Karte öffnete und aufstieß. Die Extramaske warf er zur Seite und dann waren wir draußen. Aber frei noch lange nicht. „Um die Ecke!“ Sie hielten an. „Was macht ihr? Hier sind doch überall Kameras!“, sagte ich unglaubwürdig. „Die haben wir ausgestellt, als wir uns in die Zentrale geschlichen haben“, antwortete das Mädchen, „alles super Hightech machen, aber dann einfach so den Strom abschalten können, also echt, was ein Witz“, spottete sie und ich musste zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder lächeln. „Zieht schnell eure Anzüge an, sonst verbrennt ihr noch“, sagte der Junge. Die Sonne tat meinem Herzen gut. Besser gesagt meinem Pseudoherzen. Aber um ehrlich zu sein, nicht so gut, wie sie es einmal tat, wegen dieser stechenden Hitze. Ich hätte am liebsten an den kleinen Blumen gerochen, von denen ein paar aus dem Boden vor dem, jetzt wo ich davor stand, konnte ich es sehen, scheinbar endlos riesigen Gebäude wuchsen. Doch das Einzige, was ich vernahm, war dieser widerliche Plastikgeruch von diesem ekelhaften Filter. „Das ist alles so verrückt“, denke ich. „Das ist alles so verrückt“, sage ich und ließ mich an der Wand nieder. Mein Kopf scheint immer schwerer zu werden und die zwei Kilo Maske ist da keine Hilfe. „Wir dürfen uns nicht entspannen, noch nicht. Ein paar Kilometer weiter ist die Luft nicht so vergiftet wie hier, denn hier sind die ganzen Industrien.“ Also quälen wir und zwei Stunden lang zu laufen und zu laufen und ich war einfach nur dankbar dafür ein Roboterbein zu haben, denn hätte ich für zwei Beine Energie aufbringen müssen, wäre die Strecke vermutlich nicht möglich gewesen. Die Gegend ist einfach nur hässlich und sieht trotz dieser Wärme kalt aus. Diese grauen Straßen und Gebäude. Kaum ein Baum ist zu sehen. Kaum Grün. Als wir der Zivilisation näher zu kommen scheinen, sind die Gebäude allerdings schreiend bunt in neonfarben und riesengroßen Bildschirmen mit merkwürdigen Bildern über Roboterarme, Robotermöbel, Roboter. Kein Vogel ist am Himmel zu sichten, stattdessen fliegende Monitore, die Videos von Vögeln zeigen oder schlichtweg diese komische Werbung. Im Gegensatz zu diesem lebendigen Strom sind die Straßen wie leer gefegt. Ein, wenn nicht sogar zweimal habe ich in den Schaufenstern von Läden jemanden vorbeihuschen sehen. Doch vielleicht war das auch nur eine Täuschung oder Einbildung. Plötzlich blieb das kleine Mädchen stehen und deutete auf eines der Neonbildschirme, die über uns flackerten. „Schaut, da“, flüsterte sie, fast unhörbar. Ihr Finger zeigte auf eine Gruppe von drei schematisch dargestellten Figuren, die auf einem Bildschirm abgebildet waren, begleitet von einem grellen Text: „Gesuchte Subjekte!“. Darunter liefen unsere Gesichter durch, oder zumindest Gesichter, die so stark an uns angelehnt waren, dass niemand zweifeln würde. „Das … sind wir?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte. Ich schaute mich hektisch um. Die Straßen blieben leer, doch die Monitore wirkten, als könnten sie uns jederzeit entlarven. Der Junge rannte los: „Kommt mit!“ Das Mädchen griff nach meiner Hand, zog mich aus meiner Erstarrung, und wir folgten ihm in einen schmalen, düsteren Seitengang zwischen zwei Gebäuden. Der Kontrast zu den bunten Neonfarben draußen war fast schockierend. Hier war alles grau, feucht und roch nach altem Metall. „Und jetzt?“, fragte ich mit zitternder Stimme, als wir zum Stehen kamen. Der Junge öffnete eine unscheinbare Tür in der Wand. „Hier rein. Es ist ein altes Netzwerksystem, völlig abgekoppelt. Sie werden uns hier nicht so schnell finden.“ Wir schlüpften in den Raum, der kleiner war, als ich erwartet hatte. Kabel und Schrottteile bedeckten den Boden, ein alter Monitor summte leise in der Ecke. Der Junge zog ein kleines Gerät hervor und begann hektisch darauf zu tippen. „Was machst du?“, fragte ich, während ich das Mädchen beobachtete, das aufmerksam zur Tür lauschte. „Ich versuche, ihre Kameras wieder zu deaktivieren“, erklärte er, ohne aufzublicken. „Die Hauptsysteme sollten immer noch nicht funktionieren, aber sie haben bestimmt schon gemerkt, dass etwas nicht stimmt.“ Das Mädchen drehte sich plötzlich um, ihre Augen groß vor Panik. „Jemand kommt!“, flüsterte sie. Mein Körper spannte sich an, und ich suchte instinktiv nach einer Waffe, doch das Einzige, was ich fand, war ein Metallrohr. Ich hob es auf und stellte mich vor die Tür, bereit, mich zu verteidigen. Meine Hände fühlten sich klamm an, aber ich hielt das Rohr fest.
Die Schritte wurden lauter, und dann stoppte alles. Keine Bewegung, keine Geräusche. Nur unser Atem, der in der Stille widerhallte. Ich wollte gerade fragen, ob es vielleicht ein Fehlalarm war, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. Eine dunkle Silhouette stand im Türrahmen, und für einen Moment war ich sicher, dass wir entdeckt worden waren. Doch dann trat die Gestalt ins Licht, und ich erkannte das Gesicht eines Mannes, dessen Kleidung so altmodisch wirkte, dass er überhaupt nicht in diese Umgebung passte. „Ihr müsst sofort verschwinden“, sagte er knapp, während er uns einen kurzen Blick zuwarf. „Sie sind bereits unterwegs. Hier seid ihr nicht sicher.“ „Wer bist du?“, fragte der Junge misstrauisch, stand aber dennoch auf. „Ein Freund“, erwiderte der Mann, ohne näher darauf einzugehen. Sein Gesicht wirkte angespannt, seine Augen huschten unruhig durch den Raum. „Ihr habt keine Zeit für Erklärungen. Es gibt einen Weg in die Kanalisation, aber ihr müsst schnell sein.“ Das Mädchen klammerte sich an meinen Arm. „Können wir ihm trauen?“, flüsterte sie. Ich wusste keine Antwort, doch die Schritte, die wieder lauter wurden, gaben mir keine Wahl. „Wir müssen.“ Der Mann führte uns zu einer Klappe im Boden, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Er öffnete sie und deutete auf die dunkle, nach unten führende Treppe. „Schnell. Ich halte sie so lange auf, wie ich kann.“ Ohne weitere Fragen kletterten wir hinunter, einer nach dem anderen. Der Geruch von abgestandenem Wasser und Metall machte mir das Atmen schwer, die Dunkelheit das Sehen. Oben hörte ich gedämpfte Stimmen und dann ein lautes Krachen, als ob die Tür zerschmettert worden wäre. Die Schreie des Mannes hallten für einen Moment durch den Schacht, dann verstummte alles. Kurz schloss ich meine Augen und dankte ihm. Ich dankte ihm von ganzem Herzen. Dann liefen wir den modrig feuchten Tunnel entlang, bis wir schließlich ein kleines Licht erblickten. Es war schwach und flackernd, ein gelbliches Leuchten, das von einer alten, nackten Glühbirne ausging, die an der Decke des Tunnels hing. Sie schien jeden Moment erlöschen zu wollen, aber ihre Existenz bedeutete Hoffnung. Der Junge eilte voran, vorsichtig und doch entschlossen, während das Mädchen meine Hand umklammerte. Ich wusste nicht, ob sie es tat, um sich zu beruhigen, oder um mir Kraft zu geben, aber in diesem Moment hielt ich einfach dagegen. Der Tunnel führte uns weiter, das Leuchten der Glühbirne wich bald einem natürlichen Licht, das durch kleine Ritzen und Gitter strahlte. „Das muss ein Ausgang sein“, murmelte der Junge und beschleunigte seine Schritte. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, diesmal nicht vor Angst, sondern vor der Möglichkeit, wirklich in Freiheit zu sein. Und als wir die Quelle des Lichts erblickten, sahen wir Grün und Blau und Berge und Hütten und wachsende Blumen und Bäume überall. Der Junge zog die Maske aus, wir machten es ihm nach und mir kamen fast die Tränen, ich konnte nicht mehr stehen, ging stattdessen in die Hocke und hielt mir mit den Händen das Gesicht zu, weil ich es einfach nicht fassen konnte. Dieses ganze strahlende Licht und diese frische Luft. Und dann wurde ich doch ganz schläfrig, mein Kopf doch ganz schwer und ich war seit Langem nie so entspannt gewesen.
Aufgewacht bin ich in einer der Hütten in einem weichen Bett mit einer Decke, die nach frischem Gras und getrockneten Blumen roch. Es war, als hätte jemand all die Schrecken der letzten Tage, Wochen, Monate aus meinem Kopf gewaschen und einen Moment der Ruhe hinterlassen. Die Hütte war klein, aber gemütlich. Sonnenlicht fiel durch ein kleines Fenster, das halb von einem Vorhang aus grobem Stoff verdeckt war. Der Raum war mit einfachen Holzmöbeln ausgestattet, und ein sanfter Wind brachte die Geräusche von Vögeln und raschelnden Blättern herein. Ich richtete mich langsam auf, mein Körper fühlte sich überraschend leicht an, fast fremd. War es wirklich vorbei? War das hier die Freiheit? Die Tür zur Hütte öffnete sich langsam, und das Mädchen steckte vorsichtig den Kopf herein. Ihr Gesicht war von einer Mischung aus Besorgnis und Erleichterung gezeichnet. „Du bist wach“, sagte sie leise und trat ein, gefolgt von dem Jungen, der ein Tablett mit einer dampfenden Schale und einem Krug Wasser in den Händen hielt. „Wie lange war ich weg?“, fragte ich, meine Stimme rau und ungewohnt. „Es ist schon der nächste Tag“, antwortete der Junge und stellte das Tablett neben mich. Ich griff nach dem Krug und trank gierig das kühle Wasser hinunter. „Die Leute hier im Dorf haben uns aufgenommen. Sie verstecken uns… für jetzt“, sagte das Mädchen. „Was machen wir jetzt?“, fragte ich schließlich. „Bleiben wir hier?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Nicht für immer. Aber hier ruhen wir uns erstmal aus. Und dann sehen wir weiter.“
Und das hat mir gereicht. Das war genug für mein Geburtstag.
ENDE
Beitrag 84
Ein durchweg normales Leben
Ein unerträgliches Brummen erfüllt den Raum und prallt auf übelste Weise von den Wänden ab. Ich öffne vorsichtig meine Augen und blicke durch eine milchige Glasfront. Benebelt und mit einem zerfressenden Gefühl der Leere sehe ich mich um. Der winzige Raum, in dem ich mich befinde, hat keine Persönlichkeit oder Farbe. Und als ich die Menschenschar erblicke, welche mich von der anderen Seite der Glaswand aus angestrengt mustert, wirkt er so gleich angsteinflößend und einengend.
Sie allesamt sehen heruntergekommen aus, manche scheinen nur noch aus Hautfetzen zu bestehen. Aber allen scheint diese helle, beinahe grelle, Hoffnung aus den Augenhöhlen. »Wo bin ich?«, höre ich mich flüstern und augenblicklich bricht ein Jubel auf der anderen Seite aus. Wie in Zeitlupe kann ich mit ansehen, wie die Gesichtszüge der Versammelten in die Höhe schnellen. Zögerlich lege ich eine Hand an das Glas, zucke etwas zusammen, als ich spüre, wie kalt es ist.
»Es lebt!«, jauchzt ein älterer Herr mit zerbrochener, runder Brille und schütterem Haar. Ich ziehe die Stirn kraus, denn es ist offensichtlich: Ich bin wohl gemeint. Ich lebe?
»Das ist unsere Rettung!«
»Wo bin ich?«, wiederhole ich mit Nachdruck und ein kleiner Junge fällt einem schluchzenden Gleichgesinnten in die Arme. Da macht eine große Dame auf sich aufmerksam. Sie räuspert sich, alle verstummen, und als sie an die Glasscheibe tritt, sehe ich ihr vor Glück verzerrtes Gesicht. »Du lebst«, wispert sie und legt ihre Hand an den Ort, wo meine zuvor lag. Sie zuckt nicht vor Kälte zusammen. »Lassen Sie mich bitte hinaus? «, erklingt meine heiser wirkende Stimme, in welcher sich die Besorgnis bemerkbar macht.
Sie wirkt etwas erschrocken, weicht ein paar Schritte zurück. »Oh, selbstverständlich.« Die Dame dreht mir den knochigen Rücken zu und wendet sich an die Menschenmasse. »Wir haben es geschafft!«, ruft sie euphorisch und hebt dabei mit einer einladenden Geste die Arme. »Wir haben die Lösung gefunden.«
Applaus. Jauchzen. Emotionale Umarmungen. Freudiges Gebrüll. Die lachenden Gesichter verschwimmen, ziehen sich zusammen, drehen sich in Spiralen und sie alle werden zu einer nebligen Wolke, bevor mir schwarz vor Augen wird.
Ein unerträgliches Brummen wandert in meinem Kopf umher und prallt auf übelste Weise von irgendetwas da drinnen ab. Ich öffne vorsichtig meine Augen und stelle fest: keine Menschen, kein Glas. Dafür ich, auf einem Stuhl, in einem heruntergekommenen Büroraum, gegenüber von der Dame. Sie hat ihre Hände gefaltet und den kleinen Kopf darauf gestützt. Ihr fehlt wohl der linke Daumen.
»Du bist wach«, bemerkt sie und ich antworte nicht. Ich weiß das ja schon längst selbst. »Du hast bestimmt viele Fragen.«
»Ja«, sage ich und sie strahlt so gleich etwas mehr. »Woran kannst du dich erinnern? Bevor du das erste Mal erwachtest.« Angestrengt versuche ich, mich zu erinnern. Doch da ist nichts. Als wäre ich just heute geboren. »Wir haben den 13. November 2149« Ich lege den Kopf schief, kann mit diesen Zahlen nichts anfangen. »Nun gut«, fährt sie fort und schürzt die Lippen, als sie kurzzeitig innehält. »Was ich dir nun zeigen werde, mag erschreckend oder erschütternd sein, aber ich will gesagt haben: Wir haben nun Hoffnung. Deinetwegen.«
»Meinetwegen?« Sie nickt und deutet auf einen großen, flachen Bildschirm, welcher überraschend unversehrt aussieht und im Schutt und der Asche fehl am Platz wirkt. Als urplötzlich ein Bild darauf zu sehen ist, huscht mein Blick zur Dame, ob sie dies ebenso ungewöhnlich findet. Doch sie zeigt keine Reaktion, sieht starr geradeaus. Ich tue es ihr gleich und analysiere das Geschehen im Fernseher.
Weite Straßen, an dessen Gehwegen ängstliche Menschen bei ihren zerfledderten Angehörigen knien. Einige scheinen bitterlich zu weinen. Neue Szene, begleitet vom schrecklichen Heulen einer Sirene. Ein ganz und gar leerer Platz. Letztes Bild, aus der Sicht einer Sicherheitskamera, welches unkontrolliert wackelt und flackert: Abwesend wirkende Kreaturen, welche durchaus dem Aufbau eines Menschen ähneln, trottend, krauchend, schleifend. Der Bildschirm wird wieder schwarz. Stille.
»Was war das?«
»Unser Land erlitt ein schreckliches Schicksal«, flüstert sie, ohne mich dabei anzusehen. »Eine Seuche von undenkbarem Ausmaß. Alle, die sich ansteckten, Freunde, Familie, Kollegen, ganz egal, waren nicht mehr sie selbst. Blutrünstige, hungrige Monster. Das blieb übrig.«
Irgendetwas in meinem Körper, höchstwahrscheinlich mein Kopf, sagt mir, ich müsste etwas fühlen. Furcht? Trauer um die Toten? Ekel vor den fleischigen Wesen? Doch da ist nichts. Lediglich eine eiserne Leere.
Mein Gegenüber dreht sich schwungvoll zu mir um, blickt mich mit Augen, welche gleich herausquellen zu scheinen, an. »Du bist einer von ihnen.«
»Von ihnen?« Sie nickt. »Ja, von ihnen.« Ich sehe zum dunklen, bedrohlichen Flachbildschirm hinüber und stelle mir vor, wie er flackernd angeschaltet wird und man mich sieht. Ich kann nicht ganz greifen, wie der Mensch dort aussieht. Welche Gesichtszüge, welche Augenfarbe oder die Menge an Masse und Haut. Doch eines ist klar: blutig und brutal. »Doch so warst du nicht immer«, holt die Dame mich aus meinen Gedanken. »Du warst normal. Nicht infiziert. So wie jeder von denen dort draußen.«
Ebenso wenig wie ich mir mein eigenes Gesicht vorstellen kann, kann ich mir ausmalen, wie ich damals – falls es das Damals denn auch wirklich gibt? – in einem normalen Heim wohnte, in einem normalen Bett schlief oder ein normales Leben bestritt. »Wir haben Akten von dir ausfindig gemacht. Du bist heute neunzehn Jahre alt geworden. Happy Birthday. Alles Gute.« Bestimmt spricht sie noch von meinem Namen. Er ist bestimmt wunderschön normal und bestimmt spricht sie von einem Familienstand, der so befriedigend normal ist. Doch ich höre gar nicht mehr zu. Ich soll bereits neunzehn Jahre lang leben? Wo ist all die Zeit hin? Wie wurde mir all das genommen – mein Eigentum? Mein ich? »Hörst du mir überhaupt zu?« Ich nicke schnell. So stark, dass mir filzige Strähnen in das rechte Auge fallen. »Etwas Aufmerksamkeit ist wirklich, wirklich angebracht!«, japst sie empört und beginnt sich selbst möglichst unauffällig über den Handrücken zu streicheln. Es beruhigt sie scheinbar.
»Nun gut. Ich sprach von Hoffnung, richtig? All die ist endlich vorhanden, da wir einen Weg zur Heilung gefunden haben. Genial, nicht wahr?« Sie lächelt zufrieden. »Du warst die erste Person, die wir retteten!« Die Euphorie wirft sie beinahe aus dem Stuhl. »Und dafür fordern wir einen simplen Gefallen. Schreib‘ tägliche Berichte, unter Aufsicht, von psychiatrischen Fachkräften. Wir müssen beobachten, ob diese Heilung denn auch anhält.« Ich bin das Versuchskaninchen? »Was springt dabei für mich raus?«, frage ich herausfordernd und fühle mich überraschend mutig.
»Ein durchweg normales Leben. «
Ein unerträgliches Brummen wandert in meinem Kopf umher und spielt auf übelste Weise in meiner Stirn Pingpong. Ich öffne vorsichtig meine Augen und die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich kneife augenblicklich die Augen wieder zu. Migräne am frühen Morgen? Ich hätte gestern wirklich früher schlafen gehen sollen. Ich taste nach meiner Packung Aspirin, welche sich auf dem Nachttisch befindet, trenne eine Tablette aus dem Plastik und schiebe sie mir in den trockenen Mund. Nach kurzem Verweilen in den warmen Baumwollbettdecken zwinge ich mich zum Aufstehen. Ein kurzer Blick auf mein Telefon verrät mir: Freitag, 13. November 2150.
Und ein zweiter Blick reißt mich aus der Schläfrigkeit, denn es ist neun Uhr. Eine Stunde später, als ich mir ursprünglich vornahm, aufzustehen. So schnell es mir mein Körper erlaubt, wühle ich im unordentlichen Kleiderschrank, richte mir die Haare und putze mir, wegen der Eile wahrscheinlich nicht gründlich genug, die Zähne.
Dreißig Minuten später stemme ich mich gegen eine schwere Doppelflügeltür und betrete die pompöse, hell durchleuchtete Bibliothek. Ein großer Kronleuchter schwebt über einer abartigen Menge an Menschen, die aufgereiht auf klapprigen Stühlen hockt. Sie alle haben sich umgedreht und sehen mich an. »Die Autorin ist eingetroffen«, schallt es durch einen neu klingenden Lautsprecher und ich sehe hinüber zu einer hölzernen Tribüne, welche vor den Zuschauern errichtet ist und auf der ein Mann im Anzug steht. Er hält ein Mikrofon in der Hand und blinzelt mich freundlich an. Ich husche zu ihm, versuche, die Blicke auszublenden, und steige hinauf auf die Tribüne. Der Mann, wer auch immer er ist, reicht mir das Mikrofon. »Hallo«, sage ich etwas zu schüchtern und nehme meine Schultern zurück. Aufrecht stehen. Autorität. »Heute ist mein Geburtstag. Ich bin heute zwanzig Jahre alt geworden.« Vereinzelte Menschen klatschen. Ich lasse meinen Blick durchs Publikum schweifen. Zusammengeflickte, normale und vor allem glückliche Menschen schauen zu mir hinauf. »Und ich bin heute hier, um die Veröffentlichung meines Tagebuches mit euch zu feiern. Und dies in Form einer Vorlesung. Vielen Dank fürs Kommen« Ich räuspere mich, bekomme von dem Mann mein Buch in die Hand gedrückt. Es ist merkwürdig, dieses hübsch gebundene Buch in der Hand zu halten. Weiße Seiten, typografische Schriftzeichen. Mein Tagebuch ähnelt diesem hier überhaupt nicht. Es ist mit mir durch all die harten Phasen gegangen und sieht auch dementsprechend aus. Knicke, Risse, Gekritzel, Blutflecken. Ich fahre mit meinen Fingerkuppen über den glatten Einband, über die Lettern, die groß meinen Namen verkünden. Atme tief durch und sammle mich. Und dann schlage ich es auf, höre mich vorlesen: »Ein unerträgliches Brummen erfüllt den Raum und prallt auf übelste Weise von den Wänden ab. Ich öffne vorsichtig meine Augen und blicke durch eine milchige Glasfront.«
Irgendwann bin ich an mein Lieblingskapitel gelangt. Der Tag, als ich aus der streng überwachten Klinik entlassen wurde. Während meine Lippen wie vegetativ die Wörter ausspucken, über die meine Augäpfel gleiten, schwelge ich in Erinnerungen. Die Therapeutin, mit den blonden Locken und dem fehlenden Bein, welche ich doch so liebgewonnen hatte, weint, als ich ihr ein Blümchen zum Abschied schenke. Rosa, halb verwelkt, doch mit vielen Hintergedanken. Der Wärter, der zu Beginn so streng aussah, drückt mich mit einem Tätscheln an sich und wispert mir aufmunternde Worte ins Ohr. Seine fürsorgliche Wärme konnte ich bisher kaum in jemanden anderen wieder finden. Meine Tasche, mit dem wenig Hab und Gut, welches ich über die letzten Monate ansammelte, baumelt an meinem Arm und fühlt sich zunehmend schwerer an. Zerrt mich beinahe zu Boden – will mich zum Bleiben zwingen?
Diese Erinnerungen kommen mir so intim vor, doch aus irgendeinem Grund habe ich keine Hemmungen davor, sie mit den Anwesenden zu teilen. Gerade will ich die Buchseite umblättern, da klingelt eine liebliche Glocke und die Menschen scheinen in das Hier und Jetzt zurückgeholt zu werden. Stimmt, irgendwer erklärte mir, dass es nach zwei Stunden der Vorlesung eine Pause geben solle. Ich sehe von dem Buch hinauf, muss mich kurzzeitig an das weit blicken gewöhnen. Menschen verlassen den Raum, suchen die Toilette auf, kaufen sich eine gesalzene Brezel vom Kiosk vor der Tür. Sie alle tuscheln, und ich fühle mich jedes Mal, wenn ich Komplimente höre, oder bewundernde Blicke einfange, als würde ich vor Stolz überlaufen. Dann erblicke ich einen kleinen, breiten Jungen, welcher ruhig schläft, einen Mann, der unter einem Stuhl kraucht – wahrscheinlich ließ er etwas fallen – und eine große Dame mit außergewöhnlich kleinem Kopf. Dicke Tränen laufen ihre geröteten Wangen hinunter und sie drückt sich die linke Hand ans Herz. Ihr fehlt wohl der Daumen.
Ich lege mein Buch und das Mikrofon nieder, es macht ein knackendes Geräusch und eile mit einem höflichen Lächeln zu ihr hinunter. »Einzigartiges Erlebnis«, schluchzt sie gerührt, als ich bei ihr ankomme, und mich auf den frei gewordenen Stuhl neben ihr niederlasse.
Ihre Hand ergreift die meine, schüttelt diese und lässt sie gar nicht mehr los. »Sie sind gewiss dankbar für das alles.«
»Selbstverständlich«, antworte ich und winde mich vorsichtig aus dem dominanten Griff. »Ach, wir waren doch schon beim ,Du‘. Entschuldige bitte. Weißt du, ich habe alles getan, um heute hier erscheinen zu können«, brabbelt sie vor sich hin und ich bemerke die Falten, welche sich lustig auf ihrem Gesicht auf und ab, hin und her, bewegen. Sie lassen die Dame, welche ich vor einem Jahr das erste Mal kennenlernte, unglaublich alt wirken. Ich bedanke mich der Form halber mehrmals, nicke aufmerksam, als sie von ihrer frisch geborenen Enkelin spricht, und lasse in den richtigen Momenten ein zustimmendes Murmeln hören.
Dann erklingt die Glocke erneut. »Vielen Dank fürs Kommen«, wiederhole ich abermals, als ich mich schleunigst erhebe und zurück auf die Tribüne steige. Die Menschen trudeln allmählich wieder ein und ich führe das Mikrofon wieder an die Lippen. »Fahren wir fort?« Es wird ruhig. Nur noch ein wiederkehrendes Schluchzen ist zu hören. Ich muss nicht aufblicken, um zu wissen, dass es die Dame ist.
Und dann versinke ich wieder in den Zeilen, bin nicht mehr hier.
Ein Auto, in dem eine Sozialarbeiterin aus der Klinik neben mir sitzt, fährt mich in die Stadt hinein. Ich beobachte, wie die Häuser, Bäume und Bewohner an uns vorbeirauschen. Kein Tod. Nirgendwo. Während meines Aufenthalts wurden zahlreiche Heilungen durchgeführt. Mehr wurde mir nicht erzählt, doch die Ruhe, welche von den Menschen ausgeht und sie wie eine Aura umhüllt, ist aussagekräftig genug. Irgendwann halten wir vor einem kleinen Haus. Es hat ein Spitzdach mit braunem Schornstein und hellblauen Wänden. Große Fenster, welche von hübsch zusammengeschnürten Gardinen umrahmt sind. Ein kleiner Briefkasten mit meinem Namen. Entzückt, wie man es nicht anders hätte sein können, blicke ich aus dem Auto hinaus.
Auf Anweisung des Fahrers drücke ich die Klinke hinunter und steige aus. Die Sozialarbeiterin tut es mir gleich und zieht sich im Seitenspiegel den dunkelroten Lippenstift nach. Ich angle meine Tasche unter dem Sitz hervor.
Meine Begleiterin wirkt beinahe aufgekratzter als ich selbst, als sie mir die Räumlichkeiten zeigt und ganz genau umschreibt, dir mir zur Verfügung gestellt werden. Mein eigenes, normales Heim. Sogar mit einem äußerst großen, normalen Bett, stelle ich fest, als sie mir das Schlafzimmer präsentiert. Schließlich setzen wir uns an die Küchentheke. Ich kann den Blick kaum von den dunklen Kacheln nehmen, welche den Boden übersähen. Dann überreicht sie mir feierlich die Schlüssel, bespricht Dokumente, Termine und Vereinbarungen mit mir. Ein täglicher Telefoncheck mit der Stationsleiterin, ein wöchentliches Gespräch vor Ort, eine Fortführung der schriftlichen Berichte. Wie selbstverständlich lasse ich mich auf alles ein, unterschreibe dies, unterschreibe das und begleite die Sozialarbeiterin bis zur Haustür.
Einige Kapitel später habe ich schon einen Minijob in einer völlig ruhigen Buchhandlung im Süden der Stadt und die wöchentlichen Gespräche vor Ort, wurden auf alle zwei Wochen reduziert.
Ich hole Luft, räuspere mich, will gerade zum nächsten Kapitel übergehen, da ertönt ein lautes Geräusch. Hilfesuchend blicke ich zu dem Mann im Anzug, welcher die ganze Zeit über am Rand der Tribüne sitzt und aufmerksam zuhört. Gibt es etwa eine zweite Pause, von der ich nichts wusste? Doch er beachtet mich gar nicht. In seinem rasierten Gesicht spiegelt sich blanke Panik wider.
Und dann überkommt es mich. Das Geräusch wird lauter, schriller, grausamer, klingt in keiner Weise, wie die Pausenglocke. Und ich fühle mich in jenen Moment zurückversetzt, als ich mir vor einem Jahr das Bild mit dem leeren Platz im Fernseher ansah, welches von dem Heulen der Sirenen begleitet war.
Unruhe schlägt über das Publikum ein, wie eine kalte Welle auf der stürmischen See. Einige erheben sich von ihren Plätzen. Ein Mann schreit wild: »DIE SIRENEN! DIE SIRENEN!«
Und spätestens in diesem Augenblick begreifen alle. Eine ältere Dame fällt in sich zusammen, Menschen stürmen hinaus, trampeln in der Eile über sie hinüber. Ein Vater versucht, voller Panik den kleinen Sohn zu wecken, und hievt ihn schlussendlich auf den Arm, um mit ihm hinauszurennen. Die Sirenen schrillen in allen Ohren, drohen das Trommelfell platzen zu lassen. Der Mann im Anzug hat bereits seine Fassung zurückgewonnen und reißt mir das Mikrofon aus der Hand.
»Bitte beruhigen Sie sich!«, ruft er verzweifelt und verschluckt sich beinahe an seinen Worten. »Es ist doch gewiss nur ein Test… Oder ein Fehlalarm!«
Doch niemand hört ihm zu und er lässt mit einem Seufzer (,Scheiß drauf!‘), das Mikrofon fallen – ein langes Piepen dröhnt aus den Lautsprechern, übertönt jedoch nicht den Auslöser für das Getümmel. Und er stolpert eilig die Erhöhung hinunter. Es bleibt ihm nicht einmal Zeit, um Beschämung zu fühlen, als ihm das kupferfarbene Toupet vom Kopf weht.
Ganz verloren stehe ich dort, weiß nicht, wohin mit mir. Niemand hat im vergangenen Jahr über die Möglichkeit einer solchen Situation geredet. Niemand in der Klinik, niemand im Labor, niemand überhaupt, hat mit mir vorbesprochen, was ich zu tun hätte.
Und da suche ich in der bunten, wuseligen Menschenmasse die Dame, die mir mein zweites Leben ermöglichte. Sie sitzt noch genau dort, wo ich sie seit der Pause, zurückließ. Ihre Tränen sind getrocknet, ihre Wangen sind nicht mehr gerötet. Doch ihre Augen sind starr auf mich gerichtet, und soweit ich dies erkennen kann, zittert ihre Unterlippe stark. So wie ihre linke Hand, als sie diese hebt und mit ihrem, noch vorhandenem Zeigefinger, auf mich zeigt. Ich blicke an mir hinunter und sehe fleischige Haut. Vielleicht fange ich ebenfalls zu zittern, oder auch nicht, und blicke wieder hinauf. Das Gesicht der Dame verschwimmt, zieht sich zusammen, dreht sich in Spiralen und es, so wie das übrige Umfeld, wird zu einer nebligen Wolke, bevor mir schwarz vor Augen wird.
Und ein unerträgliches Brummen wandert in meinem Kopf umher …
Es schallt. Und schallt. Und schallt.
ENDE
Beitrag 85
Schneeflocken
Es ist Freitag der 13. Groß prangen die Zahlen auf dem Kalender, der direkt neben dem Computer auf meinem Schreibtisch steht. Es ist lange her, dass ich wirklich daran geglaubt habe, dass solche Tage Unglück bringen. Normalerweise wäre es mir auch gar nicht mehr aufgefallen, aber irgendetwas ist heute anders. Schon seit Wochen habe ich immer wieder dieses unbestimmte Gefühl. Dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, doch so sehr ich es auch versuche, ich kann nicht sagen, was es ist. Es ist, als würde ich einen schmalen Grat entlanglaufen und immer und immer wieder einen Schritt zu weit zur Seite machen, bis ich ins Straucheln gerate. Und gerade, wenn ich denke, ich werde fallen, schaffe ich es doch noch, mich wieder zu fangen. Und heute fühlt es sich so an, als wäre ich endlich am Ende des Grats angelangt, doch vor mir liegt nur ein tiefer Abgrund.
Vielleicht ist es auch, dass heute mein zwanzigster Geburtstag ist. Und obwohl ich seit Wochen versuche, mir einzureden, dass das heute einer der besten Tage meines Lebens werden wird, würde ich mich am liebsten den ganzen Tag hier in meinem Büro oder in den Laboren viele Stockwerke weiter unten verkriechen. Weit weg von all den Menschen, die nur darauf warten, mir hunderte Fragen zu stellen und all den oberflächlichen Gesprächen, die letztendlich nur mit der einen Frage enden: „Wie hast du es geschafft?“ Und diese Gier in ihren Augen, die mich manchmal ein wenig zu sehr an mich selbst erinnern.
Doch so sehr ich es mir auch wünsche, es gibt jetzt keinen Weg mehr daran vorbei. Es ist alles schon geplant. Die Eröffnungsfeier, bei der sogar die Präsidentin anwesend sein wird, eine knappe halbe Stunde später schon die Preisverleihung für „herausragende Forschungen zur Entwicklung des Menschen“, direkt danach die Feier zur Erscheinung meines Buches und die Veröffentlichung meiner Forschungen für die ganze Welt. Und schließlich, als wäre das nicht schon längst genug, noch weit bis in die Nacht hinein die eigentliche Feier mit lauter wichtigen Leuten. So ist mein Leben auch schon in den letzten Jahren gewesen. Mit einem Mal war der Fokus nicht mehr auf meiner Forschung und gelegentlichen öffentlichen Terminen, sondern ich fing an, immer mehr Zeit bei Presseterminen und Interviews zu verbringen. In stickigen Räumen mit viel zu vielen Kameras und viel zu vielen Fragen. Aber so war das nun mal, wenn man zum zweiten Mal seinen zwanzigsten Geburtstag feiert. Wenn man seit zwanzig Jahren ein zweites Leben hat.
Und es war auch eigentlich alles, was ich mir früher immer erträumt hatte. Die Möglichkeit, mehrere Leben zu leben, und nicht an einen immer mehr alternden Körper gebunden zu sein. Die erste Forscherin zu sein, der so etwas gelingt. Und nach Jahrzehnten voller Forschungen ist es mir vor zwanzig Jahren tatsächlich gelungen. Ich schaffte es, mithilfe von Stammzellen, meinen Körper wieder zu verjüngen und ein zweites Leben zu beginnen.
Aber statt mich zu freuen und meine Erfolge zu feiern, sitze ich jetzt hier, mit diesem unguten Gefühl in mir und bin einfach so unendlich müde. Und das schon seit einer so langen Zeit. Du brauchst einfach mal eine Pause, sage ich mir immer. Das ist einfach nur der ganze Stress und du brauchst wirklich einfach mal einen Tag ohne all die Menschen um dich herum. Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, weiß ich nicht, ob es wirklich nur das ist.
Seufzend wende ich mich dem Bildschirm vor mir zu.
Darauf geöffnet mein Tagebuch: „Mein zweites Leben“. Die Erfolgsgeschichte einer Frau, die unsterblich wurde, auf deren erstes Leben ein zweites folgte. Ein Buch, das heute veröffentlicht werden soll. Eigentlich sollte ich es schon längst eingesendet haben, damit es noch einmal bearbeitet werden kann, bevor ich es online veröffentliche. Aber irgendetwas hat mir keine Ruhe gelassen und ich habe so lange darauf bestanden, den letzten Teil noch einmal selber neu schreiben zu dürfen, bis meine Assistentin Lisa nachgegeben hat. Die Deadline ist in zwei Stunden, dann wird das Buch auf meiner Website hochgeladen, für alle Menschen zugänglich.
Würde das Buch gedruckt werden, wie das früher immer gemacht wurde, hätte ich natürlich viel früher fertig sein müssen, doch schon vor bald hundert Jahren wurde der Druck von Büchern größtenteils eingestellt, um Ressourcen zu sparen.
In dem Buch habe ich all meine Erlebnisse der letzten zwanzig Jahre geschildert und es ist persönlicher geworden, als ich es gewollt habe, aber vermutlich lag das an der KI, die ich verwendet habe, um aus all den kurzen Sprachaufnahmen, die ich immer wieder machte, einen flüssigen, schönen Text zu entwickeln.
Der Cursor blinkt unaufhörlich auf der letzten Seite, als wolle er mich dazu auffordern, endlich das Projekt zu beenden. Doch mein Kopf ist leer. So wie jedes Mal, wenn ich mich in den letzten Wochen davorgesetzt habe. Seufzend beginne ich auf der Tastatur zu tippen.
„Es ist der 15 November im Jahr 2150 und heute ist mein zwanzigster Geburtstag. Was für eine Ehre es ist, diesen Tag noch einmal erleben zu dürfen. Ein weiteres Mal sagen zu dürfen: „Ich werde heute zwanzig.“ Vor hundert Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich das hier wirklich schaffen kann. Aber ich habe mir und all meinen Kritikern das Gegenteil bewiesen. Ich sitze tatsächlich hier, jung und lebendig und unfähig, zu sagen wie dankbar ich bin, diese einzigartige Möglichkeit zu haben. Es ist mir eine so große Ehre, die Menschheit damit in eine bessere Zeit führen zu können.“
Frustriert lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen und werden zu unscharfen schwarzen Flecken auf einem viel zu grell leuchtenden Hintergrund. Was schreibe ich da für einen Müll? Und der Cursor blinkt trotzig weiter. Immer wartend auf neue Worte. Neues Geschwafel.
Ich drücke auf die Löschtaste.
Einer nach dem anderen verschwinden die schwarzen Flecken wieder.
Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, als es an der Tür klopft. „Ja?“
Meine Assistentin Lisa kommt herein, meinen Anzug über den Arm gelegt und legt ihn neben mir auf dem Tisch. Dann wendet sie sich seufzend zu mir. „Bei den Reinigungsrobotern gab es schon wieder einen Fehler mit den Batterien und sie sagen, es dauert wahrscheinlich einige Wochen, irgendwo neue herzubekommen. Zum Glück konnte ihr Anzug noch gewaschen werden, aber ich werde mich, so schnell es geht nach einer neuen Firma umschauen.“
„Danke.“ Ich nicke ihr kurz zu.
„Kein Problem.“ Sie will sich schon wieder abwenden und gehen, bleibt dann aber mitten in der Bewegung stehen und mustert mich mit einem unergründlichen Blick. „Ist alles in Ordnung?“ Ihre Stimme klingt unsicher, als wüsste sie nicht, ob so eine Frage an meinem Geburtstag wirklich angebracht ist.
„Ja, warum sollte es das nicht sein?“ Doch wir beide hören, wie wenig überzeugt ich klinge. Trotzdem sagt sie nichts mehr, sondern wendet sich wieder zum Gehen. „Lassen Sie es mich wissen, falls Sie etwas brauchen.“ Ich starre schon wieder auf den Bildschirm vor mir, als sie noch einmal den Kopf durch die Türe streckt und mit fröhlicher Stimme sagt: „Und falls Sie es noch nicht bemerkt haben, es schneit gerade. Ich weiß nicht, wann es hier das letzte Mal im November geschneit hat, aber ist das nicht schön?“
Mit einem Lächeln schließt sie die Türe.
Langsam drehe ich mich auf meinem Stuhl um, zu dem großen Panoramafenster, das sich hinter mir befindet. Und tatsächlich, kleine weiße Flocken fallen hinter der großen Glasscheibe vom Himmel herab. Das ist der erste Schnee dieses Jahr und wahrscheinlich auch der letzte. Schnee ist selbst hier weit im Norden eine Seltenheit geworden. Vielleicht sind die Schneeflocken auch schon geschmolzen, bevor sie die 49 Stockwerke weiter unten auf dem Teer der Straßen liegen bleiben, aber hier oben so weit über den Straßen sind sie noch kleine weiße Kristalle. Früher habe ich den Schnee so sehr geliebt, bis ich dann meine Winter statt draußen in Laboren verbracht habe. Nicht, dass es in meiner Heimatstadt noch viel geschneit hätte.
Kurz entschlossen rolle ich mit meinem Stuhl einmal um den Tisch herum, sodass ich jetzt mit dem Blick zum Fenster dasitzen kann, während ich am Computer schreibe.
Es fühlt sich merkwürdig befreiend an, mit dem Blick den weißen Flocken folgen zu können, statt ständig all die Bilder von mir zu sehen, die die Wände schmücken. Fotos von Preisverleihungen, Zeitungsartikel, meine ganze Geschichte.
Wie stolz ich diese Fotos damals aufgehängt hatte.
Inzwischen fühle ich diesen Stolz nur noch an einzelnen Tagen. Stattdessen fühlt es sich an, als würden die Frauen auf den Fotos mich mit ihren starren Augen beobachten. Verurteilen. So viele Tage habe ich schon hier in diesem Raum, in meinem Büro verbracht, doch noch nie habe ich die Aussicht wirklich genossen, die man so weit oben hat. Mein Rücken war beim Arbeiten immer dem Fenstern zugewendet, denn alles andere würde Ablenkung bedeuten und Ablenkung stiehlt wertvolle Zeit. Nicht, dass ich mich um Zeit sorgen müsste, doch selbst heute noch, hat mich dieses Gefühl nie verlassen, dass mir die Zeit wie Sand durch die Finger rinnt. Und irgendwann ist nichts mehr da.
Doch wie viele der Tage mit Schnee habe ich dadurch wohl verpasst? Wie viele Sonnenuntergänge habe ich deshalb nicht erlebt, sondern nur die Spiegelungen in meinem Computerbildschirm gesehen?
An anderen Tagen hätte ich die Gedanken sofort verdrängt und erst gar nicht zugelassen, aber heute genügen die wenigen Schneeflocken Erinnerungen, in mir hervorzurufen, die ich so lange schon verdrängt habe. Denn was bringt es einem, in der Vergangenheit zu leben, außer unnötige Melancholie?
Doch für diesen einen Moment erlaube ich es mir. Mein Geburtstagsgeschenk an mich selbst. Was für eine Ironie.
Meine liebste Erinnerung ist die an meinen zwanzigsten Geburtstag. Mein wirklicher zwanzigster Geburtstag. Viele Erinnerungen an diese Zeit sind schon so verschwommen, verblichen hinter all den Jahren die danach kamen, doch diese ist mir immer geblieben. Die Erinnerung an einen verschneiten Januartag hoch oben im Norden, mit meiner Familie, Freunden, duftendem Gebäck und warmem Tee.
Wie bittersüß all diese Momente sind. Meine Familie ist schon so lange tot, aber in dem Moment wünsche ich mir, sie wären jetzt bei mir und wir könnten gemeinsam meinen Geburtstag feiern. Aber nicht diesen. Sondern meinen echten Geburtstag, der erst in etwa zwei Monaten sein würde.
Stattdessen werde ich den Tag mit irgendwelchen Menschen verbringen, deren Gesichter ich schon gesehen habe, die mir aber sonst weiter nichts sagen. Und ich würde so tun, als hätte ich Freunde, auch wenn mir Freundschaften im Vergleich zu meinen Forschungen schon lange nicht mehr wichtig genug erschienen sind.
Ein kleiner Textausschnitt mit dem Titel „Die aktuellen Nachrichten“ ploppt plötzlich auf dem Bildschirm vor mir auf und reißt mich aus meinen Gedanken.
„Die bekannte Forscherin Elisa Petersen feiert heute ihren zweiten, zwanzigsten Geburtstag und ist damit der erste Mensch auf dieser Welt, der diesen Erfolg feiern kann. Geplant sind große Festlichkeiten und eine Ansprache ihrerseits in der sie uns ihre Geheimrezeptur zum ewigen Leben verraten will, wie sie es vor zwei Wochen in den Tagesnachrichten angekündigt hat. Doch genau so viele Menschen, die mit ihr diesen Tag feiern, stehen heute auch auf der Straße. Proteste gegen ihre Ansprache sind schon in vollem Gange. Schon in der Vergangenheit wurde viel Kritik gegen ihre Forschung geübt. Frau Petersen will sich dazu jedoch nicht öffentlich äußern.“
Ich schließe den Artikel und meine Füße tragen mich wie von selbst zum Fenster. Und wirklich. Da unten kann ich die Menschenmengen sehen. So viele winzig kleine Punkte, die sich auf den Straßen direkt unter mir versammeln.
Es hatte schon oft Proteste wegen meiner Forschung gegeben, auch schon bevor sie überhaupt erfolgreich waren, aber ich hatte die Kritik immer ignoriert. Meine Forschung war wichtiger als die Meinung von ein paar anderen Menschen. Doch in den letzten Monaten hat sich etwas bewegt, es gab plötzlich immer mehr Drohbriefe und Angriffe auf mich und meine Labore. Vor zwei Wochen, kurz nach meiner Ankündigung haben es sogar zwei Unbekannte ins Gebäude geschafft. Schon seit Jahren sind die Stimmen draußen auf den Straßen immer lauter geworden und langsam fühlt es sich so an, als wären die Wände nicht mehr schalldicht. Die Stimmen dringen zu mir durch, am Anfang nur wie ein Flüstern, aber sie werden immer lauter.
Ich dachte, ich würde den Menschen geben, was sie wollen, wenn ich meine Forschungen heute veröffentliche. Ich habe mir so viele Jahre lang eingeredet, dass ich grundlos kritisiert werde und dass die Menschen einfach nicht sehen können, dass ich genau so viel für die Menschheit leiste, wie zum Beispiel die ganzen Klimaforscher, die versuchen die Treibhausgase aus der Atmosphäre zu holen.
Aber ich war eine Heuchlerin. Das hatte ich schon immer insgeheim gewusst. Meine Motivationen waren rein egoistischer Natur gewesen und der Entschluss meine Forschungen zu veröffentlichen waren auch nur durch den Druck von außen bestimmt worden. Es war ein Wunder, dass ich das alles bis jetzt geheim halten konnte und nie etwas durchgesickert war. Aber es war immer eine Frage der Zeit gewesen, denn so etwas kann man nicht für immer geheim halten. Dafür sind die Menschen zu gierig.
Und als ich jetzt auf all die kleinen Punkte da unten herabschaute, ließ ich zum ersten Mal die Frage zu, ob ich hier das Richtige tat. Ich hatte mich schon lange nicht mehr für Politik und die Wirtschaft interessiert. Es war mir immer nur um meine Forschungen gegangen, und solange ich genug Geld dafür gehabt hatte, war mir der Rest der Welt da draußen egal gewesen.
Ich wendete mich wieder vom Fenster ab, doch das Bild der Menschenmengen ließ mich nicht los. Was würde mit den Menschen da unten passieren, wenn nun die ganzen mächtigen Menschen meine Forschungen benutzen konnten, um genau wie ich unendlich zu leben?
Mit einem Mal war die Müdigkeit, die mich all die Wochen gequält hatte, verschwunden.
Ich wusste, was zu tun war. Ich würde den letzten Schritt auf diesem schrecklichen Grat gehen.
Ich setzte mich wieder an meinen Computer.
„Heute ist der 13 November 2150 und ich sollte voller Freude den zwanzigsten Geburtstag meines zweiten Lebens feiern. Aber wie kann ich das, wenn ich nie gelernt habe, wirklich zu leben? All die Jahre habe ich nur dafür gelebt, mehr Lebenszeit zu haben, und habe nicht gemerkt, dass ich genau diese damit verschwendet habe. Und das alles nur wegen dieser Angst vor dem Tod.
Wie viel Zeit ich mit meiner Familie und meinen Freunden hätte haben können. Doch jetzt ist es zu spät. Stattdessen habe ich ein potenziell unendliches Leben vor mir, das mich jetzt aber schon viel zu müde macht.
Ist es nicht das, was uns menschlich macht? Das Wissen, dass wir endlich sind. Dass wir dieses eine Leben haben, genau dieses eine, nicht mehr und nicht weniger? Und ist es nicht das, was zu antreibt, das Beste zu geben, das Wissen, dass alles irgendwann endet?
Ich wollte heute meine Forschungen mit der Welt teilen, doch ich habe schon zu viele falsche Entscheidungen in meinem Leben getroffen, als dass ich diese auch noch treffen werde.
Vielleicht wird es in der Zukunft irgendjemand geben, der meine Forschungen wieder aufgreift, so sehr ich auch davon abrate. Vielleicht wird dann die Menschheit tatsächlich dafür bereit sein. Aber ich weiß nicht, ob das jemals geschehen wird. Wir Menschen sind nicht dazu gemacht, unendlich lange zu leben.“
Meine Finger Zittern, als ich die letzten Wörter tippe, doch in meinem Inneren fühle ich mich so ruhig wie schon lange nicht mehr.
Vorsichtig zeihe ich den Zeiger über den Bildschirm an der KI vorbei. Das hier soll genau so bleiben, wie ich es geschrieben habe. Und dann klickte ich auf „Veröffentlichen“.
Kurz sitze ich da, tue nichts, sondern starre einfach auf den grünen Balken, der mir die Veröffentlichung bestätigt.
Dann stehe ich auf. Meine Schritte tragen mich zum Aufzug. Der Knopf blinkt rot. Außer Betrieb.
Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit, doch ich ignoriere es. Ich werde das hier durchziehen, egal was passiert.
Dann muss ich wohl das Treppenhaus benutzen. Die Türe quietscht leise, als ich sie öffne, und fällt dann mit einem lauten Knall hinter mir ins Schloss. Nach hundert Treppenstufen höre ich plötzlich, wie hinter den Türen ein Alarm losgeht. Was auch immer hier los ist, ich muss mich beeilen. Nach einer gefühlten Ewigkeit bleibe ich schließlich im zehnten Stock vor den Türen der Hauptlabore stehen.
Eine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir leise zu: Was tust du hier? Was tust du hier? Immer und immer wieder. Doch da ist eine stärkere Stimme in mir, die mich dazu drängt, weiterzumachen. Eine Stimme, die ich so lange nicht mehr gehört hatte. Eine, die sich immer nach dem Leben gesehnt hatte.
Die Stimme, die mich jetzt dazu bringt, die großen dicken Labortüren mit meinem Fingerabdruck und einer komplizierten Zahlenfolge zu entsperren. Ich trete in den vertrauerten, weißen Gang, in dem es nach so vielen Jahren Laborarbeit riecht, und die Türen schließen sich sanft hinter mir. Die Labore sind leer, bis auf die Roboter, die unablässig mit den immer gleichen Bewegungen die Proben mit den Stammzellen am Leben erhalten. Doch zuerst ist der Technikraum dran. Es dauert länger, als ich es gerne hätte, doch es geht erstaunlich leicht, die Daten von unzähligen Jahren Forschung Stück für Stück unwiderruflich zu löschen. Vermutlich habe ich mir schon immer unterbewusst diesen Weg offengehalten.
Das Feuer zu legen, geht schnell und als ich die feuerfesten Türen zu dem Raum schließe, gehen darin auch schon die Feuermelder los. Ich will mich gerade den Proben hinter einer der anderen Türen widmen, als ich auf den Überwachungskameras neben den Haupttüren drei Gestalten sehe, die das Treppenhaus hochschleichen. Gerade sind sie im vierten Stock, doch sie laufen in schnellem Tempo unentwegt weiter. Der Atem bleibt mir im Hals stecken. Ich kenne die Menschen, die Zugang zu diesen Räumen haben. Jeden Einzelnen. Und diese drei gehören nicht dazu. Dann war es wohl wirklich kein Fehlalarm gewesen. Sie müssen es trotz der verschärften Sicherheitsvorkehrungen irgendwie geschafft haben, ins Gebäude zu gelangen. Aber sie ahnen vermutlich nicht, dass ich mich hier in den Laboren befinde. Und ich werde alles dafür tun, dass niemand anderes mehr diese Proben in die Hände bekommt.
Denn würden sie sie zerstören wollen, wie es andere Gruppen schon versucht haben, würden sie mit einer anderen Ausrüstung kommen und andere Wege wählen. Nein. Diese hier haben es eindeutig darauf abgesehen, etwas zu stehlen.
Ich betätige die Notverriegelung und hoffe, dass diese lange genug halten wird. Ich habe sie zwar erst vor kurzem erneuern lassen, aber wenn sie schon bis hier gekommen waren, wusste ich nicht, wie lange sie diese Türen aufhalten werden. Dann wende mich wieder den anderen Laboren zu. Einen nach dem anderen schalte ich die Roboter ab und lege die Proben frei. Immer wenn ich von einem Labor in das nächste wechsle, werfe ich einen Blick auf die Überwachungskameras. Die drei Gestalten sind inzwischen im zehnten Stock angekommen und machen sich an den Türen zu schaffen. Bis jetzt erfolglos.
Als ich schließlich auch den letzten Roboter abgeschaltet habe, greife ich nach einer Flasche mit Säure.
Die Proben mit den Zellen zischen und bilden Dampf, als die Säure auf sie trifft. Ich sollte Trauer dabei empfinden, mein ganzes Lebenswerk zu zerstören, aber ich fühle nur diese seltsame Ruhe in mir. Eine nach der anderen zerstöre ich sie. Einem Feuer allein vertraue ich nicht genug. Trotzdem verlasse ich in jedem der Labore großzügig verteilt Ethanol.
Und dann stehe ich vor der letzten Probe, höre das Zischen und dann ein anderes Geräusch. Das leise Summen der sich öffnenden Labortüren.
Ich sollte Angst haben, sagt mir wieder die eine Stimme in meinem Kopf. Ich sollte schreckliche Angst haben.
Aber zum Mal habe ich keine Angst vor dem Tod. Stattdessen fühlt es sich an, als wäre mir eine große Last von den Schultern genommen worden. Und so stehe ich da, die Flasche mit der Säure in der einen und ein Feuerzeug in der anderen Hand, als die drei Gestalten durch die Türen gerannt kommen.
Sie sind zu spät. Sie werden nichts von alldem hier bekommen.
Und als die Welt um mich herum in Flammen aufgeht, fühlt es sich an, als wären die Aschefetzen, die auf mich herabregnen in echt lauter kleine, weiße Schneeflocken.
ENDE
Beitrag 86
Forever young – oder doch nicht?
Liebes Tagebuch, am Sonntag, dem 8. November 2150 wurde ich 20 Jahre alt.
20 Jahre alt … alt bin ich nun wirklich nicht, aber ich wäre so gerne wieder ein Kind, innerlich fühlte ich mich manchmal noch so, bekomme aber komische Blicke, wenn ich mich so verhalte. Außerdem wohne ich immer noch bei meiner Mama, die gerade vor meiner Zimmertür stand. Wie immer, ohne zu klopfen, öffnete meine Mama die Tür und begann, Happy Birthday zu singen, doch dann hörte sie in der Mitte auf, da sie dachte, dass ich immer noch schlief.
Eigentlich war ich schon längst wach und reflektierte über mein Leben. Schon vor Wochen habe ich dir geschrieben, dass Mama und ich immer wieder Streit haben. Sie meinte, ich solle mich endlich entscheiden, was ich machen möchte, ich könne nicht ewig von ihrem Geld leben und solle zumindest eine Ahnung haben, wie es weitergehen soll. Ich würde ja gerne studieren, aber selbst, wenn ich wüsste, was, ich habe kein Abitur! Ich war die letzten Jahre in der Schule einfach zu faul und irgendwann bin ich einfach gar nicht mehr hingegangen.
Meine Mutter verließ wieder mein Zimmer und ich hörte, wie sie die Treppen mit ihrem neuen Hoverboard runterflog, sie benutzte es immer, wundert sich aber, wieso sie nicht abnimmt. Wahrscheinlich setzte sie sich unten in ihren bequemen Sessel und schaltete die Massagefunktion ein. Sie schaltete auch die Nachrichten auf unserem schwebenden Fernseher ein. Der Fernseher war durchsichtig und sah sehr cool aus, aber die Stimme des Nachrichtenroboters nervte nicht nur, wie immer, sie war auch viel zu laut! Ich hörte sie bis hier her.
Er redete seit Tagen über dasselbe, über ein Verjüngungsexperiment. Der gefährlich verlockende Gedanke, an dem Experiment teilzunehmen, nistete sich über die Zeit in meinem Kopf ein. Abitur machen, nachdenken, was ich studieren will und einfach nochmal mehr Zeit haben, wäre so großartig. Das Anmeldeformular war schon ausgefüllt und wartet auf meinem Laptop, abgeschickt zu werden. Nur brauchte ich dafür die Zustimmung meiner Mama und ihre Hilfe, ich habe nämlich kein Führerschein, und das Labor liegt auf der anderen Seite des Landes!
Und ich traute mich gestern ja, wie du weißt, ihr eine Nachricht zu schreiben. Gestern Abend hat sie mir nur kurz geantwortet, dass sie darüber nachdenkt. Ich bin so aufgeregt, ob sie sich entschieden hat.
Vor Aufregung konnte ich nicht mehr und stürmte angespannt in unser Wohnzimmer. Meine Mutter fragte, wieso ich so aufgedreht sei? Und, dass sie mir schon Happy Birthday gesungen hätte … Aber das wusste ich doch schon, deshalb unterbrach ich sie. Ich hatte Angst vor einem Streit liebes Tagebuch, doch genau so kam es, als ich wieder nach dem Experiment fragte. Eigentlich sagte sie nur, sie habe viel überlegt … uahh. Langweilig. Kurzfassung, sie sagte „Nein“. Das ließ ich mir aber nicht gefallen. Argumente wie, „ich bin erwachsen, ich darf machen, was ich will“ und „was ist denn so schlimm daran“ beeindruckten sie kaum.
Fast eine halbe Stunde ging unser Streit, toller Start an meinem Geburtstag, aber – ich gewann die Diskussion.
Nach ein paar Stunden Geburtstagskuchen essen und Geschenke auspacken, war die Stimmung zwar angespannt, aber ich war glücklich und Mama und ich schickten das Anmeldeformular ab. Überraschenderweise kam die Antwort sehr schnell. Wir könnten noch heute losfahren, wenn wir wollten, und könnten dort übernachten. Flehend blickte ich meine Mutter an, sie nickte wortlos und ein wenig genervt.
Ich rief: „Tony, komm!“ Ich habe dir schon von ihm erzählt liebes Tagebuch, du weißt schon mein Roboterhund, der schweben kann und so.
Mit unserem gläsernen Fahrstuhl fuhren wir von unserer Wohnung in einem großen Hochhaus an allen anderen Wohnungen zum Parkplatz vorbei. Die Aussicht wäre so schön gewesen, wenn nicht dieses große andere Hochhaus da stehen würde, es verdeckt die Sonne und nervt manchmal einfach.
Unten angekommen liefen wir nur kurz zum Parkplatz und standen vor unserem Auto, dem meine Mutter befahl, es solle die Türen öffnen. Ich ließ mich auf einem der Plätze nieder, hob Tony hoch und setze ihn auf den Sitz neben mir. Das Auto machte einen Ruck und erhob sich in die Lüfte, meine Mutter griff das schwebende Lenkrad und flog uns zum Labor.
Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich nach draußen blickte, sah ich, dass unser Auto vor einem großen, modernen Hochhaus geparkt hatte, welches etwas abgelegen von der Großstadt stand. Dann verließ ich das Auto und schaute mir das Gebäude näher an.
Ich staunte, dieses Gebäude sah atemberaubend aus, die Wände bestanden aus leuchtenden, verspiegelten Fenstern. Blühende Kirschbäume standen vor diesem Gebäude und der Boden war verdeckt von all den rosa Blättern, die der Baum hatte fallen lassen. Ich wünschte, dass das Hochhaus mit unserer Wohnung auch so schön aussieht, liebes Tagebuch.
Tony war aufgeregt, er stürmte aus dem Auto und setzte sich neben dem Auto hin. Aber glaub mir, ich war aufgeregter als er!
Es war zwar schon spät, aber wir wussten, dass jemand da sein musste. Also klingelten wir. Plötzlich hörte ich eine weibliche Stimme, sie ertönte klar aus vielen Lautsprechern, die eine schmale Form hatten und rund um die Tür aufgebaut waren, sie fragte, wer hier ist.
Im ersten Moment erschrak ich, doch dann erwiderte ich, ich hieße Valerie und habe mich für das Experiment angemeldet.
Die Tür schob sich zur Seite, wir traten ein, sie schloss sich wieder. „Wow“, dachte ich, drinnen war es noch viel schöner. Alles strahlte und es sah gemütlich aus hier. Es gab bequem Sitzmöglichkeiten an jeder Ecke und der hölzerne Boden wurde von einem Teppich geschmückt. Vor einer großen Treppe stand eine Rezeption wie von einem 5 Sternhotel. Dort saß die Frau, die mit uns gesprochen hatte, und lächelte uns an.
Die Frau hatte gemerkt, dass ich überrascht war und witzelte, oben sei es nicht so schön wie hier. Sie grinste und deutete auf die Treppe, die nach oben führte. Sie zeigte uns unseren Schlafplatz. Tony folgte mir aufgeregt, doch glaub mir liebes Tagebuch, ich war noch aufgeregter als er.
Liebes Tagebuch, heute am Montag, dem 9. November 2150 war endlich der große Tag
So aufgeregt war ich, dass ich nichts frühstücken konnte. Wann würde es endlich losgehen. Die Frau von der Rezeption kam und erklärte mir, wie alles ablaufen wird. Mitarbeiter würden mich in das Labor bringen und in eine Maschine stellen. Sie empfahl mir außerdem, eine Schlaftablette zu nehme, damit es angenehmer wird. In dieser Maschine, welche viel zu eng war, schlief ich trotz meiner Aufregung ein.
Als ich aufwachte, war es nicht besser. Immer noch fühlte ich mich, als würde ein Riese seine Hand schließen – mit mir drin! Nur mein Kopf schaute heraus, aber zum Glück, sonst wäre das noch unbequemer. Ich bemerkte, dass meine Klamotten nicht mehr so saßen, wie sie gehören. Als wären sie zu groß und verrutscht. Ich schaute mich um, so gut es eben ging in dieser Maschine und sah einen verrückten Mann. Er murmelte, dass etwas schiefgegangen sei. Der Mann war wahrscheinlich dieser geniale Professor. Verrückt, aber genial. Er schaute mich mit wilden, aber liebevollen Augen an. Er hatte einen wirren Bart, wenige Haare auf seinem Kopf und einen alten Laborkittel an. Er sah genauso aus wie ein klischeehafter Professor von früher. Trugen früher alle so komische Sachen, liebes Tagebuch?
Er öffnete die Maschine und ich stolperte aus ihr heraus. Meine Beine schliefen noch halb. Der Raum war wenig beleuchtet, eine der wenigen Lichtquellen war ein leuchtender Spiegel, den der Professor extra auf der anderen Seite des Raumes für mich aufgestellt hatte. Ich holperte aufgeregt zum Spiegel, um mein neues, jüngeres Ich zu betrachten. Doch ich sah nicht das, was ich erwartet hatte.
In dem Spiegel sah ich ein kleines, schlankes Mädchen, sie hatte, warte ich, ich hatte lange, dunkelbraune Haare, die zu einem verrutschten Pferdeschwanz gebunden waren. Unter den Ärmeln meiner glänzenden Jacke konnte ich meine Hände nicht mehr sehen. Ich schaute überrascht in den Spiegeln mit meinen türkisen Augen, die fast die gleiche Farbe wie meine Jacke hatten.
Immer noch geschockt schrie ich den Professor an: „Was haben sie gemacht?! Ich wollte ein paar Jahre jünger werden, nicht gleich zehn!“ Er antwortete, bei einem Experiment ist das Ergebnis oft nicht das, was man erwartet und ich solle glücklich sein, dass ich noch lebe, überraschend entspannt fügte er noch hinzu, es seien eher 8 Jahre. Wie kann es sein, dass er so ruhig blieb, liebes Tagebuch, er verhielt sich, als wäre es gar nichts.
Währenddessen rastete ich fast aus. Ich fluchte und lief in der Gegend rum. Ich schrie den Professor an, dass ich nicht nochmal die letzten 8 Jahre wiederholen möchte. Ich wollte nur ein bisschen jünger werden, wie mir versprochen wurde auf der Website dieses Experimentes.
Dann kam meine Mutter herein. Sie erschrak und der Professor versuchte, ihr alles zu erklären. Doch sie blieb wie ich sehr geschockt und wir stampften beide zusammen in dem Warte-und Aufenthaltsraum, wo die Rezeption stand und Tony auf uns wartete. Mit Tony zusammen fuhren wir nach Hause und dann, liebes Tagebuch, musste ich mich erstmal damit abfinden, wieder 12 Jahre alt zu sein.
Am Dienstag, dem 10. November 2150, liebes Tagebuch, weckte mich meine Mutter um 7 Uhr morgens.
Sie öffnete meine Zimmertür und schaltete das Licht an. Dann öffnete sie die Jalousie, besser gesagt sie drückte einen Knopf, und der ganze Raum füllte sich mit Licht. Mein zerknirschtes Gesicht half nichts, aufstehen müsste ich trotzdem, egal wie müde ich war, sagte meine Mutter, ich müsse zur Schule. „Mensch Mama, wirklich?“, bettelte ich, vergeblich. Sie lächelte mich mitleidig an, liebes Tagebuch, und als ob es nicht schon genug wäre, meinte sie nur, ich solle mich fertig machen.
In der Schule angekommen, Tony war leider nicht mitgekommen, gingen wir zusammen in das Büro des Direktors. Dort gab mir eine Sekretärin ein Hologramm-Tablet. Liebes Tagebuch, der Name sagt eigentlich schon alles, aber es ist eine kleine Stange, die ein kleines Hologramm erzeugt, und von dem Lehrer-Tablet aus wurden die Aufgaben verschickt. Dann flüsterte mir meine Mutter zu, bevor wir das Zimmer des Direktors betraten, sie habe mich gestern Abend angemeldet und, dass mir der Direktor gleich ein paar Fragen stellen würde. Außerdem sollte ich mich unauffällig verhalten. Drinnen wartete er schon auf uns. Zwei Stühle standen für uns bereit und wir setzten uns darauf. Er schaute mich nachdenklich an, erklärte mir alles und meinte dann, er hatte vor 8 Jahren, eine Schülerin, die den gleichen Namen hatte wie ich und mir sehr ähnlichsah. Ich lachte nervös. Dann musterte er meine Mutter, auch sie kannte er schon. Um der Situation zu entkommen, verschwand meine Mutter, damit er nichts bemerkt, was mich aber noch mehr stresste, liebes Tagebuch. Sie meinte, sie hätte einen wichtigen Termin, der anscheinend noch wichtiger war als das hier. Der Direktor blickte mir tief in Augen, dann fragte er, ob ich mit ihr verwandt sei. Mit der Schülerin. Ich überlegte, ihre Tochter … nein dafür bin ich mit 12 zu alt, Schwester, ne … und liebes Tagebuch, da fiel mir etwas ein, aber das würde er mich nicht glauben. Er schaute mich irritiert an. Jetzt musste ich was sagen und da rutschte mir heraus, was ich mir als Letztes überlegt hatte, ich weiß es ist unrealistisch, aber ich sagte, dass ich ihre Doppelgänger sei! Und, dass man im Schnitt sieben davon hat auf der ganzen Welt. Zumindest habe ich das so gehört … irgendwann mal … in einem Video. Dann machte ich ihm weiß, dass das mit dem Namen halt auch nur Zufall ist. Der Direktor schaute mich mit einem Blick an, der sowas hieß wie, „Ich bin nicht dumm aber du anscheinend schon“. Das war mir aber egal, Hauptsache ich konnte raus.
Dann erlöste mich das Klingeln der Schulglocke, die aber auch so laut war, dass ich erschrak. Ich eilte in meine Klasse, im Zimmer standen überall Sofas, Sitzsäcke und Stühle herum. Ich setzte mich auf ein weiches, schwebendes Sofa neben ein Mädchen mit blonden Haaren und neben einen Jungen mit Schuhen, die in Schwarz glänzten. Plötzlich standen aber alle auf und riefen wild durcheinander: „Guten Morgen, Frau Lien“ ich tat es ihnen gleich und setzte mich danach wie die anderen wieder hin. Das Mädchen flüsterte mir zu: „Hi, bist du neu hier? Ich heiße Lia und du?“ „Ich bin Valerie, und ja, ich bin neu“ antworte ich leise und lächelte sie an.
Als ich wieder zuhause war, machte ich meine Schulaufgaben und war einfach glücklich, dass ich nicht entdeckt wurde.
Am 11. November 2150, einem Mittwoch, liebes Tagebuch, wurde ich ertappt.
Ich könnte jetzt von meinem Tag alles in kleinstem Detail erzählen, was ich gegessen habe, was ich angezogen habe, was wir in der Schule gemacht haben und so weiter. Aber ich möchte dich nicht auf die heiße Schulter spannen, liebes Tagebuch und komme direkt dazu, wie ich ertappt wurde.
Alles begann in der zweiten Pause, in der ich mit Lia plauderte. Sie erzählte mir alles über sich, über die Schule, über jeden aus der Klasse und alles über unsere Lehrer. Ich konnte es kaum glauben, sie war an meinem ersten Tag hier so still, doch jetzt war sie offen und redete viel, mir fast zu viel. Ich hörte ihr kaum zu und war vertieft in meinen Gedanken. Plötzlich fiel mir auf, liebes Tagebuch, ich hatte dem Schulleiter beim ersten Gespräch verraten, wo ich wohne! Er weiß aber auch, dass mein altes Ich da wohnte, und von einem Umzug hätte er mitbekommen, er wohnt in der Nähe. Und wenn er bemerkt, dass wir die gleiche Person sind, wird er es bestimmt jedem erzählen und Ruck Zuck lande ich wieder in einem Labor, werde dort untersucht und wer weiß, was noch passiert, kannst du dir das vorstellen?! Nein beruhige dich, Valerie beruhige dich. Das wird nicht passieren … Sowas flüsterte ich mir selbst zu, dann wurde ich aber wieder doch lauter, ich schrie, dass er es bestimmt merken wird. Ich hatte fast einen Nervenzusammenbruch, liebes Tagebuch. Wieso mache ich nur bei so einem Experiment mit! So viele Probleme! Kaum konnte ich mich wieder ein wenig beruhigen, war ich schon fast auf dem Weg zum Schuldirektor um ihm irgendwie weiß zu machen, dass ich wer ganz anderes bin, ihm sagen, ich hätte mich in der Adresse vertan und mich irgendwie da rausreden. Doch dann bemerkte ich, wie mich Lia besorgt und verwirrt anschaute. Sie fragte mich, wer was herausfinden wird. Zuerst dachte ich, liebes Tagebuch, ich darf und werde ihr nichts verraten. Doch plötzlich rutschte es heraus, dass ich in echt 20 Jahre alt bin. Wieso habe ich ihr das erzählt, dachte ich. Ich hielt mir die Hand vor den Mund. Lia war verwirrt, aber nachdem ich es ihr erklärt hatte, liebes Tagebuch war ihr klar, ich muss zu dem Direktor! Zusammen rannten wir in das Schulgebäude, durch die Gänge, Treppen hoch und runter und landeten schließlich im Büro des Direktors. Im Nachhinein frage ich mich, warum wir nicht einfach den Fahrstuhl genommen haben. Ich schrie ihn an: „Ich bin nicht, wer du denkst!“ Er schaute mich nur lachend an. Der Satz klang wirklich komisch, nicht wahr liebes Tagebuch? Doch dann meinte er, ich sei die Schülerin, die er schonmal vor 8 Jahren hatte, die genauso hieß, wie ich und so aussah wie ich und, dass er es schon von Anfang an wusste. Allein dass meine Mama und ich so gestresst waren, hat er anscheinend bei noch niemandem erlebt. Ich fragte resigniert, ob er es irgendwem erzählt hätte. Doch er meinte nur, dass die anderen Lehrer es auch schon gemerkt hatten. Die Schulglocke klingelte, ich erschrak wieder. An dieses laute Klingeln werde ich mich wohl nie gewöhnen, liebes Tagebuch.
Liebes Tagebuch, heute, am 12. November 2150, Donnerstag, hatten wir Kunst.
Ich glaube, es reicht mit dem Beklagen, ich kann eh nichts ändern. Nein, ich mag nicht nochmal mein halbes Leben wiederholen! Aber was solls, ich hatte heute Kunst! Eins meiner Lieblingsfächer früher. Die Lehrerin meinte, statt auf unseren Tablets zu malen, malen wir auf Papier. So was von altmodisch Papier zu verwenden, aber das war ja auch das Ziel. Denn heute sollten wir etwas malen, was man im Kunstunterricht vor über 100 Jahren malte! Eigentlich ganz cool, denn wir malten sogar mit Wasserfarben. Wir sollten ein Meer malen. Es sollte so aussehen, wie auf den alten Bildern die Meere halt aussahen.
Die Lehrerin gab uns Wasserfarben, Pinsel und Papier. Ich drückte den Pinsel in eine blaue Farbe. Doch auf dem Papier sah ich nichts.
Die Lehrerin meinte, ich müsste mir ein Wasserglas holen, den Pinsel reintunken und dann erst auf die Farbe gehen. Diesmal funktionierte es.
Ein Pinselstrich da, einer hier und dort und … oh Mann, das dauerte lange, da ich immer neue Farbe holen musste. Jetzt hatte ich den Umriss des Meeres fertig und wollte den Rest ausfüllen lassen. Aber anscheinend, muss man das auch mit dem Pinsel machen, nicht wie auf meinem Tablet. Nach einer halben Stunde war ich im Groben fertig. Es fehlten nur noch Details, die Sonne und so. Ich war gerade dabei eine kleine Schildkröte zu malen, die aus dem Wasser schaute, holte mir neue Farbe und plötzlich machte es „platsch“. Oh nein, mein Wasserbecher war umgefallen, auf mein Bild und ich musste nochmal von vorne anfangen.
Grimmig überlegte mir dann doch noch, ob ich Wasserfarben so cool fand.
Liebes Tagebuch…
Die Überschrift darf ich noch nicht sagen, denn sonst würde sie alles verraten! Also höre zu und am Ende kommt die heutige Überschrift.
Um 7 Uhr weckte mich meine Mutter, alles normal. Nach ein paar Minuten fing ich an, mich komisch zu fühlen. Doch es war noch nicht so schlimm. Ich aß und fühlte mich, als würde mich jemand auseinanderziehen. Als ich fertig war, war ich plötzlich 10cm größer als vorher. Ich blickte mich im Spiegel an und es sah so aus, als würde ich in Zeitraffer altern. Ich dachte, ich träumte noch, aber es fühlte sich real an. Was passierte hier? Es stoppte wieder. Was war gerade passiert?! Meine Mutter kam in mein Zimmer und war sprachlos. Auch sie verstand gar nichts mehr. Ich war ungefähr 16 Jahre alt, aber so blieb es nicht lange. Wieder zog sich mein Körper auseinander. Ich begriff es, der Professor meinte ja, ein Experiment funktioniert selten wie es soll, und dieses hatte außerdem den Fehler, dass die Verjüngung nur temporär ist! Oh wow, war ich erleichtert. Fehler sind wohl doch nicht nur dafür gut, um draus zu lernen!
Plötzlich wurde ich wieder älter. Ich verstehe, wieso mir Schlaftabletten gegeben worden sind, es war so unangenehm!
Als es erneut stoppte, schaute ich in den Spiegel und sah wieder mein 20 Jahre altes ich.
Meine Mutter hatte es inzwischen auch begriffen, sie umarmte mich erleichtert und plötzlich kam auch noch Tony dazu.
Ich hätte es nie geglaubt, aber ich bin so glücklich 20 Jahre alt zu sein.
Ich habe mein ganzes Leben noch vor mir.
Ich weiß jetzt auch, was ich machen werde. Ich veröffentliche dieses Tagebuch, wiederhole mein Abitur, denn Schule ist doch gar nicht so schlimm, und fange an zu studieren. Ob du es glaubst oder nicht, liebes Tagebuch, aber ich werde Alterung und Verjüngung studieren. Dann werde ich helfen, jemandem den Traum zu erfüllen, jünger zu werden und das ohne diese ganzen Fehler.
Diesem jemandem würde ich es nicht empfehlen, aber mich hätte auch niemand davon überzeugen können bei diesem Experiment nicht mitzumachen.
So stelle ich mir meine Zukunft vor, auch wenn meine Mama mich nach diesem Experiment wohl zu nichts mehr drängen wird.
Als Allerletztes, noch die Überschrift dieses Tages:
Am Freitag, dem 13. November 2150 wurde ich wieder 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens!
ENDE
Beitrag 87
„Meuterei auf der Planet B“
Eine Aufzeichnung meiner fünf Sinne und ausgewählter Gedanken und Emotionen vom 21.04.2150. Auf den Datenspeicher übertragen und kommentiert am 30.11. desselben Jahres, einige Wochen nach der Rückkehr des Raumschiffes Planet B.
Ich saß im Büro im zweiten Stock des Gebäudes, welches sich in einer Kleinstadt an der gekrümmten Innenseite eines riesigen, rotierenden Zylinders befand. Dieser machte den Großteil des gigantischen Raumschiffes aus. Um das Gebäude herum erstreckte sich ein kleiner Park. Ich hatte gerade gearbeitet oder verträumt aus dem Fenster geschaut, ich weiß es nicht mehr. Denn plötzlich riss mich meine Freundin Abuja aus den Gedanken. Sie befand sich gerade an ihrem Arbeitsplatz in der Kommandozentrale des Raumschiffes. Meine Freundin übertrug mir ein Live-Makart, eine Echtzeitübertragung der fünf Sinne, versandt über eine drahtlose Direktverbindung unserer beiden Hirncomputer. Das Büro um mich herum verschwamm und eine Sekunde später schien es, als steckte ich in ihrem Körper.
Von einem auf den anderen Moment war ich plötzlich unendlich aufgeregt. Meine Hände schwitzten und mein Herz schlug schneller als je zuvor. Das sind nur Abujas Gefühle, nicht meine eigenen, sagte ich mir selbst. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf das Chaos, das vor meinen – nein, vor Abujas Augen – ausbrach. Ein Trupp bewaffneter Männer und Frauen stürmte in die Kommandozentrale. Der riesige, bärenartige Mann an der Spitze der Formation kam zum Stehen. Mein Herz stockte, als die Gruppe mit zackigen Bewegungen die Erkennungsgeste der gewalttätigsten Extremisten des Landes durchführte. Ein Knurren drang aus der Brust ihres Anführers. „Waffen runter. Hände in die Luft. Langsam auf den Bauch legen.“ Neben Abuja zog eine Sicherheitsbeamtin blitzschnell die Waffe und zielte auf die Eindringlinge, doch diese kamen ihr zuvor. Ein grelles Licht erhellte ihre Magengrube, als sich die Energie eines Laserprojektils auf ihren Körper übertrug. Sie brach zusammen und fiel auf den Rücken.
Verzweifelte Gedanken schossen durch Abujas Kopf. Ich war überrascht, da ich erst jetzt bemerkte, dass sie mir
nicht nur ihre fünf Sinne übertrug, sondern alles, was in ihrem Gehirn vorging.
Ich muss jemanden warnen. Ich muss um Hilfe rufen, dachte Abuja. Verzweifelt verband sie sich mithilfe ihres Hirncomputers mit dem System der Außenantennen und spürte sofort den Strom an
Daten, den die Antennen kontinuierlich an die Erde schickten. Mit einem einzigen Gedanken wischte Abuja diese belanglosen Informationen beiseite. Für eine Zehntelsekunde schwiegen die Antennen.
Dann übermittelte meine Freundin einen Schrei der Verzweiflung und sendete ihn durch das unendliche Nichts an den blassblauen Punkt in der Ferne. „Meuterei! Hilfe!“ Sie dachte kurz nach ... und
sendete das Bild, das sich ihren Augen darbot, hinterher. Die Meuterer, die in die Kommandozentrale stürmten, die Tote, deren starre Augen auf sie geheftet waren – die stolzen Offiziere, die mit
erhobenen Händen vorsichtig auf die Knie sanken ... – plötzlich spürten Abuja und ich die Anwesenheit eines zweiten Geistes, der auf die Datenströme zugriff. Aus den Reihen der Meuterer trat eine
Frau hervor und blickte Abuja an. Gleichzeitig sah die Meuterin die Informationen, die meine Freundin im Begriff war zu verschicken und zielte mit ihrer Laserkanone auf sie. Wild entschlossen
stellte Abuja die Datei fertig und versandte sie. Dann schwiegen die Antennen. Die Aufständische schoss.
Ein Signal aus Radiowellen löste sich von den Antennen und trug fröhlich schwingend die Katastrophenmeldung zur Erde. Einen langen Weg hatte das Datenpaket vor sich, doch es hielt unbeirrt seine Geschwindigkeit bei. Es streckte seine kleinen, wellenförmigen Arme aus, tippte auf seinem kleinen Navigationsgerät aus elektromagnetischer Strahlung herum und blickte fröhlich lächelnd auf die Anzeige. Geschwindigkeit: 299.792 Kilometer in der Sekunde. Zweiunddreißig Minuten bis zum blauen Planeten.
Ich erwachte wieder in meinem eigenen Körper und der Schmerz über den Tod meiner Freundin überwältigte mich. Dann kam das Chaos in mein Büro. Meine Kollegen hoben alle gleichzeitig den Kopf. Die Ursache war eine Nachricht, die wir im selben Moment auf unseren Hirncomputern empfingen. Jemand Unbefugtes hatte sich in die Antennen eingeloggt und eine Nachricht versandt. Dann war das System zusammengebrochen. Während meine Kollegen wild hin und her liefen, ängstlich wegen der Vorwürfe, die man ihnen machen würde, verwandelte sich meine Schockstarre in siedend heiße Wut auf die Meuterer, die meine Freundin erschossen hatten und unsere Mission gefährdeten. Ich wollte ihnen irgendwie schaden. Ich musste irgendetwas unternehmen. Doch sie kamen mir zuvor, als ein Dutzend von ihnen in mein Büro stürmte.
Die Wange auf den kalten Kunststoff gepresst, starrte ich auf die dichten Büsche, die den Weg säumten, der sich durch den Park zu unserem Bürogebäude schlängelte. Ich hörte den Atem von mindestens sechs Kollegen und spürte fremde Arme, Beine und einen verschwitzten Kopf, die unangenehm in meine linke Seite drückten. Von rechts hing ein taufeuchter Busch über meinem Rücken und durchnässte meine Kleidung. Mein rechtes Bein lag im Matsch. Einige der Meuterer standen zwischen den auf dem Boden ausgestreckten Mitarbeitern der Antennenabteilung, mit den Laserkanonen in der Hand.
In der Zwischenzeit hatte ich mich etwas beruhigt und konnte wieder klar denken. Wie eine Landkarte breitete ich den Plan der Aufständischen vor meinem inneren Auge aus.
Die Meuterer hatten, kurz bevor sie Abuja erschossen davon erfahren, dass sie ein Notsignal an die Erde
abgesetzt hatte. Jeder wusste, was in einem solchen Falle passieren würde: Die Raumfahrtagentur würde einen Befehl versenden, der das Schiff wieder unter ihre Kontrolle bringen würde. Der Befehl
musste von den Antennen der Planet B empfangen werden. Diese allerdings befanden sich außen am Schiff und die Meuterer konnten sie unmöglich alle in einer kurzen Zeit zerstören. Doch um
den Befehl der Raumfahrtagentur umzusetzen, brauchte man mehr Dinge als nur eine Antenne. Diese war zwar ein guter Start, da sie das Signal einfangen und weiterleiten würde. Aber entscheidend
war, was an der anderen Seite der Leitung stand. Das waren die Verarbeitungselemente der Antennen, kleine Computer, die das Signal in eine für die Einzelteile des Raumschiffes, etwa für die
Triebwerke, verständliche Sprache übersetzten und an diese sendeten. Im Keller meines Bürogebäudes stand eine Horde Meuterer und zerstörte diese Geräte, eines nach dem anderen.
Dann baue ich eben ein neues Verarbeitungselement. Ich kann das. Mit nichts anderem als Antennen habe ich mich seit Beginn der Mission beschäftigt. Ich muss nur irgendwo die Software der
Verarbeitungselemente und einen Computer herbekommen, dachte ich, drehte meinen Kopf und drückte die andere Wange auf den Weg.
Mithilfe der beiden Teile meines Gehirns stellte ich schnell einige Berechnungen an. Abujas Signal würde etwas über eine halbe Stunde nach Hause brauchen, genau so lang wie der Befehl der Bodenstation für den Rückweg. Schließlich subtrahierte ich die bereits vergangene Zeit und stellte auf meinem Hirncomputer einen Timer auf vierundfünfzig Minuten; der Zeitpunkt, zu dem der Befehl der Raumfahrtagentur am Schiff eintreffen sollte. Und der Zeitpunkt, an dem ich eine Antenne zum Laufen gebracht haben müsste. Es musste verdammt schnell gehen.
Ein einziger Satz, gepaart mit der gesamten Macht meiner Gefühle, die ich per Direktverbindung der Hirncomputer an meinen Freund Shelley geschickt hatte, genügte, um ihn davon zu überzeugen, die Meuterer lautstark abzulenken. Er gab vor, unendlich dringend auf die Toilette zu müssen und hatte sogar eine kleine Rangelei mit einer Wache gestartet, als ich mich langsam seitlich unter den Busch gleiten ließ. Die Kollegen, die ich nun nicht mehr berührte, warfen ihre Köpfe herum und blickten mich an.
„Ich muss aber dringend“, rief Shelley gerade und rangelte mit dem Fuß der Wache.
„Pst, schließt die Lücke“, flüsterte ich meinen Kollegen zu und kroch tiefer ins Gebüsch.
Vorsichtig legte ich den ersten Busch hinter mich. Ich hielt inne und hörte die Wache sagen: „Halt jetzt dein Maul, leg dich hin und piss dir in die Hose!“ Dann war es wieder still auf dem Weg.
„Meuterei! Hilfe! Meuterei! Hilfe! Meuterei! Hilfe!“, wiederholte das kleine Radiosignal immer wieder, während es zur Erde flog. Und dann das Bild der Kommandozentrale. Das Bild. Das Bild. „Meuterei! Hilfe!“ Und dann das Bild. Das Signal freute sich auf seine Ankunft auf der Erde. Sein großer Moment. Es blickte noch einmal auf die Anzeige seines Navigationssystems, obwohl es genau wusste, wie lange es noch dauerte. Es hatte erst vor zehn Sekunden geguckt. Siebzehn Minuten bis zur Erde stand da.
Irgendwo muss es eine Kopie geben, dachte ich, als ich den Park verließ. Schon nach einigen Schritten hatte ich sie mithilfe meines Hirncomputers gefunden. Das Softwarebackup der Signalverarbeitungseinheiten lag in einem Rechenzentrum der Antennenabteilung auf der anderen Seite des Raumschiffes. Ich versuchte sofort, das Programm aus der Ferne herunterzuladen, doch ich stieß auf eine unsichtbare Wand. Überhaupt konnte man auf viele Computer auf dem Schiff nicht mehr aus der Ferne zugreifen. Also musste ich dem Gebäude einen Besuch abstatten.
Inzwischen war das kleine Radiosignal auf dem blauen Planeten angelangt. Es war in die riesige, glatte Metallschüssel der Radioantenne gefallen und von dort zum Empfänger im Fokuspunkt der Antenne zurückgeworfen worden. Über ein kilometerlanges Kabel gelangte es zur Bodenstation der Raumfahrtagentur. Die Mitarbeiter der Behörde hoben alle gleichzeitig den Kopf. Keine halbe Minute später war der Befehl zur Rückkehr zur Erde an die Steuerungselektronik der Planet B versandt.
Dieser Befehl war ebenfalls in ein Radiosignal kodiert. Ein großes, gebieterisches Signal. Es befahl den Triebwerken, eine langgezogene Rechtskurve zu fliegen und, sobald sie das Raumschiff um 180 Grad gedreht hätten, den Kurs auf die Erde zu halten. Es befahl den allermeisten Geräten in der Kommandozentrale, den Dienst zu quittieren, sodass niemand auf dem Schiff die Kontrolle zurückerlangen konnte. Und es befahl die Deaktivierung aller tragbaren Laserkanonen auf der Planet B.
Das große, gebieterische Signal schwang hin und her auf dem Weg zum Raumschiff. Nach einigen Minuten schaute es auf seine große, teure Uhr am Handgelenk. Neunzehn Minuten bis zum Ziel.
ANT-1/4, ein mehrstöckiges, weißes Gebäude blickte drohend auf mich herab, als ich in ein Kellerfenster einstieg. Für ein
paar Sekunden stand ich mit weit aufgerissenen Augen wehrlos in dem dunklen Raum und sah nichts bis auf eintausend blau blinkende Lichter.
Hunderte faustgroße Spinnen starren mich an, ich sehe schon ihre blau blinkenden Augen.
Nach einer Weile gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit des Kellerraums und die Spinnenaugen stellten
sich als Kontrollleuchten, tausender Computer heraus, die aufeinandergestapelt, in Dutzenden Reihen angeordnet, unter der niedrigen Decke kauerten.
Ich horchte in den verwinkelten Raum hinein. Nichts. Vorsichtig machte ich mich auf den Weg. Ich ging drei Reihen nach rechts, spähte um die Ecke, sah niemanden und schlich zu dem Computer, der
die Kopie enthielt.
Die Software war riesig. So groß, dass der Speicherplatz auf meinem eigenen Computer nicht dafür ausreichte.
Also beschloss ich, den ganzen Rechner mitzunehmen. Die Metallkiste, etwa einen halben Meter hoch und tief, zwanzig Zentimeter breit, lag schwer in meinen Armen. Ich stellte sie unter das
Fenster, in das ich eingestiegen war, und atmete durch. Warum musste ich nur das ganze Ding mitschleppen?, dachte ich. Doch ich wusste genau, dass ich niemals genug Zeit hätte, um eine
einzelne Festplatte aus der Metallkiste herauszubekommen; geschweige denn, dass ich es könnte. Schnaufend hob ich den Rechner an, hievte ihn auf Hüfthöhe und stützte ihn auf meinen Oberschenkel.
Mit meinem Ärmel wischte ich mir einen Schweißtropfen von der Stirn. Schnell packte ich den Computer wieder mit beiden Händen und versuchte, ihn auf Schulterhöhe anzuheben, um ihn in den
Lichtschacht zu verfrachten. Doch schon auf halbem Weg zitterten meine Muskeln und wollten den Rechner nicht weiter anheben. Ich ließ das Gerät wieder langsam herunter, als ein Schmerz in meinem
Rücken aufflammte. Die Metallkiste kippte zur Seite und stieß mit einem lauten Krach gegen die Kellerwand. Hastig stellte ich den Computer wieder ab und klemmte mir dabei zwei Finger der rechten
Hand ein.
Da fiel ein Lichtkegel auf die Decke, der sich schnell verbreiterte. Ich schnappte mir den Rechner mit der wertvollen Software, die der einzige Weg war, wie der Befehl der Bodenstation von der
Antenne zur Steuerungselektronik des Raumschiffes gelangen konnte. Auf Zehenspitzen huschte ich in einen Gang zwischen zwei Computerreihen. So leise ich konnte, stellte ich den gestohlenen
Rechner ab. Mein Herz pochte in meinen Ohren, während ich versuchte, nicht zu heftig zu atmen. „Da war nichts, Oliver“, hörte ich eine Frauenstimme sagen. Zwei Herzschläge später schloss sich die
Tür wieder. Ich hielt eine Sekunde lang die Luft an, doch niemand war eingetreten.
Ich war gefangen. Schlimmer hätte es nicht laufen können. Da die Meuterer das schiffsweite Netzwerk weitgehend lahmgelegt hatten, musste ich selbst zu einer der Antennen gelangen und mich direkt
mit ihr verbinden. Doch ohne den Computer hätte ich dort kein Gerät, das die Verarbeitungssoftware ausführen könnte.
Und dann dachte ich an meinen Hirncomputer und an all die Dinge, die auf ihm gespeichert waren. An all die Erinnerungen, das Wissen; und noch viel wichtiger: Ich dachte daran, wie der Computer verschaltet war. Die Einzigartigkeit seiner Funktionsweise machte einen Teil meiner Einzigartigkeit aus. Die Macht, die er mir im digitalen Raum verlieh, verteidigte meine Selbstbestimmtheit angesichts immer manipulativer werdender Software, die andere Menschen, Unternehmen und Staaten verwendeten. Ich wollte das nicht verlieren.
Und von all dem verabschiedete ich mich, als ich Platz schuf, um die Verarbeitungssoftware auf mein zweites Gehirn zu laden.
Millionen Kilometer entfernt raste ein großes, schweres Signal durch das Nichts auf die Planet B zu. Von seiner teuren Uhr las es ab: Noch vierzehn Minuten bis zum Schiff.
Ich erreichte die Stelle, an der wenige Meter unter meinen Füßen die Antenne an der Außenwand des Schiffes angebracht war. Ich hatte mir eine abgelegene Parabolantenne ausgesucht, die normalerweise für den Empfang von Daten für das nahe gelegene Erdbeerfeld gedacht war.
Erst als ich mit meinem Hirncomputer danach tastete, spürte ich die Elektronik des Empfangsgeräts. Ein flaues Gefühl der Anspannung machte sich in meinem Magen breit.
Der Befehl würde in etwa ... fünf Minuten (das flaue Gefühl wurde stärker) durch die Antenne aufgenommen
werden. Dann müsste ich ihn mithilfe des Programmes, das jetzt auf meinem Hirncomputer lief, verarbeiten und an die Steuerungselektronik des Raumschiffes senden.
Vier Minuten.
Ich kauerte mich auf den Boden, direkt über der Stelle, hinter der der Funkempfänger verborgen war und vergrub
meinen Kopf zwischen den Knien. Ich ließ das Programm auf meinem Hirncomputer laufen und richtete die Antenne auf die Erde aus.
Drei Minuten.
Ohne, dass ich es wollte, fingen meine Beine und Finger an zu zittern und ich bekam nur noch schleppend Luft.
Neben der Anspannung machte sich tiefe Traurigkeit in mir breit. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Teil meiner Persönlichkeit verloren, als ich meinen Hirncomputer freigeräumt hatte. Nun
lief nur noch ein kaltes, fremdes Programm auf diesem Körperteil, der nicht mehr richtig zu mir gehörte.
Zwei Minuten. Mir war, als wären Stunden seit meiner Ankunft an der Antenne vergangen. Ich konnte nicht länger stillsitzen und sprang auf. Ich lief hin und her, immer wieder über die Stelle, wo
die Antenne angebracht war. Eine Träne vermischte sich mit dem Schweiß auf meinem Nasenflügel.
Eine Minute. Ich konnte es nicht schaffen. Ich musste aber. Ich musste. Es war zu spät. Kein Zurück mehr. Schwer atmend trat ich an die Stelle, mein Hirncomputer wenige Meter von der Antenne entfernt. Ich kniete mich hin und stützte mich mit dem Arm am Boden ab. Plötzlich war der Countdown der Echtzeituhr in meinem Hirncomputer abgelaufen. Und dann passierte einen schrecklich langen Moment lang gar nichts.
Noch 299.792 Kilometer. Eine Sekunde. Das große, schwere Signal streckte die Beine aus und machte sich bereit zur Landung.
Als es passierte, ging alles ganz schnell. Da war das Signal. Ganz plötzlich. Ich öffnete die Schranken zu
meinem Hirncomputer und nahm das Signal auf. Da war es. Es durchflutete meinen Geist und füllte mich voll und ganz aus, wie klares, kaltes Wasser einen Krug ausfüllt.
Lediglich Nullen und Einsen, sagte ich mir selbst. Doch es war mehr als Nullen und Einsen, dieses Signal.
Wir modernen Menschen sind nicht mehr nur fleischliche Lebewesen. Wir sind auch digitale Wesen. Seit ich denken und meinen Hirncomputer steuern kann, bewege ich mich genauso selbstverständlich im digitalen wie im physischen Raum. Und beides ist gleichermaßen die reale Welt für mich.
So kam dieses Signal, dieses überaus reale, elektronische Signal, bestehend aus nullen und Einsen, einer meiner Muttersprachen, in meine Welt. Wie ein Schluck Wasser, den ich in mich aufnehme, hatte ich mein Leben lang Datenpakete, auch riesige, auch viel größere als dieses, aufgenommen. Doch dieses war trotzdem anders. Es war wichtiger. Es war mächtiger. Es war kein Schluck Wasser, es war ein ganzer Fluss, den ich in mich aufnahm. Ein Zittern breitete sich in meinem Körper aus, übernahm immer mehr Gliedmaßen und schüttelte schließlich meinen gesamten Körper.
Das Signal musste weiter. Weiter zu seinem Bestimmungsort. Ich konnte es kaum noch halten. Ich platze gleich. Gleich platze ich. Es muss raus.
Es bedurfte nur einer kleinen Berührung eines winzigen Teiles der Steuerungselektronik des Schiffes, so wie es in vergangenen Jahrhunderten nur eines kleinen Stücks Metall bedurfte, um ein riesiges Bürogebäude aufzuschließen. Eine leichte Berührung meines Geistes und das Signal in meinem Inneren brach los. Ich spürte, wie die Rechner der Kommandozentrale damit begannen, den Befehl umzusetzen. Eine dermaßen große Erleichterung machte sich in mir breit, dass ich sie kaum aushalten konnte. Ich übergab mich auf die Erde, hinter der die Antenne ins All spähte.
Plötzlich rief jemand „Hände in die Luft! WEG VON DER ANTENNE!“, doch ich verstand die Worte nicht. Das heißt, ich hatte sie gehört und auch begriffen, dass es ein Befehl war, und auch, dass der Mann, der das schrie, unter großem Stress stand, daher die Anspannung in seiner Stimme. Und ich hatte begriffen, dass es durchaus gefährlich sein könnte, dem Befehl nicht Folge zu leisten. Doch es war mir gleichgültig. Ich wollte meine Hände nicht heben. Ich wollte nicht von der Stelle treten. Ich wollte mich dem Meuterer noch nicht einmal mehr widersetzen. Ich wollte gar nichts. Ich war leer. Einige Schritte vor mir hielten die Meuterer an, einer zielte mit seiner Waffe auf mich. „Sofort von der Antenne wegtreten, ODER ICH SCHIEẞE!“ Ich trat nicht von der Antenne weg. Ich starrte den Mann an. Der Mann drückte ab.
Eine tragbare Laserkanone des Typs S119, erstmals patentiert im Herbst 2119 durch Schuster Waffensysteme, seitdem mehrfach weiterentwickelt und optimiert.
Und so wiederholte sich das Schicksal. Das, was vor gerade einmal einer Stunde meiner Freundin Abuja widerfahren war, würde nun auch mit mir geschehen.
Ich schloss meine Augen, bereit, sie nie wieder zu öffnen. Und öffnete sie wieder. Ich blinzelte. Der Mann
drückte noch einmal auf den Abzug. Ich blickte an mir herab. Ich war unversehrt.
Plötzlich ging ein Ruck durch das Schiff und die Meuterer und ich stolperten ein paar Schritte nach links.
ENDE
Letzter Beitrag auf diesem Link
Bei all den erfolgreichen Buchautoren, Filmemachern, Musikern, Künstlern und Unternehmern, sind viele junge Menschen geneigt, ihnen nachzueifern. Sie versuchen, es ihnen gleichzutun und beginnen, das Erschaffene dritter zu kopieren. Das ist der erste Fehlschritt eines Newcomers. Er lässt außer Acht, dass gerade die Erfolgreichen, mit eigener Kreativität zu Werke gingen und deswegen erfolgreich wurden. Deshalb unser Aufruf: Gehe Deinen eigenen Weg, verwirkliche Deine Ideen und erschaffe Deine eigenen Werke.
www.pierremontagnard.com
Jaume Borrell 11, 2/2
08350 Arenys de Mar, Catalunya, Barcelona, España
Tel: ++34 688 357 418 (WhatsApp)
E-Mail: info@pierremontagnard.com